Die Gartenlaube (1869)/Heft 5
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No. 5. | 1869. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung)
Von diesem fröhlichen geheimnißvollen Treiben im unteren Stockwerk wurde Jutta nicht im Entferntesten berührt. Sie kam nur zur Tischzeit in die Familienstube. Das neue schwarze Wollkleid mit dem Kreppstreifen um den Halsausschnitt fiel in weichen Falten, eine lange Schleppe bildend, auf den Boden nieder und verlieh der Gestalt, die plötzlich sehr beherrschte, hoheitsvolle Bewegungen angenommen hatte, eine Art von stiller Majestät. Dieser Eindruck wurde erhöht durch das lilienweiße Gesicht mit den meist festgeschlossenen Lippen – die reizenden Grübchen, die das Lächeln in den Wangen des jungen Mädchens vertiefte, hatten die Bewohner des Pfarrhauses noch nicht gesehen – und die Sorgfalt, mit welcher ihre zarten, leuchtendweißen Hände den nachschleppenden Kleidersaum beim Eintritt in die Wohnstube aufnahmen, galt nicht allein dem sandbestreuten Fußboden, es war zugleich ein zwar graciös, aber auch sehr bestimmt ausgedrücktes „Rühr mich nicht an!“ für die Kinderschaar. Die Kleinen blickten denn auch verschüchtert nach dem stummen, ernsten Tischgast hinüber, das lustige Geklapper der Löffel und Gabeln klang gemäßigter, und die allzeit rührigen Mäulchen schwiegen gedrückt und verlegen.
Der Pfarrer ehrte Jutta’s „tiefe, wortlose Trauer“, er begegnete ihr um deswillen mit erhöhter Achtung und Rücksicht; der Blick einer Frau und Mutter dagegen ist schärfer – die Pfarrerin sah oft verstohlen und prüfend von ihrem Teller auf – das war nicht Seelenschmerz, was dem Gesicht dort das Gepräge vornehmer Unnahbarkeit aufdrückte und den Blick der jungen Dame eisig kalt und theilnahmlos über die doch gewiß unwiderstehliche Lieblichkeit der kleinen, blonden Lieblinge hingleiten ließ; die „stille, wortlose Trauer“ flieht auch bang und scheu jedes lautere Geräusch – Jutta aber hatte bereits ihre Clavierübungen wieder aufgenommen und „raste“ oft stundenlang über die Tasten. Indeß, der echte brave Frauencharakter sucht stets nach einem Entschuldigungsgrund für mißfällige Wahrnehmungen am eigenen Geschlecht, und demgemäß folgerte die Pfarrerin, Jutta sei verzeihlicher Weise verstimmt, weil sie den Bräutigam fast gar nicht sehen durfte. Der junge Berthold schwebte noch zwischen Leben und Tod, und wenn auch Sievert die Pflege mit übernommen hatte und Tag und Nacht nicht aus dem Hüttenhause wich, so hielt doch die Besorgniß, den Ansteckungsstoff weiter zu tragen, den Hüttenmeister von häufigen Besuchen in der Pfarre zurück – er war bis jetzt nur ein Mal gekommen, allein erst, nachdem er in der Gießerei den Anzug gewechselt und stundenlang im Freien umhergelaufen war.
Dagegen suchte Frau von Herbeck in Begleitung des gräflichen Kindes fast täglich die Trauernde in der Eckstube auf. Im unteren Stockwerk kehrte sie nie ein, aber sie erlaubte der kleinen Gisela, wenn auch nur für Augenblicke, hie und da in die Kinderstube zu gehen, während sie in unermüdlicher Plauderei bis zur einbrechenden Nacht bei Jutta saß.
Nun war der heilige Abend da. Die harten, unvermischten Farbentöne, die den klaren Wintertag charakterisiren, rannen allmählich in das matte Grau der Dämmerung zusammen. Es war sehr kalt; der lebendige Athem wurde zur Dampfsäule in der strengen Luft, und der hartgefrorene Schnee krachte unter den Wagenrädern und Menschentritten. Trotzdem war Frau von Herbeck mit der kleinen Gräfin in die Pfarre gekommen – Gisela wollte den Christbaum brennen sehen; der ihrige sollte erst am morgenden Feiertag angezündet werden.
Im kleinen, eisernen Ofen des Eckstübchens trommelte und brauste ein wohlunterhaltenes Feuer. Einige Körnchen feinen Räucherpulvers lösten sich auf der heißen Platte, und ihre Duftwölkchen mischten sich mit dem starten Aroma, das aus der auf dem Sophatisch stehenden kleinen Kaffeemaschine strömte. Noch brannte kein Licht. Die dichten Kattunvorhänge ließen den letzten ungewissen Schein des vergehenden Tages nur als schmalen, bleichen Streifen auf die Dielen fallen, während an den Wänden hin tiefe Schatten huschten. Aber aus dem Zugloch und der schlechtverschlossenen Thür des Ofens floß ein intensiver Gluthschein und hauchte röthliche Tinten auf das elegante Clavier und das weiße Atlasgewand des darüber hängenden mütterlichen Bildes. Ein traulicherer Raum, als diese in Winterluft und Abendschatten hineinragende Ecke, ließ sich wohl nicht denken.
Die kleine Gisela kniete auf einem Stuhl am Fenster. Sie konnte noch nicht in die Kinderstube, weil die Kleinen gebadet wurden. Einstweilen begnügte sie sich, einen hungrigen Raben zu beobachten, der auf einem nahen Birnbaum umherhüpfte und mit seinen schwarzen, hängenden Flügeln ganze Schneeladungen von den Aesten stieß. Auf dem kleinen, unschönen Gesicht lag jedoch keineswegs jenes oberflächliche Interesse, mit dem das gewöhnliche Kinderauge lediglich der raschen Beweglichkeit eines Vogels folgt. Dieser junge Kopf barg unverkennbar den Keim zur nachdenklichen Grübelei, zu jenem Insichversenken, das mit leidenschaftlicher Hartnäckigkeit dem Ursprung und Ausgangspunkt aller Dinge nachgeht und dabei für Momente alle Beziehung zur Außenwelt verliert. Die Kleine mit dem tiefnachdenklichen Blick hörte demnach sicher [66] nicht ein Wort von dem Geplauder der beiden Damen, die hinter ihr auf dem Sopha saßen.
Frau von Herbeck hatte den Arm um Jutta’s feine Taille gelegt. Die Dame war, trotz ihrer ziemlich vorgeschrittenen Jahre, noch sehr hübsch, das ließ sich gerade in diesem Augenblick feststellen, wo sie sich neben der unvergleichlichen Schönheit des jungen Mädchens recht gut behauptete. Für den feinen Kenner weiblicher Reize waren wohl diese Körperformen zu kolossal und üppig, und manches feinfühlige, reine, weibliche Gemüth mochte sich instinctmäßig von dem oft eigentümlich lächelnden und zugleich schwimmenden Blick abwenden; allein jene Körperfülle erschien so kerngesund und rosig frisch, und die großen, ein wenige vorstehenden Augen konnten in geeigneten Momenten auch wieder so ernsthaft und ehrenfest dreinblicken, daß das öffentliche Urtheil diese Frau einstimmig schön, respectabel und sehr liebenswürdig nannte. … Sie war die kinderlose Wittwe eines armen altadeligen Officiers und hatte bereits zu Lebzeiten der Gräfin Völdern als Gisela’s Erzieherin im Hause des Ministers fungirt. Stets unbedingt und gewandt auf die Intentionen der Großmutter bezüglich des zu erziehenden Kindes eingehend, war, sie von der Ersteren noch auf dem Sterbebette als diejenige bezeichnet worden, welche als „vollkommen passend“ die Führung und Ausbildung der Kinderseele in der Hand behalten solle.
Nun saß sie da im eleganten, dunklen Seidenkleid, das schöne, volle Haar von geschickten Kammerjungferhänden modern und geschmackvoll geordnet, und erzählte Episoden aus dem Leben und Treiben der großen Welt, und von dem jungen Geschöpf, das sich weich und hingebend an die stattliche Frau schmiegte, war das starre Gepräge der „tiefen, wortlosen Trauer“ spurlos weggewischt. Das war wieder die Lebenslust athmende Gestalt, die wir im Brautkleid der Mutter, mit den Tazetten im Haar, vor dem Spiegel gesehen haben – unverwandt und sprühend hingen die dunklen Augen an dem rothen, leichtgeschwellten Mund der Erzählerin, die ein farbenreiches, verlockendes Bild nach dem andern aufrollte. Die junge Dame war der Wirklichkeit, dem engen Stübchen so gut entrückt, wie das denkende Kind am Fenster, nur dann und wann fuhr sie empor und warf einen zornigen Blick nach der Thür. Da draußen lag die alte Rosamunde, die qualmende Küchenlampe neben sich, auf den Dielen und scheuerte mit wahrer Inbrunst Vorsaal und Treppe, als letzten Rest ihrer Weihnachtsarbeiten – sie kannte die Füßchen der „kleinen Panduren“ viel zu gut, um nicht zu wissen, daß sie am liebsten schnurstracks aus Pfützen und Straßenschmutz über den frischgescheuerten Fußboden liefen, und deshalb warf sie auf jede neugewaschene Stelle mit unglaublicher Vehemenz ganze Salven schützender Sandbrocken.
Da kamen rasche Schritte über den Vorsaal, und die Pfarrerin trat in das Zimmer. In der Linken trug sie ein brennendes Licht und auf dem rechten Arme ihren in ein dickes, wollenes Tuch gewickelten jüngsten Knaben. Die ganze große, kräftige Frau mit den glühenden Wangen und energischen Bewegungen war das Bild angestrengter Thätigkeit. Sie bot einen freundlichen guten Abend und stellte das Licht auf das Clavier, da beide Damen die Hand über die geblendeten Augen hielten.
„Heute geht’s scharf her in der alten Pfarre, nicht wahr, Fräulein Jutta?“ meinte sie lächelnd, wobei zwei Reihen kerngesunder, fest zusammengefügter Zähne sichtbar wurden. „Nun, morgen sollen Sie dafür einen recht stillen Feiertag, ein ruhiges, leeres Haus haben. Mein Mann hält die Filialpredigt in Greinsfeld, und meine kleine wilde Gesellschaft drunten geht auch mit ’nüber – die alte Muhme Röder hat sie zum Kaffee eingeladen. … Fräulein Jutta, ich möchte ihnen gern für eine halbe Stunde mein Herzblättchen da lassen – Rosamunde scheuert noch drauf und drein und wird gern brummig, wenn man sie von der Arbeit abruft, und mit den Kindern ist heute absolut nichts anzufangen; sie laufen von einem Schlüsselloch zum andern, gucken nach dem Himmel, ob er nicht bald dunkel wird, und darüber kann der kleine Schelm da, der gern an den Stühlen aufsteht, zehnmal auf die Nase fallen. Mir aber wären heute zehn Hände nicht zu viel – die Kinder horchen schon auf die Klingel, und es liegt noch nicht ein einziges Stück auf dem Weihnachtstisch.“
Sie wickelte den Kleinen aus dem Tuch und setzte ihn auf den Schooß der jungen Dame. „So, da haben Sie ihn!“ sagte sie und strich mit der großen, kräftigen Hand glättend über die weißlichen Flaumhaare des Köpfchens, die sich unter dem Tuch zu lauter Löckchen gekrümmt hatten. „Er kommt eben aus dem Bade und ist so weiß und frisch wie ein Nußkernchen. Viel incommodiren wird er Sie nicht – er ist mein frömmstes Kind.“
Voll von der unerschütterlichen Zuversicht der Mutterliebe, die ihr Kind unwiderstehlich findet, war es ihr nicht eingefallen, auch nur einen forschenden Blick auf Jutta’s Gesicht zu werfen; ihr Auge hing vielmehr unverwandt mit zärtlichem Stolz an dem kugelrunden Geschöpfchen, das gutwillig auf dem Schooß der jungen Dame sitzen blieb und mit seinen vier nagelneuen Zähnchen tapfer in den Zwieback biß, den die Mutter in die kleine Hand gedrückt hatte.
Die Pfarrerin schritt hurtig nach der Thür zurück, allein diese zwei blauen, lustigen Augen besaßen einen wahren Feldherrnblick im Hauswesen; sie fahndeten selbst in der größten Eile auf jede Gesetzwidrigkeit, und so blieb die Frau plötzlich stehen und ergriff einen der Immergrünzweige, die sich nach Frau von Zweiflingen’s Bild emporrankten und vom Kerzenlicht hell bestrahlt wurden – die jungen Triebe hingen matt und halbverdurstet am Stengel.
„O weh, ihr armen Dinger!“ rief sie mitleidig, während sie nach einer gefüllten Wasserflasche griff und die steinharte Erde in den Töpfen begoß. „Fräulein Jutta,“ wandte sie sich freundlichernst an die junge Dame, „das Immergrün da müssen Sie mir mehr in Ehren halten! … Als ich meinen ersten Geburtstag als junge Frau hier in der Pfarre feierte, da ging es knapp genug bei uns zu – der Storch war dagewesen, und da war der Geldbeutel schmal geworden – mein Mann hatte keinen Groschen mehr in der Tasche, aber da kam er in aller Frühe aus dem Walde und stellte mir die Töpfe auf’s Fensterbret, und ich sah zum ersten Male in meinem Leben, daß er geweint hatte. … Ich hab’ sie nicht mit leichtem Herzen da heraufgegeben,“ fuhr sie aufrichtig fort, indem ihre flinken Hände die niederhängenden Ranken wieder an den Schnüren befestigten, die an der Wand hinliefen; „aber mit Tapeten sieht’s windig bei uns aus, die kann weder mein Mann, noch die Gemeinde bezahlen, und die kahlen, weißen Wände waren mir denn doch zu despectirlich für meinen lieben Gast.“
Ihr Gesicht hatte bei den letzten Worten wieder den Ausdruck unverkümmerter Heiterkeit angenommen. Sie setzte das Licht auf den Sophatisch, nickte ihrem Knaben zu und verließ rasch das Zimmer.
Als die Thür hinter ihr in das Schloß gefallen war, sah Frau von Herbeck einen Moment wie sprachlos vor Erstaunen in Jutta’s Gesicht, dann brach sie in ein helles, spöttisches Lachen aus.
„Nun, das muß ich sagen, das ist eine Naivetät, die ihres Gleichen sucht!“ rief sie und sank, die Hände zusammenschlagend, an das schwellende Polster der Sophalehne zurück. „Himmel, was Sie für ein classisches Gesicht machen, Herzchen! Und wie gottvoll Sie sich anstellen als Kindermuhme! … Ich könnte mich todtlachen!“
Jutta hatte noch nie ein Kind auf dem Schooße gehabt und selbst als kleines Mädchen nur wenig mit Altersgenossen verkehren dürfen. Als die Zwistigkeiten zwischen ihren Eltern ausbrachen war sie – kaum zwei Jahre alt – einer in klösterlicher Einsamkeit lebenden Geheimrathswittwe übergeben worden; sie sollte nicht durch die schrecklichen Verhältnisse im elterlichen Hause berührt werden. Erst kurz vor dem Tode ihres Vaters durfte sie zu der Mutter zurückkehren und hatte somit den größten Theil ihrer Kindheit fast ausschließlich im Umgang mit der alten Dame verbracht, deren Aufgabe es ja gewesen war, sie einzig und allein für ein zurückgezogenes, anspruchsloses Leben zu erziehen.
Uebrigens mußte dieser jungen Mädchenseele der Instinct versagt sein, der das echte Weib unwiderstehlich zu der Kinderwelt hinzieht und dasselbe sofort, ohne irgend welche Anleitung, zur Pflegerin geschickt macht, denn sie sah, den Oberkörper ängstlich zurückgebogen und die Arme steif an den Seiten niederhaltend, mit einer Art von Entsetzen auf den kleinen, aufgedrungenen Schützling nieder; aber sie war auch innerlich erbittert über die Zumuthung, die ihr gemacht worden – sie runzelte finster die Brauen, und die feinen, bläulichweißen Zähne gruben sich tief in die Unterlippe.
„Ach, und wie vortrefflich ihnen die ehrliche Landpomeranze [67] zu sagen wußte, welche übermenschliche Opfer ‚dem lieben Gast‘ in diesem gesegneten Pfarrhause gebracht werden!“ fuhr Frau von Herbeck noch immer lachend fort. „Gott, solch’ eine vierschrötige, hausbackene Person, und dabei diese Sentimentalität mit dem Grünzeug! „An ihrer Stelle ließe ich die Töpfe sofort dahin zurückbringen, wo sie der gerührte Gatte einst placirt hat – schließlich werden Sie noch für jedes abgefallene Blatt verantwortlich gemacht, und ich kann es ihnen keinen Augenblick verdenken, wenn Sie nicht Lust haben, die kostbare Orangerie der Frau Pfarrerin zu begießen.“
Die kleine Gisela war von ihrem Stuhl aus mit großer Aufmerksamkeit dem ganzen Vorgang gefolgt. Jetzt glitt sie auf den Boden herab und ihr großes, kluges Auge richtete sich erregt auf das Gesicht ihrer Gouvernante, während ein helles Roth unter die gelblichweiße, matte Haut der Wangen trat.
„Die Töpfe dürfen nicht fortgeschafft werden!“ sagte sie ziemlich heftig. „Ich will es nicht haben – das thut mir zu weh!“ Stimme und Geberden des Kindes zeigten unverkennbar, daß es gewohnt sei, zu befehlen.
Frau von Herbeck nahm die Kleine sofort in ihre Arme und küßte sie voll Zärtlichkeit auf die Stirn. „Nein, nein,“ beschwichtigte sie, „sie sollen ganz gewiß dableiben, wenn mein süßes Kindchen es will. … Aber Du verstehst das noch nicht, Engelchen – es ist nicht so gut gemeint von der Frau, wie Du denkst.“
Währenddem hatte Fritzchen lustig und unbekümmert seinen Zwieback bearbeitet. Das kaum dreivierteljährige Kind war in der That frisch und weiß wie ein Nußkern. Der kleine runde Kopf mit den blühenden Wangen und dem gespaltenen Kinn ruhte unmittelbar auf der blüthenweißen, faltenreichen Hemdkrause, und unter dem fleckenlosen, feuerrothen Flanellröckchen hervor guckten ein Paar draller, rosiger Beinchen, denen man es ansah, daß sie eben noch im Seifenschaum gesteckt hatten.
Fritzchen wurde nach dem Princip der allgemeinen Menschenliebe erzogen. Es fiel ihm plötzlich ein, daß er von Allem, was ihm gut schmeckte, an Mama, Rosamunde und die Geschwister abgeben mußte, und infolge dessen nahm er unter treuherzigem Lallen den Zwieback vom Munde und stieß ihn mit den ungeschickten Händchen heftig gegen Jutta’s Lippen – das junge Mädchen fuhr leise aufschreiend zurück und die Röthe des Erschreckens flammte über ihr Gesicht; die kleine Gräfin aber lachte laut auf – der Moment erschien ihr urkomisch.
„Aber, Gisela, mein Kind, wie magst Du nur da lachen?“ schalt Frau von Herbeck sanft. „Siehst Du denn nicht, daß das arme Fräulein von Zweiflingen zu Tode erschrocken ist über die Zudringlichkeit des kleinen Bengels? … Uebrigens sehe ich gar nicht ein, weshalb wir uns das gemütliche Plauderstündchen verderben lassen sollen!“ fuhr sie ärgerlich fort. „Ich werde der Sache gleich ein Ende machen!“
Sie stand auf, nahm den kleinen Missethäter von Jutta’s Schooß und setzte ihn auf die Dielen; in demselben Augenblick kauerte aber auch Gisela neben dem Kinde und legte die kleinen mageren Arme um die Schultern desselben. Der lachende Ausdruck war wie weggewischt von ihrem schmalen Gesichtchen. „Es war gut gemeint von ihm!“ sagte sie, zwischen Trotz und Bedauern schwebend.
„Fi donc, mein Kind - ich bitte Dich, rühre den schmutzigen Jungen nicht an!“ rief Frau von Herbeck, die Bemerkung des Kindes ignorirend.
Die kleine Gräfin antwortete nicht, aber der Blick, mit dem sie zu ihrer Gouvernante aufsah, funkelte in Zorn und Widersetzlichkeit. Diesem Kinde gegenüber hatte die Dame offenbar einen sehr schweren Stand, allein sie war ja „vollkommen passend“ und wußte sich demgemäß zu helfen.
„Wie – eigensinnig will mein Liebchen sein?“ frug sie schalkhaft zärtlich. „Nun meinetwegen, bleibe Du sitzen, wenn es Dir Freude macht! … Was aber wohl Papa sagen würde, wenn er die kleine Reichsgräfin Sturm als Kindermädchen auf dem Fußboden kauern sähe! Oder die Großmama! … Weißt Du noch, Engelchen, wie sie zürnte und schalt, weil Dir im vorigen Jahr auf Deine Bitten die Frau des Jägers Schmidt ihr Kind auf den Schooß gegeben hatte? … Nun ist sie todt, die liebe, schone Großmama, aber Du weißt ja, daß sie im Himmel ist und immer sehen kann, was ihre kleine Gisela thut – in diesem Augenblick betrübt sie sich gewiß recht sehr, denn was Du thust, schickt sich ja nicht für Dich!“
„Es schickt sich nicht für Dich!“ das war die Zauberformel, mittels welcher diese Kinderseele regiert wurde. Nicht, daß das aristokratische Element so dominirend in ihr ausgebildet gewesen wäre, um jedes verpönte Begehren mit seiner Hülfe zu unterdrücken – dazu war das Kind noch zu jung; aber „es schickt sich nicht für Dich!“ hatte ja „die liebe, schöne Großmama“ so oft gesagt, ehe sie in den Himmel gegangen, und sie war und blieb der Inbegriff der Erhabenheit und Unfehlbarkeit für die kleine verwais’te Enkelin. … Noch saß die Falte des Zorns zwischen Gisela’s Brauen, und ihre Augen hingen beunruhigt an dem kleinen Ausgesetzten auf dem Boden, aber als die Gouvernante mit ihren weichen, weißen Händen sanft die schmale, leichte Gestalt zu sich emporzog, da ließ sie sich willenlos greifen, wie ein Vogel, der keinen Ausweg mehr sieht – Frau von Herbeck kehrte mit ihr zum Sopha zurück und behielt ihre Hand zwischen den ihrigen.
Fritzchen sah sich plötzlich einsam und verlassen. Er warf seinen Zwieback hin, streckte die Aermchen empor und wollte genommen sein; allein Jutta wandte sich ab – sie war noch immer beschäftigt, ihre etwas derangirten Locken und die verschobenen Falten des Kleides wieder zu ordnen – und Frau von Herbeck machte ihm ein bitterböses Gesicht und drohte heftig mit dem Finger. Der arme, kleine Schelm starrte sie lange erschrocken und unverwandt an – seine großen, blauen Augen füllten sich allmählich mit Thränen, während ein Jammerzug die Mundwinkel herabsenkte – endlich brach er in ein bitterliches Weinen aus.
Sofort eilten die raschen Füße der Pfarrerin die Treppe herauf, und ehe sich die Damen dessen versahen, stand sie in der Thür. Dort saß ihr „Herzblättchen“ ausgestoßen und verlassen auf dem kalten Fußboden, und die vornehmen Frauengestalten auf dem Sopha schmiegten sich aneinander, als zusammengehörig und als könne der Raum zwischen ihnen und dem plebejischen Kinde nicht weit genug sein.
Nicht ein Wort kam über die Lippen der beleidigten Mutter, nur eine tiefe Blässe bedeckte für einen Augenblick das blühende Gesicht. Sie hob ihren Knaben empor und preßte ihn heftig an sich; dann wickelte sie ihn in das warme Tuch und schritt nach der Thür zu. Dieses lautlose Schweigen, die fast königliche Haltung der einfachen Frau, die es unter ihrer Würde hielt, ihrem tiefverletzten Gefühl Ausdruck zu geben, imponirten selbst der gewiegten Welt- und Salondame auf dem Sopha.
„Meine beste Frau Pfarrerin,“ rief sie, leicht verlegen, aber mit einschmeichelnder Stimme ihr nach, „ich bedauere, daß wir den Kleinen nicht besser beschäftigen konnten, aber er war sehr unruhig, und Fräulein von Zweiflingen ist doch noch zu angegriffen –“
„Ich kann es mir selbst nicht verzeihen, daß ich das nicht besser überlegt habe,“ antwortete die Pfarrerin einfach, ohne Bitterkeit, und ging hinaus.
„Lassen Sie sich dies Rencontre lieb sein, Kindchen!“ flüsterte die Gouvernante, als sie auch auf Jutta’s Gesicht einen Zug der Scham und Verlegenheit bemerkte. „Mit dieser einen Zurechtweisung hab’ ich Sie vor einer unübersehbaren Reihe widerwärtiger Zumuthungen bewahrt. … Das ist auch eine jener ‚wackeren deutschen‘ Hausfrauen, die vor lauter Tugend und Vortrefflichkeit unausstehlich werden. Zudringlich mit ihrer Weisheit, fahnden sie förmlich auf junge Mädchenseelen und pressen die unschuldigen Lämmer ohne Gnade in den Pferch der sogenannten ‚Weiblichkeit‘, die da nichts erlaubt, als Bibel, Kochtopf und Strickstrumpf. … Das, was wir eben erlebt haben, war der erste leise Versuch der überklugen Frau – war ich nicht da mit meinem Einspruch, da saßen Sie bereits morgen drunten und stickten den alten Rock des Herrn Pfarrers oder die zerrissenen Höschen der geistlichen Sprößlinge.“
Jutta fuhr empor – in diesem Moment konnte sich das aufglühende Mädchengesicht getrost neben den hochmüthigen Zügen des stolzesten Ahnhern in der Halle des Waldhauses behaupten – das war genau jener kalt zurückweisende Zug um die Lippen, jener verächtlich abwärts zuckende Blitz aus den halbgeschlossenen Augenlidern, der da sagte: „was nicht neben oder über mir steht, existirt nicht für mich!“
Frau von Herbeck legte den Arm wieder um die schlanken [68] Hüften des jungen Mädchens und zog sie schmeichelnd an sich heran. Dabei ergriff sie mit der Linken die Hand, die schmal und zart, wie ein durchsichtig weißes Blumenblatt auf dem schwarzen Wollkleide lag, und betrachtete sie mit einer Art von zärtlicher Aufmerksamkeit.
„Es kann mich förmlich unglücklich machen,“ sagte sie mit einem Anflug von Groll in der Stimme, „wenn ich eine meisterhafte Form, wie zum Beispiel diese reizende Hand hier, sehe und mir dabei sagen muß, daß ihre Schönheit unausbleiblich zerstört werden wird durch die Anforderungen einer unangemessenen Lebensstellung. … Diese rosigen Nägel, diese Grübchen voll Küchenschwärze! – pfui, ich mag es gar nicht denken! … Hoffentlich verfährt das Schicksal glimpflich mit Ihnen, Kindchen! … Freilich, ganz und gar diesem Loos entgehen werden Sie doch nicht als Frau Hüttenmeisterin.“
„Theobald hat mir und Mama versprochen, daß er mich wie seinen Augapfel behüten wolle,“ entgegnete das junge Mädchen stockend, mit halberstickter Stimme.
„Ja, ja, liebes Herzchen, das ist Alles recht schön und gut, und der Hüttenmeister auf alle Fälle ein prächtig lieber Mensch, der im Nothfall sein Herzblut für Sie hingiebt – in seinen guten Willen setze ich auch nicht den mindesten Zweifel. Aber, aber, solch’ einem glücklichen Bräutigam fällt es selten ein zu rechnen – das kommt erst nach der Hochzeit. … Und was wollen Sie dann machen, wenn Sie einmal drinstecken? Die Familie wird größer, das Einkommen aber nicht, und wenn dann der Mann die Nähterin oder Flickmamsell nicht mehr bezahlen kann, so hilft der Frau kein Wehren und kein Sträuben – sie muß, wohl oder übel, die groben Strümpfe des Herrn Gemahls über die seine Hand stülpen und – sie flicken.“
Frau von Herbeck hielt inne und sah seitwärts auf Jutta’s Gesicht nieder, das an ihrer Schalter lehnte. Das junge Mädchen schwieg mit fest zusammengepreßten Lippen, während sein Auge unverwandt und finster auf den Boden starrte, als gewänne die häßliche Schilderung der Gouvernante dort bereits Form und Gestalt. … Frau von Herbeck lächelte leise, leise, und der Ausdruck ihrer großen schwimmenden Augen war in diesem Moment sicher nicht jener ehrenfeste, den sie respectablen Charakteren gegenüber anzunehmen wußte. Sie strich mit der Hand sanft über die gerunzelte Stirn der jungen Dame.
„Ach, wer wird denn gleich solch’ ein trübes Gesicht machen!“ sagte sie ebenso einschmeichelnd beschwichtigend, wie sie mit ihrer kleinen Schutzbefohlenen zu reden gewohnt war. „Meine ich Sie denn etwa speciell mit dieser Schilderung? … I, Gott soll mich bewahren! Ich wäre ja mit dem besten Willen nicht einmal im Stande, mir die schöne Jutta von Zweiflingen in einer solchen Lage zu denken, obwohl ich an manchem brillanten, gefeierten Mädchen erfahren habe, wohin solche Neigungsheirathen führen können. … Sehen Sie, da wird Alles, was das Leben schmückt, nach und nach als Ballast über Bord geworfen. … Das geliebte Clavier steht verstaubt und verschlossen in der Ecke, die eleganten Bücher und Stickereien verschwinden vom Nähtisch, dafür liegen schmutzige Abcbücher und Schreibhefte umher, und ein Korb voll zerrissener Wäsche wartet auf neue Flicken – ich kenne das. … Die junge Frau streicht die bewunderten Locken glatt hinter das Ohr, oder unter eine Haube – das sieht häßlich aus – aber was thut’s? Sie braucht nicht mehr schön zu sein, es sieht sie ja Niemand!“ –
Jutta sprang auf, warf wortlos, aber mit einer leidenschaftlichen Geberde die Locken zurück und trat an das Clavier. … Was auch in dieser Brust vorgehen mochte, es war jedenfalls ein heftiger Aufruhr, der sie in fliegenden Athemzügen hob und senkte.
Die junge Dame schlug den Deckel des Instruments zurück, und in den Sessel niedergleitend, begann sie eine wildaufbrausende ungarische Volksweise kraftvoll und energisch mit denselben Händen, die vorhin zu „schwach und angegriffen“ gewesen waren, das Kind der Pfarrerin auch nur einen Augenblick zu halten. … Wie Perlenschnüre rollten die kühnen Passagen; es war ein Gewoge von Tönen, aus denen die Grundmelodie immer wieder auftauchte, und mit ihr wilde Zigeunergesichter, glühend angestrahlt vom Lagerfeuer, nächtliche, über die weite Pußta hinfliegende Reiter, umtobt von mähneflatternden Roßheerden, sterbende Helden und kühne Räubergestalten – und diese fremdartigen Gebilde, in denen ein heißes Blut pulsirte, rauschten durch die kleinen Eckfenster hinaus in das keusche, feierliche Schweigen der herabsinkenden heiligen Nacht. Das Gebirge reckte seine dunklen Glieder auswärts, und der goldflimmernde Himmel spannte sich von einem Bergscheitel zu dem anderen, Kluft und Tiefen ausgleichend, wie der große Versöhnungsgedanke des Gekreuzigten sich breitet über jenes zerklüftete Schöpfungswerk, das wir „die Menschheit“ nennen … Und diese Menschheit? Sie schärft seine wilden Worte zu Schwertern, mit denen sie sich selbst zerfleischt. Der Baalsglaube macht jenen Stern des Heils, den einst die Hirten über der kleinen Erde aufgehen sahen, zum stummen Götzen und verfolgt den lebendigen Geist, der von ihm ausgeflossen mit blindem Vandaleneifer – umsonst, er leuchtet! Und mit seinem mächtigen Wort: „Es werde Licht!“ hat Gott selbst gewollt, daß die Nacht nie mehr „die Herrschende“ werde! –
Könige von Gottes Gnaden.
Château Lafite ist verkauft; das berühmte Château Lafite, auf dessen Gebiete der edelste, der hinreißendste, der unwiderstehlichste aller Girondisten, das Kleinod der Bordeauxweine, das echte Medocvollblut zu seinem weltbegeisternden und weltentzückenden Dasein erwächst, hat einen neuen Herrn gefunden – das haben vor wenigen Monaten alle Zeitungen berichtet, indem sie mittheilten, daß am 8. August dieses Jahres die Domäne des Schlosses Lafite aus den Händen der Erben des verstorbenen Ministers Duchâtel in die des Barons James von Rothschild, der freilich des Besitzes nicht lange genießen sollte, um das hübsche Sümmchen von vier Millionen einhundertundvierzigtausend Franken übergegangen ist.
Wo ist der Böotier, welcher solche Kunde gleichgültig hingenommen? Wer ist Stoiker genug, um den glücklichen Millionär nicht zu beneiden, der sich dies Cabinetsgärtchen zu seinen übrigen „Gütern“ zulegen konnte? Und dennoch sind es unter den Hunderttausenden von Lesern der Gartenlaube wohl nur wenige, welchen dieses gesegnete Fleckchen Erde mehr ist als ein Name. Wir geben uns darum der Hoffnung hin, daß sie einen deutschen Landsmann, der seit Jahren an den Ufern der Garonne sich eine zweite Heimath gegründet, jetzt, wo jener verheißungsvolle Name auch seine tagesgeschichtliche Bedeutung in Anspruch nehmen darf, mit um so größerem Interesse auf einer kleinen Herbstwanderung nach dem gelobten Lande begleiten werden, das da Medoc heißt und als dessen unbestrittene Krone Château Lafite nah und fern bekannt ist.
Es war ein herrlicher Septemberabend, als wir – ein paar Freunde hatten sich mir angeschlossen – am Quai de Bacalan von Bordeaux zu Schiffe gingen, um einem deutschen Capitän, der nach Buenos Ayres segelte, bis Pouillac das Geleite zu geben. Hier, an dem eigentlichen Haupt- und Stapelplatz des Medoc, wollten wir nächtigen, um andern Tages bei Zeiten zu Fuße unsern eigentlichen Marsch in’s Weinland zu beginnen. Der Morgen war prachtvoll wie der gestrige Abend und so recht zu einem tüchtigen Spaziergange geschaffen. Am Himmel war kein Wölkchen zu erblicken, und die Wirkung der Sonne, welche mittlerweile höher heraufgekommen war und eine tüchtige Hitze versprach, wurde durch eine frische Brise gemildert, die von der weiten Wasserfläche der Gironde herüberwehte.
Seit unserem letzten Besuche des Medoc hatte sich der äußere Charakter der Landschaft nicht unwesentlich verändert. Damals – es war Pfingsten – stand der Weinstock in voller Frühlingspracht, die Blätter erglänzten im frischen Grün, und das feine Aroma der Blüthen zog wie der Odem Gottes durch
[69][70] das Land. Jetzt war das Weinlaub dunkel gefärbt, sonnenverbrannt und hart am Wege seine Farbe sogar durch den dick darauf liegenden, feinen Staub beinahe unkenntlich gemacht. Unter dem Blätterdache aber, dicht über dem steinigen Boden lugten die schwarzen, saftschweren Trauben hervor, in deren Beeren es geheimnißvoll kochte und gährte, als wollten die darin eingesperrten Kobolde die leichten Wände ihres Gefängnisses zersprengen. Die sonst wenig belebte Landstraße zeigte trotz des Sonntages ein reges Bild. In den unabsehbaren Weinfeldern zu beiden Seiten des Weges waren die Winzer in einzelnen Gruppen bei der Lese beschäftigt, und verschiedene mit Ochsen bespannte Wagen, welche mit geschnittenen Trauben beladen langsam daherkamen, zeigten an, daß ihr Tagewerk mindestens mit dem der lieben Sonne zugleich begonnen haben müsse.
Hier und da eine Traube prüfend, welche hart am Wege stand, oder einen Augenblick verweilend und dem Werke der Winzer zuschauend, schritten wir gemächlich weiter, bis wir auf eine Anhöhe gelangt waren, von welcher wir das liebe Château Lafite in seiner bescheidenen Anmuth, umrahmt von dem Dunkel seines Parks, in geringer Entfernung vor uns liegen sahen.
„Guten Morgen, meine Herren, herzlich willkommen!“ rief uns plötzlich eine frische jugendliche Stimme entgegen. Es war der Freund, dem wir unsern Besuch zugedacht hatten und der uns soweit entgegengegangen war, Jules, der Sohn des Inspectors von Château Lafite. „Nochmals schönstens willkommen!“ wiederholte er, uns die Hände schüttelnd. „Wenn Sie noch etwas von der Weinlese sehen wollen, so hätten Sie kaum einen günstigeren Zeitpunkt treffen können, abgesehen davon, daß Sie mir durch ihre Anwesenheit ein wirkliches Vergnügen bereiten. Mein Vater ist drüben auf den Grundstücken des Schlosses beschäftigt, ich führe hier auf unserem eigenen Gute die Oberaufsicht. Kommen Sie jetzt mit mir in’s Haus, erfrischen Sie sich und schütteln Sie den Staub von den Kleidern, wir wollen nachher sofort eine kleine Runde bis zum Frühstück machen.“
Wir leisteten der freundlichen Einladung willfährig Folge und begannen unsere Wanderung wieder, nachdem wir im kühlen Zimmer unseres Freundes ein halbes Stündchen in gemächlichem Geplauder zugebracht hatten.
„Lassen Sie uns zuerst hier eintreten,“ sagte Jules, als wir uns einem der zum Gute gehörigen Wirtschaftsgebäude näherten, „und sehen, wie der edle Wein aus den Trauben bereitet wird.“
Wir traten in einen ziemlich großen Raum ein, welcher fast ganz durch vielleicht ein Dutzend großer hölzerner Bottiche ausgefüllt wurde, die auf starken Untergestellen ruhten. In einem Theile des Raumes befand sich eine Art Tenne, aus starken Hölzern gezimmert, und etwa zwei Fuß über dem Erdboden angebracht. Verschiedene Arbeiter waren damit beschäftigt, die von einem Fuhrwerke herangebrachten Behälter mit geschnittenen Trauben auf diese Tenne zu entleeren; die etwas erhabenen Ränder der letzteren sorgten dafür, daß von dem ausströmenden Safte nichts verloren ging, sondern derselbe gezwungen wurde, sich durch die dazu bestimmte Rinne seinen Abfluß nach dem Bottiche zu suchen, welcher vor der Tenne in Bereitschaft stand.
„Sie sehen dort jenes flache Drahtsieb?“ begann unser Freund seine Erläuterung. „Wohl, auf jenes Sieb, welches wir Délâpoir oder Egrappoir nennen, werden die Trauben geschüttet und die Beeren durch fortgesetztes Reiben mit den Händen von den Stielen befreit, die im Siebe zurückbleiben. Die auf die Tenne fallenden Beeren werden in jene Kufen geschaufelt und es bleibt nun der Natur überlassen, den Saft aus den Häuten zu gähren. Ist der Gährungsproceß vorüber und der Most hinlänglich geklärt, was bald längere, bald kürzere Zeit dauert, so wird er auf Fässer gebracht und empfängt nun die gehörige Behandlung, welche in fortgesetztem Klären, Wechseln der Fässer und Auffüllen derselben besteht.
Der so gewonnene Wein giebt die erste, bessere Sorte und erzielt den höheren Preis. Damit die Beeren- und Saftrückstände, welche in ziemlich reichem Maße an den Stielen und in den Häuten haften geblieben sind, nun aber nicht verloren gehen, nimmt man die letzteren und bringt sie unter die Presse, um daraus die zweite, geringere Sorte, oder vin de presse, auch vin de queue genannt, zu gewinnen.“
„Entschuldigen Sie,“ unterbrach ich Jules, „ich habe bisher immer geglaubt, daß der Wein durch Treten der Trauben mit den Füßen bereitet würde.“
„In der That war dies früher das allgemeine Verfahren,“ erwiderte unser Begleiter, „doch hat sich die neue Methode, der Natur die Hauptsache zu überlassen, bereits immer mehr und mehr Bahn gebrochen, wenngleich verschiedene Winzer noch immer halsstarrig bei der alten verharren, so daß Sie noch heute, wenn Sie wollen, manches lustige Völklein nach dem Klange der Fiedel auf der mit Trauben bedeckten Tenne umhertanzen sehen können. Auf jeden Fall scheint mir die neuere Art der Weingewinnung, die auch wir adoptirt haben, mit keinen Nachtheilen gegen die frühere verbunden zu sein.“
„Sicherlich,“ bemerkte Adolph, einer meiner Reisegenossen, auf die nicht sehr sauberen Füße eines Arbeiters weisend, „hat die neue Methode den Vortheil voraus, daß sie bedeutend appetitlicher ist.“
„Allerdings,“ erwiderte Jules lächelnd; „doch hören Sie, wie es in den Kufen hier rumort. Der heurige Wein“ – er sprach von einem der letzten Jahrgänge – „hat ungewöhnliches Feuer in sich, die Gährung beginnt so zu sagen schon auf dem Felde, und wenn so ein Weinchen behandelt wird, wie es sich gehört, so giebt’s einen wahren Göttertrank. Jedenfalls ist das heurige Jahr ein großes Weinjahr, und vollauf giebt es auch davon, den jede dieser Kufen hier enthält ihre zwanzig bis dreißig Oxhofte; ich fürchte, der Raum wird uns knapp werden, um den Gast gebührend zu logiren. – Jetzt kommen Sie aber mit zum Chai“ (allgemeine Bezeichnung in Bordeaux für Lagerräume, von Weinen namentlich) „und lassen Sie uns ein paar ältere Faßweine probiren; vor dem Frühstück ist der geeignetste Zeitpunkt dazu.“ Jeder von uns nahm ein angezündetes, an einem etwa zwei Fuß langen Stabe befestigtes Talglicht in die Hand und in feierlicher Procession begaben wir uns nach den gegen das Eindringen der Sonnenstrahlen und der Wärme wohlverwahrten Lagerräumen der Faßweine. Verschiedene Oxhofte wurden angebohrt und mußten uns von ihrem Blute spenden.
„Haben Sie keine älteren Jahrgänge als den 1862er hier?“ fragte Adolph, sein Glas gegen das Licht haltend, daß es darin zu funkeln begann wie eitel Gold und Rubinen.
„Gefällt Ihnen der Wein nicht?“
„O, im Gegentheil! Sein Bouquet ist herrlich. Ein Veilchenstrauß, gemischt mit Mandelblüthe, duftet nicht schöner, und die Kehle gleitet der edle Saft hinab, als wäre er das reinste Oel; indeß probirte ich gern einmal ein älteres Gewächs.“
„Diese 1862er,“ erwiderte Jules, „sind unsere ältesten Faßweine, alle vorhergehenden Jahrgänge befinden sich bereits auf der Flasche. Man befolgt nämlich hinsichtlich der Behandlung der Bordeauxweine schon seit Jahren eine den früheren Principien widersprechende Methode. Anstatt den Wein wie früher auf dem Fasse altern zu lassen, wo er nach und nach einen Theil seiner guten Eigenschaften verliert, sperrt man ihn in die Flasche ein, sowie er auf der höchsten Stufe seiner jugendlichen Entwickelung steht, was, je nach Umständen, im vierten bis sechsten Jahre der Fall ist. Der Bursche ist dann wohl noch eine Zeit lang unbändig und wird in seinem eigenen Gefängniß sogar auf Monate lang förmlich krank, d. h. er verliert scheinbar seine guten Eigenschaften, um sie später, wenn sein Trotz gebändigt ist, in einem desto helleren Lichte leuchten zu lassen. Das Alter in der Flasche ist es, was unseren Weinen die rechte Würze giebt, doch ist dabei zu bedenken, daß selbst in der wohlverschlossenen Flasche der Wein am Ende stumpf wird, wie ein hochbetagter Greis, und wenn ich mittheile, daß sich auf dem Château Lafite eine Sammlung von Flaschenweinen sämmtlicher Jahrgänge seit dem Jahre 1797 befindet, nebenbei die einzige Sammlung dieser Art in Frankreich, so müssen Sie die Sache mehr als ein Curiosum ansehen, als den überalten Weinen besonderen Wohlgeschmack und Güte zumuthen.“
Wir verließen den Chai und lenkten unsere Schritte den nahen Weinfeldern zu.
„Lassen Sie uns nur lieber wieder umkehren,“ sagte Jules, stehenbleibend und einen Blick auf seine Uhr werfend, „es ist schon ziemlich spät, und die Weinlese läuft uns nicht davon. [71] Frühstücken wir lieber erst, dann haben wir nachher desto längere Zeit zum Umherstreifen.“
„Wir kommen doch ihrer Frau Mutter nicht ungelegen?“
„Machen Sie sich deshalb keine Sorgen. Es sind heute über dreihundert Menschen dort auf dem Schlosse satt zu machen, und da wird denn doch wohl auch etwas für uns abfallen.“
Unser Freund hatte Recht. Trotz der dreihundert durstigen Kehlen und hungrigen Magen fanden wir ein vortreffliches Frühstück auf dem Schlosse, und was noch mehr werth war, eine warme und freundliche Aufnahme von den Eltern unseres Freundes.
Der Vater unseres Freundes, der alte Herr Mondon, war eben vom Felde zurückgekommen und glühte wie eine dunkele Rose.
„Harte Arbeit das, in diesem Jahre!“ sagte er. „Aber ich bin stolz darauf, daß ich mich mit solchen Ehren aus einer Stellung zurückziehen kann, welche meine Familie mehr als ein halbes Jahrhundert getreulich verwaltet hat. – Frisch auf, meine Herren!“ fuhr er fort, auf die dastehende Flasche deutend, „schenken Sie sich brav ein, das ist 1859er meines eigenen Gewächses, dessen Veredelung ich fortan meine paar Lebensjahre ausschließlich weihen werde. Heute Abend trinken wir noch zusammen ein Fläschchen vom König der Weine, kommen Sie, damit Sie es selbst aus dem Keller herauf holen können.“
Wir folgten nach beendetem Frühstück unserem wackeren Wirth über den Hof und stiegen, jeder mit einer Leuchte ausgerüstet, in die geräumigen, aus vier aneinanderstoßenden Gewölben bestehenden Kellereien des Schlosses herab.
„In diesen Räumen,“ begann der alte Mann, die düsteren Wände beleuchtend, von denen hie und da die Nässe herabtropfte, während sie theilweise dem Blicke durch die davor aufgespeicherten Fässer und Flaschen entzogen wurden, „haben Reichthümer gelagert, für deren Gesammtwerth ein Königreich feil sein würde.“
„So steht der Ruf des Weines von Lafite schon seit langer Zeit fest?“
„Allerdings, wenngleich seine Berühmtheit erst aus einer späteren Periode datirt, als diejenige mancher anderer Gewächse unseres Weinlandes.“
„Bitte, erzählen Sie uns, was Sie über die Geschichte des Schlosses und seines Gewächses wissen.“
„Sehr gern, doch lassen Sie uns erst diese Flasche 1858er für unsere Abendtafel bereit stellen. Wie Sie sehen, werden die Flaschenweine im Keller in horizontaler Lage aufbewahrt und müssen, bevor sie in Angriff genommen werden, mindestens ein paar Stunden aufrecht stehen, damit der Satz zu Boden fällt und sich beim Einschenken nicht mit dem Wein vermischt, was demselben einen Theil seines Bouquets rauben und auch den Geschmack wesentlich beeinträchtigen würde.“
„Führen alle Bordeaux-Weine Satz mit sich?“
„Fast immer mehr oder minder, besonders die älteren Flaschenweine. Dieser Satz, welcher sich aus kleinen, unlösbaren Körpertheilchen bildet, ist indessen weit entfernt davon, schädlich oder ein schlechtes Zeichen für die Güte des Weins zu sein, wie manche Leute zu glauben geneigt sind; er ist im Gegentheil gewissermaßen ein Beweis der Echtheit des Ursprunges, da er nur den Bordeaux-Weinen eigenthümlich ist. Die vorerwähnten Nachtheile vermeidet man dadurch, daß man den Satz von der Flüssigkeit zu scheiden sucht und beim Eingießen in die Gläser möglichst behutsam verfährt.“
Die merkwürdige Sammlung alter Flaschenweine, wie wir sie noch in den Kellereien lagern sahen, die einzige, welche vielleicht auf der ganzen Erde existirte, ist, um dies gleich hier einzuschalten, leider dem Untergange geweiht worden. Bei dem Verkauf des hochberühmten Weinschlosses „Château Lafite“, welches, wie gemeldet, dem Baron James von Rothschild in öffentlicher Auction für vier Millionen einhundertvierzigtausend Franken zugeschlagen wurde, hatten sich die Erben (die Familie des früheren Ministers Duchâtel) das Recht vorbehalten, die in den Kellereien des Schlosses noch vorhandenen Bestände von Weinen, sowie das Mobiliar des Schlosses für ihre Rechnung verkaufen zu dürfen. Am 26. October vorigen Jahres fand darum auf dem Schlosse selbst die Auction dieser Weine statt, welche als ein Curiosum erster Größe bezeichnet zu werden verdient. Das ganze Sortiment bestand aus 5252 Flaschen in den Jahrgängen 1797 bis 1864. Hiervon wurden u. A. bezahlt – die Feder sträubt sich die Thatsache niederzuschreiben: 21 Flaschen des Jahrgangs 1811 (des Jahres des großen Kometen) zu je 121 Franken, schreibe: „hunderteinundzwanzig Franken“ oder zweiunddreißig Thaler acht Silbergroschen die Flasche! Der glückliche Käufer ist Herr Grémailly, der Besitzer des Hotels Des Princes et de la Paix in Bordeaux.
Von den übrigen Weinen gingen einige Flaschen 1823er zu sechszig Franken, eine größere Quantität 1848er zu fünfundsechszig und mehrere Flaschen 1834er zu siebenzig Franken die Flasche weg. Ein Oxhoft des berühmten Kometen-Weines von 1811 würde, zu dem obigen Preise von 121 Franken, mithin 34,925 Franken kosten, das Stückfaß von vier Oxhoften aber 139,700 Franken! Der erzielte Durchschnittspreis überschreitet zwanzig Franken für eine Flasche Wein, der Gesammterlös der Auction aber betrug gegen 127,000 Franken. –
Wir schlugen jetzt den Weg nach dem hinter dem Schlosse gelegenen Gehölz ein, wo im Gegensatze zu der Mittagshitze eine recht angenehme Kühle unter den schattigen Eichenbäumen herrschte.
„Ich wollte Ihnen Einiges über unser Schloß erzählen,“ begann der alte Mondon, als wir uns auf einer weichen Moosbank niedergelassen hatten. – „Wohl! Das Schloß verdankt seinen Namen seiner Lage auf einer Anhöhe, das heißt sein Name rührt von dem nicht mehr gebräuchlichem Worte ‚la hite‘ her, was so viel wie Hügel bedeutet. Lafite ist schon um das Jahr 1355 in alten Annalen als Herrensitz erwähnt, und der Name seiner Besitzer spielt in der Geschichte der Guyenne, namentlich während der Periode der Occupation des Landes durch die Engländer, eine ziemliche Rolle. Einigermaßen befremdend ist es daher, daß sein Wein von den englischen Königen, welche in dieser Beziehung feine Zungen hatten, unbeachtet blieb und erst bedeutend später zur Geltung gelangte, um dann aber freilich seinen Ruf um so glänzender zu behaupten. Erwähnt ist er in der Geschichte zuerst im Jahre 1641, also am Ende der Regierung Ludwig des Dreizehnten, zu welcher Zeit er den Preis von sechszig bis hundert Franken für das Faß von vier Oxhoften erzielte. Mehr geschätzt wurde der Wein schon gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts, nachdem sich ein regelmäßiger Verkehr Bordeaux’s mit dem Auslande gebildet hatte. Seit 1745 war der Wein von Lafite überall geschätzt und wurde schon mit 1500, selbst 1800 Franken bezahlt. Seine wirkliche Berühmtheit verdankt er indessen hauptsächlich dem Marschall von Richelieu, welchem während seines Aufenthaltes in Bordeaux als Gouverneur der Guyenne von seinem Arzte der Château Lafite als angenehmes, tonisches Heilmittel verschrieben wurde. Der Wein soll denn auch so große Wunder an dem Marschall ausgeübt haben, daß nach seiner Rückkehr nach Paris König Ludwig der Fünfzehnte seine Verwunderung über das frische Aussehen des Marschalls offen aussprach. Richelieu gab dem Könige nicht allein die Quelle an, aus welcher er Heilung geschöpft hatte, sondern beschenkte ihn auch gleichzeitig mit mehreren Flaschen des Göttertrankes, welcher nunmehr Modeartikel wurde, da er bei den Favoritinnen des Königs, der Pompadour und später der Du Barry, große Gnade fand. – Trotz der Revolution stieg der Wein im Jahre 1790 auf den hohen Preis von 2200 Franken für das Stückfaß, welcher seitdem, von Mißernten abgesehen, in stetem Wachsen geblieben ist. Im Jahre 1792 erklärte der Convent Château Lafite zum Nationaleigenthum. Bald darauf wurde die Besitzung durch eine holländische Gesellschaft erworben und gelangte dann in die Hände des Herrn Van der Berghe, des bedeutenden Lieferanten des ersten Kaiserreichs. Nach dessen Tode verwaltete es nachmals eine Reihe von Jahren hindurch der Londoner Bankier Sir Samuel Scott als Fideicommissar der Erben, um es diesen, der Familie des früheren Ministers Duchâtel, zu sichern, bis es die letztere endlich vor Kurzem selbst in Besitz nehmen konnte.“
Literarische Briefe.
Sie sehen, liebenswürdige verehrte Frau, es wird in der That Ernst! Nicht nur, daß ich die Briefe über Literatur und allerlei der Literatur Verwandtes, die Sie bei mir, um es kurz zu sagen, bestellt haben, wirklich schreibe; ich umgehe auch die Briefbeförderungsanstalten des kaiserlich französischen Generalpostmeisters Vandal, dessen Name schon allein ein Protest gegen die Lehre vom Schönen ist, und schicke Ihnen meine Antworten auf Ihre dringend von mir erbetenen und Ihrerseits hoffentlich nie ermüdenden Fragen durch – die „Gartenlaube“. Sie sagten mir in Baden-Baden in jener feierlichen Stunde, wo Sie mir gelobten, dem Genius der deutschen Literatur auch in Ihren glänzenden Gemächern auf dem Boulevard Sewastopol treu zu bleiben (eine Flucht wilder Holztauben schoß grade aus dem Tannenwalde bei Ebernsteinburg in’s abendrothverklärte Murgthal hinunter), Sie wollten die Beruhigung gewinnen, nein, „verbesserten“ Sie sich (ich sage, verschlechterten Sie sich mit einem Rückfall in Ihren französischen Cursaal–Esprit), die Schadenfreude genießen, wenn ich Irrthümer lehrte, dann auch recht zahlreiche – Mitgenossinnen Ihres Irrens zu haben.
Zunächst sei auch die Erlaubniß, die Sie mir gewährt haben, beim Wort genommen, die Situation grundiren zu dürfen, der Berliner würde sagen: den Standpunkt klar zu machen, der diese Briefe veranlaßt hat.
Zerknirscht von Scham, seit zehn Jahren, wo Sie dem schönen Berufe leben, in Paris Ihrem Gatten den Schweiß von der Stirn zu wischen, den er täglich von der Börse mitbringt – Schweiß im weitesten Sinne des Worts, Wagen und Pferde, ein Landhaus in Passy, einen Koch, fünf Domestiken – ich sage, zerknirscht von Scham über Ihre gänzliche Verwilderung (ich brauche Ihren eigenen Ausdruck) über die deutschen literarischen Dinge, opferten Sie sich wie der Pelikan und öffneten sogar Ihre eigne Brust, indem Sie also sprachen: „Schildern Sie über die Veranlassung Ihrer Briefe getrost Alles! Wenn Sie wollen, sogar unsern Loulou und unsre Eugenie“ – worunter Sie nicht etwa den kaiserlichen Prinzen oder den Kaiser und die Kaiserin, sondern Ihre eignen Kinder verstanden, die Ihr Gatte, dessen Bruch mit Deutschland seit dem 18. Juli 1866 unwiderruflich geworden zu sein schein! (als ich ihm die martialische Schönheit der an jenem Tage in Frankfurt eingerückten preußischen Kürassiere schilderte, riskirte ich fast den Bruch unsrer alten langjährigen Freundschaft), auf die hohen Schutzheiligen des europäischen Friedens getauft sehen wollte. „Schildern Sie“ – fuhren Sie fort – „wie wir uns, als wir von Kreuznach kamen, in Bingen begegneten, als alte Freunde bis Bieberich zusammen auf dem Dampfboot reisten, wo uns von Frankfurt kommend die Großmama, ebenfalls eine Freundin Ihrer Jugend, begrüßte, um uns die Kinder so lange aufzubewahren, während wir noch nach Baden-Baden etc. etc. Da fahren Sie dann fort –!“
Gut, ich fahre fort. Dies Begrüßen der Großmama, dies Abschiednehmen von den Kindern, diese Verständigungen über das Größere, dies Nichtvergessenkönnen auch des Kleineren – wie es eben bei solchen Trennungen geht – ich bewunderte dabei das internationale Leben unsres Jahrhunderts. Deutsch, französisch, englisch ging die Conversation hin und her. Selbst die Frau Mama war halb eine Madame de Staël und cursalonfähig für Homburg, halb blieb sie frankfurterische „Frau Rath“ oder, wie Sie schlimmes Töchterlein meine schon damals in diesem Sinn gemachte Charakteristik verbessern wollten, halb Frau Speyer von der Schönen Aussicht.
Ich fahre aber fort im Abstecken des Terrains. Loulou und Eugenie waren geschmackvoll gekleidet, ganz im Geist ihrer Mutter. Doch ringsum die Jugend auf dem Dampfer, die in Bieberich ausstieg oder noch neu dort hinzukam! Ausgeputzt war sie, nicht blos nach dem regelmäßigen Cancangeschmack des Modejournals, nein, sogar nach den Phantasieen der Carnevalszeit oder – der Affenbude. Rothe Blousen, Spazierstöckchen, türkischer Fez bei den Jungen – bei den Mädchen auf dem Rücken chinesische Schleifen, die fast noch größer waren als die Kinder selbst. Und die Conversation! Fast Alles waren es halbe Franzosen, halbe Engländer und selbst in Ihrem Kreise wurde die Frage über die berühmten, auf der Taunuseisenbahn bei Höchst regelmäßig den Passagieren angebotenen und „Bubenschenkel“ genannten Bretzeln so erledigt: Loulou: „Maman, quand reviendrez-vous de Bade-Bade?“ Sie: „In fünfzehn Tagen!“ (Ein Gallicism, Madame, da Schiller und Goethe gesagt haben würden: „In vierzehn Tagen!“) Eugenie: „Grand’mere, j’ai tant faim! Quand est-ce que nous serons à Höchst pour trouver ces petits gâteaux: Les Bubenschenkel?“ Großmama: „What do they know of Bubenschenkel?“ Edgar, Ihr Gatte: „Quels gâteaux?“ Großmama: „Fi, Eugénie, une jeune dame ne parle pas des jambes d’un garcon!“
Nicht wahr, das ist die Goethe’sche „Weltliteratur“! Das ist Arminius, von Rom nach Deutschland zurückgekehrt und in Mußestunden den Horaz lesend! Thusnelda, ab und zu ein Liedchen von Anakreon summend! Luther, eine Controverse gegen Heinrich VIII. in englischer Sprache schreibend, so daß sie Herr von Tauchnitz sogleich in seine Collection of german Authors aufnehmen kann! Und Shakespeare – ein regelmäßiger Tantiemenbezieher vom Burgtheater!
Wir dampften bereits, schon von Bieberich bis Mainz in die vollen Rechte unsrer alten Freundschaft und auf dem Bahnhof sogleich in ein Nichtrauchcoupé eingetreten, nach Worms, wo der Nibelungenhort im Rheine begraben liegt und im Rosengarten einst die Burgundenfürstinnen lustwandelten und verwitterte Synagogentrümmer von alten gräßlichen Zeiten erzählen, wo man Anlehen, die man bei den Juden gemacht hatte, einfach durch Mord und Todtschlag der Gläubiger amortisirte. Das Lutherdenkmal gab endlich Veranlassung, Ihnen, schöne Frau, und selbst Ihrem Gemahl einige Almosen der Wiederanerkennung Deutschlands abzugewinnen. Es war (von der letzten Ausstellung in Paris) Ihre Phantasie zwar noch durchaus erfüllt von Ihren Madonnen und Phrynen, von Ihren Magdalenen und Laïs (denn so berühren sich ja in Frankreich die Extreme); da mußte Ihnen aber doch die Kraft, die Weihe, der heilige Ernst dieser ehernen Gestaltengruppe überwältigend erscheinen. Ja Sie erhoben sich bereits, mit jener schönen, in der Regel nur bei den Frauen anzutreffenden Parteilichkeit, gegen einige Rügen, die der kaustische Witz Ihres Gatten, denn doch nicht ganz hatte unterdrücken können. Er tadelte an den Gestalten zuviel – „Rückengegend“.
„Doctor!“ hieß es dann von Ihren beiderseitigen Lippen als Aufforderung, daß ich, ein Studirter, der „im Schönen machte“, über diese „Rückenprofile“ meine Ansicht sagen sollte. Beim Herumklettern über die Erdhaufen, die dem großen Werke erst eine Umgebung schaffen sollen, murmelte ich etwas von einem andern Platz, den man erwartet hätte, von einer gewissen hartnäckigen Frau, die sich in einem ihrer Gartengrundstücke nicht hatte wollen stören lassen, von einem Platz, der in der Stadt selbst am geeignetsten gewesen wäre, wenn nicht leider die dicht daranstoßende Kirche eine katholische gewesen. Weiter kam damals die Debatte nicht. Ich will aber gern das damals verschwiegen Gebliebene hier nachholen. In der That, ich glaube, Ihr Gatte hatte Recht, liebe Freundin! Vor fast zehn Jahren stellte Rietschel auf der Brühl’schen Terrasse in Dresden das erste Modell seines Lutherdenkmals auf. Als ich mich unter die Bewundernden mischte, wagte ich, den Meister, der in solchen oppositionellen Dingen zart, artig, sinnpflanzenartig behandelt werden mußte, auf die Monotonie aufmerksam zu machen, die in dem Blicken fast aller seiner Figuren nach Einer Richtung läge. Das Unschöne von nichts als flachen Rücken blieb dabei nicht verschwiegen. Ich rieth dem Meister, die Gestalten mit dem Rücken nach dem Innern hin umzuwenden, und behauptete, daß ein Hinausblicken der Gruppe in alle Lande auch diejenigen Gestalten, die jetzt nur zu Luther wie bloße Supplemente seiner Person herauskämen, dann wie Wächter für ihn, wie selbstständige Vor- und Mitarbeiter erscheinen lassen würde. Ich wurde jedoch ab- und auf eine zu erhoffende architektonische Anlehnung verwiesen. Rietschel ist gestorben. Jene Anlehnung blieb aus. Es ist denn auch der [73] Totaleindruck des Ganzen in der That jener gemischte - erhaben und dennoch steif, lebenswahr und dennoch nicht recht lebendig. „Deutsch!“ würde ihr Gatte gesagt haben.
Warum schwieg ich aber damals? Weil mich Ihre Ergriffenheit von dem Standbilde, Ihre Vertheidigung desselben, Ihre wiedererwachte Empfänglichkeit für die Heimathsluft rührte. L’idée de l’infini, wie Sie sagten, das Reich der „Ahnung“, die unbestimmte Sehnsucht, das wurde ein Gebiet, worüber Sie nicht mehr lächelten. Deutsche Kunst -! Der deutsche Gedanke, getragen von den Schwingen des schaffenden, gestaltenden Genius -! Ja, Sie fühlten wieder die Eigenart Ihres Volkes, unsre Kraft, unsre zähe Ausdauer, die eiserne Festigkeit unsres Willens -! Sie hörten die Quellen wieder rauschen, aus deren Tiefe wir jene Schalen füllen, aus denen sich der Rausch der Begeisterung trinkt!
Die Fahrt ging jetzt schnell genug über Ludwigshafen, Heidelberg, Karlsruhe nach Baden-Baden. Wenn ich Ihnen da gestehen mußte, daß ich in vielen Jahren das deutsche Pied à terre der Franzosen, wie ihr Gatte es nannte, nicht gesehen, jedoch der Meinung bin, ein deutscher Autor müßte regelmäßig dann und wann grade hieher reisen um sich die aufsteigenden bunten Blasen des Zeitgeistes und jene üppige Müßiggangsstimmung der Zeitgenossen anzusehen, an welche ja mehr oder weniger jede schreibende Feder anzuknüpfen hat (denn in Werkeltagsstimmung liest man nichts), so waren schon meine jungen Freunde und Reisegenossen vollständig wieder im Bann dieser bezaubernden Armidawelt, sowie sich nur am Kieselbett der „Oos“ die ersten wieder neuerstandenen Hotels und Pensionen erhoben. Nun, ich ließ Sie die volle Strömung der Wettrennen, der Corsofahrten, der Spieltische, der Reunionen und der Toilettenentfaltungen mithinuntergleiten. Es ist eben in Baden-Baden die reizende Natur, die dort die Thorheiten der Menschen in einem Licht erscheinen läßt, als drückten sie eigentlich die wahre Weisheit alles Lebens aus. Dieser blaue Himmel, diese grünen Berge, diese murmelnden Waldquellen, diese malerischen Fernsichten von altergrauen Burgruinen, von einsamen Capellen aus, ja selbst die treuherzige Naivetät der umwohnenden Bevölkerung – alles das ist die Staffage des Himmels zu dem, was man im Qualm eines Tanzsalons, im „Mabille“ von Paris, im „Orpheum“ von Berlin, ungefähr die Hölle nennen würde. Man glaubt hier in einer Phantasmagorie zu leben. Oder wäre denn wirklich jene grünschillernde blonde schlanke Frauengestalt, die dort mit einem Russen über ihren eben erlittenen Spielverlust verhandelt, die „berühmte“ Cora Pearl oder nicht vielmehr ein verzauberter Nachtschmetterling, ein Grand’ville’scher Blumengeist, ein verkörperter botanischer Begriff, Zehr- auch Drachenwurzel etwa, Monoecia Polyandria Linné? Ich zeigte Ihnen damals, verehrte Frau, „die Klingelcapelle“ an der Murg - es war an jenem Abend, wo die wilden Tauben aufflatterten! Dorthin hat die mittelalterliche Sage einen Eremiten verpflanzt, der einst in Sturm und Regen durch Pochen an seine Hütte erschreckt wurde. Ein schönes Weib, in durchsichtigen Kleidern, grade, als wäre sie eben dem Cursaal an der Oos entlaufen, baarfuß aber, mit aufgelösten Haaren, begehrte Einlaß, begehrte Rettung vor dem Unwetter. Ein Glöcklein fein wie Silberton erscholl jedoch aus der Höhe, und siehe! unser Eremit merkte Unrath und nahm die Teufelin nicht auf, ließ vielmehr die Aermste, die vielleicht am Spieltisch eben ihre sämmtlichen Ersparnisse und die Protection des Jockey-Clubs verloren hatte, in Nacht und Verzweiflung stehen und in die dunkle, dunkle Welt hinaus weiter rasen. „Ganz ein Stoff, welchen der Abbate Liszt,“ meinte da ihr Gatte, „der rechte Mann wäre, in eine zukunftmusikalische Ballade zu verwandeln.“
Und damals, eben an jenem Abend (die Glocken läuteten von Kuppenheim herüber, über die Gräber der im Bruderkampf vom Jahre 1849 dort Gefallenen) und beim Heimfahren durch die mondbeschienenen Wälder und Schluchten, stand es denn fest, daß von Ihnen eine „Lücke“ Ihres geistigen Lebens, Ihres Herzens, empfunden und eingeräumt wurde. Das Bekenntniß wurde gemacht sogar eines gewissen Ueberdrusses an dem zwar die Augen blendenden, aber nicht das Herz erfüllenden Erscheinungen des Pariser Lebens. Die Aufforderung erfolgte, Sie wieder einführen zu sollen in die Hallen des deutschen Lebens, soweit eben Bücher, Zeitschriften, jetzt sogar schon die Mode gewordenen Wandervorträge das Leben eines Volks ausdrücken können. Den Ausschlag hatte das für eine Deutsche beschämende Geständniß gegeben, daß Sie in Paris seit zehn Jahren nichts Deutsches mehr, außer ab und zu eine von Mama eingesandte Nummer der „Didaskalia“, gelesen hatten - „selbst keine Zeile von Ihnen!“ setzte Edgar’s vieldeutige Ironie hinzu.
Gewiß, theure Freundin, es geschieht auch bei uns nachgerade Alles, die Literatur, ich möchte es nicht nennen, zu französiren, sondern zu amerikanisiren. Amerika ist das Land des praktischen Verstandes. Amerika gestattet sich den Luxus der Ideen nur, wenn sie zu etwas nütze sind. Wenn Romeo sagt: „Was nützt mir die Philosophie, kann sie nicht schaffen eine Julia!“ so sagt der Amerikaner: Was nützt mir die Beschäftigung mit dem Schönen, dem Erhabenen, dem Unendlichen, dem Jenseitigen, wenn dadurch nicht die Eisenbahn zwischen beiden Oceanen fertig oder wenigstens auf einer Fahrt mittels derselben in etwas die Langeweile vertrieben wird! Die Beherzigung des Goethe’schen Wortes: „Nur der Stoff entscheidet, auf die Behandlung kommt es weniger an!“ hat auch bei uns kolossale Dimensionen angenommen. Unsre ganze sogenannte schöne Literatur von heute ist überwiegend Unterhaltungsliteratur geworden.
Eine Unzahl von Zeitschriften ist entstanden, die in der Regel lediglich den Unterhaltungszweck verfolgen. Große politische Blätter ahmen das Beispiel nach, das zuerst von den französischen gegeben wurde, ein unerquicklich, langweilig gewordenes Einerlei der in Stillstand gerathenen politischen Epoche durch Erzählungen zu unterbrechen, durch welche überdies auch die an den politischen Dingen weniger interessirten Frauen für Beibehaltung einer alten, für Anschaffung einer neuen Zeitung gewonnen werden konnten. Eine Lesesucht kann schon lange beobachtet werden, die vielleicht immer vorhanden gewesen ist, sich aber nie so wie jetzt an Hülfsmitteln zur Befriedigung derselben betheiligte, die allen zu gleicher Zeit in solchem Grade zugänglich geworden sind. Wo man sonst an seinem Localkalender studirte, wird jetzt die in Leipzig oder Stuttgart erscheinende allgemeinbekannte Zeitschrift gefunden. Die Culturwirkung dieser Erscheinung ist außerordeutlich. Letztere kommt zunächst hier weniger in Betracht, als die daraus abzuleitende Rückwirkung auf die darstellende, schaffende Feder selbst. Kann diese Rückwirkung der Idee des Schönen nützlich sein? Kann diese fieberhafte Hast nach immer wieder neu fesselnden und spannenden Bildern aus dem großen Kaleidoskop der Welt und des Menschenschicksals, das die Hand des Dichters schüttelt, das Ausleben einer wahren dichterischen Individualität unterstützen? Droht nicht vielmehr der reine Quell alles wahren dichterischen Schaffes zu versiechen? Denn keinesweges, trotz des Goethe’schen Wortes, in welchem auch mehr eine Lehre der Klugheit und Vorsicht enthalten scheint, als eine zugestandene Regel der Kunst, liegt doch wohl im Erwecken der Neugier, in einer virtuosenhaft ausgebildete Kunst der Unterhaltung die wahre Aufgabe der Literatur eines bedeutenden Volkes.
Denken Sie sich nur, wenn unsre Classiker, unsre Klopstock, Lessing, Goethe und Schiller, uns nur als Verfasser von Novellen und Romanen bekannt geworden wären! Nur als Erfinder von Lebensbildern mit regelmäßiger Beglückung zweier liebenden Paare! Daß sich allerdings die moderne Literatur vorzugsweise auf den Roman begründet, daß überhaupt die Poesie keine andre Stätte mehr im Leben zu haben scheint, als dort, wo sie sich den übrigen Künsten, deren lediglich „verzierende“ Mission gegenwärtig außer Zweifel gestellt zu sein scheint, anschließt, ein auch hierin liegendes tieferes Gesetz erkenne ich vollkommen an und weiß, was in unsern Tagen das Epos zu bedeuten hat, natürlich das moderne Epos, eben der Roman. Dennoch thut es immer und immer gut, die hohen Ziele alles Schriftwesens einer Nation im Auge zu behalten und sich vom wahren Wesen des Schönen, vom Idealen die Vorstellung zu bewahren, daß es zu thronen habe auf dem Allerheiligsten der Menschheit, in der Nähe jener Bundesladen, die unsre Einigung mit dem Himmel bezeuge, in der Nähe jener ewigen Lampen, die nur die Liebe unterhält, die zwecklose, nur um ihrer selbst willen lodernde Liebe. Deshalb mag ich auch die platonische Bestimmung über das Wesen des Schönen, die in ihm eines der ewigen Urbilder der Gottheit erblickt, lieber hören als die der englischen philosophischen Empiriker des vorigen Jahrhunderts, die im Schönen nur die Bürgschaft des Vergnügens und eines sinnlichen Wohlgefallens finden wollten.
Denn, meine hochverehrte Freundin, das ist nun der besondre Reiz, den die Beschäftigung mit ihrer vaterländischen Literatur gewährt, sie hat eine stete Beziehung zur allgemeinen Theorie der Schönheit. Ich gebe zu, daß die Pariser Dramatiker besser daran [74] sind, wenn sie von Feuilletonisten beurtheilt werden, die von einem neuen Lustspiel zu sprechen vermögen, ohne sich davon immerfort an Aristophanes, von einer Tragödie, ohne sich an Sophokles erinnern zu lassen. Ja ich gestehe Ihnen, diese Schulfuchserei eines gewissen vornehmen Recensententhums ist in Deutschland nicht nur unerträglich für die Personen, die schreiben, sondern sogar in hohem Grade verderblich für die Sache. Dennoch ist es so schön, in unserm besseren literarischen Leben immer jene ehernen Tafeln aufgehängt zu erblicken, die in unserm ganzen Streben und Sein, auch im politischen, auf jenen Wolkenhöhen ersichtlich thronen, von welchen sie zuweilen, wie Schiller gesagt hat, der Mensch mit Riesenarmen herunterlangt, wenn ihm die Tyrannei hienieden menschliches und göttliches Recht auch allzulange verweigern will. Ich vermisse in allen Literaturen, außer der deutschen, diesen hohen Flug des Gedankens, diese stete Bezüglichkeit des gegebenen Einzelnen auf ein Allgemeines, diese Einreihung der individuellen Kraft in die große Gesammtaufgabe einer nationalen Kunst- und Literaturgeschichte überhaupt. Vergleichen Sie nur die, bei Vielem, was sich rügen ließe, so würdige Arbeit unsres Gervinus über Shakespeare mit einem jener Cours d’histoire littéraire der Franzosen z. B. selbst von einem Villemain! Kann man sich des Lachens erwehren über die aufgeputzte Darstellung, über das Herauskehren alles dessen, was lediglich auf die Phantasie wirken soll, lediglich dem Reiz der Anekdote entspricht? Muß man nicht bald ein Buch zur Seite legen, wo man im Texte lesen kann (meistens sind diese Literaturgeschichten Nachschriften von gehaltenen Vorlesungen): „Rires“ oder „Applaudissemens“? Der Nachschreiber hat nämlich die Stellen bezeichnet, wenn aus der Sorbonne, wo der Redner sprach, eine Pikanterie über Ariost Gelächter, eine Tirade über Dante Händeklatschen hervorbrachte.
Was ist das Schöne? Diese Frage beschäftigt noch immer unsre Philosophie, und gerne möchte ich Ihnen den gegenwärtigen Stand der Discussion darüber schildern. Es soll im Nächsten geschehen. Heute sage ich Ihnen nur, daß ein alter Freund ihres Bruders, Professor Lazarus in Berlin, kürzlich diese Frage, ganz wie Columbus die Frage über das aufrechte Hinstellen eines Eis, dahin beantwortet hat, daß sich ihre Lösung von selbst verstünde. Das Schöne brauche nicht definirt zu werden. Jeder wisse eben schon von selbst, was schön sei. Allerdings fiel mir dabei ein, daß ich unsern gemeinschaftlichen Freund Ferdinand Hiller einst im Interesse einer mit mir zu Grabe gehenden, hienieden unentdeckt gebliebenen Tenorstimme über die beste Art der Tonbildung um Belehrung ersuchte und die Antwort erhielt: „Bilden Sie den Ton so, daß er sich angenehm hören läßt!“ Und einen Herrn W. aus Mainz, einen Weinreisenden, der mich manches Jahr hindurch „zu meiner Zufriedenheit bediente“, fragte ich einst gelegentlich: „Geben Sie mir, Bester, die vollkommenen Merkmale eines guten, unverfälschten Weines!“ Worauf er, durchaus wie Hiller über die Tonbildung und Lazarus über das Schöne, erwiderte: „Wein müssen Sie so trinken können, daß er Ihnen auf der Zunge keine Störung verursacht!“ Aber – dennoch habe ich das alte Vorurtheil, doch für eine genauere Definition des Begriffes „Schön“ zu sein, und werde ihnen in meinem Nächsten darüber Mancherlei, auch von Herrn von Kirchmann’s neuer Aesthetik erzählen.
So sind wir denn mit dem Begriff des guten Weines wieder angekommen in - Mainz, wieder bei unsrer Begegnung auf dem herrlichen Rheinstrom in diesem verflossenen unvergleichlichen Sonnenjahr 68. Für heute breche ich ab und bin mit dem Ausdruck all’ jener Hochachtung, von welcher Sie wissen, daß etc. etc. Kesselstadt bei Hanau, den 2. Januar 1869.
Die Sprache des Gesichts.
Was man dem Menschen schon Alles an der Nase ansehen kann, ist unlängst in der Gartenlaube durch Wort und Bild gezeigt worden. Aber dieser Lungenschornstein ist nur der unbewegliche Thurm in der Gemeinde von Gliedern, körperlichen und geistigen Kräften, welche zusammen den gesellschaftlichen Freistaat eines menschlichen Wesens bilden. Viel mehr und fast Alles, was im Innern des Menschen verhandelt wird, sehen wir ihm in dem beweglichen Gesicht an. Die Muskeln desselben, welche unter der Haut wie eine sonderbare Maschinerie von Strähnen und Zügen, von elektrischen Batterien und Drähten vertheilt sind, dienen den von außen wirkenden Eindrücken, Gefühlen und Leidenschaften als elektro-telegraphische Apparate, durch welche ganz leserliche Zeichen auf dem Gesicht ausgeprägt werden.
Das Verständniß dieser Zeichensprache, seit Jahrhunderten von den besten Gelehrten vergebens gesucht oder ganz und gar geleugnet, ist auch jetzt noch sehr neu und unvollständig, aber sie wird endlich sicherlich ebenso gut entziffert werden, wie die ägyptischen Hieroglyphen und die Keilschrift. Etwas davon verstand und versteht jeder Mensch, am meisten freilich die Kinder. Es ist uns Allen geläufig, von einem finsteren und heiteren Gesicht, von lachenden Augen, trägem, lebhaftem, festem, sanftem, unstetem, verstecktem, entzücktem, verrücktem, bösem und tückischem Blick, finsterem Stirnrunzeln, Kainstempeln, sauren Mienen, bitterem Ausdruck, süßem Lächeln, weinerlichem, sauersüßem Munde, gepreßten oder gekniffenen Lippen etc. zu sprechen, womit wir also unwillkürlich zugeben, daß alle Theile des Gesichts durch ihre verschiedenen Bewegungen und Stellungen zu einander eine Zeichensprache bilden und wir sie auch verstehen und übersetzen können.
Talleyrand, der da sprach, um seine Gedanken zu verbergen, schloß beim Reden die Augen, damit ihn diese nicht verriethen; hörte er aber einem anderen Diplomaten zu, so heftete er seinen scharfen Blick fest auf dessen Gesicht und verließ sich blos auf die physioginomische Sprache, welche auch der geübteste und listigste Lügner und Heuchler nicht verwirren oder ganz verwischen kann. Und doch leugnete noch der berühmte Physiolog Johannes Müller die Beziehungen der Gesichtsmuskeln zu den inneren Gefühlen und Leidenschaften! Lavater hatte für ihn umsonst den Grund zur Deutung der Gesichtssprache gelegt, obwohl dieser den Menschen mehr nach seinem festen Kopf- und Gesichtsgepräge, als nach den lebendigen telegraphieren Zeichen der Mimik beurtheilte.
Erst Oken suchte der sogenannten Physiognomik einen wissenschaftlichen Halt zu geben. Er nahm an, daß die Knochen und Muskeln des Kopfes gleichsam zu Kopfe gestiegene Glieder des Körpers seien und der Schädel eine erweiterte Wirbelsäule. Das Mienenspiel ist ihm nur eine Wiederholung der Gliederbewegungen und der Leidenschaften, welche durch diese ausgedrückt werden. Schiller nannte dies eine Idee, welche Goethe durch seine Metamorphose der Pflanzen von der Fauna auf die Flora übertrug.
Auf Oken’s Grundlage baute nun neuerdings ein Dr. Piderit sein wissenschaftliches System der Mimik und Physiognomik auf.[1] Das ist wirklich ein ordentliches ABC-Buch der allen Menschen gemeinsamen stummen Universalzeichensprache des Geistes im Gesicht. Er giebt auch genau an, wie diese Zeichen durch die elektro-telegraphischen Apparate der Muskeln entstehen, je nachdem die verschiedenen Gefühle und Leidenschaften darauf drücken und spielen. Wir sehen förmlich in Wort und Bild, wie sie dies bewerkstelligen. Welch’ eine unendliche Masse von Worten und Sätzen dadurch entstehen, macht er selbst durch ein musikalisches Bild anschaulich. Wie nämlich aus den sieben ganzen und fünf halben Tönen der musikalischen Octave unendliche Verbindungen zu Melodien und Harmonien componirt werden, so bilden auch diese beweglichen Gesichtszüge aus ihren einfachen Sätzen und Stellungen eine unbegrenzte stumme Musik oder vielmehr Notenzeichen der durch Gefühle und Leidenschaften in Schwingungen versetzten Nerven und Muskeln. Sehr wichtig hierbei ist die Grundwahrheit, daß körperliche und geistige Bewegungen, sinnliche oder blos eingebildete Sinneseindrücke ähnliche Wirkungen hervorbringen. So erzeugen z. B. anhaltende Anstrengungen sowohl körperlicher als geistiger Art jenen verbissenen Zug des Mundes und die senkrechten Stirnfalten (Figur 32), die man ebenso auf den Gesichtern von Schmieden, Lastträgern und Bauern, wie in den Physiognomien von Verbrechern, Trotzköpfen und erhabenen Philosophen finden kann. Bei ersteren spannen sich die Muskeln der Kinnladen und Augenbrauen
[75] durch entsprechende Thätigkeit der Arme und Beine, bei letzteren durch leidenschaftliche oder geistige Gespanntheit. Auch kann Niemand einen großen Schritt oder Sprung machen, ohne Augen und Gesicht zu erweitern, wie sich auch bei geistigen Sprüngen, genialen Einfällen Augen und Muskeln gleichsam aufthun.
Sokrates sagt: „Rede, damit ich Dich sehe!“ und Jesus Sirach: „Der Vernünftige merkt den Mann an seinen Geberden.“ Man muß also etwas Weisheit und Vernunft, kurz eine Wissenschaft, ein Studium daraus machen, die Gesichtssprache zu verstehen. Bei diesem Studium aber, dem Ablesen von der telegraphischen Scheibe des Gesichts, müssen wir uns erstens an sichere Zeichen, zweitens an solche Gesichter halten, die nicht durch äußerliche Zuthaten und sonstige Entstellungen das Lesen erschweren oder unmöglich machen. Sichere Zeichen sind die anatomisch genau erklärten und in Abbildungen gegebenen Grundzüge Piderit's. Durch diese lernen wir zunächst buchstabiren und dann erst allmählich die unendliche Mannigfaltigkeit von zusammengesetzten Worten lesen.
Wir wählen hier die beiden bekanntesten Grundzüge des menschlichen Gesichts, zugleich die wesentlichen Vorzüge vor allen Thieren aus, nämlich das Lachen und Weinen, weil wir hier zugleich der Lösung eines der tiefsten Räthsel des menschlichen Herzens und Gesichts auf die Spur kommen. Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt und vom Lachen zum Weinen nur ein Strich, ein „Knick“. Die Gesichter Figur 1 und 2 sehen wie Zwillingsbrüder aus, und doch stellt das eine vollendetes Lachen, das andere entschiedenes Weinen dar. Worin liegt der Unterschied? Die höchste Lust kann tödtlich werden, wie es auch sprüchwörtlich heißt, daß etwas zum Todtlachen sei. Die höchste Erregung der Lust verwandelt sich in einen peinvolle Krampf, der die Augenbraue zusammenzieht, wie der bitterste Schmerz (Figur 1).
Umgekehrt verschafft der Weinkrampf, der bekanntlich oft zugleich ein Lachkrampf ist, dem Leidenden Linderung, so daß sich die schmerzvollen Züge mit Thränen auf den Backen erheitern, wie eine Landschaft mit tropfenden Bäumen, wenn hinter dem abziehenden Gewitter die Sonne hervortritt und herablächelt, und also die äußerste Grenze von Lust und Schmerz in ihrem mimischen Ausdruck selbst bis auf die Thränen unmittelbar nebeneinander liegen. Thiere können weder lachen noch weinen. Thränen sind Perlen unseres Gemüths, Diademe des königlichen Geschlechts auf der Erde. Sie entspringen aus einem reiz-, geist- und lebensvollen Hirn, für dessen überfluthende Thätigkeit die Thränendrüsen einen Abzugscanal bilden. Es giebt kein größeres Leid, keinen gefährlicheren Schmerz als den, welcher im trockenen Auge brennt und nicht durch lindernde Thränen abgeleitet wird. Solches Elend endet oft mit Tod oder Wahnsinn.
Den Thränendrüsen, als dem Ventile des empfindlichen Gehirns, entspricht das Zwerchfell, die Trommel unserer Lungen, beim Lachen. Lachen und Schluchzen erhalten die Herzens- und Athmungsmusik des Lebens in wohlthätiger Bewegung. Die Erklärung für die Einheit des Lachens und Weinens liegt in physiologischen und philosophischen Tiefen, welche wissenschaftlich noch nicht ergründet sind. Nur dem scharfen Denker Dr. Arnold Ruge ist es in seinem Buche über das Komische gelungen, das Wesen des Lächerlichen wissenschaftlich darzustellen, aber die körperlichen Processe beim Lachen und Weinen verlieren sich noch jenseits der Grenzen der Physiologie. Wir wissen nur, daß die Thränen des Schmerzes durch das Gehirn und die des Lachens durch das Zwerchfell ausgepreßt werden. Die Kämpfe und Krämpfe des Körpers in höchster Lust und Traurigkeit gehen aus einem überwältigenden Gefühl oder Bewußtsein von gleichsam zusammenblitzenden Widersprüchen oder Gegensätzen hervor. Die Wirkungen dieses Blitzes sind in beiden Fällen Erschütterungen und Entstellungen des Gesichts ganz gleicher Art, nur mit einem einzigen unterscheidenden Zuge, so daß man wirklich, wie es Rubens oder Raphael gethan haben sollen, mit einem Striche ein lachendes in ein weinendes Gesicht verwandeln kann.
Welches von den beiden Gesichtern, Figur 1 und 2 lacht, und welches weint? Auf den ersten Anblick giebt wohl selten Jemand gleich die richtige Antwort. Nur wenn wir die obere Hälfte beider Gesichter, die sich ganz gleich sind, bedecken, finden wir wohl in dem unteren den Unterschied des entschiedenen Lachens und Weinens und sagen, daß Figur 1 lache und um den Mund von Figur 2 der Zug des weinenden Schmerzes gezogen sei. Dessenungeachtet wird es uns ohne Hülfe des Dr. Piderit schwer werden, genau zu sagen, worin der Unterschied des lachenden und des weinenden Gesichtes stecke. Er sagt nämlich, daß man beim entschiedenen Lachen und Weinen genau dasselbe Gesicht nur mit dem einzigen Unterschiede mache, daß beim letzteren die Nasenflügel durch zwei kleine Muskeln in der Oberlippe grade unter den Nasenlöchern abwärts gezogen werden, wodurch die Mundfalten von der Mitte der Nasenflügel an nach unten scharf eingeknickt erscheinen, während diese Falten beim Lachen von den Nasenflügeln bogenförmig nach dem Munde herab verlaufen. Also dieser scharfe Knick an der Mitte der Nasenflügel macht den ganzen Unterschied. Zerknicktes Lachen ist Weinen. Man sagt deshalb auch von Kindern und sonstigen empfänglichen Naturen im gemeinen Leben nicht mit Unrecht, daß sie Lachen und Weinen in einem Sacke haben.
Dies ist die physiognomische Pointe des Unterschiedes zwischen Lachen und Weinen; aber das Gemüth und Gefühl kann mit diesem Grenzstrich wie Paganini auf einer einzigen Saite die zauberhafteste Musik der Freuden und Schmerzen spielen. Wie unendlich verschieden kann der Mensch lachen und weinen!
In der Regel lacht man nur wirklich bei guter Gesundheit über gute komische Scenen oder Witze. Was ist komisch? Was ist ein Witz? Ein im Bewußtsein zusammenblitzender Widerspruch, der in das Zwerchfell einschlägt, so daß es hinterher donnert. Dieser Widerspruch gleicht sich dadurch aus, wie zwei entgegengesetzte Elektricitäten beim Gewitter. Der einschlagende Blitz kitzelt bei Ausgleichung vom Zwerchfell aus das ganze Nerven- und Muskelsystem und wirkt daher ebenso wohlthätig auf Erheiterung und Befruchtung des Geistes, wie ein Gewitter auf Feld und Flur.
Beim Lachen wie beim Weinen braucht man viel Luft und muß deshalb den Mund öffnen und sogar breit ziehen. Die krampfhafte Athmungsexeplosionen dabei verlangen die weitesten und freiesten Luftwege. Schon bei der geringsten Veranlassung zum Lachen oder Weinen bereitet sich der Mund darauf vor. Das Kind macht als Vorbereitung zum Weinen eine „Schippe“, und der leiseste Kitzel im Zwerchfell zieht die Mundmuskeln so zurück, daß sich die allerliebsten Grübchen in den Wangen der Jugend bilden, in denen Amor und die Grazien so gern Versteck spielen. Diese Grübchen werden durch heftiges Lachen zu Falten und selbst Krähenfüßen zusammengepreßt. Das bloße Lächeln mit oder ohne Grübchen ist schon allein der verschiedensten Melodien und Disharmonien fähig. Mit verstecktem Blick wird es oft schelmisch und gedeiht dann ganz besonders auf den Wangen junger Damen mit Grübchen und weißen Zähnen. Das entzückte Lächeln kann je nach der Richtung des Blicks das Gesicht einer Madonna verklären, aber auch den Anbeter selbst im Ballsaal wegen seines vorbereiteten Antrages zurückschrecken, wenn es sich in Folge einer [76] Schmeichelei über Putz, Gesicht oder Fuß einstellt. Auch das nichtssagende und fade, süße und sauersüße, bittere und boshafte, höhnische und aristokratisch vornehme, schurkische, verzweifelte, wahnsinnige, übermüthige Lachen und Lächeln, das schulbübische Grinsen und backfischige „Feixen“, das eitle, selbstgefällige Schmunzeln, und noch eine ganze Menge anderer Spielarten der Lachzüge – Alle haben ihre bestimmten Notenzeichen auf dem menschlichen Antlitz, von denen wir manche in dem Piderit’schen Buch durch Wort und Bild genau kennen lernen.
Das Gesicht des entschiedensten Gegensatzes zum Lachen erblicken wir in Figur 19, die den bittern Zug im Antlitz mit allen Zuthaten der Heftigkeit ausdrückt. Eine andere Composition der Bitterkeit mit innerlichem Groll, verbissener Wuth und verstecktem gespanntem Blick auf Rachegeister können wir in Figur 32 studiren, dem berüchtigten Gesicht Gregor’s des Siebenten während seiner Verbannung in Salerno. Er, der Schöpfer hierarchischer Tyrannei über die Geister, vor welchem Kaiser Heinrich der Vierte büßend und bettelnd umherkroch, sitzt jetzt verbannt und gefallen mit den ausgeprägtesten Zügen verbissener Wuth um den Mund, Zorn in den senkrechten und gespannter Aufmerksamkeit
in den horizontalen Stirnfalten und brütender Rache in dem versteckten Blick: ein classisches Muster des gefährlichen heimtückischen herrsch- und rachsüchtigen Charakters. Aus solchen Zuständen giebt es wohl kaum für einen heiligen Vater Erlösung. Und doch! Die schmerzlichsten Erinnerungen und bittersten Erfahrungen, welche sich um den Mund furchen, können dessen Starrheit zu einem entzückten Lächeln der Hoffnung auf Erlösung und Seligkeit abmildern, wenn das Auge, gehoben und veredelt durch den Glauben an ein Jenseits der Freiheit, durch die Liebe für alles Gute und Edle und die Hoffnung auf den Genuß einer ewigen Gerechtigkeit und Liebe, emporblickt in eine unsichtbare Welt der Seligkeit, die das Herz schon vorher oft empfunden und durch ein Leben voller Arbeit, Entsagung und Leiden genossen. Eine solche reiche Gefühlswelt voller Gegensätze in rührender Harmonie finden wir in Figur 52, dem berühmten Murillo’schen Kopfe der heiligen Elisabeth, der sogenannten Madonna von Sevilla im Louvre zu Paris. Wir sehen den bitteren Zug zu einem entzückten Lächeln der Seligkeit veredelt, während das emporgerichtete Auge aus Jammer und Elend heraus gleichsam betend zum Himmel blickt und die horizontalen Stirnfalten uns die Versicherung geben, daß dieser Kopf mit einem edlen Herzen darunter viel gedacht, geistig aufgenommen und sich ein Capital von Schätzen erworben hat, welches weder Motten noch Rost fressen.
Dies sind nur einige Noten und Accorde aus der unendlich reichen stummen Musik und Sprache des Gesichts, der ewigen, unveränderlichen aller Zeiten, Zonen und Zungen, welche durch keinen babylonischen Thurmbau von Sprachgelehrsamkeit oder diplomatischer Lüge verwirrt werden kann. Lernen wir diese Sprache verstehen und deuten. Für Maler, Bildhauer, Schauspieler ist sie von der größten Wichtigkeit, aber auch jeder andere Mensch, der sie lesen und verstehen lernte, wird den größten Nutzen und Genuß daraus ziehen, und wenn Mimik und Physiognomik endlich allgemein verstanden werden, verlieren die jetzt so häufig täuschenden Züge der Verstellung und Heuchelei ihre Macht, denn jeder solche Zug wird dann sofort erkannt und richtig gelesen. So erfüllt sich das schon von dem Philosophen Leibnitz gesprochene Wort: „Mit der zur Wissenschaft und Kunst erhobenen Mimik verschwinden Lüge und Verstellung aus der menschlichen Gesellschaft.“
- ↑ Wissenschaftliches System der Mimik und Physiognomik von Dr. Theodor Piderit. Mit vierundneunzig photolithographischen Abbildungen. Detmold, Klingenberg’sche Buchhandlung 1867.
Einer vom Wartburg-Sängerkrieg.
Unser Volk hat sich daran gewöhnt, die letzten Spuren des deutschen Ritterthums nur in den Burgruinen unserer Berge zu suchen; wir blicken auf dieselben als auf Denkmäler einer glücklich überwundenen Zeit, die zum Besten des Adels die meisten übrigen Staatsangehörigen in Niedrigkeit erhalten habe, und schätzen sie nur noch als landschaftlichen Schmuck. Daß ein weit höherer und ein unvergänglicher Schmuck aus jenen Tagen uns in den geistigen Schätzen unserer Nation aufbewahrt ist, daß die deutsche Dichtkunst damals Blüthen trieb, an deren Herrlichkeit wir uns heute noch erquicken können, – das ist der großen Masse unsrer Nation so gut wie unbekannt geblieben. Da die Volksschule bei uns noch lange nicht in deutsch-nationalem Geiste geleitet wird, wer sollte da den vielen Millionen, welche von dem Glück höherer Bildung ausgeschlossen sind, den Vorhang vor dem Bilde jener fernen deutschen Zeit aufheben; wo der deutsche Volksgeist mit seinen ersten goldnen Früchten der Dichtkunst den Baum der Menschheit schmückte?
An diese traurige Wahrheit darf wohl der Wunsch sich anschließen, daß die größte und umfassendste Fortbildungsschule der Nation, die Tagespresse, auch hier das von den Schulen des Staats Versäumte nachhole, und die Gartenlaube macht einen Versuch damit, indem sie denjenigen der Minnesänger, welcher als Liederdichter in jeder Beziehung den obersten Rang einnimmt, ihrem Leserkreise vorführt.
Mit der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts trat das deutsche Volk in sein Jünglingsalter und entwickelte rasch und glücklich alle Kräfte einer hochbegabten Jugend. Schon als die ersten Züge der Kreuzfahrer von Frankreich her mit allem Waffenglanz eines heiligen Heers voll Eroberungsdrang und Siegeshoffnung an den staunenden Deutschen vorüber nach dem Morgenlande zogen, „da erwachte in dem ganzen Volke jenes poetische unbeschreibliche, aus süßer Heimathsliebe und unwiderstehlichem Drang in die Ferne gemischte Gefühl, das noch heute das Erbtheil des deutschen Jünglings ist, wenn er den ersten Schritt aus [77] dem Elternhause in die unbekannte Fremde thut.“ Und dieser erste Schritt „hinaus in die Ferne“, der nicht blos Fürsten und ihre Ritter, sondern das Volk in allen seinen Kreisen zur Theilnahme
an den Kreuzzügen führte, bezeichnet zugleich den Augenblick, wo die Nation aus der bisherigen Abgeschlossenheit in das deutsche Jünglingsleben hineinstürmte und der Stolz, deutsch zu denken und deutsch zu singen, uns zur ersten klassischen Periode einer nationalen Literatur führte. Der Blick ging plötzlich weiter, neue Bahnen des Verkehrs wurden frei, und nicht blos die Güter des Handels, sondern auch die geistigen Schätze strömten auf und ab über die Grenzen, mehrten das Wissen und hoben den Wetteifer höchsten geistigen Schaffens. Wie damals vor Allem der edle Geist des Ritterthums die Dichtkunst neu belebte, so bildeten die Dichter von Neuem die Sprachen ihrer Völker, und wie die Troubadours in Frankreich und in England die Minstrels, so streuten in Deutschland die Minnesänger ein Fülle lebenvollster Poesie aus, die, ohne die Hülfe der bleiernen Sendboten späterer Zeiten, frisch von Mund zu Mund ihren Weg von den Fürsten- bis zu den Bauernhöfen fand und unter den Dorflinden noch heute, nach Jahrhunderten, in den schönsten Volksliedern nachklingt.
Für die Deutschen kam zu all jenen äußeren Anregungen, wozu namentlich auch das Aufschließen der Schätze des alten Griechenlands und der Märchenwelt des Morgenlandes gehört, noch die damalige politische Größe des deutschen Reichs und der Glanz von Männer- und Heldenwürde, welcher die damaligen Kaiser, die Hohenstaufen, umgab. Die Zeit selbst war, so erfüllt mit poetischen Elementen, daß beim Hinblick auf sie die große Anzahl trefflicher Dichter derselben uns so wenig Wunder nimmt, wie die Erscheinung, daß diese übervolle Blüthenpracht mit den Hohenstaufen aufsteigt, lebt und dahinsinkt.
Der vorherrschende Charakter dieser Dichter wird durch ihren Namen bezeichnet: es ist die Liebe, die Minne, die Frauenhuldigung, deren Maß und Form uns zu allen Zeiten als ein Gradmesser der Sitten- und Bildungshöhe der Völker dienen kann. In allen Liedern dieser Zeit spricht sich der reine jugendliche Geist derselben aus, und auch wo die Dichter aus diesem Kreis herausschreiten und neben dem Frauendienst bald dem Gottesdienst, bald dem Herrendienst, das heißt der Verherrlichung der Fürsten und des Reichs, und den Kämpfen der Zeit ihre Lieder weihen, immer durchdringt sie die nur die Jugend beglückende, reine Begeisterung und völlige Hingabe an den Gegenstand ihrer Dichtung.
Suchen wir nun die Stätten auf, wo diese erste classische Dichtung unseres Volks vorzüglich gepflegt wurde, so kommen wir aus dem Süden Deutschlands kaum über die jetzt so verhängnißvolle Mainlinie hinauf: Schwaben, der Hohenstaufen Heimath, die Schweiz, das Land am Oberrhein, Franken, Baiern und Oesterreich sind ihr Hauptgebiet, und nur die Landgrafen von Thüringen und Meißen und ein Graf (Otto) von Brandenburg vertreten, aber auch in würdigster Weise, den Norden des Vaterlandes.
Ein Dichterleben jener Zeit ist von dem heutigen so verschieden, wie die äußere Erscheinung beider und ihre Art, ihre [78] Werke der Oeffentlichkeit mitzutheilen. Manche jener mittelhochdeutschen Dichter ritterlichen Namens rühmen sich selbst, daß sie nicht schreiben könnten; ob der Dichter aber selbst schrieb oder nicht, immer geschah die Veröffentlichung seiner Poesien mündlich, wie dies ja noch heute in einem Theil jener Alpenländer bei dem Schnaderhüpfels-Volksgesang üblich ist. Zum Lesen waren diese Gedichte gar nicht bestimmt, immer mußten sie mit Harfen-, Cither- oder Geigenbegleitung singend vorgetragen werden, und wo der Dichter dies nicht selbst konnte, da trug für ihn ein sogenanntes „Singerlein“ das auswendig Gelernte vor. Wiederum genau wie in unseren Schnaderhüpfelsländern gingen gute Lieder rasch von Mund zu Mund und fanden weiteste Verbreitung, lange ehe es Jemandem einfiel, sie aufzuschreiben. Und so haben wir denn auch erst aus der Zeit, wo der Minnegesang zu verstummen begann, die ersten großen Liedersammlungen, von denen die vollständigste diejenige ist, welche Rüdiger von Manessa in Zürich am Ende des dreizehnten Jahrhunderts veranlaßte, und deren Handschrift leider nicht in Deutschland, sondern als ein französisches Raubstück, das 1815 zurückzufordern vergessen worden, noch heute in Paris aufbewahrt wird.
Unter den einhundertundsechszig Dichtern dieser sogenannten Manessischen Sammlung wird von keinem Walther von der Vogelweide überragt. Er ist der reichste, vielseitigste und vollendetste Poet jener Tage und zugleich einer der Glücklichen, welcher den Kranz des Ruhms noch auf lebendem Haupte trug. Wenn wir seinen Lebensgang betrachten, so haben wir nicht blos das allgemeine Bild eines damaligen Dichterlebens, sondern zugleich den großen Hintergrund der Weltbewegung vor uns, auf deren Wogen die Poesie jener Tage als ewig leuchtende Zierde prangt.
Wie die Mehrzahl der Minnesänger und überhaupt der mittelhochdeutschen Dichter – denn nach der schwäbischen oder mittelhochdeutschen Mundart, d. h. der aus der gothischen und althochdeutschen organisch fortgebildeten oberdeutschen Sprache wurde, weil die Hohenstaufen sie auf drei Jahrhunderte zur Hof- und Schriftsprache erhoben, jene ganze deutsche Literaturperiode genannt – war auch Herr Walther von der Vogelweide ritterlichen Standes, was auch Schwert und Wappen bei seinem Bilde bezeugen. Die jüngeren Sprossen dieser Häuser, welche nicht selbst ein Lehen besaßen und auf ihren Burgen der Dichtkunst eine Pflegstätte bereiten konnten, wie die Frauenhuldigung jener Zeit es forderte, verwandelten, wenn die Begabung es litt, aus fahrenden Rittern sich in fahrende Sänger. Sie zogen von Burg zu Burg, von Hof zu Hof, die Freuden der Hausfeste durch ihre Gesänge verherrlichend, und weilten am längsten da, wo fürstlicher Glanz und edler Sinn ihnen die würdigste Herberge aufgeschlagen. Daß Herr Walther von Haus aus kein Lehen besaß, wissen wir aus seinen Liedern, in welchen er es erst beklagt, „daß er überall nur als Gast begrüßt werde, Keinen selbst als Wirth aufnehmen könne“ – und dann endlich, als sein gefeiertster Kaiser, Friedrich der Zweite, ihn mit einem Lehen bedenkt, jubelnd ausruft: „Ich hab’ ein Lehen, alle Welt, ich hab’ ein Lehen!“ – Ob aber dieses Lehen mit jenem alten „Hof zur Vogelweide“, einem unscheinbaren Haus zu Würzburg, zusammenhängt, oder ob dasselbe ein älteres Besitzthum seines Geschlechts oder nur sein letztes Wohn- und Sterbehaus gewesen, das Alles ist bis jetzt unermittelt geblieben. Dagegen wird seine fränkische Abstammung ebenso allgemein angenommen, wie man seinen eigenen Worten glauben darf, daß er erst in Oesterreich, in dem fröhlichen Laude der hochsinnigen Babenberger, „singen und sagen“ gelernt habe. Wie glücklich seine Jugend in dieser seiner zweiten Heimath gewesen sein muß, das spricht so rührend, nach Herzog Friedrich’s Tod in Palästina (1198), die Klage aus, mit welcher er von dieser herrlichen Vergangenheit scheidet: „Hievor war die Welt so schön!“ sang er und wanderte nun weiter, um einen neuen Stern seiner Lieder zu suchen. Der menschenfeindliche Kaiser Heinrich der Sechste, von welchem gleichwohl selbst – so mächtig war der Zug der Minne-Sitte! zwei der schönsten Minnelieder uns erhalten sind, vermochte ihn nicht zu fesseln, und um so freudiger begrüßt er den Tag, wo Philipp von Schwaben die deutsche Königskrone auf sein Staufenhaupt setzte. In edelster patriotischer Begeisterung strömt sein den Ghibellinen treu anhangendes Herz über in seinem Lobgesang auf „den König Philipp schön und tadelsohne“ und sein junges Gemahl, die griechische Irene, die „Ros’ ohne Dorn und Taube sonder Galle“, als er dem feierlichen Kirchgang derselben zu Magdeburg beigewohnt. Herr Walther aber trug dann seine Harfe weiter und begann jene große Sänger-Wanderfahrt, welche ihn nicht blos durch den größten Theil von Deutschland, sondern auch nach Frankreich und Italien führte und seine männlich-ernste Seele mit reicheren Anschauungen erfüllte, als irgend einen seiner zeitgenössischen Dichter.
Dieses Wanderleben führte unseren Dichter, nach einem längeren Aufenthalt am Kärnthner Herzogshofe, um das Jahr 1207 nach der Wartburg, wo um den Landgrafen Hermann und die Landgräfin Sophie sich die damals berühmtesten Minnesänger versammelt hatten. Hier wurde er Theilnehmer an dem Sängerkrieg, als dessen übrige Mitkämpfer neben ihm, dem größten Lyriker, der größte Epiker jener Zeit, Wolfram von Eschenbach, ferner Heinrich von Veldeck, Bitterwolf, Reinhart von Zwetzen und Heinrich von Ofterdingen genannt werden. Die Möglichkeit eines solchen Kampfes ist nicht zu bezweifeln, desto mehr aber der Inhalt der Dichtung, welche als Wartburg-Sängerkrieg in mehreren Handschriften erhalten und offenbar von mehreren Verfassern erst später niedergeschrieben und mit eigenen und sagenhaften Zuthaten versehen ist. Ein doppelter Zwiespalt trennte damals die politischen und die dichtenden Geister: wie die Ghibellinen hatten auch die Welfen ihre Sänger, und gleicherzeit standen die Verherrlichen der deutschen Sagenpoesie den Vertretern der Poesie des heiligen Graals schroff gegenüber. Solche Gegensätze konnten eine Parteierbitterung erzeugen, welche zu einem Kampf auf Leben und Tod führte; schwerlich der Wettstreit, ob der Herzog Leopold von Oesterreich oder Landgraf Hermann der ruhmwürdigere Fürst sei. Immer aber wird der große Saal der Wartburg, in welchem Heinrich von Ofterdingen, der Besiegte, sich vor dem Scharfrichter hinter den Mantel der Landgräfin Sophie geflüchtet haben soll, uns als ein altbewahrter und neuerstandener Zeuge aus jener großen Zeit deutscher Dichtkunst ehrwürdig und unschätzbar bleiben.
In einem neuen Lichte erscheint uns der Dichter, als Otto der Vierte, Heinrich’s des Löwen Sohn, nach der Ermordung Philipp’s von Schwaben durch den Wittelsbacher, die Kaiserkrone nun vollberechtigt und anerkannt allein trug. Herr Walther, der treue Ghibelline, sah in dem Welfen fortan nicht mehr den Parteifeind, sondern den deutschen Kaiser, dem man um des Reichs willen Gehorsam und Treue schuldig sei als dem gewählten und gekrönten Herrn der Christenheit. Wie hoch steht hier der Dichter über jenen Reichsfürsten, welchen nur das Interesse ihres Hauses den Weg des Handelns anzeigte und welche, nach allen Seiten falsch und feil, „schamlos ihren Judaslohn in Silberlingen einstrichen“! Wie er in seinen Liedern damals den untreuen Fürsten harte Wahrheiten sagt, so richtete er seine schärfsten Pfeile auch gegen den Papst Innocenz den Dritten und die herrsch- und prunksüchtige Geistlichkeit. Nachdem dieser Papst Opferstöcke in den deutschen Kirchen hatte aufstellen lassen, läßt Walther ihn die Deutschen also verspotten:
„Nun sind sie Mannen meinem Stock, ihr Gut ist Alles mein.
Ihr deutsches Silber rollt in meinen welschen Schrein.
Ihr Pfaffen esset Hühner und trinket Wein,
Und laßt die Deutschen – fasten!“
Ueber die Peterspfennige damaliger Zeit, die Sammlungen der Geistlichkeit für den bevorstehenden Kreuzzug, sagt er:
„Des Silbers, fürcht’ ich, kommt nicht viel zu Hülf’ in Gottes Land,
Großes Gut entläßt nicht gern der Pfaffen Hand.
Der Stock, der ist zum Schaden hergesandt,
Ob er im deutschen Land
Thörinnen und Narren fände.“
Das Zeitalter der Reformation kennt kaum schärfere Angriffe auf das ultramontane Treiben, als sie zur Geige und Harfe dieses Minnesängers erschallten und freudig verbreitet wurden.
Trotz der persönlichen Unliebenswürdigkeit des Welfenkaisers würde Herr Walther treu zu ihm gehalten haben, wenn derselbe des Reiches Wohl zu fördern vermocht hätte; am wenigsten würde des Kaisers Unglück den Dichter von ihm verscheucht haben. Otto’s Geiz und Wortbrüchigkeit entfremdeten ihm ein solches Herz aber um so rascher, als der Gegner, welcher jetzt gegen ihn auftrat, alles deutsche Volk im Sturm an sich riß: Barbarossa’s Enkel, der ritterliche Hohenstaufe Friedrich der Zweite. Ihm schloß er sich mit allem jugendlichen Feuer seines alten Dichter- und Patriotengefühls an, und der Hohenstaufe belohnte die Treue und ehrte den Ruhm Walther’s mit dem ersehnten Lehen.
[79] Der langgepflegte Wandertrieb übte aber seine Herrschaft auch noch über den Alten aus. Es zog ihn wieder in sein geliebtes Oesterreich, er wanderte vom Hofe des Herzogs Leopold zu dem seines Oheims Heinrich und von diesem zum Patriarchen von Aquileja aus dem Grafenhause Andechs, und rühmt es laut, so lange er diese drei Fürsten wisse, brauche er nicht um Herberge fern zu streichen, sein Wein sei gelesen und seine Pfanne sause. Auch die fränkische Heimath besuchte er wieder, aber ihr Anblick erfüllte ihn nur mit Trauer über die Hinfälligkeit alles Irdischen. Schon hochbetagt folgte er endlich seinem Kaiser 1228 in das heilige Land, wohl zu spät, um für seine ermattende Leier viel Ausbeute zu finden, denn bald nach seiner Heimkehr sagte er „Frau Welt“ Ade. Er starb wahrscheinlich als Kanoniker am Stifte Neumünster zu Würzburg.
Daß seine Bestattung eine des Ruhms seines Namens würdige gewesen, dafür sprechen schon die Huldigungen, die er von den Zeitgenossen aller Stände im Leben genossen, ferner aber auch der stattliche Grabstein, welcher einen Pfeiler vom Kreuzgange des Stiftes schmückte, die Inschrift desselben:
Pascua qui volucrum vivus, Walthere, fuisti,
Qui flos eloquii, qui Palladis os, obiisti.
Ergo quod aureolam probitas tua possit habere,
Qui legit, hic dicat: Deus istius misere.
zu Deutsch etwa:
Der Du der Vogel Weide, o Walther, gewesen im Leben,
Mußtest, Blume der Rede und Pallas’ Mund, uns entschweben.
Daß nun Deine Tugend erringe die himmlische Krone,
Wünsche, wer Dieses liest, daß Gottes Gnade ihm lohne.
und die Ausführung jenes Vermächtnisses, welches seinen Namen zur Wahrheit machte. Neben der Stiftskirche befand sich in der Mitte des von vier Seiten von Arcaden mit byzantinischen Säulen umgebenen Lusam-(Lust-)Gartens unter einer Linde eine Art steinernen Altars mit vielen Höhlungen auf der Deckfläche, und diese Höhlungen sollten täglich mit Körnern als Futter für seine gefiederten Lieblinge angefüllt werden. Diese Vogelweide war Walther’s Vermächtniß, und es ward befolgt, bis es den Collegiatherren bequemer erschien, diese Körner zu einer Spende von weißem Brode für sich selber zu verwenden. Bei der Säkularisation des Stifts ging zwar der alte Grabstein Walther’s, aber für die Stiftsherren auch diese Schnabelweide verloren, und sie ward, ihrem Zweck wenigstens wieder näher rückend, zu eitler jährlichen Erfreuung der Schuljugend mit sogenannten Michelswecken umgewandelt. Der Platz dieses Lusamgartens und der Vogelweide ist noch jetzt vorhanden, selbst von den Arcaden steht noch eine Seite; ob aber der vor sieben Jahren von einem patriotischen Künstler in der Illustrirten Zeitung (1862, Nr. 988) angeregte Gedanke, diese denkwürdige Stätte von ihrer unwürdigen Umgebung zu befreien und ihrer ursprünglichen rührenden Bestimmung zurückzugeben, später noch zur Ausführung gekommen, ist uns unbekannt. Jede Stadt, die im Besitz eines solchen Andenkens an einen der größten Dichter und erhabensten Männer der Nation ist, sollte in demselben einen Theil ihrer eigenen Ehre erkennen und es danach behandeln.
König Maximilian der Zweite von Baiern ging darin seinem Volke mit edlem Beispiel voraus. Als er seinen Baiern die Schicksale und Thaten ihrer Vorfahren in einer Galerie von einhundertdreiundvierzig in Lebensgröße der Gefeierten ausgeführten Bildern, die den Prachtbau eines besondern „baierischen Nationalmuseums“[1] schmücken, darstellen ließ, gedachte er bei den fränkischen Ehren vor Allen Walther’s von der Vogelweide und ließ von dem tüchtigen Künstler Echter Walther’s Leichenbegängniß in stereochromischer Manier ausführen. Sinniger konnte „die letzte Ehre“ für den großen Dichter jeder edlen Liebe nicht erfunden werden. Offen ruht der greise Sänger, den Lorbeer im Haar und die Harfe noch an das todte Herz drückend, im Sarge, welchen Eichengewinde und Rosenkränze schmücken; Minnesänger, den Eichenzweig um das Haupt und die Harfe zur Hand, tragen, Kreuzritter geleiten ihn und ihnen folgt alles Volk, trauernde Frauen und Jungfrauen voran. Und diesen Zug sehen wir in demselben Kreuzgang dahinschreiten, dessen Arcaden den Lusamgarten umgrenzen, und da kommen seine kleinen Lieblinge, die er im Leben so oft geätzet, sie erkennen ihren Wohlthäter, sie folgen dem Zuge und so geben auch sie, seine nächsten Erben, ihm die letzte Ehre. Da dieses Meisterwerk unter dem Münchener Klima bereits stark nachzudunkeln beginnt und seinem Untergang in seiner jetzigen Gestalt entgegengeht, so wird um so mehr eine Mittheilung desselben in der Gartenlaube willkommen genannt werden dürfen.
Ein deutscher Fürst zog nach Paris
Zum Kaiser der Franzosen.
Die Welt lag in politicis
Nicht eben sehr auf Rosen.
Der Krieg entbrannte in der Krim,
Es stand für alle Lande schlimm
Vom Rhein zum Oriente.
Der Fürst also – er wollte, klug,
Sich auch wohl „orientiren“ –
Macht in Paris bei Hof Besuch
Mit dreien Cavalieren;
Der eine war aus Frankenland,
Der andere vom märk’schen Sand,
Der dritt’ aus Niedersachsen.
Ein deutscher Herr, der legitim,
Und beim Napoleoniden?
Der Höfe viel verdachten’s ihm,
Der Kaiser war’s zufrieden;
Czar Nikolaus war kürzlich’ grob
Und fühlte seinen Zorn darob,
Der deutsche Fürst die Gnade.
Der Kaiser führt ihn selbst hinab
Zur Asche seines Ohmes –
Die ruht im reichen Marmorgrab
Des Invalidendomes;
Und von dem todten führt er ihn
Dann zum lebend’gen Oheim hin,
Zum König von Westphalen.
Es thronte im Palais-Royal
Der graue alte Sünder,
Den einst verjagt der bloße Schall
Der Vierundzwanzigpfünder –
Denn als der Schall von Leipzig klang,
Da fuhr er gleich den Rhein entlang,
Der „Vater seines Sohnes“.
Der Kaiser aber wünscht es sehr,
Daß man ihn respectire,
Damit an kaiserlicher Ehr’
Er selber nicht verliere,
Und giebt dem Fürsten an die Hand,
Von seinem Orden Stern und Band
Dem Oheim zu verleihen.
Und als der Fürst mit seinen Herr’n
Zum König eingeladen,
Nimmt er – gewiß nicht allzu gern –
Den Stern von Gottes Gnaden;
Das wurmt die Cavaliere schon,
Den Franken und den Altmarksohn
Und gar den Niedersachsen:
„O schwere Noth, noch Dankbarkeit,
Wie Kinder für die Ruthe?
Haus Braunschweig dankt’ ihm seiner Zeit
Die ‚schwere Noth‘ mit Blute!“
So flucht der laut, und zwischendurch
Der Märker noch: „Für Magdeburg
Wüßt’ ich ihm auch ’nen Orden!“
Was hilft es? Sieh, das hohe Paar
Ist zum Empfang gekommen!
Der Fürst reicht ihm den Orden dar…
Jetzt hat er ihn genommen –
Nun dankt er wohl? … Nein, vornehm-kühl
Läßt er, als wär’s ein Pappenstiel,
Den Stern im Vorsaal liegen.
[80]
Wie da den Dreien in die Höh’
Vor Zorn gezuckt die Braue!
Der Franke murmelt still: „Parbleu!“,
Der Sohn der Mark sein „Haue!“
„Der kriegt den Orden eher nicht,
Bis ihm die volle Ehr’ geschicht!“
Schwört der aus Niedersachsen.
Und nimmt nach Tafel Stern und Band –
Es deckt ihn der Genosse –
Und trägt sie heim mit kecker Hand
Zum Tuilerienschlosse,
Und birgt daselbst ganz wohlgemuth
Das kühn geraubte Kronengut
In seinem Reisekoffer.
Doch wehe! Im Palais-Royal
Welch’ Rennen, Toben, Fluchen!
Der König, mitten im Scandal,
Läßt Saal auf Saal durchsuchen:
„Im Augenblick noch lag er dort,
Gleich nach dem Fürsten ist er fort,
Ich muß ihn wiederhaben!
„Herbei das ganze Hausgesind’!
Der Stern ist frech gestohlen,
Und wenn er sich nicht wiederfind’t,
Soll Euch der Teufel holen!
Ja, die geheime Polizei
Ruf’ ich aus ganz Paris herbei –
Vare, redde legiones!“
Doch als auch noch am Morgen nicht
Der freche Dieb gefangen,
Da ist dem König selbst ein Licht
Im Herzen aufgegangen,
Ihn faßt ein leises Ahnen an:
„Ruft mir den Prince de Caraman!
Er soll mir Aufschluß bringen!“
Er kommt – nach hohem Adelsbrauch
Ein Herr von feinen Sitten,
Beim Fürsten und beim König auch
Besonders wohl gelitten –
Und hört den Fall, und lächelt leicht
Und spricht, indem er sich verneigt:
„Ew. Majestät zu dienen!
„Die deutschen Cavaliere, Sire,
Ich kann nicht für sie stehen;
Auch glauben sie mit Recht, in mir
Den eignen Freund zu sehen;
Doch bitt’ ich, Sire, habt gnädigst Acht,
Sie schienen seltsam aufgebracht
Ob Kränkung ihres Ordens!“
Da spricht der König: „Prinz, Ihr seid,
Ich fühl’ es, auf der Fährte!
Geht hin und sagt, es sei mir leid,
Wenn ich den Stern nicht ehrte!
Wie sehr ich Ehre ihm gethan,
Dies künde ihnen jetzo an,
Daß ganz Paris ihn suchte!“
Als mit der Meldung lobesam
Der Prinz in aller Eile
Zu unsren Cavalieren kam,
Da war nicht lange Weile,
Die Fahnenehre war gewahrt,
Ein Hurrah scholl nach deutscher Art:
„Nun mag den Stern er haben!“
Der freche Räuber selber kam
In’s Schloß mit seinem Schatze:
„Der Stern, den ich von hinnen nahm,
War nicht an seinem Platze,
Hielt ihn für meines Fürsten Stern,
Jetzt bring’ ich ihn dem neuen Herrn,
Er wird ihn künftig ehren!“
Und Jubel scholl im Königsschloß
Bis zu den letzten Stufen,
Es kam der ganze Dienertroß,
„Victoria“ zu rufen;
Was galt der Krieg in ferner Krim?
Der „deutsche Krieg“ allein war schlimm,
Und der war froh beendet!
Dem Fürsten wird an dieser Statt
zuerst hiervon berichtet,
Denn der den Stern gestohlen hat,
Hat auch dies Lied gedichtet;
Der Franke lebt im Frankenland,
Den biedern Märker deckt der Sand,
Der Dritte ging vom Hofe.
Gustav vom Hofe.
Die Pariser Droschkenkutscher. Vor einigen Jahren fuhr ich mit
einem gelehrten Landsmann, der zum ersten Male die Hauptstadt
Frankreichs besuchte und sich meiner Leitung anvertraute, in einer Droschke nach
dem Lateinischen Viertel. Als wir in der Nähe der Sorbonne ausstiegen,
sagte unser Kutscher, daß er in früherer Zeit sehr häufig die Ehre gehabt,
einen der berühmtesten Deutschen zu fahren, nämlich den Herrn 'Alexander von Humboldt. „Ich führte ihn oft zu dem Herrn François Arago,“
fuhr der Kutscher fort, während er uns die Münze auf das Fünffrankstück
herausgab. „Beide waren sehr vertraute Freunde, und es war mir nicht
selten vergönnt, sie in meinem Wagen neben einander sitzen zu sehen.“
„Alexander von Humboldt ist vor zwei Monaten gestorben,“ sagte mein Landsmann.
„Der Tod verschont auch die Unsterblichen nicht,“ bemerkte der Kutscher und fügte dann hinzu: „Pulvis et umbra sumus.“ (Wir Menschen sind Staub und Schatten.)
„Sie verstehen Lateinisch?“ fragte ich.
„Ich habe meinen Horaz nicht vergessen,“ erwiderte er schwermüthig lächelnd, und die Blicke emporrichtend, schwang er die Peitsche und rollte von dannen.
Mein Landsmann stand ganz verblüfft. „Man spricht so oft von der Unwissenheit des französischen Volkes,“ rief er, „und der erste Pariser Kutscher, den ich kennen lerne, besitzt eine classische Bildung. Woher kommt das?“
Ich suchte ihm durch folgende Mittheilung das Räthsel zu lösen. Es giebt in Paris über sechstausend Droschken, und unter den Droschkenkutschern befinden sich nicht nur Leute, die früher in glänzenden Equipagen gefahren, sondern auch ehemalige Professoren, Juristen, Notare, Künstler, Priester, kurz: Leute, die unverschuldet durch plötzlichen Schicksalswechsel von der Höhe des Glückes und der Gesellschaft zu Boden geschmettert worden, oder auch solche, mit denen die strenge Themis ein Hühnchen zu rupfen hatte und die über einen schwachen Augenblick mehrere Jahre hinter Schloß und Riegel nachgedacht. Der dichte Schleier, der über ihrer Vergangenheit ruht, wird niemals gelüftet. Wenn sie bei der Droschkengesellschaft um Dienst nachsuchen, haben sie blos ihre Fähigkeit als Wagenlenker darzuthun und eine Caution von zweihundert Franken als Garantie für die ihnen verabreichte Livree zu erlegen, so wie für die Geldstrafen, zu denen sie für etwaige Vergehen von der Polizei verurtheilt werden könnten. Ob sie nun früher etwas verschuldet oder nicht: sie werden sämmtlich überwacht und dürfen sich nichts zu Schulden kommen lassen, ohne sogleich von der Strafe ereilt zu werden.
Die Pariser Droschkenkutscher sind sehr geriebene Leute und suchen vor allen Dingen mit der Polizei auf gutem Fuße zu stehen. Haben sie sich gegen dieselbe auf die eine oder die andere Weise versündigt, so suchen sie sich wieder in deren Gunst zu setzen, entweder dadurch, daß sie die Gegenstände, die in ihrem Wagen von den Passagieren vergessen worden, auf der Polizeipräfectur abliefern, oder daß sie dort von manchem verdächtigen Gespräche berichten, welches sie von ihren Passagieren aufgefangen. Es ist daher sehr unvorsichtig, in Paris vor einem Droschkenkutscher sich in politischen Unterhaltungen frei und offen zu äußern.
Der Pariser Droschkenkutscher bezieht vier Franken täglich von der Gesellschaft, muß aber dafür sechszehn Stunden des Tages seinem Dienst obliegen. Freilich wird der sehr harte Dienst noch besonders durch die Trinkgelder von den Passagieren belohnt, und diese Trinkgelder sind nicht selten ziemlich beträchtlich. Der Kutscher, der mehrere junge Leute von einem Feste zurückfährt, wo es lustig hergegangen, ist sicher, ein gutes Geldgeschenk zu erhalten. Es ereignet sich wohl auch, daß er einen ausländischen Prinzen, der triftige Gründe hat nicht erkannt zu werden, in seine Droschke aufnimmt und mit einem höchst ansehnlichen Trinkgeld bedacht wird. Schon mancher König und Kaiser hat sich in einem einfachen Fiaker durch Paris fahren lassen in der Absicht, unerkannt zu bleiben. Die Pariser Droschkenkutscher sind indessen scharfsichtige Beobachter. Sie haben so viele Physiognomien studirt, daß sie sich selten in der Beurtheilung ihrer Passagiere irren. Sie wissen recht gut, wenn sie einen Eifersüchtigen fahren, der den Gegenstand seiner Eifersucht überraschen will und deshalb unter dem Versprechen eines ansehnlichen Trinkgeldes zu größter Eile auffordert, oder den Liebenden, der das Schäferstündchen zu versäumen fürchtet, oder den Bankerottirer, der, um den Verfolgungen zu entgehen, rasch auf den Bahnhof und dann über die Grenze gebracht sein will. Solche und ähnliche Passagiere belohnen großmüthig die gewonnene Zeit.
Außer diesen Nebenverdiensten suchen die Droschkenkutscher nicht selten den unredlichen Gewinn, indem sie in entfernten Stadttheilen Passagiere aufnehmen, ohne der Gesellschaft den Fuhrlohn zuzustellen. Eine Controle, die den Unterschleif unmöglich machte, ist bis jetzt, trotz alles Nachdenkens, trotz aller Erfindungen, noch nicht eingeführt worden. Indessen bleiben die Unterschleife doch selten ohne verderbliche Folgen für den Schuldigen, und zwar durch folgenden Umstand. Es giebt nämlich in Paris Individuen, welche die unzulängliche Ueberwachung der Droschkenkutscher von Seiten der Gesellschaft sehr geschickt ausbeuten. Diese Leute nehmen eine Droschke, und nachdem sie an’s Ziel der Fahrt gelangt sind, zahlen sie das Fahr- und Trinkgeld wie andere Passagiere, unterlassen es aber nicht, unmittelbar darauf der Direction der Droschkengesellschaft zu melden, daß sie um die und die Stunde, mit der und der Nummer den und den Weg zurückgelegt, und geben dabei die Münzsorten genau an, in welchen sie dem Kutscher den Fahrlohn entrichtet. Nach einigen Tagen stellen sie sich bei der Direction ein, die ihnen als Honorar für die Mittheilung das Fahrgeld wieder zurückerstattet. Diese freiwillige Controle ist zur Industrie geworden und schwebt über den Kutschern wie ein Damoklesschwert. Der verschmitzteste Pariser Droschkenkutscher muß immer fürchten, einen noch verschmitzteren Pastagier zu fahren, der ihm mit süßem Lächeln das Trinkgeld zustellt, um ihn nach Umständen in’s Verderben zu bringen.
Inhalt: Reichsgräfin Gisela. Von E. Marlitt. (Fortsetzung.) – Könige von Gottes Gnaden. Eine Rothweinskizze von Paul Wendt.
Mit Abbildung. – Literarische Briefe an eine deutsche Frau in Paris. Von Karl Gutzkow. I. – Die Sprache des Gesichts. Mit Abbildungen. – Einer vom Wartburg-Sängerkrieg. Von H. v. C. Mit Illustration. – Deutsche Cavaliere. Moderne Ballade. Von Gustav vom Hofe. –
Blätter und Blüthen: Die Pariser Droschkenkutscher.
- ↑ Nicht weniger, als dieses schönste Vermächtniß Maximilian’s an sein Volk, diese Wandbilder des bairischen Nationalmuseums selbst, verdient allgemeinste Achtung die „historische Erläuterung“, welche denselben ein dem König und der Wissenschaft gleich nahe stehender Mann gewidmet hat. Herr Dr. Karl von Spruner, Generaladjutant des Königs und ordentliches Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften, hat mit diesem Werke nicht etwa eine trockene Bildererklärung, sondern eine wahrhafte Culturgeschichte Baierns geliefert, die furcht- und rücksichtslos mit der Leuchte des für Wahrheit und Recht begeisterten Mannes keinen Schlupfwinkel unerhellt läßt, aus welchem je Pfaffentrug und Aberglaube gegen Humanität, Aufklärung und Sittlichkeit hervorgebrochen sind. Auch wer weder in München die Originale noch die trefflichen Nachbildungen des Photographen Albert je zu Gesicht bekommt, gewinnt an diesem Spruner’schen Buche einen historischen Hausschatz und damit den freudigen Trost, daß auch in der Umgebung der Könige noch so tüchtige, wahrheitsmuthige Männer möglich sind. – Ueber Walther von der Vogelweide insbesondere hat bekanntlich auch Uhland ein Schriftchen veröffentlicht.
H. v. C.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Chateau Margeux; überall Château statt Chateau.