Die Gartenlaube (1869)/Heft 4
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No. 4. | 1869. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Von E. Marlitt.
Welcher Modulation war diese heisere Stimme immer noch
fähig. Diese unsägliche Verachtung in den letzten Worten klang
förmlich vernichtend. Der Angeredete blieb auch, sichtlich frappirt
durch die Erscheinung, einen Moment wie angewurzelt stehen,
allein dann ließ er die Hand des Kindes los und ging festen
Schrittes auf die Kranke zu. Sie war unfähig, länger in der
angenommenen Stellung zu verharren, und sank kraftlos zurück;
der energische Ausdruck aber blieb sowohl in ihren Zügen, als in
der gebieterischen Handbewegung, mit welcher sie nach der Thür
zeigte.
„Gehen Sie, gehen Sie!“ rief sie heftig. „Sie brauchen ja nur vor die Thür zu treten, um auf höchsteigenem Grund und Boden zu stehen. … Die Freiherrlich Fleury’sche Forstverwaltung würde es jedenfalls als Waldfrevel strafen, wollte ich auch nur über einen Grashalm neben den alten Mauern dieses Hauses verfügen – aber das Dach über meinem Haupte ist noch mein, unbestritten mein, und hier wenigstens habe ich die herzstärkende Genugthuung, Sie hinausweisen zu können!“
Baron Fleury wandte sich mit einer sehr ruhigen Bewegung nach der mitgekommenen Dame um, die sprachlos vor Erstaunen noch an der Thür stand.
„Führen Sie Gisela hinaus, Frau von Herbeck!“ sagte er mit vollkommen unbewegter Stimme zu ihr. Diese völlige Gelassenheit erschien wahrhaft imponirend gegenüber der Leidenschaftlichkeit der Blinden. Das war aber auch ein Männerkopf, dem schon die Form es leicht machte, das Gepräge vornehmer Ruhe zu bewahren. Die ziemlich tief über die Augäpfel herabsinkenden Lider verschleierten den Blick und machten ihn unergründlich, und die etwas gestreckte, leicht gebogene Nase saß fest, wie gemeißelt in dem Gesicht, das, wenn auch nicht gerade fleischig, doch das Spiel der einzelnen Muskeln nicht scharf hervortreten ließ.
Frau von Herbeck verließ schleunigst das Zimmer. Drüben klaffte Sievert’s Thür, ein heller Lichtschein fiel heraus auf die Steinfließen der Halle, Baron Fleury sah zu seiner Beruhigung, wie die Dame mit dem Kind in die kleine, behagliche Stube trat und die Thür hinter sich schloß.
„Wer hat nach mir gefragt, als ich in Nacht und Elend gestoßen worden bin?“ fuhr die Kranke in wilder Klage fort, nachdem die Schritte der Hinausgegangenen verhallt waren. „Wissen Sie, was es heißt, Baron Fleury, ein halbes Leben lang mit geschlossenem Mund zu dulden, ein ruhiges Gesicht zu zeigen, während das stolze, heiße Herz tausendfach den Martertod stirbt? … Wissen Sie, was es heißt, wenn eine freche Hand uns ein Kleinod stiehlt, an das sich jede Faser unseres innersten Lebens liebend klammert – wenn das geliebteste Auge sich tödtlich kalt von uns abwendet, um glühend und verlangend auf einem tief verhaßten Gesicht zu ruhen? … Wissen Sie, was es heißt, den ehemals stolzen, festen Geist eines Mannes Schritt für Schritt sinken zu sehen, ihn als Spielball in ehrlosen Händen zu wissen, während er uns für jeden Versuch, ihn zu retten, erbittert mißhandelt wie seinen grimmigsten Feind? … Das Alles frage ich freilich vergebens – was weiß Baron Fleury von wahrer Hingebung und Tugend!“ unterbrach sie sich selbst mit unsäglicher Bitterkeit und wandte das Gesicht weg von ihm, der bewegungslos neben ihr stand. Er hatte die Arme untergeschlagen und sah nieder auf die Blinde mit der Geduld und Nachsicht, oder auch der Ueberlegenheit des Stärkeren. Nicht ein Zug seines Gesichts veränderte sich; die langen Lider lagen tief über den Augen, so daß sich die schwarzen Wimpern wie ein Schatten über die bleichen Wangen breiteten. Eine solche Stirn, wie sie dort unter dem dunkellockigen Haarstreifen leuchtete, so ehern und hoch getragen hat nur das schuldlose Gewissen, oder die vollendetste Schurkerei.
„Für Eines aber wird Euer Excellenz das Verständniß nicht fehlen!“ fuhr Frau von Zweiflingen mit erhöhter Stimme in unbeschreiblicher Ironie fort. „Wissen Sie, wie es thut, wenn man auf der Sonnenhöhe der Gesellschaft, inmitten von Glanz und Fülle, nach jeder Richtung hin bevorrechtet, gelebt hat und plötzlich zu Armuth und Entbehrung verurtheilt wird? … Davon weiß das Geschlecht der Fleury ein Lied zu singen. … Ha, ha, ha! Frankreich hat stets gemeint, Deutschland müsse nach seiner Pfeife tanzen – deshalb war es ohne Zweifel nur Consequenz, wenn der geflüchtete Pair von Frankreich, Ihr Herr Vater, schließlich zur Geige griff, und Deutschlands Jugend tanzen ließ, um – sein Leben zu fristen!“
Das traf – das war eine wunde Stelle in der erzgepanzerten Brust des Gegners. In die marmorglatte Fläche der Stirn gruben sich zwei tiefe finstere Falten, die verschränkten Arme lösten sich jählings, und wie unwillkürlich hob der Gereizte drohend die Rechte über dem Haupt der Blinden; aber in diesem Augenblick legten sich zwei heiße, weiche Hände beschwörend um seine Linke.
Jutta hatte sich bis dahin, starr vor Entsetzen, in eine dunkle Fensternische gedrückt. Der Mann dort mit der königlichen unanfechtbaren Haltung war der gefürchtete, allmächtige Minister des [50] Landes. Sie hatte ihn nie gesehen, allein sie wußten daß ein Federstrich seiner Hand, ein Wort aus seinem Munde genügte, über das Wohl und Wehe Tausender, wie über das des Einzelnen unwiderruflich zu entscheiden; der constitutionellen Staatseinrichtung zum Hohn regierte er mit der ganzen Rücksichtslosigkeit und Energie des Selbstherrschers – und ihn wagte die alte blinde Frau von ihrer Schwelle zu weisen, ihn überschüttete sie mit den bittersten Schmähungen, die er ruhig und hoheitsvoll hinnahm, so lange sie ihm persönlich galten! Alle Gefühle des jungen Mädchens empörten sich gegen die Mutter; es fiel ihr nicht ein, zu erwägen, inwiefern die leidenschaftliche alte Frau in ihrem Rechte sein könne – für gewisse Naturen sind die Mächtigen stets in ihrem Recht, sie bekämpfen jede Auflehnung dagegen meist mit Erbitterung als das Unrecht, und daß diese Naturen in der Mehrzahl sind, beweist uns die Weltgeschichte schlagend in der oft bis zur äußersten Grenze gehenden Duldsamkeit der Völker.
Diesem Zuge folgte denn auch die junge Dame, indem sie aus ihrer Ecke huschte und die Hand des beleidigten Mannes erfaßte. Welch’ ein verführerischer Zauber ergoß sich über die jugendliche Gestalt, als sie, das ideal schöne Haupt in den Nacken zurückgeworfen, angstvoll zu dem Geschmähten aussah und seine Hand flehend gegen ihre Brust zog! … Die gehobene Rechte des Ministers sank bei dieser Berührung sofort nieder, er wandte den Kopf und hob die langen, schläfrigen Lider – welch ein Blick! … Er fiel wie ein Feuerregen in die Seele des jungen Mädchens. Diese gluthvollen, für einen Moment völlig entschleierten Augen mit einem räthselhaften Ausdruck fest auf das erglühende Mädchengesicht geheftet, lächelte Baron Fleury und zog langsam die bebenden kleinen, weißen Hände an seine Lippen.
Und daneben saß die blinde Mutter und erwartete in athemloser Spannung eine erbitterte Antwort, einen endlichen Ausbruch der Gereiztheit und mit ihm die Genugthuung, ihren Todfeind verwundet zu haben – umsonst, nicht ein Wort erfolgte, und er stand doch neben ihr, sie hörte, wie er sich bewegte, ja, sie hatte soeben mit Abscheu seinen über ihr Gesicht hinwehenden Athem gefühlt – dieses beharrliche, verächtliche Schweigen versetzte sie in eine unglaubliche Aufregung.
„Ja, ja, die Fleury haben die Macht des Wechsels in seiner ganzen Höhe und Tiefe durchgekostet!“ hob sie nach einer momentanen Pause bitter auflachend wieder an. „Durch viele Generationen hindurch werden sie zu Denen gezählt, die mittels aristokratischer Fußtritte und Peitschenhiebe das französische Volk allmählich zur Revolution getrieben haben. … Und nach so viel Grausamkeit und unzerstörbarem Uebermuth feige Flucht über den Rhein! Und der letzte gerettete Rest des Vermögens, alle am Hofe zu Versailles gelernte Beredsamkeit wird aufgeboten, um das Nachbarvolk gegen die eigene Nation zu hetzen – fremde Hände sollten das Opfer knebeln und binden, damit es wieder geduldig und widerstandslos zu den Füßen der Herren liege – Schmach über diese edlen Patrioten!“ –
„Bleiben Sie bei der Sache, gnädige Frau!“ unterbrach der Minister die Sprechende mit kalter Ruhe. „Ich habe Ihnen Zeit und Muße gelassen, einen persönlichen Haß, den Sie gegen mich zu hegen scheinen, zu motiviren – statt dessen verirren Sie sich auf das Gebiet kleinlicher Rache, indem Sie meine schuldlose Familie schmähen. … Wollen Sie die Gewogenheit haben, nur zu erklären, was Sie berechtigt, eine solche Sprache gegen mich zu führen!“
„Gerechter Gott, er fragt auch noch!“ schrie die Blinde aus. „Als ob es nicht seine Hand gewesen wäre, die geholfen hat, den Unglücklichen in den Abgrund hinabzustoßen!“ Sie suchte sich zu bezwingen. Tief Athem schöpfend und den siechen Körper noch einmal gewaltsam aufrichtend, hob und senkte sie die ausgestreckte Rechte mit einer fast feierlichen Bewegung und fuhr fort.
„Leugnen Sie denn, daß das Vermögen der Zweiflingen auf dem grünen Tisch zerschmolzen ist, dem Seine Excellenz, der jetzige Minister, einst präsidirte! … Leugnen Sie, daß der Reitknecht des Baron Fleury heimlich jenem Verblendeten die Billetdoux der Gräfin Völdern überbrachte, wenn er, bewegt durch die inständigen Bitten und namenlosen Leiden seiner unglücklichen Frau, Miene machte, den Weg der Treulosigkeit und des Verderbens zu verlassen! … Leugnen Sie, daß er einen frühen Tod finden mußte, weil er die Ehre verloren und zu spät seine Verführer erkannte! … Leugnen Sie dies Alles – Sie haben die Stirn dazu, und eine Anzahl feiger Seelen wird es dem allmächtigen Minister nachbeten; aber ich, ich klage Sie an mit meinem letzten Athemzug, – und es giebt einen Gott im Himmel!“
Wohl waren die weißen Wangen des Ministers um einen Schein fahler geworden, aber das war auch das einzige Anzeichen innerer Bewegung. Die Lider lagen längst wieder über den Augen und machten sie glanzlos und undurchdringlich mit der schlanken, feingegliederten Hand nachlässig über den glänzend schwarzen Kinnbart gleitend, machte er weit eher den Eindruck, als höre er den ermüdenden Bericht eines Bittstellers, nicht aber eine so furchtbare Anklage.
„Sie sind krank, gnädige Frau,“ sagte er so mild, als spräche er zu einem Kinde, während sie erschöpft schwieg; „dieser Umstand entschuldigt Ihre maßlose Bitterkeit in meinen Augen vollständig – ich werde sie zu vergessen suchen. … Es würde mir ein leichtes sein, Ihre Beschuldigungen sofort schlagend zu widerlegen und Vieles, was da geschehen sein mag, auf die eigentliche Quelle, die schrankenloseste weibliche Eifersucht, zurückzuführen“ – bei den letzten, mit großem Nachdruck betonten Worten verschärfte sich seine sonore Stimme und wurde spitz wie ein Dolch – „allein nichts wird mich vermögen, im Beisein dieser jungen Dame hier Dinge zu erörtern, die ihr kindliches Gefühl schwer verletzen dürften.“
Die Blinde stieß ein bitteres Hohngelächter aus.
„O welche Zartheit!“ rief sie. „Ich mache Ihnen mein Compliment für diese brillante diplomatische Wendung!“ fügte sie schneidend hinzu. „Uebrigens sprechen Sie ohne Scheu – was Sie auch vorbringen mögen, es wird immer geeignet sein, häßliche Schlaglichter auf jene Sphäre zu werfen, welche eben diese junge Dame hier in ihren kindischen Träumen ‚das Paradies‘ zu nennen pflegt … ein Paradies – diese trügerische Decke über bodenlosen Abgründen! … Mit dem letzten Rest von Energie und Kraft, der meiner gebrochenen Seele geblieben ist, habe ich dies Kind dem Boden, dem es durch die Geburt angehört, entfremdet, ja, entrissen, in treuer Fürsorge um sein Glück, aber auch – aus Rache für mich! … Die letzte Zweiflingen tritt in bürgerliche Verhältnis, wo ich weiß, daß man sie auf Händen trägt, aber die Welt wird auch sagen: ‚da seht, welch’ elender Schemen der Nimbus des Namens ist, wenn der Besitz fehlt!‘ – ein willkommener Beleg für die moderne Anschauungsweise, welche einen Stein nach dem anderen aus dem Fundament der Aristokratie reißt!“
Sie brach zusammen.
„Und nun entfernen Sie sich!“ gebot sie mit erlöschender Stimme. „Es würde der bitterste Schluß meines zertretenen Lebens sein, wenn ich verurtheilt wäre – in Ihrer Gegenwart zu sterben!“
Einen Moment noch blieb der Minister zögernd stehen, allein es breitete sich ein Etwas über das aschfarbene Gesicht der Kranken, das, wenn auch oft in seinen Anfängen noch unverstanden, doch der Umgebung eine unwillkürliche Scheu einflößt: das Siegel des Todes! … Während Jutta, einen gewöhnlichen Krampfanfall der Leidenden voraussetzend, mit zitternden Händen Medicin in einen Löffel goß, schritt Baron Fleury geräuschlos nach der Thür. Auf der Schwelle blieb er stehen und wandte den Kopf zurück nach dem jungen Mädchen – noch einmal begegneten sich die vier Augen – Jutta ließ erbebend den Löffel sinken und die dunklen Arzneitropfen ergossen sich über das weiße Tischtuch. … Der Mann dort an der Thür lächelte und verschwand. Auch draußen über die hallenden Steinfließen glitt sein erst so fest und gebieterisch auftretender Fuß fast unhörbar. Er schritt nicht nach der Hausthür, über deren Schwelle die Herrin des Waldhauses unerbittlich ihn verwiesen hatte – der Sturm heulte grimmiger als je da draußen und rüttelte an den eichenen Bohlen der Thür, als verlange er ein heraustretendes Opfer, um es zerschmetternd gegen die Stämme der Wäldbäume schleudern zu können. … Der Minister wartete in Sievert’s wohlgeheizter Stube, bis der alte Soldat, der bei den Pferden geblieben war, zurückkehrte. Mit ihm kamen einige Lakaien aus Arnsberg; sie trugen große Laternen, um vorausschreitend die schmale, gefahrvolle Waldstraße zu erhellen, mittels frischer Pferde hatte man den Wagen bereits aus den Geleisen gehoben, – und fünf Minuten später lag das ungastliche Haus wieder einsam und verlassen inmitten der brausenden Waldwipfel. …
[51] Noch vor Mitternacht schritten zwei Boten durch den beschneiten, aber nun todtenstillen Wald nach dem Ort Greinsfeld, um den dortigen Arzt zu holen – ein Arbeiter vom Hüttenwerk und Sievert. In der Hüttenmeisterwohnung tobte der junge Berthold Erhardt in rasenden Fieberphantasieen – er wehrte unter Verwünschungen unausgesetzt die weißen, bittend gefalteten Hände der Gräfin Völdern von sich ab, die er vor sich auf dem Boden liegen sah mit dem langnachschleppenden gelben Haar und dem feinen Blutbächlein, das von der Schläfe herab über den schneeigen Hals und Busen rieselte. Im Waldhause aber lag Eine, für die der Gang durch den Wald umsonst gemacht wurde. Sie kämpfte den letzten, schweren Kampf fast mühelos. Die erkalteten Hände lagen unbeweglich im Schooße; in immer längeren Zwischenräumen säuselte ein fast unhörbarer Athemzug über die Lippen, und die halbzugesunkenen Lider zuckten und zitterten im letzten leisen Krampf – um den Mund aber zog sich bereits jenes fahle Lächeln, welches wir so gern als das Merkmal süßen Ausruhens und innigster Befriedigung bezeichnen. … Wo war die Seele, die vor wenigen Stunden noch mit all ihren Wunden, und noch einmal auf den Gipfel emporbrausender Leidenschaft sich erhebend, aus den nun gebrochenen Augen gefunkelt hatten? …
Jutta lag am Boden und preßte die Stirn auf das Knie der Sterbenden. In den dunklen Locken hingen noch die Tazetten, die welkend ihre weißen Blätter falteten, und die prachtvolle blaue Seidenrobe floß über die groben Dielen – sie mahnte mit jedem leisen Knistern und Rauschen grausam an den letzten Schmerz, den die Tochter dem mütterlichen Herzen zugefügt und der sich nicht mehr abbitten, nicht mehr sühnen ließ.
Auf dem kleinen, von einer halbzerfallenen Lehmmauer eingefriedigten Kirchhof zu Neuenfeld waren Frau von Zweiflingen’s sterbliche Ueberreste vor wenigen Tagen eingesenkt worden. Hier sah man freilich nicht ein einziges jener graubemoosten Embleme, wie sie, in aristokratischen Familiengrüften mit steinerner Zunge reden von ewigen Vorrechten und unübersteiglichen Schranken zwischen den Menschenkindern. Ganz entgegengesetzt dem Zweck dieses Bilderschmuckes, der selbst Angesichts der zerfallenen Erdenherrlichkeit noch Ehrfurcht für das modernde Geschlecht erzwingen will, denken wir nur daran, daß die armen Seelen unverhüllt und maskenlos in Gottes Hand zurückkehren mußten, in der sie anders wiegen, als auf dem kleinen Erdenball, wo die Mitwelt götzendienerisch genug ist, weltlichen Besitz und ein Wappenschild in die Wagschale zu werfen. …
Jetzt freilich breitete sich die Schneedecke nivellirend über die wenigen Hügelreihen des armseligen Dorfkirchhofs, in ihrer weißen Eintönigkeit nur selten unterbrochen durch ein vom Wind halb umgeblasenes, schwarzes, schmuckloses Holzkreuz, das Piedestal einsamer Krähen – im Sommer aber, da kamen Waldesschatten und Waldesduft über die Mauer, die bergansteigend hart an die letzten Buchen stieß. Da floß und fluthete Leben in dem satten Grün des Haseldickichts, das in den vier Mauerecken wucherte, in den Adern der flinken Grasmücken und Rothkehlchen, die in dem Gebüsch ungestört nisteten, in den Brombeerranken, deren lange Arme vom Waldboden herüber lustig durch die Breschen der zerbröckelnden Lehmwand krochen und eine ganze Last saftstrotzender, schwarzer Beeren auf die einsame, gemiedene Rasendecke legten; und der Sonnenstrahl lief emsig hin und her und zog ein buntes Blumenhaupt nach dem anderen aus der Saat des Todes – da klang das majestätische Auferstehen überzeugender, als in den Mausoleen, wo Verwesung und Moder die Herren sind. …
Vielleicht dieser Gedanke, noch mehr aber wohl der glühende Haß gegen ihre Standesgenossen hatten Frau von Zweiflingen dies einsame Grab wünschen lassen.
Noch an demselben Tage, wo das dunkle Erdreich sich über dem ausgeglühten Herzen der Blinden schloß, hatte Jutta am Arm des Hüttenmeisters das Waldhaus verlassen und war in die Neuenfelder Pfarre übergesiedelt; dort sollte sie bleiben, bis zu dem Augenblick, wo sie als junge Frau in der Hüttenmeisterwohnung einziehen konnte. … So furchtbar auch die Gegenwart auf dem jungen Mann lastete – daheim lag sein Bruder, den er Tag und Nacht allein pflegte, fast hoffnungslos am Nervenfieber, und die Frau, die ihm mütterlich zugethan gewesen, war nicht mehr – bei dem Gang durch den Wald hatte dennoch ein Gefühl unaussprechlichen Glückes alles Leid, alle Sorgen verdrängt. Das blasse Mädchen an seiner Seite, der Abgott aller seiner Gedanken hatte auf der weiten Gotteswelt nun Niemand mehr, als ihn; und wenn sie auch schweigend, mit tiefgesenkten Wimpern neben ihm hergeschritten war, so still und in sich gekehrt, wie sie ihm nie erschienen, wenn auch die sonst so unruhige, flinke Hand bewegungslos, wie von Marmor, auf seinem Arm gelegen hatte, all’ dies scheinbar Fremde und Neue in ihrem Wesen hatte ja doch nur den einen Grund, der sie sogar mit einem neuen Nimbus umgab: das Leid um die todte Mutter. … Er wußte ja, daß sie an seinem Herzen den starren, thränenlosen Schmerz endlich ausweinen würde, daß ihre junge Seele allmählich jene Frische und übersprudelnde Lebendigkeit wieder erlangen müsse, die ihn, den ernsten, schweigsamen Mann, so unwiderstehlich bestrickten. Wie wollte er sie hegen und behüten! … Er glaubte an sein Glück so unerschütterlich, wie an die Thatsache, daß die Sonne über ihm scheine. Hatte ihm Jutta nicht unzähligemal betheuert, daß sie ihn „unendlich liebe“, und daß sie sich kindisch darauf freue, als seine kleine Frau im Hüttenhause schalten und walten zu dürfen? …
Die Pfarrerin hatte der jungen Dame das einzige heiz- und bewohnbare Stübchen im oberen Stockwerk des uralten, sehr baufälligen Pfarrhauses eingeräumt. Einige Möbel und das Clavier waren aus dem Waldhause herübergeschafft worden; denn bei „Pfarrers“ gab es nicht ein einziges überflüssiges Stück Hausgeräth – sie waren mittellos, wie nur je der bescheidene Seelsorger eines armseligen Thüringer Walddorfes, der als unbemittelter Candidat ein noch ärmeres Mädchen geliebt und dasselbe bei Erlangung der ersten heißgewünschten Pfarrstelle frischweg geheirathet hat. … Die kostbaren Möbel aus dem düsteren Thurmzimmer mußten sich somit eine abermalige Degradirung gefallen lassen, denn sie standen an weißgetünchten Kaltwänden; allein diese eintönigen Wandflächen waren von einem zarten Gespinnst langer Immergrünranken überzogen, und jeder Strahl der Wintersonne, der draußen durch die Schneewolken lugte, kam durch eines der Eckfenster herein und legte goldglänzende Streifen über den lustig grünenden Wandschmuck und die rissigen Dielen des Fußbodens. Freilich lag die köstliche Waldlandschaft vor den Fenstern jetzt unter Schnee und Eis; allein die im Sommer den Blick sehr beschränkenden Laubmassen waren auch unter den Winterstürmen gesunken und ließen Manches auftauchen, was sonst wie verschollen hinter grünen Wänden steckte. Dorf Neuenfeld und vor Altem das Eckstübchen im Pfarrhause hatten deshalb zur Abendzeit ein seltengesehenes Schauspiel.
Sobald die Sonne erloschen, dämmerten drüben in dem ziemlich entferntliegenden und seit Jahren nicht bewohnten Schloß Arnsberg die Lichter auf, und je dunkler die Nacht hereinbrach, desto höher erglühten die Fensterreihen. In den langen Corridoren brannten mächtige, an der Decke schwebende Kugellampen, die mit ihrem weißen Licht auch die entlegensten Winkel und Ecken durchflutheten – so war selbst zu Prinz Heinrich’s Lebzeiten nicht beleuchtet worden. Ebenso durchströmte eine wohldurchwärmte Luft den mächtigen alten Bau von der Mansarde bis zum weiten, hallenden Vestibule herab, und auf den Treppen und Vorplätzen, wohin der Fuß auch treten mochte, lagen weiche, warme Teppiche. Aus dem Treibhause hatte man die wohlbehütete Orangerie in das Schloß herübergeschafft, und die hohen Orangen-, Myrthen- und Oleanderbäume, einst Prinz Heinrich’s Stolz und der Gegenstand seiner fast zärtlichen Sorgfalt, standen jetzt wie diensttuende Lakaien an der Mündung der Treppen und in den Vorsälen, um einen leichten Traum von Sommergrün und Sonnenwärme zu erwecken – und das Alles um eines Kindes, eines kleinen schwächlichen, verwöhnten Mädchens willen!
Baron Fleury hütete die kleine Gisela wie seinen Augapfel; man hätte fast meinen können, sein ganzes Denken und Sinnen bewege sich einzig um dies zarte Geschöpfchen und sein Gedeihen. Die Welt schlug ihm diese zärtliche Fürsorge um so höher an, als Gisela nicht sein Kind war. … Wie wir wissen, hatte die Gräfin Völdern eine einzige Tochter, die in erster Ehe mit dem Grafen Sturm verheirathet war. Man erzählte sich allgemein, diese Ehe, die aus gegenseitiger, glühender Neigung und, wie man wußte, eigentlich gegen den Willen der Gräfin Völdern geschlossen [52] worden, sei eine sehr unglückliche gewesen, und die junge Gräfin habe keine Ursache gehabt, den entsetzlichen Sturz mit dem Pferde zu beweinen, in Folge dessen ihr Gemahl nach zehnjähriger Ehe starb. Die Gräfin hatte drei Kinder geboren, von denen nur das jüngste, die kleine Gisela, am Leben blieb.… Zu derselben Zeit, wo Graf Sturm aus der Welt ging, wurde Baron Fleury fürstlich A.’scher Minister. Man munkelte ferner, Seine Excellenz habe bereits zu Lebzeiten des Gemahls eine heimliche Neigung für die schöne Gräfin gehabt, und diese Behauptung wurde insofern bestätigt, als der Baron nach Ablauf des Trauerjahres um die Hand der Wittwe warb und sie auch erhielt. Die boshafte Welt flüsterte freilich, diese Bevorzugung verdanke er weniger seinen persönlichen Eigenschaften, als seinem Einfluß am Hofe zu A., mittels dessen sich die Gräfin Völdern den Zutritt habe wiederverschaffen wollen; denn, einmal als die Freundin des Prinzen Heinrich, und später erst recht als dessen beglückte Universalerbin, hatte sie lange in Bann und Acht leben müssen.… Sie erreichte übrigens durch die zweite Heirath der Tochter ihren Zweck vollkommen, und die Zeit, wo sie am A.’schen Hofe wieder erscheinen durfte, galt noch in späteren Jahren in den Augen der Hofschranzen für „eine himmlische“.
Sie hatte einen niegesehenen Glanz um sich verbreitet durch ihre noch immer bezaubernde Erscheinung und ihre Reichthümer, die sie mit vollen Händen ausstreute, um den schlüpfrigen Boden unter ihren Füßen zu befestigen.… Diese Triumphe genoß sie indeß nicht lange. Die Baronin Fleury starb, nachdem sie einen todten Knaben geboren, im Wochenbett, und drei Jahre später verschied die Gräfin Völdern – „leicht und selig wie eine Gerechte“ – sagte der Volksmund und mit ihm Sievert. Sie war nur zwei Tage krank gewesen, hatte, als gläubige Katholikin, regelrecht, in aller Form die letzte Oelung empfangen und war hinübergeschlummert mit einem fast kinderhaft unschuldigen Lächeln, und von nah und fern kamen die Leute, um das engelschöne Wachsbild im Sarge zu sehen, die Frau, die so viel gesündigt und nie – gelitten hatte.… Die fünfjährige, nun völlig verwais’te Gräfin Gisela blieb im Hause ihres Stiefvaters und war alleinige Erbin der sämmtlichen gräflich Völdern’schen Besitzungen, mit Ausnahme von Arnsberg, das sich schon längst nicht mehr im Besitz der Gräfin Völdern befand. Zum großen Erstaunen der Welt hatte nämlich die Universalerbin wenige Monate nach Antritt ihrer Erbschaft das Schloß mit dem dazu gehörigen Areal an Wald und Feld dem ihr damals noch völlig fernstehenden Baron Fleury um die Summe von dreißigtausend Thalern, und zwar unter dem allgemein belächelten, sehr empfindsam klingenden Vorwande verkauft, daß ihr diese Besitzung als der Sterbeort ihres Freundes, des Prinzen, allzu schmerzliche Erinnerungen wecke.
Das reichsgräfliche Kind erschien demnach auf seiner Flucht vor dem Nervenfieber nicht als Herrin, sondern als Gast des Stiefvaters in Schloß Arnsberg. Letzterer hatte übrigens Sievert’s Voraussetzung nicht wahr gemacht; nach nur zweitägigem Aufenthalt war er abgereist, um sich zu seinem Fürsten zu begeben, der fern von A. auf einem Jagdschlosse verweilte.… Jutta hatte den Minister nicht wiedergesehen. Am Tage nach dem Hinscheiden der Blinden war Frau von Herbeck in das Waldhaus gekommen, um im Namen Seiner Excellenz zu condoliren, und das prachtvolle Bouquet, das bei der Beerdigung zu Füßen der Todten lag, stammte aus dem Arnsberger Treibhause – wer der Unglücklichen in ihren letzten Lebensstunden hätte sagen sollen, daß ein Blumengeschenk von seiner Hand mit ihr in ein und demselben Todtenschrein modern würde!…
Inzwischen war das Weihnachtsfest herangekommen. Im klingenden Eispanzer, den Saum des schwer nachschleppenden Schneemantels bis an die Fenstersimse der niedrigen Bauernhütten werfend, schritt es über den Thüringer Wald hin; froststarre Thränen hingen an seinen Wimpern, und das Wehen seines Athems scheuchte alles warme Leben hinter die schützenden Thüren und Mauern; aber die Tannenkrone über seinem lieben Heiligengesicht blitzte wie ein Königsdiadem – die kalte Wintersonne stand unverhüllt am klarblauen Himmel und weckte bleiche Funken in jedem Eiszapfen – und mit bezeichnendem Finger streifte es hie und da über eine einzelne junge Fichte im Schlag; sie stand da und träumte im dämmernden Winterschlaf von Wachsen und Großwerden, von der Zeit, wo ihr schlanker Stamm sich hoch in die blauen Lüfte hinaufrecken und mit seiner Spitze an die goldenen Sterne rühren würde, von den purpurnen Blüthen, die dereinst droben zwischen den Aesten aufglühen und, vom Sonnenlicht umkost, ihre hochgetragene Schönheit in die weite, weite Welt hinausleuchten sollten – und sie erwacht plötzlich, von milder, warmer Luft geweckt; ihr kleiner Wipfel ragt nicht in den Himmel, und die rothen Blüthen schlummern unerschlossen weiter, wohl aber sind die Sterne von droben herabgesunken und flammen auf den kleinen Zweigen, und das arme, erschrockene Fichtenbäumlein ist selbst zur Blume geworden, zur strahlenden Wunderblume des Winters – o, du süße, selige Weihnachtszeit! …
Auch auf dem blühenden Gesicht der Pfarrerin von Neuenfeld lag es wie klarer Sonnenschein. Diese etwas derben, aber sehr regelmäßigen Züge trugen zwar immer das köstliche Gepräge ungetrübter, fast schelmischer Heiterkeit; allein jetzt lachte auch etwas wie verheimlichte Freude heraus. Die Frau hatte ja sieben Kinder, und diese sieben abgöttisch geliebten Blondköpfchen sollte sie in glückseliger Ueberraschung unter dem Weihnachtsbaum sehen.… Es war diesmal keine leichte Aufgabe gewesen, die Christbescheerung zu beschaffen – die Kartoffeln waren nicht gerathen, und der Herr Pfarrer hatte einen neuen Winterrock absolut nöthig gehabt – indeß, ein viermaliger Gänsebraten auf dem Tisch eines armen Thüringer Landgeistlichen war sündhafter Luxus, und deshalb ließ die Pfarrerin drei Stück ihrer vier fetten, wohlgerathenen Gänse leichten Herzens gen A. ziehen, wo sie gut bezahlt wurden. Die einzige Kuh im Stalle des Pfarrhauses lieferte zwar nach wie vor dasselbe Quantum Milch; dennoch kam jetzt wöchentlich ein Pfund der berühmten Neuenfelder „Pfarrbutter“ mehr auf den Markt; die Pastorin aß seit Monaten ihr Frühstücksbrod und die Abendkartoffeln nur mit Salz, und Rosamunde, die alte Magd, übte sich tapfer mit bei diesem Enthaltungssystem. Und endlich kam der Tag, wo die mühsam ersparten Groschen und Pfennige in Gestalt von verschiedenen Paketen nach dem Pfarrhause zurückwanderten. Während die alte, halberfrorene Botenfrau hinter der verriegelten Küchenthür mit verklommenen Fingern Stück um Stück der weit hergeschleppten Schätze aus ihrem Tragkorb holte, kauerten drei kleine Mädchen mäuschenstill draußen auf der uralten, ausgehöhlten Schwelle. Die dicken Blondzöpfe fest an die Thürritzen gedrückt, und ihre kleinen frierenden Hände unter die Schürze steckend, horchten sie nach echter Evaweise, indeß drei wilde Jungen, das Erfolglose des Schlüssellochguckens endlich einsehend, den Genuß der beharrlichen Schwestern durch Zupfen an den Kleidern und Zöpfen zu verkümmern suchten. Da fiel ein Etwas mit leise schmetterndem Geräusch auf den Backsteinfußboden der Küche und rollte weiter – „eine Nuß!“ jubelte der Chor selbstverrätherisch auf, und die Pfarrerin öffnete leise lachend ein Paket und hielt es geräuschlos an die Thürspalte – ach, Pfefferkuchen! – wo wäre eine Kinderseele, die sein Duft nicht sofort in die Welt der Weihnachtswunder versenkte!
Der Berliner Omnibus.
In der endlosen Sündfluth, welche zwischen den steinernen Mauern der jungen Weltstadt Berlin dahinströmt und ein Gewimmel und Gekrabbel von rasselnden Fahrzeugen und tobenden Menschen in Bewegung setzt, sieht man von Zeit zu Zeit ein großes kastenartiges Gefährt, einer Arche Noah nicht unähnlich, sich in mäßigem Tempo fortbewegen. Nicht selten auch erblickt man ein Menschenkind, ein Männlein oder Fräulein, welches mit ängstlicher Hast, winkend und rufend, dieser Arche nacheilt und der Gefahr, in der großstädtischen Sündfluth zu ertrinken, entrinnen will. Und dann reicht Vater Noah, der auf dem Hinterdeck
[53][54] der Arche steht, dem Bedrängten die hülfreiche Hand und versammelt ihn zu den reinen und unreinen Geschöpfen, die er bereits in seinen Kasten aufgenommen hat.
Diese Arche, von welcher hier die Rede ist, nennen wir in der Universalsprache einen „Omnibus“; der Vater Noah, welcher dem Ertrinkenden die Hand entgegenstreckt – und o, was für niedliche, zarte und quabblige Händchen bekommt er den Tag über zu greifen! – dieser Vater Noah, welcher mit dem biblischen dann und wann gemein hat, daß er ein Weib und drei Söhne besitzt, sich aber dadurch von Jenem unterscheidet, daß er keine Weinstöcke pflanzt und keinen Wein trinkt, sondern sich vorzugsweise von Brühkartoffeln, Weißbier und Kümmelschnaps nährt, heißt auf deutsch „Conducteur“.
Betrachten wir das Gefährt näher, so sehen wir einen langen vierräderigen Wagen, auf jeder Seite mit drei Fenstern und auf der Hinterseite mit einem niedrigen Tritt und einer Eingangsthür versehen. Auf den beiden äußeren Seiten und an der Rückwand des Wagens stehen oben mit schwarzen Buchstaben auf weißen Schildern die Endpunkte der Tour, zuweilen auch die wichtigsten dazwischen liegenden Punkte, angegeben. Des Abends unterscheiden sich die Omnibusse der verschiedenen Linien noch durch verschiedenfarbige Laternen.
Im Innern befindet sich, wie in allen dergleichen Wagen, auf jeder Längsseite eine mit Leder oder Plüsch gepolsterte Bank, deren jede sechs Personen aufnehmen kann. An der vorderen Querseite hängt die gedruckte Karte, welche die Abfahrtszeiten von den beiden Endpunkten der Tour angiebt. Auf der linken Seite der Hinterwand, neben dem Conducteur, befindet sich eine Laterne, die mit der Nummer des Wagens bezeichnet ist, und die Zifferscheibe, auf welcher die Zahl der Passagiere mittels des stellbaren Zeigers angegeben werden muß. Mit großer Oelfarbenschrift steht angeschrieben, daß das Fahrgeld gleich nach dem Einsteigen zu entrichten ist und daß nicht Tabak geraucht werden darf. Es bedurfte zur Erfüllung der letzteren Bestimmung der größten Entschiedenheit seitens der Polizeibehörde, denn in den Protesten, welche sowohl von den Omnibus-Unternehmern wie von einem großen Theil des fahrenden Publicums gegen jenes Verbot einliefen, bewährte sich wieder die alte Thatsache, daß der Deutsche nicht nur, wie die übrigen Menschen, ein kochendes, sondern auch vorzugsweise ein rauchendes Thier ist und daß die reinste Himmelsluft ohne die Beimischung des narkotischen Dampfes der verschiedenen Fabrikate, von der Regalia bis zum Ohlauer Knaster und der Infamia Stincadores, ihm nur ungenießbar vorkommt.
Auf dem Deck des Omnibus sind ebenfalls zwei hölzerne Bänke für je fünf Personen angebracht, zu welchen von dem Trittbrete eine eiserne Treppe hinaufführt. In Paris sind diese „banquettes“ bei den Omnibussen, welche die Stadt kreuzen, nicht gestattet, weil man sie für gefährlich hält; nur die über Land fahrenden Wagen sind mit dieser Einrichtung versehen.
Schlägt man sich die Gefahr aus dem Sinne, bei einem Bruch der Achse nach dem Gesetz der Centrifugalkraft auf das Straßenpflaster geschleudert zu werden, so bietet der Platz auf dem Deck mancherlei Vorzüge: man fährt um die Hälfte billiger als im Innern, kann Tabak rauchen, genießt bei schönem Wetter eines stärkenden Luftbades und härtet bei ungünstiger Witterung seine körperliche Gesundheit und Widerstandskraft. Hat man einen der vorderen Plätze in Besitz, so ist man im schlimmsten Falle durch den breiten Rücken des Kutschers gedeckt.
Dieser Kutscher steht mit dem Conducteur in Verbindung durch eine Art Nabelschnur, welche über das Deck und unter den Füßen der Passagiere fortgeht und in das man sich nicht verwickeln darf, wenn man nicht hinabstürzen oder die Gedankenverbindung zwischen der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt des Fahrzeuges stören will. Jene Schnur nämlich, die an den linken Arm des Rossebändigers befestigt ist und bis auf die Hinterseite des Wagens hinabreicht, wird vom Conducteur angezogen, sobald der Wagen anhalten oder langsamer fahren soll. Es gehört das Zartgefühl eines Omnibuskutschers dazu, um durch Mantel, Rock und Unterjacke an dem stärkeren oder milderen Ruck wahrzunehmen, was von Beiden verlangt wird: das Erstere, wenn eine Dame, ein Kind oder ein Greis ein- oder aussteigt; das Zweite, wenn ein Mann, der sich auf der Grenze zwischen der vollen Manneskraft und dem einbrechenden Greisenalter befindet, während des Fahrens aufgenommen werden oder den Omnibus verlassen will.
Sobald der Kutscher mittels der Schnur den Ruck zum Stillhalten bekommen hat, überliefert er diese Depesche mit Hülfe der Leine den Pferden, indem er denselben einen Ruck in die Ganaschen giebt. Dieses wiederholte plötzliche Stillhalten aus vollem Lauf und das erneuerte Anziehen ist für die Pferde ebenso mühsam wie aufreibend, und es läßt sich wirklich in dieser Beziehung das gequälte Omnibuspferd nur etwa mit einem Schriftsteller vergleichen, der „im Schooße seiner Familie“ oder in einer unruhigen Miethcaserne arbeitet und dessen Gedankengang ebenfalls in kurzen Zwischenräumen einen unterbrechenden Ruck erhält, wenn einer seiner Söhne ihm eine Frage über die Schularbeiten stellt, die Gattin einen Rath in häuslichen Angelegenheiten begehrt oder die Nachkommenschaft des über ihm wohnenden Miethers plötzlich ein Wettrennen in Holzpantinen eröffnet.
Jungen Männern und solchen, die noch im Besitz der vollen körperlichen Kraft und Rüstigkeit stehen, wird zugemuthet, daß sie den Wagen während des Fahrens verlassen, ohne sich den Hals dabei zu brechen. Noch vor zehn Jahren würde man dieses gefahrvolle Unternehmen in Deutschland von keinem Menschen verlangt haben: es gehört dazu eine Entschlossenheit und Gewandtheit, die unsere Generation erst durch den Krieg und durch eine halsbrechende Gymnastik gewonnen hat; eine körperliche Rüstigkeit, welche wir dem Hoff’schen Malzextract und dem Danbitz’schen Kräuter-Liqueur verdanken; es gehört dazu endlich eine gewisse Geringschätzung des Menschenlebens, wie sie der Yankee besitzt und wie sie durch das erhöhte Industrieleben und die Ueberschätzung des Gelderwerbs hervorgebracht wird.
Obgleich das Omnibuswesen Berlins noch an manchen Kinderkrankheiten leidet, obgleich ihm die vorzügliche Einrichtung der Pariser Omnibusse fehlt, nämlich die sogenannte Correspondenz, welche dem Passagier gestattet, ohne Erhöhung des Fahrgeldes in eine andere Linie überzugehen, den erforderlichen Wagen in einem Stationszimmer zu erwarten und laut einer erhaltenen Nummer seines Platzes gesichert zu sein – obgleich diese Correspondenz-Einrichtung bis jetzt erst von dem Verwaltungsrathe beabsichtigt wird, so muß dennoch schon die gegenwärtige Organisation unsere Bewunderung erregen.
Begeben wir uns des Morgens in der Frühe nach einem der sogenannten Depôts, deren sechs in der Hauptstadt eingerichtet sind!
Ein großer Hof wird von zwei langen Gebäuden begrenzt; das eine enthält die Schuppen von zwanzig bis fünfzig Wagen, das andere die Ställe für dreihundert bis dreihundertundfünfzig Pferde; ein kleines Bureaugebäude für den Depôt-Verwalter befindet sich am Eingange des Hofes.
Stallknecht und Kutscher sind beschäftigt, die Wagen und Ställe zu reinigen, die Pferde zu füttern, zu putzen und aufzuschirren. Conducteure und Kutscher treten dann vor dem Verwalter und Inspector zum Appell an, erhalten ihre Stellen zugewiesen, werden über etwa eingelaufene Beschwerden vernommen und mit den neuen Verordnungen des Centralbureaus bekannt gemacht. Zur vorgeschriebenen Zeit werden die Wagen bespannt, die Kutscher und Conducteure nehmen ihre Plätze ein, und fort rollen die mächtigen Fuhrwerke nach ihren verschiedenen Hauptplätzen. Um 7½ Uhr sind die letzten Wagen abgefahren. Das Ameisentreiben im Depôt hat nun einen Stillstand und wiederholt sich erst am Abend, wenn die Gefährte von der Arbeit zurückkehren.
Dennoch geht es dort noch fortwährend geschäftig genug zu: die Stallknechte besorgen die Reservepferde, reiten die Thiere, welche zum Umspann bestimmt sind, nach den Stationen und führen die ausgespannten und ermüdeten, die sie mit leinenen ober wollenen Decken überhängt haben, nach den Ställen zurück. Jene sechs Depôts, unter der Aufsicht von drei Verwaltern und sechs Inspectoren, versehen den städtischen Verkehr mit hundertvierzig Wagen und elfhundert Pferden, welche auf fünfundzwanzig Linien vertheilt sind und von hundertsiebenzig Kutschern, eben so vielen Conducteuren, dreißig Controleuren und hundertvierzig Stallknechten bedient werden. Die Controleure erhalten jeder monatlich fünfundzwanzig Thaler Gehalt, jeder Conducteur und Kutscher empfängt achtzehn Thaler, jeder Stallknecht vierzehn Thaler. Die tägliche Einnahme eines Omnibus ist auf zehn Thaler anzuschlagen. Die Controleure pflegen unvermuthet auf einem Punkte der Fahrt heran zu kommen, auf das Trittbret zu springen, sich das [55] Notizbuch der Conducteure zeigen zu lassen, mit einem Instrument, welches einem Zahnbrecherschlüssel nicht unähnlich ist, die Zifferscheibe zu stellen und dann ebenso rasch wieder zu verschwinden, wie sie erschienen sind. Außerdem soll noch eine Anzahl geheimer Controleure im Dienste der Omnibusgesellschaften stehen, um diese vor jeder Unredlichkeit von Seiten ihrer Beamten nach Möglichkeit zu bewahren; ob dergleichen „Geheime“ wirklich existiren, können wir indeß nicht verbürgen.
Die Polizeibehörde hat die Halteplätze allmählich immer weiter von der Mitte der Stadt hinausgerückt und die Touren haben jetzt eine Länge von einer Viertel bis zu einer Meile erhalten, welche, die Unterbrechungen unterwegs eingerechnet, in je siebenundvierzig Minuten bis eine Stunde pünktlich zurückgelegt werden müssen. Die längsten Touren sind jetzt die von der Liesenstraße zum Heinrichsplatz und von der Ostbahn zum Neuen Thor. Das übel berüchtigte Voigtland, der ehemals versandete Wedding, die Frankfurter Linden, der Kreuzberg und die Potsdamer Brücke sind jetzt dem Mittelpunkte der Stadt um eine halbe Stunde näher gerückt und die Omnibuseinrichtung ist für diejenigen Geschäfts- und Gewerbetreibenden, welche weite Wege zurückzulegen haben oder von ihrer Arbeitsstätte entfernt wohnen, eine nicht genug zu schätzende Wohlthat. Der Fahrpreis beträgt für den Deckplatz einen Silbergroschen, für den inneren Platz zwei, eigentlich anderthalben Silbergroschen, da Billets für zwei Touren oder zwei Personen zu drei Silbergroschen von den Conducteuren verabfolgt werden. Alles aber, was den Betrag von einem Silbergroschen übersteigt, erlangt in Berlin keine rechte Popularität. Der eigentliche Mann aus dem Volke und der Arbeiter benutzt daher nur die Deckplätze, während die inneren vorzugsweise von der verkehrtreibenden Mittelclasse und, da diese hinsichts der Kleidung und Gesittung den höheren Ständen näher als die Arbeiterclasse steht, auch von Damen und von Personen aus der Beamtenwelt und dem Handelsstande benutzt werden.
Auf den Stations- oder Halteplätzen finden sich meistens Omnibusse mehrerer Linien, und zwar ist gewöhnlich einer für jede der angewiesenen Touren dort anzutreffen, der nach einer Rast von sieben bis acht Minuten, kurz vor oder gleich nach der Ankunft des rückkehrenden abfährt. Der Moritzplatz und der Oranienplatz, auf welchen früher die meisten Omnibusse hielten, liegen jetzt innerhalb der Linien, und gegenwärtig sind der Alexander-Platz, der Dönhofs-Platz und die Potsdamer Brücke die wichtigsten Stationsplätze geworden.
Die Berliner Omnibusse verlieren sich nicht, wie die Pariser, in die Nebenstraßen, sondern wählen auf ihren Linien die besuchtesten Hauptstraßen und verbinden in dieser Weise die Stralauer Gegend mit der Anhalter Bahn; die Stadttheile jenseits der Königsstadt mit dem Süden Berlins; das ehemalige Voigtland, das Gebiet der Familienhäuser mit dem Potsdamer Thore und dem Stadttheile auf dem Köpnicker Felde und diesen mit der Oranienburger Thorgegend, dem Reiche der riesigen Eisenindustrie, und mit dem Stadttheile der Geheimräthe; das Cottbuser Thor mit dem Stadttheile vor dem Potsdamer Thor, den Wohnplätzen der reichen Bourgeoisie; den entlegensten nördlichen Theil, den Wedding-Platz, mit dem äußersten südlichen, dem Kreuzberge; das Neue Thor mit der Ostbahn; die Region der Biergärten vor dem Schönhauser Thore mit dem südlichen Theile der Stadt und mit der Gegend jenseits des Alexander-Platzes. Andere Linien verbinden das Innere der Stadt mit benachbarten Orten, welche meistens außerhalb des Weichbildes liegen, mit Lichtenberg, Weißensee, Tempelhof, Moabit, Charlottenburg, Pankow, Schöneberg, Rixdorf, der Hasenhaide, dem Gesundbrunnen und dem Saatwinkel.
Das Omnibuswesen entstand zuerst gegen Ende der zwanziger Jahre in Paris und zeigte sich schon wenige Jahre später in lebhaftem Gange. Die einzelnen Berliner Omnibusse, welche zur Zeit des Regierungsantritts des vorigen Königs aufkamen, verschwanden bald wieder, Berlin hatte damals noch nicht den weltstädtischen Pulsschlag, um das Bedürfniß nach einer derartigen Einrichtung zu fühlen. Ein geregeltes Omnibuswesen wurde erst im Jahre 1847 von Heckscher und Freiburg aus Hamburg eingerichtet und kam dann an verschiedene Privat-Unternehmer, welche in dem Zeitraum von 1862 bis 1864 dreihundert Omnibusse in Gang setzten. Im letztern Jahre übernahm die Commandit-Gesellschaft Busch und Rosenberg dieses Verkehrsgeschäft. Das Bedürfniß hatte sich in so dringender Weise geltend gemacht, daß vor fünf Jahren sechsundvierzig Linien eingerichtet waren. Trotzdem fanden die Unternehmer nicht ihre Rechnung, und die Stockung im Geschäftsverkehr, die Kriege und andere Hemmnisse veranlaßten, daß das Geschäft im März vorigen Jahres in Liquidation kam und auf eine Actiengesellschaft mit einer Million Betriebscapital überging, welche gegenwärtig ihr Centralbureau in der Leipzigerstraße Nr. 41 hat. Obgleich fast die Hälfte der früher eingerichteten Linien eingegangen war, so nahm das Institut unter der Direction des Barons von Gablenz und des ehemaligen Buchdruckereibesitzers J. Draeger einen neuen Aufschwung; neuerdings ist ein dritter Theilnehmer an der Verwaltung, Herr Itzinger, hinzugetreten.
Eine Fahrt in einem Berliner Omnibus ist ebenso unterhaltend wie lehrreich. Ruhig auf seinem Platze sitzend, ist man im Stande, die mannigfaltigsten Studien von Charakteren und Situationen anzustellen. Vielleicht begleitet uns der Leser später auf einer solchen Studienfahrt, die sein Wissen sicher mit der Bekanntschaft von mancherlei interessanten Menschen- und Charaktertypen bereichern wird.
Die neue Lehre.
Schlecht in sich selber ist die Lehre, welche
Vor einer feindlichen Entdeckung zittert!
Friedrich II. von Hohenstaufen.
Ich frage nicht, woher ich stamme;
Geschehen ist und bleibt die That,
Daß einmal eine Lebensflamme,
Ein Funken mich entzündet hat,
Der in der ersten Zelle schwang,
Daraus nach Millionen Jahren
Das erste Menschenkind entsprang.
Der sie durch ungezählte Stufen,
Bis daß die jüngste wachgerufen,
Die pflügt und handelt, spricht und schreibt;
Ein Blitzen war’s im Wesenraume,
Da nun der Riesenschritt begann
Sich eines auf sich selbst besann.
Ein Festtag war’s der Geisterweihe,
Ein göttlich Auferstehungslied,
Als aus der Myriaden Reihe
Als er zuerst den eignen Namen
An der Erschaffnen Gipfel schrieb
Und seitwärts unter ihm der Rahmen
Des Thiers befestigt stehen blieb.
Der aus der eignen Stirne sprang
Und eine Welt der Ideale
Selbstschöpfend um die Schöpfung schlang;
Triumphen von Gedankensiegen,
Und unermeßlich vor Dir liegen
Des Könnens Kreise wähntest Du. –
[56]
Ein neues Blitzen – und ein neues
Vergeh’n und Kommen bricht herein,
Und Du wirst selber nicht mehr sein,
Nicht Bess’res wirst Du Dir erwerben,
Vergehen muß Dein ganz Geschlecht,
Daß Andre leben, mußt Du sterben,
Und was nach Dir? Welch’ andre Normen?
Und welch’ ein Geist? Ich weiß es nicht;
Nur daß aus tausend neuen Formen
Die ewige Verjüngung bricht,
Befestigt sich der Enkel Thron
Und der Mysterien Haupt und Spitze
Ist das vom Vater und vom Sohn.
Nur Eine Lehre, die wir hören,
Der Gott des Lebens muß zerstören,
Damit er neu erschaffen mag;
Kein Schöpfungsfest und dann ein Fasten,
Kein Schöpfer, der nicht ewig schafft,
Und kein Entkräften auf die Kraft!
Und keine Welt, die nicht zu neuer
Verwandlung ihr Gesetz empfing,
Wenn in den Fluthen, wenn im Feuer
Es giebt ein ewig Kräftetreiben;
Nicht Du wirst leben, wie Du bist,
Doch sei beruhigt, Es wird bleiben,
Was Lebenskraft und Wirkung ist.
Ein neu Geschlecht? – Ist’s nicht genug,
Daß diesem schon Gewalt gegeben,
Die eine Kettenlast zerschlug,
Die jeder Kraft und Lebensregung
Und aus des Sonnenstrahls Zerlegung
Der Sterne Wesen hat bestimmt?!
Der im August 1791 zu Pillnitz abgeschlossene Vertrag, durch welchen sich die gekrönten Häupter Deutschlands zur Wiederherstellung der monarchischen Regierung in Frankreich verpflichteten, brauchte nach dem Geschäftsgange des seligen Römischen Reiches just ein Jahr, ehe er zur Wahrheit wurde. Anfang August des nächsten Jahres, wo bereits die bourbonischen Lilien, getroffen vom heißen Hauch entfesselter Volksleidenschaft, dem Verwelken nahe waren, trafen endlich siebenzigtausend Preußen, geführt von Friedrich Wilhelm dem Zweiten und dem Herzog von Braunschweig, in den deutschen Grenzländern ein, machten in zwanzig Tagen einen Marsch von zwanzig Meilen und betraten am 19. August den Boden Frankreichs.
Drei Tage später ergab sich die kleine Festung Longwy, und kurz darauf wurde sogar der Commandant des wichtigeren Verdun, Beaurepaire, der sich am Tage der Uebergabe erschoß, zur Capitulation genöthigt. Das, gelinde gesagt, abenteuerliche Unternehmen, sich in die innersten Angelegenheiten eines fremden Volkes einzumischen, schien den besten Erfolg zu haben.
Berichte von Zeitgenossen schildern den Empfang, der dem König Friedrich Wilhelm im eroberten Verdun zu Theil wurde, als einen überaus glänzenden. So auch Goethe, der in seiner „Campagne in Frankreich“ den Einzugsfeierlichkeiten folgende Beschreibung widmet: „Größere Heiterkeit verbreitete jedoch die Erzählung“ – er saß mit preußischen Officiren an der Wirthstafel zu Verdun und ließ sich die Ereignisse vom vorigen Tage mittheilen, denen er nicht selbst beigewohnt hatte – „wie der König in Verdun aufgenommen worden. Vierzehn der schönsten, wohlerzogensten Frauenzimmer hatten Ihro Majestät mit angenehmen Reden, Blumen und Früchten bewillkommnet. Seine Vertrautesten jedoch riethen ihm ab, vom Genuß Vergiftung befürchtend; aber der großmüthige Monarch verfehlte nicht diese wünschenswerthen Gaben mit galanter Wendung anzunehmen und sie vertraulich zu kosten. Diese reizenden Kinder schienen auch unsern Officieren einiges Vertrauen eingeflößt zu haben; gewiß diejenigen, die das Glück hatten, dem Balle beizuwohnen, konnten nicht genug von Liebenswürdigkeit, Anmuth und gutem Betragen sprechen und rühmen.“
So erzählt unser Altmeister. Bekanntlich entsprach der fernere Verlauf des Krieges nicht den Hoffnungen, welche man anfänglich daran knüpfte. Schlechtes Wetter, Krankheiten aller Art und die nicht erwartete Kriegstüchtigkeit des Feindes brachten bald den anfänglichen Siegeszug zum Stillstand; nach der nutzlosen Kanonade von Valmy (im September) bemächtigte sich Muthlosigkeit der preußischen Heerführer, und vom October ab begann ein Rückzug durch die morastigen Wege der Champagne, welcher nicht seines Gleichen in der Geschichte des preußischen Heeres hat.
Ueber den Schlußact jener Verduner Einzugsfeierlichkeiten giebt uns ein biederes deutsches Familienbuch folgenden Aufschluß: „Vierzehn junge Mädchen“ – erzählt die Becker’sche Weltgeschichte – „wurden am 24. April 1794 verurtheilt, weil sie auf dem Balle getanzt, den die Preußen nach der Einnahme von Verdun veranstaltet hatten. Selbst die Furien der Guillotine wandten in widerwilliger Rührung sich ab, als so frische Jugendblüthen vom Henker zerknickt wurden; aber noch grausamer scheint die Milde, welche zwei dieser beklagenswerthen Tänzerinnen abgesondert hatte, um in zwanzigjährigem Gefängniß zu verkommen.“
Dies ist die Leidensgeschichte der Festjungfrauen von Verdun, wie sie in fast allen Geschichten der französischen Revolution mehr oder minder weitläufig erzählt wird. Bis vor siebenzehn Jahren zweifelte Niemand an der Wahrheit derselben, und oft haben junge Poeten, namentlich während der Restauration, den unschuldig Geopferten elegische Thränen nachgeweint. Da ließ im Jahre 1851 der berühmte Bildhauer David d’Angers eine Notiz in den Volksalmanach einrücken, in welcher er über die Mädchen von Verdun und ihre poetischen Verherrlicher Hohn und Spott mit vollen Händen ausgoß und unter Andern behauptete, daß die jüngste der genannten Damen vierzig Lenze hinter sich gehabt habe.
Für die ältere Ansicht, nach welcher sich eine Anzahl junger Mädchen unter den Verurtheilten befunden hatte, trat Cuvillier Fleury, Redacteur des Journal des Debats, in die Schranken und brachte als Beweismittel Tagebücher von Barbe Henry bei, die, wie wir später sehen werden, zugleich mit Claire Tabouillot der Verurtheilung zum Tode entgangen war. Trotz seiner vielen Nachforschungen wurde es Cuvillier indeß nicht möglich, den Verlauf der allerdings etwas dunklen Angelegenheit actenmäßig festzustellen. Dies gelang erst in neuester Zeit, wo man so glücklich war, die unter siebenzigjährigem Staube vergrabenen umfangreichen Actenbündel des Processes wieder aufzufinden.
Der Hergang war hiernach folgender: Am 5. October 1792, als das Invasionsheer noch auf französischem Boden stand,
[57] erschien im Moniteur, ohne jede weitere Angabe, der Wortlaut der Anrede, mit der, dem Vernehmen nach, Friedrich Wilhelm in Verdun begrüßt worden war. Gleichzeitig verbreitete sich das Gerücht, daß eine Anzahl weiß gekleideter junger Mädchen, den ersten Familien angehörend, dem Könige auf einem Triumphwagen entgegengefahren wäre, um ihm Früchte und Blumen zu überreichen, ferner daß man am Abend des Einzugs zu Ehren der feindlichen Officiere einen solennen Ball veranstaltet hätte. Kaum war der Boden Frankreichs wieder von Feinden frei, als in Verdun unter den Auspicien eines Conventsdeputirten eine Commission niedergesetzt wurde, „um nach den Gegnern der Republik zu forschen“. Der Präsident derselben war Sommelier, ein gewesener Mönch, welcher später wegen Unterschleifs flüchtig werden mußte; als Secretär fungirte ein gewisser Madin, dessen Rohheit in Wort und That weder Maß noch Ziel kannte. Die übrigen Mitglieder derselben waren Professoren(?), Handwerker und Particuliers.
Eine große Anzahl Zeugen erschien vor der Commission, wurde im Namen der Republik aufgefordert, die Wahrheit zu sagen, wußte jedoch über die incriminirten Punkte nur wenig anzugeben. Niemand hatte von einer officiellen Anrede an den König gehört, auch konnte sich Niemand erinnern, daß irgendwo ein öffentlicher Ball zu Ehren der Preußen abgehalten worden wäre. Bezüglich der Procession stellte sich heraus, daß eine solche gar nicht stattgefunden, wogegen constatirt wurde, daß zwar eine kleine Gesellschaft Verduner das Lager besucht hatte, daß aber darunter keine officielle Deputation gewesen war. Gesprochen hatte der König nur mit einer Dame, Namens Bonvillier Catoir, welche aussagte, daß sich die Unterhaltung auf die Frage, ob in Verdun Theater sei, beschränkt habe und daß dieselbe von ihr mit „Nein“ beantwortet worden sei. Eine Dame, Namens Mengaut de Lalance, beiläufig gesagt damals siebenundsechszig Jahr alt, hatte allerdings, wie sich bei der Untersuchung herausstellte, die Absicht gehabt, dem Könige und seinen Officieren einen Korb mit Zuckerwerk zu überreichen, welches Vorhaben jedoch nicht zur Ausführung gekommen war. Schließlich wurde noch zwei jungen elternlosen Damen Wattein nachgewiesen, daß sie eine Summe von viertausend Franken einem alten Freunde ihrer Familie, Namens de Rodès, ausgehändigt hatten, welcher letztere als Emigrant mit den Preußen zurückgekehrt und gänzlich von Mitteln entblößt war.
Die Untersuchungsacten wurden nach Paris an den Sicherheitsausschuß geschickt, der Cavaignac zum Referenten in dieser Angelegenheit ernannte. Derselbe empfahl in seinem Berichte, die Damen von Verdun dem Criminalgerichte des Maasdepartements zu überweisen, und schloß das in pomphaftem Stile abgefaßte Schriftstück:
„Bis hierher hat das weibliche Geschlecht im Allgemeinen die Freiheit laut verhöhnt. Die Einnahme von Longwy wurde durch einen Ball gefeiert. Die Flammen, welche Lille vernichteten, leuchteten zu Spielen und Tänzen. Die Frauen besonders sind es, welche die Franzosen zur Auswanderung herausforderten, sie sind es, die, im Verein mit den Priestern, den Geist des Fanatismus in der Republik schüren und die Gegenrevolution hervorrufen …
Das Gesetz muß aufhören sie zu schonen, und Beispiele eiserner Strenge mögen ihnen kund thun, daß das Auge der Obrigkeit sie überwacht und das Schwert des Gesetzes erhoben ist, um sie zu treffen, wenn sie sich schuldig machen.“
Der Vorschlag Cavaignac’s wurde vom Convent mit einigen Modificationen angenommen, worauf man die bisher in einem alten Kloster von Verdun Gefangengehaltenen nach Saint Mihiel überführte, wo der Sitz des Criminalgerichts des Maas-Departements war. Hier blieben sie beinahe ein Jahr, ohne daß jemand Notiz von ihnen nahm, ja, sie wären vielleicht bis zum neunten Thermidor, der bekanntlich Robespierre stürzte, vergessen worden, wenn sie nicht fortwährend um Vornahme ihres Processes gefleht hätten und nicht der Conventsdeputirte Mallarmé in Saint Mihiel eingetroffen wäre und auf Beschleunigung des anhängigen Falles gedrungen hätte. Dies veranlaßte das Criminalgericht, sich sofort an den Convent mit der Bitte um Aufstellung der Anklageacte zu wenden. Hierdurch sollte die Sache eine andere Wendung erhalten.
In dem Antwortschreiben, welches der Justizminister Gohier erließ und das an seiner Spitze die bedeutsamen Worte: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder der Tod“ trägt, wurde dem dortigen Gerichtshofe nicht nur eine strenge Rüge wegen seiner Langsamkeit ertheilt, sondern ihm sogar die Weiterführung des Processes entzogen, die nach dem Gesetze vom 10. März 1793 vor die Schranken des Revolutionstribunals zu Paris gehöre.
Da mit letzterem bekanntlich nicht zu spaßen war, so entwickelten die Herren Räthe von Saint Mihiel mit einem Male eine außerordentliche Thätigkeit. Im Hinblick auf die für die Angeklagten nichts weniger als gravirenden, vor der Verduner Commission abgegebenen Zeugenaussagen ordneten sie eine neue Beweisaufnahme an und schickten zwei ihrer Collegen dazu nach Verdun.
Diesen gelang es zwar, den Kutscher Bourguignon, welcher die Angeklagten zum preußischen Lager gefahren hatte, ausfindig zu machen, allein seinen im Protokolle vom 23. Pluviose II. der „einigen und untheilbaren Republik oder der Tod“ niedergelegten Aussagen war nur zu entnehmen, daß er eine befreundete Gesellschaft von sieben Damen und einem Herrn einige Tage nach der Uebergabe der Festung zum Lager gefahren, und zwar nicht auf einem Triumphwagen, sondern auf einem Ackerwagen. Was weiter im Lager vorgegangen, war besagtem Patrioten unbekannt geblieben, da die preußischen Schildwachen ihm und dem an der Landpartie theilnehmenden Herrn den Eintritt in’s Lager verweigerten. Auch die übrigen Zeugenaussagen ließen den Besuch des Lagers in keinem anderen Lichte erscheinen, ja, es wurde sogar bewiesen, daß man preußischer Seits von den im Schmutz herumwatenden Damen gar keine Notiz genommen hatte. Die Procession der weißgekleideten jungen Mädchen, deren Erzählung fast in allen Geschichten der Revolution Platz gefunden hat, war also eine ruchlose Erfindung.
Trotzdem drang der Conventsdeputirte Mallarmé darauf, daß die Anklage gegen Alle aufrecht erhalten würde, wonach im März 1794 die Abführung derselben nach Paris erfolgte. Eine starke Gensdarmerie-Escorte begleitete die Karren, auf welchen die Angeklagten, fünfunddreißig an der Zahl, unter ihnen siebenzigjährige Greise und blühende Jungfrauen, hatten Platz nehmen müssen.
Die oben erwähnte Barbe Henry beschreibt in ihren Denkwürdigkeiten den Trauerzug sehr rührend. „Die Reise dauerte vierzehn Tage und ging ziemlich heiter von Statten, wir kannten das Loos, das uns erwartete, aber dennoch waren wir nicht außer Fassung, wir hatten uns friedlich in das ergeben, was Gott über uns beschließen würde.“
Die Gensdarmen benahmen sich gegen die Armen mit sehr viel Humanität und suchten das schreckliche Loos derselben nach Möglichkeit zu lindern. In St. Menehould, wo ein Carabinier-Regiment lag, das kurz vorher in Verdun garnisonirt hatte, machten die Officiere desselben sogar einen Versuch, die Gefangenen zu befreien, der jedoch scheiterte. In Paris angekommen, wurden sie sofort nach der Conciergerie gebracht. Riouffe schildert in seinen „Denkwürdigkeiten eines Verhafteten“ mit beredten Worten den Eindruck, den die Erscheinung der blühenden Mädchen in den düsteren Höfen des Gefängnisses hervorrief, dessen Thore sich für sie nur dann erst wieder öffnen sollten, als all’ diese Schönheit und Lieblichkeit dem grausigen Tode durch Henkershand entgegenging.
Nach dem damals noch bestehenden Verfahren – welches erst durch das schaurige Gesetz vom 22. Prairial aufgehoben wurde – mußte jeder Angeklagte vor der Verhandlung ein Verhör vor einem Einzelrichter bestehen. Auch die Fünfunddreißig von Verdun hatten sich einem solchen zu unterwerfen; die Formalitäten dabei wurden jedoch sehr rasch erfüllt und das Ganze nahm – wie Barbe Henry erzählt – höchstens einige Minuten für Jeden in Anspruch. Da der betreffende Beamte augenscheinlich schnell über Punkte hinwegzukommen wünschte, deren Erörterung nicht in seinem Plane lag, so beschränkte er die Fragen bei fast allen Angeklagten auf folgende:
„Haben Sie nicht durch Ihre Ränke die Besatzung von Verdun gezwungen, den Feinden Frankreichs eine Festung zu übergeben?“
„Nein.“
„Haben Sie sich nicht nach der Einnahme der Stadt in’s Lager verfügt, um dem Feinde zu seinen Erfolgen Glück zu wünschen und ihm Zuckerwerk zu überbringen?“
„Ich bin aus reiner Neugierde im Lager gewesen, ich weiß nicht, ob man Zuckerwerk dorthin getragen hat; was mich betrifft, so habe ich keins gesehen!“
„Haben Sie sich schon einen Vertheidiger gewählt?“
„Nein.“
[58] Der Untersuchungsrichter gab ihnen Chauveau Lagarde, den Vertheidiger von Marie Antoinette, zum rechtskundigen Rathgeber, der, wie es scheint, jedoch kaum einen namhaften Versuch gemacht hat, seine Clienten zu retten. Die Vertheidiger spielten vor dem Revolutionstribunal überhaupt eine traurige Rolle, nach dem Proceß Danton wagten sie kaum noch ihre Stimme zu erheben. Durch das Gesetz vom 27. Prairial wurde die Vertheidigung ganz abgeschafft.
Sich weiter über die Sache aufzuklären, hielt der „gewissenhafte“ Richter nicht für nothwendig.
Am 26. April 1794 erschienen die Angeklagten vor dem Revolutionstribunal. Es waren ihrer Fünfunddreißig, und zwar sieben junge Mädchen: Susanne Henry, sechsundzwanzig Jahr alt, Gabrielle Henry, fünfundzwanzig Jahr alt, Barbe Henry, siebenzehn Jahr alt, Anna Wattein, fünfundzwanzig Jahr alt, Henriette Wattein, dreiundzwanzig Jahr alt, Helene Wattein, zweiundzwanzig Jahr alt, Claire Tabouillot, siebenzehn Jahr alt. Die sechs Ersten waren Waisen, Claire Tabouillot hatte noch eine Mutter, welche mit auf der Anklagebank saß. Die Damen Henry waren Töchter eines früheren Gerichtspräsidenten von Verdun, die Watteins waren Töchter eines verstorbenen Officiers, der Vater von Claire Tabouillot war Staatsanwalt am Verduner Gericht gewesen.
An ihrer Seite saßen sieben ältere Frauen, zusammen also vierzehn Frauen. Außerdem waren vier Männer des Hochverraths angeklagt, darunter der Commandant Neyon, fünf unbeeidigte Geistliche, welche während der Occupation wieder in ihr Amt eingetreten waren, ein Gensdarmeriehauptmann und fünf Gensdarmen, denen man lächerlicher Weise zum Vorwurf machte, die Ordnung zu Gunsten der Preußen aufrecht erhalten zu haben, und endlich sechs Bürger Verdun’s, denen man unpatriotische Gesinnung zur Last legte.
Präsident des Gerichtshofes war Dumas, als öffentlicher Ankläger fungirte der berüchtigte Fouquier-Tinville. Das abgehärtete Publicum, welches den täglichen Sitzungen des Revolutionstribunals beiwohnte und die Verurtheilung von Frauen, Greisen, ja sogar seiner eigenen Königin ohne ein Zeichen von Mitleid angehört hatte, wurde durch den Anblick so vieler Schönheit und Kindlichkeit, wenn auch nur auf Augenblicke, gerührt. Arm in Arm erschienen die jungen Mädchen vor den Schranken, freimüthig ihre angeblichen Verbrechen eingestehend, voll Selbstverleugnung und Heroismus. Nur der bübische Fouquier-Tinville theilte nicht die Bewegung, die sich Aller bemächtigt hatte.
Als die Rede auf den Triumphwagen kam, rief er aus: „Wohlan, wenn es ein Mistwagen gewesen ist, so erkläre ich, daß er seine eigentliche Bestimmung niemals mehr erfüllte, als da er Euch Frauen zum Lager des Tyrannen fuhr!“
Das rührendste Intermezzo bildete das Benehmen von Barbe Henry und der Damen Wattein, welche, wie schon erwähnt worden ist, einen armen emigrirten Freund unterstützt hatten. Jede der Letzteren suchte die ganze Verantwortlichkeit auf sich zu nehmen und von ihren Schwestern abzuwälzen. Als man an Barbe Henry die Frage richtete, ob sie durch ihre Angehörigen zum verhängnißvollen Besuch des Lagers gezwungen worden sei, warf sie sich in die Arme ihrer geliebten Schwestern, und rief aus, „daß sie aus eigenem Antrieb dorthin gegangen sei, und daß sie das Schicksal ihrer Schwestern theilen wolle!“
Und all’ dieser Tugend, dieser Reinheit gegenüber, scheute sich das Journal der Henker, das Bulletin du Tribunal, nicht, in die frechen Worte auszubrechen: „Zum Unglück für den Triumph der Unschuld haben diese jungen Mädchen, sei es aus schlecht verstandener Hartnäckigkeit, sei es aus Anhänglichkeit an ihre Angehörigen, die humanen Absichten des Gerichtshofes nicht unterstützt, der alle Anstrengungen machte, um sie dem Schwerte des Gesetzes zu entziehen.“ So sprach ein Organ der Republik, die auf ihr Banner „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ geschrieben hatte und die Eltern- und Geschwisterliebe mit Preisen krönen wollte.
Auf den Antrag Fouquier-Tinville’s wurde den Geschworenen nur die einzige Frage gestellt: „Ist es gewiß, daß Umtriebe gemacht worden sind, die darauf hinzielten, den Feinden Verdun zu überliefern, die Fortschritte ihrer Waffen auf französischem Boden zu begünstigen, die Freiheit und Volksvertretung zu zerstören und den Despotismus wieder herzustellen?“ Es folgten die Namen der Angeklagten, begleitet mit der Bemerkung: „Ist der Benannte Mitschuldiger dieser Umtriebe?“ Bei Barbe Henry und Claire Tabouillot war dieser banalen Frage eine zweite hinzugefügt: „Haben sie es mit Vorbedacht gethan?“
Nach der Erklärung der Jury, die natürlich in den Hauptfragen bejahend und nur in den Nebenfragen verneinend ausfiel, sprach der Gerichtshof, gewöhnt an diese Rottenfeuer, dreiunddreißig Todesurtheile aus, während den genannten zwei Mädchen ein noch fürchterlicheres Schicksal aufgespart bleiben sollte, nämlich sechsstündige Ausstellung auf einem Schaffot und zwanzigjährige Gefangenschaft. Auch die eine der Damen Wattein, welche gar nicht im Lager gewesen war, wurde mit verurtheilt.
Kaum war das Verdict gefällt, als sich die jungen Mädchen, einer unwillkürlich enthusiastischen Bewegung folgend, einander in die Arme warfen und mit erhobener Stimme ihr Schicksal priesen, das ihnen vergönnte, vereint in den Himmel einzugehen, wo eine unsterbliche Krone und die geliebten Eltern ihrer harrten. Die drei Stunden, die ihnen, wie fast allen Verurtheilten, zwischen dem Ausspruch des Gerichtshofes und der Ankunft der Henker zugestanden wurden, verbrachten sie im Gebet und mit Vorbereitungen zum Tode. Und Eins sollten die dreiunddreißig Opfer einer schmachvollen Justiz vor vielen ihrer vorangegangenen Leidensgefährten voraushaben, nämlich den Trost der Religion, denn mit ihnen in dem dunkeln Saal eingeschlossen, wo sie die Henkersknechte erwarteten, übten die gleichzeitig mit verurtheilten fünf Geistlichen durch Entgegennahme der Beichte und Ertheilung der Absolution ihr Amt aus. Auch den nicht zum Tode verurtheilten Mädchen hatten die mitleidigen Kerkermeister gestattet, die letzten Stunden ihrer Freundinnen und Geschwister mit diesen verleben zu können. Da tritt plötzlich der Scharfrichter mit seinen Gehülfen ein, von denen einer sich Barbe Henry nähert, um ihre Haare unter sicherer Scheere fallen zu lassen in der Hoffnung, so mit den ihrigen sterben zu können, fügt sich die junge Heldin willig dem rohen Gebahren, ihre älteste Schwester jedoch entreißt sie den Händen des Henkerknechtes, und so wird Barbe Henry gerettet.
Als sich die verhängnißvollen Karren nach dem Revolutionsplatze in Bewegung setzten, war der Tag bereits der Nacht gewichen und nur das unsichere Licht einiger Fackeln, bei deren Scheine damals öfters Hinrichtungen stattfanden, leuchtete den Unglücklichen auf ihrem letzten Gange. Wie sonst folgte auch ihnen eine große Volksmenge, aber diesmal ohne in die gewohnten Rohheiten auszubrechen, selbst die entmenschten Weiber der Guillotine waren gerührt. Rings um das Schaffot hörte man Schluchzen, ja Lamartine erzählt, daß sogar Samson, der Henker, Thränen vergossen habe. Nach einer Stunde war Alles vorüber. – Am folgenden Morgen wurden Claire Tabouillet und Barbe Henry in Trauerkleidern auf einem Schaffot ausgestellt. Ueber ihren Häuptern war die Inschrift angebracht, daß diese schwachen Wesen die Stadt Verdun dem Feinde überliefert hätten, indem sie ihn mit Lebensmitteln und Kriegsmunition versorgten. Sechs Stunden dauerte diese Pein, aber die Menge, menschlicher als die damaligen Gewalthaber, hat nicht ein einziges Mal die armen Opfer insultirt. Die darauf folgenden Zeitereignisse gaben ihnen nach achtundzwanzigmonatlichem Gefängniß ihre Freiheit wieder. –
Zwanzig Jahre waren verflossen. Die stolzen Adler des Kaiserreichs lagen im Staube, und wiederum befand sich ein preußischer König auf französischem Boden, aber jetzt als Sieger. Im Mai des Jahres 1814, als Friedrich Wilhelm der Dritte noch in Paris weilte, sollte er auf eigenthümliche Weise an die erzählte Episode erinnert werden, die ihn um so mehr interessiren mußte, als der Kriegszug seines Vaters die unmittelbare Veranlassung zu derselben gewesen war. Barbe Henry, welche ihre Gefährtin überlebt hatte, wandte sich mit einem Briefe an den König, der ihn nach dem Moniteur vom 3. September 1815 folgendermaßen beantwortete:
„Ihr Brief vom 25. Mai hat mich an eines der traurigsten Ereignisse der französischen Revolution erinnert, eine Schandthat, deren Andenken das Herz des verstorbenen Königs, meines Vaters, mit Bitterkeit erfüllte; ich halte es für meine Pflicht, dem Opfer, welches diese schreckliche Frevelthat überlebt hat, ein Zeichen meiner Theilnahme zu geben. Ich habe mir vorgenommen, Ihnen von Berlin aus einen Schmuckgegenstand zu senden, der Ihnen den Antheil in’s Gedächtniß zurückrufen soll, den ich an Ihrem Schicksal und dem ihrer unglücklichen Gefährtinnen genommen habe.
Im Hauptquartier zu Paris, 2. Juni 1814.
[59] Das Geschenk, welches der König ihr erst bei seiner zweiten Anwesenheit in Paris übersandte, bestand aus einer Bonbonnière, auf deren Deckel zwanzig prachtvolle Diamanten seinen Namenszug bildeten. Nachstehender Brief begleitete die Sendung:
„Die Ereignisse, die so rasch aufeinander folgten, sind die Ursache, daß ich mich nicht früher des Versprechens entledigte, welches ich ihnen, Madame, in meinem Briefe vom 2. Juni 1814 gegeben habe. Ich bitte Sie, die beifolgende Bonbonnière mit meinem Namenszuge anzunehmen als Erinnerung des Interesses, welches ich dem Leiden gezollt habe, das Sie 1792 erduldeten.
Paris, 24. Aug. 1815.
Friedrich Wilhelm.“
Ueber das weitere Schicksal dieser merkwürdigen Frau ist uns nichts Näheres bekannt; ob sie, wie die Schwester Robespierre’s, die Flucht Karl des Zehnten, oder wie eine Tochter Fouquier-Tinville’s, die Februarrevolution erlebt hat, wissen wir nicht. 1851 deckte sie bereits der grüne Rasen.
Als ich im November des Jahres 1863 meinen ersten Ausflug nach dem sonnigen Italien antrat, blies ich mit wärmendem Hauche auf jeder Station die glitzernden Eisblumen von den Fenstern des Eisenbahnwaggons, um zu sehen, ob wir – fortwährend südwärts fahrend – nicht bald auch die Elemente des Südens, Leben und Wärme in der Natur, wahrnähmen. Das heitere Wien war die Mitte zwischen meiner nordischen Heimath und dem grünen Grenzgürtel Italiens – deshalb hatte ich beschlossen, hier einige Wochen zu rasten. Es lag fast hundert Meilen südlich von meiner Vaterstadt, und mit Zuversicht hatte ich erwartet, dort ein im gleichen Verhältniß wärmeres Klima zu finden. Wie staunte ich aber, als ich den Stephansthurm aus einer rein sibirischen Schnee- und Eiswüste in der Ferne auftauchen sah, die Fenster der guten Kaiserstadt ebenso gefroren fand, wie meine eigenen daheim, und auf dem Glacis Rennschlitten mit weithinschallendem Schellengeläute an mir vorüberklingeln hörte!
Das waren lustige Aussichten für meine Reisepläne! Allein wer die Gluth eines sechsundzwanzigjährigen Touristen kennt, dessen Ziel das schöne Italien ist, wird wissen, daß ein solcher in seinem Rausche gegen ebenso viel Grad Kälte vollständig unempfindlich ist. Sehen und kennen lernen – das waren die einzigen Gedanken und Ziele, denen ich nachhing. So konnte denn in solcher Zeit mein frisches, junges Blut auch wohl auf den Gedanken fallen, den Garten von Schönbrunn unter Schnee und Eis zu besuchen, um aus der Größe und Anlage des Ganzen wenigstens eine Idee seiner Wirkung in besserer Jahreszeit zu bekommen. Gedacht – gethan! Ein Fiaker brachte mich von der Mariahilfer Linie bis an das Gitterthor; von dort begann meine Fußwanderung durch die ungebahnten, verschneiten Buchengänge, an denen entlang sich die steifen, beschnittenen Hecken hinzogen wie die gepuderten Perrückenhelden, welche sie einstmals gepflanzt. Beyer’s zweiunddreißig Marmorstandbilder standen heute durch die Schneelasten, welche sich auf ihrem Rücken gehäuft hatten, wie eine buckelige, frierende Proletarierfamilie da, die beiden Springbrunnen in den großen Wasserbecken ließen in ihren gefrorenen Strahlen die letzten Flammen der kalten Sonne blitzen, und die Gewächshäuser waren sorgfältig zugedeckt. Von der Hauptallee mich nach rechts wendend, kam ich bald in einen Theil des Gartens, der mehr die Dauerhaftigkeit und Schneedichte meiner hohen Stiefeln als die Sorgfalt der Wegebaucommission bewundern ließ; die Pfade wurden fast zu Schneemulden, und ich gab meinen Vorsatz, mich zu der auf einer Anhöhe liegenden Gloriette hinanzuarbeiten, alsbald auf. Aber wo war ich nun hingerathen – ich armer nordischer Odysseus in einem k. k. Lustgarten? – Eine Wüste von Schnee und Eis rings umher und nirgends ein lebendes Wesen, das der Ton meiner Stimme erreicht hätte. Ich rief lange umsonst und wollte mich schon anschicken, meinen eigenen Spuren im Schnee folgend, wieder umzukehren, als ich einen stattlichen Herrn, in einen warmen Pelz gehüllt, mitten durch die Parkanlagen schreiten sah. Sein hoher breitschulteriger Körperbau trug ein zu demselben im rechten Ebenmaße gebildetes Haupt und die Züge seines Gesichts kennzeichneten auf den ersten Blick den treuherzigen, offenen Freund echt wienerischer Gemüthlichkeit. Ich eilte sogleich auf ihn zu und fragte nach dem rechten Wege.
„Die Wege sind hier jetzt alle recht und schlecht,“ sagte der fremde Herr, „es kommt nur darauf an, wohin Sie wollen.“
„Unter Menschen,“ antwortete ich, der winterlichen Einsamkeit überdrüssig, „sonst ist mir’s einerlei.“
„Nun,“ meinte der Fremde und ein Gedanke an Diogenes mochte ihm wohl durch den Kopf fahren, „wenn Sie Muth haben, mir erst unter die Bären zu folgen, so will ich nachher hinsichtlich der Menschen wohl Rath schaffen. Nicht weit von hier liegt Hietzing, und da kneipt es sich schon ganz gut.“
„Unter die Bären?“ frug ich erstaunt.
„Ja, unter meine lieben Bären da drüben in der kaiserlichen Menagerie, die ich jeden Tag besuche, mag das Wetter noch so schlecht und der Weg noch so beschwerlich sein. Im Sommer, wenn viel Gäste zu ihnen aus der Stadt herauskommen, da haben die guten Thiere wohl immer Kurzweil und etwas Gutes zu naschen, aber im Winter, wenn die Wege hier verschneit sind, bin ich wohl ihr einziger Freund, und sie haben sich so sehr an meine regelmäßigen Besuche gewöhnt, daß sie mich schon aus weiter Ferne wittern. Hören Sie“ – der Fremde klapperte in den Taschen seines großen Pelzes mit Nüssen – und siehe da, aus der Ferne ließ sich ein dumpfes Brummen verschiedener Bärenstimmen vernehmen. Ich staunte über das Gehör dieser Thiere und schritt mit dem Fremden dem Bärenzwinger der kaiserlichen Menagerie zu. Wir traten durch das Gitterthor in einen weiten Hof, den rings die Käfige der Bären umgaben, welche beim Anblick ihres treuen Gastes fast unbändig vor Freude wurden und sich mit den Tatzen hoch an den Eisenstäben der Gitter emporrichteten. Ein mürrischer Wärter schlug mit seinem langen Stocke nach den Thieren, als wollte er den Gefangenen selbst den Ausbruch eines Freudengefühls wehren; mein Begleiter aber warf jetzt seine süße Gabe – einen Theil der mitgebrachten Nüsse – den Thieren zu, die sich eilig darüber herstürzten. Kaum hatte dies aber der Wärter bemerkt, als er an ihn herantrat und zu ihm in ziemlich barschem Tone sagte:
„Mein Herr! ich habe, da Sie trotz meines wiederholten Verbotes auch gestern wieder die Thiere unbefugter Weise gefüttert, die Sache dem Herrn Menagerie-Inspector angezeigt, und hat derselbe mir nun den gemessensten Befehl ertheilt, Sie im Wiederholungsfalle unfehlbar arretiren zu lassen.“
„Wenn eine solche gesetzliche Bestimmung,“ antwortete mein Begleiter, „auch auf das große Publicum im Allgemeinen Anwendung finden soll, weil für die Thiere selbst eine Gefahr aus der Fütterung von schädlichen Substanzen durch fremde, unbekannte Personen erwächst, so glaube ich doch, daß mit dieser Strenge nicht gegen diejenigen verfahren werden kann, welche sich jahrelang bei täglichen Besuchen als Pfleger und Wohlthäter der Thiere erwiesen haben, und so will ich es denn auch auf diese Gefahr hin getrost ankommen lassen.“
Mit diesen Worten warf der fremde Herr abermals einige Hände voll Nüsse den Bären zu, die sich wiederum gierig darüber herstürzten. Der Wärter aber ging, ohne ein Wort zu sagen, nach der eisernen Gitterthür und schloß uns in den unfreundlich kalten Hofraum ein. „Mitgegangen, mitgehangen!“ schien es hier zu heißen, – ich war meines freundlichen Führers unfreiwilliger Mitgefangener. Glücklicherweise sollte die Gefangenschaft in diesem kalten Raume nicht lange dauern, da der Herr Inspector sehr bald in Begleitung seines diensteifrigen Wärters und eines Constablers erschien, uns die Thür öffnete und meinen Begleiter ersuchte, dem Schutzmanne nach dem nächsten Polizeibureau zu folgen, um dort weiter vernommen zu werden. Dem Fremden war dieser Aufenthalt höchst unangenehm, er schützte nöthige Dienstgeschäfte vor und bot dem Beamten die Erlegung der gesetzlichen Strafe brevi manu an. Dieser bedauerte jedoch in diesem Falle nichts entgegennehmen zu dürfen, da zur Erhebung der Strafe nur die Polizei und zwar nach vorheriger Vernehmung und gehöriger Protokollirung competent sei. Mein Begleiter machte ein
[60] verdrießliches Gesicht – er mochte den Geschäftsgang bei den Wiener Polizeibehörden wohl schon kennen.
„Das wird morgen früh“ – sagte er nach der Uhr blickend – „und ich habe keine halbe Stunde mehr zu verlieren; – es ist vier Uhr vorüber – so eilen Sie wenigstens; Herr Inspector, so schnell wie möglich einen Boten an die Intendanz der Hofoper am Kärnthner Thore zu schicken, und lassen Sie sagen, daß heute Abend die ‚Zauberflöte‘ nicht gegeben werden könne, da Papageno sich in polizeilicher Haft befände.“
Der Inspector machte ein verlegenes Gesicht und stammelte dann: „Wie – Sie sind doch halt nit der –“
„Hölzel“ – fiel mein Begleiter ihm in’s Wort – „ganz richtig, der Hofopernsänger Gustav Hölzel; – darum eilen Sie, den Boten abzufertigen, denn der Hof hat Besuch und der Kaiser wird heute selbst in die Oper kommen, und einen zweiten Papageno giebt’s jetzt nicht bei uns –“
„Ja schaun’s“ – sagte der rücksichtsvolle Wiener –, da müssen wir Sie halt schon aus Kunstrücksichten laufen lassen – hat mich sehr gefreut! – hab’ die Ehre! – Er riß mit außerordentlicher Höflichkeit die Mütze ab und complimentirte uns förmlich hinaus. Wir aber suchten lachend die Hietzinger Kneipe auf und erzählten den Vorfall dort unter allgemeiner Heiterkeit. Zur rechten Stunde fuhren wir alsdann nach dem Theater, und nachdem mein neuer Freund mir noch seine Stammkneipe genannt, wo er jeden Abend nach dem Theater und jeden Morgen nach der Probe zu treffen war, reichte er mir zum Abschied die Hand und eilte, sich in sein buntes Vogelgewand zu werfen. Ich aber nahm einen Platz im Parquet ein und wartete des lustigen Vogelsängers diesmal mit besonderer Ungeduld.
Der Hof kam – die Ouverture begann, der Vorhang erhob sich und entschleierte die Welt der Wunder mit ihrem finstern nächtigen Pomp, und mächtig rauschten die Tonwellen des genialen Meisterwerkes, getragen vom gewaltigen herrlichen Vollklang des großen Orchesters der kaiserlichen Hofoper. Ich saß ganz in Verzückung verloren, da weckte mich plötzlich ein dröhnender Beifallssturm aus meinen Betrachtungen. Ich blickte auf und siehe da – er war aufgetreten, der muntere Vogelsänger – der Applaus galt ihm, dem treuherzigen Freunde hungernder Bären und verirrter Reisenden – und kein Wiener wußte es anders, als den beliebten Baß-Buffo in seinen Hauptrollen wie einen alten Freund mit lebhaftem Beifallsgruße zu empfangen. Und er war dieser Liebe werth, als Künstler, der, mit seltenen Stimmmitteln ausgestattet, auch die ganze geistige Tiefe einer Partie zu erfassen wußte, wie als Mensch, welchen Jeder seiner schlichten, wohlwollenden Natur, seines harmlos heitern Wesens und seines redlichen, biedern Charakters wegen liebgewonnen hatte. Man
Charakterköpfe aus dem Schwurgericht.
[61] muß ihn als lustigen Papageno und wiederum als tiefernsten „König Thoas“ in Gluck’s Iphigenie, in der einactigen kleinen Rolle des „Schauspieldirectors“ und wiederum in der riesenhaft schwierigen Aufgabe des „Beckmesser“ in Richard Wagner’s neuester Oper „Die Meistersinger“ gehört haben, muß ihn - um eine Idee von der Vielseitigkeit seiner Talente zu bekommen - im traulichen Kreise eins seiner selbstcomponirten einfachen Liedchen, deren Opuszahl schon weit in’s Gebiet der dreistelligen Ziffern drang, vielleicht gerade das weltbekannte: „Mir hat a mol vom Teufel g’träumt“ singen hören, dann wieder eine große dramatische Partie bewältigen sehen und zuletzt ihm, dem gemüthlichsten Gast und Freund, in die zahlreichen Kreise seiner Verehrer folgen, die sein sprudelnder, harmloser Humor in angenehmster Weise zu unterhalten versteht. Wenn er daher eines Abends nach dem Theater plötzlich mit finsteren Mienen in den gewohnten Kreis seiner Freunde trat und statt nach dem geliebten Schoppen zur ersten besten, jedoch möglichst großen Zeitung griff, mehr um sich dahinter zu verbergen, als daraus die ihm langweilende Politik zu studiren, so war dies in der That eine so auffällige Erscheinung, daß jeder im Kreise den Nachbar forschend ansah, bis plötzlich eine Nachricht die Situation aufklärte, die bald darauf nicht nur die Localblätter Wiens, nein – die Theaterzeitungen der ganzen Welt erfüllte: Hölzel war ein Opfer seines mannhaften, geraden und festen Charakters geworden - die Intendanz hatte den Liebling des Publicums ohne Umstände entlassen, weil er sich geweigert hatte, eine Partie zu verunstalten, die als eine meisterhafte, komische Charakterrolle längst zum Eigenthum der gesammten deutschen Nation geworden war.
Es galt dem Capuzinermönche „Tuck“ in Marschner’s Oper „Templer und Jüdin“, dieser Figur voll von echtem deutschen Humor, welche, das Waidwerk im Herzen und die Flasche in der Capuze, als ein meisterhafter Typus des mittelalterlichen Mönchthums und als ergötzlichste Partie der genannten Oper jedermann durch das lustige Trinklied bekannt ist, dessen Refrain „Ora pro nobis“ mit höchst komischem Effect jedesmal in den geistlichen Stil verfällt. Gerade diese charakteristische Seite der beliebten Mönchsfigur war es aber, welche längst schon die Intendanz der kaiserlichen Oper, an welche sich der pfäffische Clerus mit allen haarsträubenden Vorstellungen und Höllenmalereien auf dem nicht mehr ungewöhnlichen Wege durch Beichtväter und Beichtschwestern gewendet hatte, wie ein Dorn in’s Auge stach, weil dieser Capuziner aus einer Zeit, die mehr als ein halbes Jahrtausend hinter uns liegt, leider immer noch ein treffendes Bild aus dem Mönchsleben unserer Zeit bot. So lange indeß Marschner am Leben war, hatte sich Niemand an seinem Meisterwerke zu vergreifen gewagt; denn das schleichende Gesindel, welches überall gern im Finstern wirkt, fürchtet den Scandal – und den hätte es mit dem erzürnten Componisten sicher gegeben. Kaum deckte jedoch Marschner die Erde, als man das Unwetter ahnte, welches mit einem Male jetzt – kaum zwei Jahre nach des Meisters Tod – „von oben“ über diesen „lustigen Bruder“ hereinbrach. Brevi manu bekam der Darsteller desselben, Herr Hölzel, obgleich dem früheren Darsteller der Rolle, Staudigl, nie ein solcher Zwang auferlegt war, in der Probe den Befehl, von heute ab diese Partie nicht in der braunen Capuzinerkutte, sondern in einem langen schwarzen Rock zu spielen und in dem herrlichen Trinkliede statt der Worte „Ora pro nobis!“ (bitte für uns!) die völlig farb-
[62] und charakterlosen „Ergo bibamus“ (lasset uns trinken) zu singen.
Das hieß nicht nur mit Einem Striche die ganze herrliche Partie ihrer ursprünglichen Bedeutung nach vernichten, nicht nur dem Sänger eine seiner besten Rollen „verballhornisiren“ – das hieß vielmehr einem todten Meister eines seiner herrlichsten Geistesproducte verstümmeln – das hieß eingreifen in die Rechte, welche das Publicum der Wiener Hofoper, ja, welche die deutsche Nation an dem Nachlasse seiner schaffenden Geister hat; – und diesen rein und unverfälscht zu wahren, wie einen heiligen Hort, das ist ihre, das ist jedes deutschen Mannes Ehrenpflicht. – Mit diesem Proteste wies auch Hölzel den an ihn ergangenen Befehl zurück, ja bat sogar, ihn lieber zu entlassen, ehe man ihn zwinge, das also verstümmelte Lied zu singen, aber man verwies ihn einfach auf den Befehl und gestattete ihm nur, die Capuzinerkutte zu behalten.
Mit düsteren Gedanken verläßt der Sänger die Probe. Soll er das Aeußerste wagen? Er weiß, welche Strafen dem Ungehorsam nach den Theatergesetzen folgen, und seine Existenz hängt vielleicht davon ab, aber er ist auch Künstler, und zwar ein Künstler von rechtem Geiste, und sein Innerstes sträubt sich empört gegen den Gedanken, dem pfäffischen Gezücht die Hand zum Verrath gegen einen todten Meister zu bieten; ein Werk, das er bisher mit Begeisterung und Ehren, mit aller Sorgfalt und Liebe des wahren Künstlers gehegt und gepflegt, mit einem Male zu Boden zu reißen und statt der herrlichen, meisterhaft gearbeiteten Figur ein elendes Jammerbild ängstlicher, lichtscheuer Creaturen auf die Bühne zu bringen. Das ist zu viel – das ist mehr, als sein Künstlergewissen zuläßt! In höchster Aufregung stürzt er fort; er durchstreift die Straßen von Wien, eilt auf dem gewohnten Wege hinaus nach Schönbrunn. Die Bären brummen ihm entgegen – sie verleugnen den alten Freund nicht, wenn er sie auch nicht mehr füttern darf. Drinnen bei den Menschen ging mit ihm der Zweifel, hier, in der freien Gottesnatur, wo hinter den Eisengittern von langer Gefangenschaft halberschlaffte Thiere lebendige Zeugen sind, wie elend jeder Zwang selbst das stärkste Geschöpf macht, – hier kehrt ein klares Bewußtsein und mit ihm die männliche Ruhe in seine Brust zurück.
Entschlossen geht er mit dem sinkenden Abend in die Kaiserstadt zurück, schreitet durch die tagshell erleuchteten Corridore des Theaters am Kärnthner Thor und betritt heiterer, als er sie am Morgen verlassen, seine Garderobe. Dort war ihm aber eine neue Ueberraschung aufbewahrt. Statt der Kutte lag richtig der alte schwarze Kittel an seinem Platz. Er berief sich auf die Erlaubniß, die Kutte anzuziehen, umsonst – die Kutte war nicht zu finden, und erst, als er erklärte, so nicht hinauszugehen, wurde sie herbeigeschafft.
Eine Stunde später trat der langgewohnte Capuziner, heiter und sicher, wie früher, vor die Lampen und nur in seinem Herzen bebte es – er wußte, daß das „Ora pro nobis“ für ihn in diesem Augenblicke so viel zu sagen hatte, wie für Galilei einst sein „Und sie bewegt sich doch!“, aber er konnte den Unsinn des „Ergo bibamus“ nicht über die Lippen bringen. Mit dem Geist der Rolle im Kopf und dem Gefühl der Sünde, die er gegen ein Kunstwerk begehen sollte, kam der Refrain und mit ihm das tönende „Ora pro nobis“, zu dem der erschrockene Richard Löwenherz schüchtern den Chor – aber „Ergo bibamus“ – mitsang.
Das beliebteste Mitglied der Kaiserlichen Hofoper war von diesem Augenblick an seiner Functionen enthoben. Ein erbitterter Zeitungskampf entbrannte, in dem – zur Ehre sei es gesagt! – fast alle Blätter Wiens und des übrigen Deutschlands auf der Seite des Rechts und des „charakterfesten Sängers“ standen; aber dies half so wenig, wie die Opposition des Publicums: Hölzel blieb von Allem nichts als eine kleine Pension, die er noch dazu nur direct der Gnade des Kaisers verdankte, und das Publicum der Kaiserlichen Oper war seines besten Baßbuffo’s und so manches unersetzbaren Hochgenusses beraubt. Mißmuthig machte Hölzel von da an mehrere Kunstreisen, gastirte hier und dort an den besten Theatern Deutschlands, überall mit großem Beifall; dann kehrte er wieder nach Wien zurück, wo er sich fleißig seinen seelenvollen Liedercompositionen widmete und der Stunde harrte, die ihn wieder vor die Lampen rufen würde. Und sie kam.
Wenn auch die Wiener Direction ihn bisher unberücksichtigt ließ, so war es doch ein großes musikalisches Ereigniß unserer Tage, was den „Halbverschollenen“ wieder aus seiner künstlerischen Zurückgezogenheit an das Licht glanzvollen Wirkens rief.
Richard Wagner hatte seine neueste komische Oper „Die Meistersinger“ seinem kunstliebenden Könige gewidmet, und dieser ordnete mit wahrhaft fürstlicher Munificenz jene Mustervorstellungen an, von denen vor Kurzem die Spalten aller Zeitungen Deutschlands angefüllt waren. Nicht allein der decorative Theil, sondern noch mehr auch der musikalische wurde auf Befehl des Königs mit den tüchtigsten Sängern Deutschlands ausgestattet, die von weit her für die lange dauernden Proben und die vier ersten Münchener Vorstellungen gegen außerordentlich hohe Summen engagirt wurden. Besonders rathlos aber war man wegen der schwierigsten und der einzigen komischen Partie der Oper, der des „Beckmesser“, bis man in unserm Hölzel die Kraft fand, welcher man eine so schwer zu bewältigende Aufgabe mit vollem Vertrauen übergeben durfte. Wie er dieselbe löste und wie er es namentlich war, der das schwierige Gesammtspiel in großartigster Weise zu fördern wußte, darüber spricht sich Heinrich Laube in seinen bekannten, in der „Neuen freien Presse“ jüngst erschienenen Besprechungen der ersten Meistersinger-Aufführung in den folgenden Worten aus: „Mit wahrer Freude sahen wir Herrn Hölzel wieder, welcher die schwierige Partie des ‚Beckmesser‘ vortrefflich durchführte und durch seine drastische Komik mehr als einmal trefflich wirksam nachhalf, wo dem Dichter und Componisten der Humor vollständig ausgegangen war. Wir müssen aus Anlaß dieser eminenten Leistung Hölzel’s den oft und vielseitig ausgesprochenen Wunsch wiederholen, es möchte unser Hofoperntheater diesen altbewährten Liebling des Wiener Publicums endlich wieder für sich gewinnen.“
Gustav Hölzel, der Sohn des rühmlichst bekannten österreichischen Schauspielers Nicolaus Hölzel, am 2. September 1813 zu Pest in Ungarn geboren, zeigte schon früh großes Talent für Musik, bald auch eine unüberwindliche Neigung für die Bühne, so daß er schon als sechszehnjähriger junger Mann das väterliche Haus verließ, um in Raab und Oedenburg sein erstes Engagement anzutreten. Nach mehren anderen Durchgangsstadien war er von 1833–1837 Mitglied des Hofoperntheaters in Wien und nahm hierauf ein Engagement als erster Baritonist am Theater der Königsstadt in Berlin an, wo man ihm nach Ablauf des ersten Jahres sogar eine lebenslängliche Anstellung bot. Wenn es aber einen Menschen giebt, der nicht in die Umgegend von Berlin paßt, so ist es Gustav Hölzel. Kaum ein Jahr hielt er es im Berliner Sande aus, – nicht einmal die Verlockung einer lebenslänglichen ehrenvollen Anstellung konnte ihn bestechen, dort zu bleiben. Er bekam eine Art von Heimweh nach den Alpen und ging deshalb nach der Schweiz, wo damals in Zürich Charlotte Birch-Pfeiffer die Direction des Stadttheaters hatte und den jungen talentvollen Künstler gern engagirte. Hier lernte er seine jetzige Gattin, Molly Gerstäcker, Tochter des noch in gutem Andenken stehenden Tenoristen und Schwester des Schriftstellers, kennen und wurde mit ihr im August desselben Jahres getraut.
Anfang 1840 kehrte er nach Wien an das Hofoperntheater zurück, an welchem er zweiundzwanzig Jahre lang in ununterbrochenem Engagement blieb und ein Liebling des Wiener Publicums wurde. Während dieser Zeit entwickelte sich sein Talent zur Liedercomposition, und diesen Liedern gerade verdankt er den größten Theil seiner Popularität auch im übrigen Deutschland. Schon das erste: „Als i bin verwichen zu mei Diandl g’schlichen“, wurde bald so allgemein beliebt, daß er Muth bekam, auf der neuen Bahn fortzufahren, und jetzt folgte bald eines rasch dem andern. Zu den bekanntesten derselben gehören unstreitig: „Mein Liebster ist im Dorf der Schmied“, „Das Glockengeläute“, „Der Krieger und sein Roß“, „Das Lied von der Lanze“, Uhland’s: „Was ist das für ein durstig Jahr“, „Du hast die schönsten Augen“, „Die Thräne“, „Hans Zwieselich“, wie die Lieder in österreichischer Mundart: „Das Grüaberl im Kinn“, „Der Himmel“, „Mir hat amol vom Taifel ’traimt“, „Der guate Rath“, „Drescherlied“, und viele andere. Da er die Lieder selber mit einer kräftig schönen und tiefen Baritonstimme so prächtig sang und eben so fest durch diese wie die in’s kleinste deutliche Aussprache der Worte das Publicum erfreute, öffnete ihm das ein weiteres Feld. Er benutzte seinen jährlichen Urlaub am Kärthnerthor-Theater, um an anderen Bühnen sowohl zu gastiren, als auch Concerte zu geben, in denen er seine eigenen Lieder sang, und war bald ein überall willkommener [63] Gast. Lange Jahre durch besuchte er London, dazwischen auch St. Petersburg, Warschau und Stockholm.
Hölzel selbst ist im gewöhnlichen Leben die personificirte österreichische Gemüthlichkeit, aber ein prächtiger Gesellschafter, und trotz seiner unzerstörbaren Ruhe voll trockenen Humors und voller Witz. Die Hauptsache jedoch: Hölzel ist, bei einer echten Künstlernatur, auch ein braver und wackerer Mann und verdient deshalb mit vollem Recht seinen Ehrenplatz in der Gartenlaube.
Die Pariser Marionettentheater. Die Elysäischen Felder, welche für die Ergötzlichkeit des Pariser Publicums nach so mancher Richtung hin sorgen, sind auch die Schaustätten der Marionettentheater, und zwar giebt es dieser sieben. Jeder Besitzer eines solchen hat der Stadt für den Raum, welchen seine Bude einnimmt, jährlich zweihundert Franken in vierteljährigen Raten, und immer ein Quartal voraus, zu entrichten.
Der Beginn der Vorstellungen wird natürlich von der Jahreszeit, von der Witterung und ganz besonders von der Zahl der Zuschauer bedingt; sie fangen indessen so früh wie möglich an und hören so spät wie möglich auf. Die Dauer jeder Vorstellung hängt ebenfalls von der Menge der Zuschauer ab. Sind diese zahlreich, so ist die Vorstellung vollkommen und währt etwa zwanzig Minuten; sind aber die Sitze nur spärlich besetzt, so wird mancher Witz, manche komische Scene unterdrückt und die Vorstellung je nach zehn Minuten beendigt. Nach der letzten Vorstellung, welche an Sommerabenden gegen zehn Uhr stattfindet, muß der Director sein Personal einpacken und sein Theater, oder wie es auf französisch heißt: seine „Boutique“, nach Hause tragen. Es wird ihm durchaus nicht gestattet, seinen dramatischen Tempel über Nacht dort stehen zu lassen. Jedes dieser Marionettentheater hat seinen Director, sein Orchester und seinen unsichtbaren Gehülfen, der die hölzernen Priester der Thalia am Schnürchen hält und ihnen die Worte in den Mund legt.
Das Orchester besteht aus einem Geiger, der just nicht in directer Linie von Paganini abstammt. Es ist gewöhnlich ein alter, verstimmter, gebrechlicher Mann, und sein Instrument ist fast immer älter, verstimmter und gebrechlicher als er selbst. Sein Honorar ist aber auch nicht bedeutend. Er erhält zwei Franken täglich, wohl gemerkt, wenn er spielt; denn bei schlechter Witterung fehlt das Publicum, folglich stellen sich dann auch die Marionettentheater nicht ein und folglich bedarf man des Orchesters nicht. An Sonn- und Feiertagen, wenn die Witterung günstig ist und die Elysäischen Felder stark besucht sind, empfängt der Geiger eine Gratification von einigen Sous; dafür muß er aber auch vom frühen Morgen bis zum späten Abeud den Fiedelbogen tanzen lassen.
Der Bursche, der, Aller Augen verborgen, durch seine gelenkigen Finger und seine bewegliche Zunge die Figuren beseelt, wird für seine Mühewaltung mit einem fixen Gehalt von dreißig bis vierzig Franken monatlich nebst Kost und Wohnung belohnt. Er ist die wichtigste Person unter dem Personal, das eigentlich belebende Princip; ja, er ist im buchstäblichen Sinne der Lenker der tragischen und komischen Helden; er bestimmt ihren Wandel und jede ihrer Bewegungen. Von seiner Fingerfertigkeit hängt der Erfolg der Stücke ab. Außerdem muß er eine geübte Zunge haben; er muß singen, viele Stimmen nachahmen und nöthigenfalls auch improvisiren können. Daß er auch eine solide Lunge besitzen muß, versteht sich von selbst. Es ist natürlich, daß er nach einiger Zeit sämmtliche Stücke seines Theaters auswendig weiß und dadurch der Direction nun unentbehrlich wird. Ist er von seiner Unentbehrlichkeit überzeugt, so macht er es wie die Tenore und Primadonnen auf großen Bühnen: er schraubt seine Ansprüche höher, immer höher hinauf, und wenn der Director dieselben nicht befriedigt, wirft er diesem das Personal vor die Füße, wandert – mit dem ganzen Repertoire im Kopfe – zu einer andern „Boutique“ und bringt der Direction, die er eben verlassen, einen empfindlichen Schaden bei. Ein gutes und reichhaltiges Repertoire ist auch für diese Theater die erste und letzte Bedingung des Erfolges, das Repertoire selbst ist aber, je nach dem Charakter des Theaters, verschieden. Die Einen geben blos unzusammenhängende komische Scenen; die Anderen versteigen sich zu kleinen Vaudevilles und Komödien.
Woher holt sich nun aber unser Director die Stoffe? Gewöhnlich stutzt er populäre Lieder und komische Erzählungen zu kleinen Dramen zu, von denen manche sogar ein gewisses Talent verrathen. Es werden aber auch Molière’sche Stücke, wie z. B. Le malade imaginaire, in verminderter und verschlechterter Ausgabe dargestellt. Molière mußte ja auch für die im achtzehnten Jahrhundert in Deutschland herumziehenden Puppentheater stark herhalten; sein eben genanntes Stück so wie die Précieuses ridicules wurden damals sehr oft von dergleichen Puppentheatern aufgeführt.
Die Hauptsache bei diesen dramatischen Erzeugnissen bleibt immer, das Zwerchfell des Publicums zu erschüttern, und es versteht sich von selbst, daß der Dialog nicht allzu fein zugespitzt sein darf. Die beliebtesten Scenen sind, wie ja bei ähnlichen Bühnen auch in Deutschland, die Prügelscenen; dieselben werden so oft wie möglich angebracht. Brigadiers, Polizeidiener und Advocaten sind die Unglücklichen, die am reichlichsten mit Prügeln bedacht werden.
Einer Censur unterliegen die Stücke nicht. Das ist nicht überflüssig zu bemerken; denn früher waren diese Theater allerdings einer Art von Censur unterworfen und zwar nicht blos in Frankreich, sondern auch in Deutschland. Im Jahre 1794 wurden in Berlin sogar mehrere Marionettentheater unterdrückt, weil sie, wie es hieß, die Sittlichkeit verletzten. Schon früher wurden sie in Hamburg von der dortigen Geistlichkeit verboten, die durch die unschuldigen Puppenspiele das Himmelreich gefährdet glaubten. Was ist denn auf unserer lieben Erde nicht schon alles im Namen Gottes verboten worden! Es liegt indessen im Interesse der Eigenthümer der Marionettentheater in Paris, der Obrigkeit keine Veranlassung zur Unzufriedenheit zu geben, da ihnen sonst kein Platz bewilligt und ihr Broderwerb abgeschnitten wird. Sie enthalten sich daher wohlweislich aller bedenklichen Anspielungen. Vor einem Marionettentheater liest man auch wohl auf einer Tafel, das sich dasselbe keiner unanständigen Redensarten schuldig mache und sich dadurch ganz besonders empfehle.
Kommen wir nun auf die Schauspieler, die, obgleich sämmtlich aus demselben Holz geschnitzt, sich doch nicht einer gleichen Beliebtheit erfreuen. Die Theater, deren Personal oder „Sujets“, wie man sich ausdrückt, sehr zahlreich und gut gekleidet ist, werden natürlich am meisten besucht. Die Köpfe und die Extremitäten dieser „Sujets“ gehen aus den Pariser Fabriken hervor; die Costüme schneiden sich die Directoren selbst zu. Die beliebteste Person ist der Polichinell, der durch seine tollen Sprünge und losen Streiche, besonders aber durch die Freigebigkeit, mit welcher er seine Fußtritte austheilt, die Aufmerksamkeit des Publicums fesselt. Die Dame Gigogne ist nicht minder beliebt und wird mit Jubel begrüßt, wenn sie auftritt und, plötzlich zur Riesin anwachsend, aus ihrer ungeheuern Crinoline über ein Dutzend munterer ausgelassener Sprößlinge hervorgehen läßt.
Zur angenehmen Unterbrechung der Stücke tritt auch wohl ein hölzerner Seiltänzer oder Jongleur auf, der durch die Art und Weise, wie er die Kugeln in die Höhe wirft und wieder auffängt, das Erstaunen und den rauschenden Beifall der naiven Zuschauer erregt. Auch an Balleten fehlt es nicht, und wenn gleich in denselben keine Elsner oder Taglioni auftritt, so wird ihnen dennoch die aufrichtigste Bewunderung zu Theil; denn das Publicum, das diesen Darstellungen beiwohnt, ist sehr dankbar und legt niemals einen strengen Maßstab an die Leistungen. Es zischt nie. „Man hat niemals die Marionetten ausgepfiffen, selbst in Frankreich, wo man Alles auspfeift,“ sagt der bekannte französische Novellist Charles Nodier, der ein großer Freund der Puppenspiele war. Das Marionetten liebende Publicum besteht aus Kindern, die in Begleitung ihrer Ammen oder ihrer Eltern sich mit ganzem Herzen und ganzer Seele den scenischen Belustigungen hingeben, welche nichts weniger als kostspielig zu sein pflegen. Die Sitze befinden sich unter freiem Himmel, im Schatten ehrwürdiger Ulmen. Es giebt hier keine Logen, keine Sperrsitze, sondern nur Parterre-Plätze im eigentlichen Sinne des Wortes. Arm und Reich sitzt unter einander. Der Platz für eine Vorstellung kostet zwei Sous. Der Raum für die Zuschauer wird durch einen Strick oder durch eine Kette abgesperrt, so daß selbst diejenigen, welche nicht zahlen, aus geringer Entfernung stehend zusehen können. Nicht selten mischt sich wohl auch ein ernster Mann unter das Publicum, um sich mit ihm an den Späßen zu erfreuen, die nicht selten viel genießbarer als diejenigen, welche uns auf großen Bühnen geboten werden. Merkwürdig sind die Ruhe und die Aufmerksamkeit dieses kleinen Publicums, unter welchem sich doch Kinder befinden, die kaum das dritte Jahr erreicht haben. Es ist dies ein Beweis von der angeborenen, unüberwindlichen Neigung der Franzosen für scenische Darstellungen.
Mit dem Ende der schönen Jahreszeit, wenn die Ulmen in den Elysäischen Feldern sich entlauben, werden die Vorstellungen seltener und in strengen Wintern finden sie natürlich gar nicht statt. Aber die Thespisse feiern darum doch nicht. Sie schieben ihre dramatischen Karren in Privathäuser und in Pensionsanstalten. In wohlhabenden Familienkreisen dienen die Puppenspiele zur Verherrlichung von Festen, besonders zur Weihnachtszeit. Sie gewähren eine angenehme Abwechselung und erfreuen die liebe Jugend. Auch in manchen Soiréen sieht man sie gern. Einer der Marionettentheater-Besitzer hat mir nicht ohne ein stolzes Selbstgefühl versichert, daß er im Stadthause und sogar in den Tuilerieen mehrere Vorstellungen gegeben habe.
Marionettenspiele in die Häuser kommen zu lassen, war übrigens bei den Franzosen, so wie auch bei uns in Deutschland, schon vor Jahrhunderten im Gebrauch. Unter Ludwig dem Vierzehnten ließ man den Dauphin durch Marionettentheater belustigen, und da man damals Alles nachahmte, was am Hofe geschah, wurden die Puppenspiele in adeligen Häusern sehr beliebt. Voltaire hat es sogar nicht unter seiner Würde gehalten, für den Polichinell in einem Puppenspiel, welches bei einem von dem Grafen d’En gegebenen Feste stattfand, Verse zu schreiben, da er, beiläufig gesagt, ein großer Liebhaber von Puppenspielen war und ein inniges Vergnügen empfand, so oft er denselben beiwohnte. Er theilte diese Vorliebe mit so manchen Heroen der Literatur, mit Goethe, Addison, Swift, Fielding, Byron. Die begabtesten Dichter haben es nicht verschmäht, für Puppentheater zu schreiben, und der unsterbliche Meister Haydn hat sogar fünf Operetten für das Marionettentheater des Fürsten Nicolaus Joseph Esterhazy componirt und sich dieser Compositionen durchaus nicht geschämt. Aber auch Männer der strengen Wissenschaft ergötzten sich an Puppenspielen. So pflegte der Mathematiker Euler stundenlang mit großem Behagen vor den Puppentheatern zu stehen, und Bayle, der bekanntlich einen Theil seines Lebens in Rotterdam zubrachte, verließ sogleich sein Studirzimmer, so oft ihm Trompetenstöße den Beginn der Puppenspiele verkündeten, und beeilte sich denselben beizuwohnen. Karl der Fünfte ließ sich im Kloster zu St. Just nach beendigter Tafel von dem berühmten Mechanicus Gianello Torriani ebenfalls ein Marionettenspiel aufführen. Das Personal bestand aus Militärmusik, aus Trommlern und Trompetern und aus zwei Armeen, die im Sturmschritt auf einander losplatzten. Man sieht, daß der gewaltige Herrscher, welcher aller weltlichen Macht entsagt hatte, an sein altes Handwerk erinnert sein wollte.
Vor einigen Jahren hat ein Herr Lemercier de Neuville in Paris ein eigenthümliches Puppentheater eingeführt, mit dem er in den Salons erscheint und das Zwerchfell der Erwachsenen erschüttert. Seine Puppen oder „Pupazzi“, wie er sie nennt, sind carikirte Portraits berühmter [64] Pariser Zeitgenossen. Indem er diese vor den Zuschauern erscheinen läßt, ahmt er ihre Eigenthümlichkeiten, ihre Geberden, ihre Art zu reden genau nach. Jules Favre, Thiers, Emile Ollivier treten nacheinander auf, und Jeder von ihnen spricht wie er leibt und lebt. Emile Girardin leiert seine Leitartikel ab, in denen die Antithesen die sonderbarsten Purzelbäume schlagen, und erregt ebensoviel Gelächter, wie die bekanntesten Pariser Schauspieler, die in den Pupazzi conterfeit sind und deren Manieren durch die satirische Loupe gezogen werden. Welch’ ein treffliches Element der Volksbildung könnten die Puppentheater werden, wenn die Presse frei wäre und geistvolle Schriftsteller für dieselben die Tagesfragen in humoristischer Weise behandelten!
Unsere unbebauten Felder. Der Acker- und Gartenbau befindet sich bei uns in ziemlich hoher Blüthe. Jedem Stücklein Boden, selbst dem armseligsten und kärgsten, gewinnen wir bereits im Schweiße unseres Angesichtes durch Nachhülfe der Kunst und wissenschaftlichen Erkenntniß ab, was es zu geben vermag. In Bezug auf eine Ausbeutung und Bewirthschaftung des Wassers aber, das oft ergiebiger ist als der fetteste Boden, sind wir im Ganzen leider noch unwissende und unverständige Kinder, die hochwichtige Aufgaben und Pflichten ernster Männlichkeit wie eine nebensächliche Spielerei behandeln.
Und dennoch besitzen wir in unserer Nordsee ein Meer, das die Engländer längst das deutsche nennen, dessen innere Schätze sie längst durch eine besondere Commission Jahre lang haben untersuchen lassen und von dem es in dem erstatteten englischen Berichte heißt: „Das deutsche Meer ist ertragsfähiger als unser Ackerland; unsere reichsten Felder sind weniger fruchtbar an Nahrungsstoffen, als dessen Fischereigründe. Ein Morgen guten Bodens liefert etwa zwanzig Centner Getreide jährlich oder drei Centner Fleisch und Käse; aus einer eben so großen Wasserfläche mit Fischereigrund kann man dasselbe Gewicht von Nahrungsgehalt jede Woche schöpfen. Fünf Fischerboote ernteten in einer einzigen Nacht aus einer kaum fünfzig Morgen großen Fläche des deutschen Meeres den Werth von fünfzig Ochsen und dreihundert Schafen in Form von leicht verdaulichen und schmackhaften Fischen!“
Daß diese Ochsen und Schafe ohne alles Hinzuthun der Menschen, ohne alle Mühen und Kosten im Wasser entstehen und von diesem erzogen und gemästet werden, dieser ungeheure und stark in die Augen springende Vortheil hat freilich nachgerade auch den Deutschen an der Elbe, Weser und Weichsel nicht entgehen können. Anerkennenswerthe Fischereigesellschaften, die dem Meere eine Ernte abgewinnen wollen, haben sich gebildet, aber es will dies den Anstrengungen anderer Völker gegenüber doch bis jetzt nur wenig bedeuten, so lange für eine wirklich rationelle Bewirthschaftung des Meeres zur Hebung und Nutzbarmachung seiner Schätze für Hunderttausende von hungernden Magen noch nicht gesorgt ist.
Aehnlich, wenn auch hier und da etwas besser, steht es mit unserer Süßwasserfischerei. Die Klagen über eine jährlich zunehmende Verarmung der Gewässer sind begründet, Mangel an rationeller Behandlung und an Vorkehrung gegen schädliche Einflüsse sind die Ursachen. Wo Ueberfluß fein und wohlfeiles Fleisch in Masse gewonnen werden könnte, macht sich eine Abnahme sehr fühlbar bemerklich. Im Festhalten an bequemem Schlendrian überläßt man es den Fischen selbst, sich zu vermehren, ohne diese Vermehrung zu unterstützen. Kurz, Männer wie Brehm und Karl Vogt haben bis jetzt nur mit sehr geringem Erfolg mahnend, warnend und anregend auf eine für das Volkswohl und den nationalen Wohlstand so wichtige Sache hingewiesen.
Da kommt plötzlich ein Buch, das den Kampf gegen eine folgenschwere Pflichtversäumung von Neuem eröffnet. Es kommt von einem Schmerzenslager, auf dem seit Jahren ein tiefgebeugter Schriftsteller mit noch hellem Kopfe und warmem Herzen über die Verbesserung des Menschenlooses sinnt: der kranke Heinrich Beta ist es, der uns mit dieser Gabe eine ungewöhnliche Freude und Ueberraschung bereitet hat. Unter den volksthümlichen Publicisten Deutschlands war Beta überhaupt der erste, der die Aufmerksamkeit auf die großen Ernten gelenkt hat, die wir durch vernünftiges Säen und Pflügen aus unserem Reichthum an flüssigen, sich selbst befruchtenden Feldern gewinnen können, er zuerst hat auch durch seine vortrefflichen Aufsätze in der „Gartenlaube“ das Interesse für die Aquariumcultur in Deutschland angeregt und ihre Bedeutung gezeigt. Was er während eines zehnjährigen Aufenthaltes in London, der Fischstadt Europa’s, an mannigfachen Beobachtungen gesammelt, was er nachher in der Zeit der Krankheit aus emsigen Studien der vorzüglichsten Werke geschöpft, das ist in seinem soeben erschienenen umfangreichen und mit vierzig Abbildungen geschmückten Werke „Die Bewirthschaftung des Wassers“ (Leipzig und Heidelberg, Winter’sche Verlagsbuchhandlung) mit großem Fleiß verarbeitet worden.
Es ist ein unseres Wissens in solcher Weise noch nicht gebotenes, ein durchweg frisches und unterhaltendes, in hohem Grade anregendes und interessantes Buch, das uns in seinen achtundzwanzig stattlichen Abhandlungen nicht blos über alle culturgeschichtlichen und volkswirthschaftlichen, sondern auch über alle praktisch-technischen Seiten der betreffenden Frage belehrt und dessen Werth sich bezeichnend in dem Ausspruche charakterisirt: „Seit Jahren stürzt sich Mancher aus Hunger und Verzweiflung in’s Wasser, das ihn und seine Familie reichlich ernährt haben würde, und unzählige Menschen lungern und hungern auf dem Trockenen umher, ohne an die Arbeit und das Brod zu denken, das jenseits der Meeresgestade und Flußufer liegt!“
In fachwissenschaftlicher Hinsicht konnte dem Beta’schen Werke keine wirksamere Empfehlung werden, als durch ein Vorwort des berühmten Brehm, der von ihm sagt, daß es ihn in Form und Inhalt angeheimelt habe und daß namentlich die Lehrer den so reichhaltigen Stoff nicht leicht gesichteter und anschaulicher zusammengestellt finden dürften!
Instinct oder Ueberlegung? Wie die Spinne sich durch den Bau einer Brücke von einer Insel rettete, theilte die Gartenlaube mit, ohne zu entscheiden, ob Instinct oder Ueberlegung die Triebfeder war. Vielleicht waren beide thätig, da es keine Seltenheit, daß die Spinne ihre Fäden flattern läßt, um sich derselben, wenn sie sich angeheftet, als Brücken zu bedienen, die zwei entfernte Gebäude oder sonstige Gegenstände verbinden, in deren Mitte sie ihr Netz webt. Aber nicht nur Brücken und solide Hängewerke fertigen die Spinnen, sondern auch Flugapparate. In den ersten Octobertagen des Jahres 1868 ließ ich Kartoffeln ausroden, dabei freute ich mich der herrlichen Beleuchtung, als die siegreiche Sonne den Nebel verscheuchte und Tausende von Herbstfäden, von Millionen kleiner Nebelperlen überzogen, freudig nach kalter Nacht dem warmen Sonnenlichte entgegenglänzten. Auch die schwarz gestreiften Erdspinnen freuten sich des Sonnenscheines und liefen eifrig umher; namentlich schien ihnen ein hell gefärbter gefüllter aufrechtstehender Kartoffelsack besonders zu gefallen, auf dem etwa
zwanzig Stück größere und kleinere, bald heller, bald dunkler gefärbte, sich zusammengefunden. Die Gesellschaft war sehr munter, lief hin und her, jedoch ohne besondere Ordnung, indem sie ihre langen Vorderbeine drohend gegeneinander erhoben, wenn sie sich zu nahe kamen. Andere stellten sich ruhig und andächtig hin, wobei sie den Hinterleib auffallend hoch emporstreckten, bis eine der unruhigen Spinnen der Andacht ein Ende machte. Allmählich wurden der Spinnen weniger, ohne daß ich sah, wo sie blieben. Plötzlich waren sie verschwunden. Genauer zusehend bemerkte ich, daß diejenigen Spinnen, welche den Hinterleib emporstreckten, mehrere Fäden entwickelten, die in gleicher aufsteigender Richtung der Sonne zuwehten, wie ich in dem vom Nebel in den höheren Schichten noch theilweise verschleierten Sonnenlichte weithin sehen konnte. Da wurde mir das Verschwinden der Spinnen klar, ich gab noch besser Acht und sah, wie sie mit großer Behendigkeit in dem Augenblicke sich blitzschnell umwendeten und auf den Faden sprangen, wo der Flugapparat stark genug geworden, sie zu entführen; sie bildeten die Gondel des rasch dem Auge entschwindenden Luftschiffes.
Ich hatte das Vergnügen, sämmtliche Spinnen, die noch auf den Säcken geblieben, abreisen zu sehen, indeß nicht ohne daß ich ihre Abfahrt mehrmals verzögerte und nachdem ich beobachtete, daß sie sich gegenseitig bemühten, die bereits gesponnenen Fäden Anderer zu den ihrigen zu fügen, um auf diese Weise einen Vorsprung zu gewinnen. Jetzt waren mir Entstehung und Zweck der Herbstfäden deutlich. Sie dienen den Spinnen dazu, ihren Sommeraufenthalt zu verlassen und geschützte Winterquartiere zu beziehen. Ob der Instinct, oder Ueberlegung, oder Erfahrung sie leitet? Sie ziehen fort, indem sie die höchsten sie umgebenden Gegenstände erklimmen, um von dort aus ihre Fäden treiben zu lassen, bis sie stark genug sind, sie zu tragen.
Während der Luftfahrt webt die Spinne weiter, indem sie an ihren Luftschiffen auf und ab klettert. Der Lufthauch wirbelt das dünne Gewebe stellenweise unregelmäßig zusammen, oder mehrere Aeronauten machen, durch den Zufall begünstigt, eine gemeinschaftliche Reise, bis die Feuchtigkeit der Luft sie zwingt, niederzusteigen. Manche Herbstfäden tragen ihre Spinnen noch, auf vielen trifft man sie nicht mehr an; aber an solchen Tagen, wo der Faden häufig fliegt, findet man viele Erdspinnen an Hecken und an Sträuchern, wo sonst keine zu entdecken, und dabei sind manche Wanderlustige, die, mit dem Anhaltspunkte nicht zufrieden, sich ein neues Luftschiff fertigen und hoffnungsvoll der unbekannten Zukunft zueilen.
Nur einige Tage dauert die Reisezeit der Erdspinnen, später fliegen nur solche Herbstfäden umher, die, zeitweilig befestigt, vom Winde losgerissen wurden, bis auch diese und mit ihnen das Erinnerungszeichen an die Davongeflogenen verschwindet, die vermuthlich im nächsten Frühjahr, von Kälte und Vögeln decimirt, zum Acker zurückfliegen, bis dahin jedoch unbeachtet bleiben. Oder verschwinden sie für immer, und sind die Tausende von winzigen kleinen Erdspinnen, welche an sonnigen Decembertagen die Herbstsaaten und angrenzenden Aecker mit ihren im Sonnenlichte funkelnden, nahe am Boden liegenden Gespinnst überweben, bestimmt, den Winter zu überdauern, zu wachsen und im nächsten Jahre erst zu wandern?
Nochmalige nothgedrungene Erklärung. Uns noch fortwährend zugehende Anfragen veranlassen uns auf’s Neue zu erklären, daß ein Literat, der sich Heribert von Malten nennt, uns völlig unbekannt ist. Derselbe hat niemals zu den Mitarbeitern unseres Blattes gehört und ist folglich auch niemals als „Reisecorrespondent der Gartenlaube“, als welcher er sich (in gewinnsüchtiger Absicht) auszugeben scheint, thätig gewesen.
Frl. W. C. in G. Wir haben uns wohl gedacht, daß Sie gleich so vielen anderen Lesern und namentlich Leserinnen den Gedanken freudig begrüßen würden,
und können Ihnen mittheilen, daß schon in der nächsten
Nummer (5) der erste der Gutzkow’schen Literaturbriefe enthalten sein wird.
Herrn F. Würth in Omalca, Nebrasca. Ihre Mittheilung „Aus Nordamerika“ muß, aus Räumlichkeitsrücksichten, zu Ihrer anderweitigen Verfügung gestellt werden.
Inhalt: Reichsgräfin Gisela. Von E. Marlitt. (Fortsetzung.) – Der Berliner Omnibus. Skizze aus dem Verkehrsleben von Robert Springer. Mit Abbildung. – Die neue Lehre. Gedicht von J. G. Fischer. – Die sieben Mädchen von Verdun. Eine Episode aus der französischen Revolution. Von L. S. Lungershausen. – „Ora pro nobis!“ – Charakterköpfe aus dem Schwurgerichte. Von Oberländer. Abbildungen. – Blätter und Blüthen: Die Pariser Marionettentheater. – Unsere unbebauten Felder. – Instinct oder Ueberlegung? – Nochmahlige nothgedrungene Erklärung. – Kleiner Briefkasten.