Die Gartenlaube (1870)/Heft 47

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1870
Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[773]

No. 47. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften 5 Ngr.


Hermann.
Novelle von C. Werner.
(Fortsetzung.)


Dem jungen Maler schien es unter dem Blicke seines Freundes, der unverwandt auf ihm ruhte, immer unbehaglicher zu werden. „Ich will Gertrud überhaupt nicht durch eine Darlegung meiner Verhältnisse zu Antonien verletzen,“ sagte er hastig. „Sie mag glauben, daß es Gründe anderer Art, daß es Verluste oder Unglücksfälle sind, die mich zu einem Bruche zwingen. Ich habe bereits auf ernste mich bedrängende Unannehmlichkeiten hingedeutet. Aus der Ferne und brieflich erklärt sich das leichter – Du begreifst, daß ich sie so viel als möglich zu schonen wünsche.“

„Schonen? Und deshalb willst Du das Mädchen wochen-, vielleicht monatelang foltern mit der Ungewißheit ihrer Zukunft, mit der Sorge um Dich? deshalb willst Du ihr das Gift tropfenweise eingeben und, nachdem Du all’ ihre Zärtlichkeit und Angst um Dich entfesselt hast, sie der grenzenlosen Demüthigung aussetzen, zu erfahren, daß der Bräutigam, den sie vielleicht in Noth und Verzweiflung glaubt, als erwählter Gemahl der reichen und gefeierten Gräfin Arnau eine der glänzendsten Partien des Landes macht? – in der That eine eigenthümliche Art von Schonung!“

Eugen sah ihn im vollsten Erstaunen an. „Aber Hermann, was hast Du denn heute? Du bist ja ganz und gar verändert!“

„Es handelt sich hier nicht um mich, sondern darum, ob das, was Du mir soeben sagtest, wirklich Dein Ernst ist.“

Der junge Mann schwieg.

„Also wirklich?“ nahm der Graf wieder das Wort und rief dann: „In der That, das hätte ich doch nicht geglaubt!“

„Ich begreife nicht,“ begann Eugen, gereizt durch den verächtlichen Ton seines Freundes, „wie gerade Du mein Benehmen so streng beurtheilen kannst. Warst Du es nicht, der von Anfang an gegen diese Verbindung eiferte, der mich unaufhörlich antrieb, sie zu lösen, der mich halb mit Gewalt zur Erklärung gegen Antonie zwang? Ich habe doch wenigstens gekämpft und gelitten, Du aber bist eine von jenen Eisnaturen, die gleichgültig über das Wohl und Wehe Anderer hinschreiten, unbekümmert, ob sie Menschenherzen dabei brechen oder nicht. Du hast Dich von jeher offen zu diesen rücksichtslosen Principien bekannt, was hat Dich denn auf einmal so verwandelt, daß Du Dich zum Anwalt des Gegentheils aufwirfst und mich verdammst, weil ich Deinem Beispiel folge?“

Hermann schwieg einen Moment lang – ob der Vorwurf traf? es lag nur allzuviel Wahres darin, indessen Graf Arnau blieb selten eine Antwort schuldig, und so erwiderte er auch jetzt vollkommen gefaßt: „Du irrst! Ich war gegen diese Verbindung und bin es noch, weil ich kein Heil für Deine Zukunft darin sehe. Daß Du sie lösen mußtest, steht fest, nur über das Wie gehen unsere Meinungen auseinander. Ich bin rücksichtslos, wo es die Erreichung eines Zieles gilt, da hast Du Recht, und ich hätte in Deinem Falle wahrscheinlich mit der ganzen vollen Wahrheit das Herz des Mädchens gebrochen, aber Ausflüchte suchen, um ihr zu verbergen, was sie doch endlich erfahren muß, mich als Märtyrer eines grausamen Schicksals hinstellen und mich dabei in ein Gewebe von Unwahrheiten aller Art verstricken – das, Eugen würde ich nicht thun, denn, um Dir die Wahrheit zu sagen, ich finde ein solches Benehmen ziemlich feige.“

„Hermann!“ brauste Eugen auf.

„Laß Deine Empfindlichkeit!“ sagte der Graf gebietend, „sie ist hier nicht am Platze. Ich habe Dir meine Meinung offen ausgesprochen, jetzt thue, was Dir beliebt. – Uebrigens scheint das Wetter näher zu kommen, ich muß in’s Schloß zurück, Du bist wahrscheinlich auf dem Wege nach dem Dorfe, Adieu!“

Eugen antwortete nicht, er wendete sich um und ging trotzig, ohne Gruß und Abschied dem Dorfe zu. Hermann zuckte die Achseln, er kannte dies Schmollen und wußte, daß es nicht von langer Dauer sein werde. Dergleichen Scenen waren zwischen ihnen nichts Seltenes. Reinert pflegt nach einer solchen stets den Beleidigten zu spielen, um sich schließlich doch der Ueberlegenheit seines Freundes zu fügen.

Der Himmel hatte sich inzwischen immer finsterer umzogen, der Wind erhob sich und brauste in den Wipfeln der Bäume, Graf Arnau warf einen prüfenden Blick nach den Wolken und trat dann gleichfalls den Rückweg an. Da fuhr ein Windstoß hernieder und bog die Gesträuche und Gebüsche weit voneinander, es schimmerte zwischen ihnen wie ein helles Frauengewand. Von einer plötzlichen Ahnung durchzuckt, blieb Hermann stehen und blickte scharf durch das Gezweige; es war nichts mit Bestimmtheit zu erkennen, rasch that er einige Schritte seitwärts und stand in der nächsten Minute vor Gertrud Walter.

Das Mädchen lag auf den Knieen, den Kopf gegen eine Baumwurzel gelehnt und das Gesicht in beiden Händen verborgen. Auch nicht mit einem Laute hatte sie sich verrathen; aber sie war zusammengebrochen unter der plötzlichen Erkenntniß, die die Ahnungslose wie ein Blitzstrahl getroffen. Hermann bedurfte nur dieses Anblicks, um sofort Alles zu begreifen und zu fühlen, wie [774] furchtbar demüthigend ihr jetzt auch seine Nähe sein mußte. Einen Moment lang blickte er schweigend auf sie nieder, wandte sich dann um und ging, ebenso rasch und leise wie er gekommen war.

Aber bereits nach zehn Schritten blieb er stehen und sah zurück. Sie lag so still und regungslos wie eine Todte, vielleicht war sie ohnmächtig, vielleicht – der Graf war noch nicht mit sich einig geworden, was hier die Menschlichkeit oder das Zartgefühl verlange, als er sich auch schon wieder an ihrer Seite befand.

„Mein Fräulein!“

Keine Antwort, sie regte sich nicht.

Hermann beugte sich nieder und hob sie empor. Willenlos ließ sie seine Hülfe geschehen, und während sie sich mechanisch in seinen Armen aufrichtete, streifte ihr Auge, wie bewußtlos, sein Gesicht.

„Sie sind nicht wohl! Darf ich Ihnen meine Hülfe bis zum Dorfe anbieten?“

Er hätte nicht sprechen dürfen, beim Ton seiner Stimme kam ihr sofort die Erinnerung und damit zugleich Bewußtsein und Kraft zurück, aber die erste Aeußerung derselben richtete sich gegen ihn. Da war es wieder, das jähe Aufzucken, das entsetzte Zurückweichen wie bei der Begegnung am heutigen Mittag, wieder trat der seltsam feindliche Blick in ihr Auge, es schien, als ob in der einen Empfindung des Abscheues gegen ihn selbst die Erinnerung an die letzte Viertelstunde unterginge.

„Ich bedarf keiner Hülfe – mir ist wohl – völlig wohl –“ sie that einige Schritte, schwankte aber und mußte sich an einen Baum lehnen, um nicht zu sinken. Der Wind schüttelte die Krone desselben und warf einen Regen von Blättern auf sie nieder, der erste Blitz zuckte durch die Luft und ein fern grollender Donner folgte ihm; Hermann, der verletzt zurückgetreten war, näherte sich jetzt wieder dem jungen Mädchen und sagte mit einer Entschiedenheit, durch die allerdings einige Bitterkeit hindurchklang:

„Es thut mir leid, Ihnen mit meiner Gegenwart beschwerlich fallen zu müssen, aber Sie sind nicht wohl, mein Fräulein. Sie sind allein und fremd hier, es zieht ein Gewitter heran, und das Dorf ist eine halbe Stunde entfernt. Sie werden deshalb meine Begleitung annehmen und zugleich die Versicherung, daß ich Ihnen keine Minute länger lästig fallen werde, als unumgänglich nöthig ist.“

Ruhig, als sei ein Widerspruch gar nicht denkbar, nahm er ihren Arm, wie den eines Kindes, um sie zu führen, aber diese Berührung übte eine ungeahnte, eine wahrhaft erschreckende Wirkung auf Gertrud aus. Wäre es der Stich einer Schlange gewesen, sie hätte nicht entsetzter zusammenfahren, nicht mit größerem Abscheu zurückzucken können. Es war fast ein Schrei, mit dem sie ihre Hand aus der seinigen riß, und Hermann glaubte plötzlich ein ganz anderes Wesen vor sich zu sehen. Es lag nichts mehr von dem „Kinde“ darin; die Erscheinung, die da vor ihm stand, hochaufgerichtet, aber todtenbleich, mit bebenden Lippen, hatte etwas Gebietendes, Ueberwältigendes. Ihr Blick traf ihn mit so räthselhaft zwingender Gewalt, daß jeder Andere die Augen davor niedergeschlagen hätte, und mit einem Ton und Ausdruck, der den Grafen völlig versteinerte, rief sie ihm drohend zu: „Berühren Sie mich nicht, Graf Arnau! Ich will nicht von Ihnen geleitet sein!“

Sie wandte sich, schlug den Weg nach dem Dorfe ein und verschwand zwischen den Gebüschen. Hermann stand bewegungslos und sah ihr nach, aber in der nächsten Minute schon überwog der Zorn die starre Verwunderung. Der junge Graf war noch nie so behandelt, so beleidigt worden, und hier geschah ihm das, hier, wo er sich zum ersten Male in seinem Leben mit warmer offener Theilnahme Jemandem genaht, wo er zum ersten Male seinen kalten rücksichtslosen Charakter verleugnet hatte. Was wagte dies Mädchen gegen ihn! Und weshalb wagte sie es?

Er lachte bitter auf. „Ja freilich, jetzt begreife ich, daß Eugen es nicht wagt, ihr unter die Augen zu treten! Er ist der Mann nicht, ein Wesen zu zwingen, das, unmittelbar nachdem es die tiefste Demüthigung erlitten, so aufzutreten vermag. Ihn hätte sie zerschmettert mit diesem Blick!“

Der immer lauter rollende Donner und die jetzt häufiger zuckenden Blitze machten den Betrachtungen des Grafen ein Ende und mahnten ihn zur schleunigen Rückkehr nach dem Schlosse, das er in der That kaum erreicht hatte, als auch bereits die ersten schweren Tropfen fielen.

Eine Stunde später – das Gewitter hatte ausgetobt, aber der Regen strömte noch immer und im Schlosse traf man die letzten Vorbereitungen zu dem großen Ballfest, das heute Abend hier stattfinden sollte – kehrte auch Eugen aus dem Dorfe zurück, bleich, aufgeregt, völlig durchnäßt, und begab sich sofort in Hermann’s Zimmer. Sie hatten eine Unterredung mit einander und es schien bei dieser Gelegenheit etwas wie eine Scene zwischen den beiden Freunden gegeben zu haben, wenigstens wollten die ab und zu eilenden Diener sehr lautes, heftiges Sprechen gehört und bemerkt haben, daß Herr Reinert mit auffallend finsterer Miene aus dem Zimmer des Grafen kam. Auch mieden sich Beide während des ganzen Abends so viel als möglich, zu einer weitern Aeußerung von Uneinigkeit kam es jedoch nicht. Bereits rollten von allen Seiten die Wagen der Gäste herbei, und beim Eintritt der Dunkelheit strahlte die ganze Fensterreihe des Schlosses in blendendem Lichtglanz.

Die Krone und den Mittelpunkt der Gesellschaft bildete natürlich die schöne Gräfin Arnau. Sie erschien heut’ Abend reizender und bezaubernder als je, und Eugen wich nicht einen Augenblick von ihrer Seite. Zum ersten Male wagte er es heut’, in seine offen dargebrachten Huldigungen den Anschein der Berechtigung zu legen, und Antonie nahm dies in einer Weise auf, die kaum noch einen Zweifel an dem zwischen ihnen obwaltenden Verhältnisse bestehen ließ. Aller Blicke folgten dem Paare, überall vernahm man flüsternde Bemerkungen und Fragen, ob es denn möglich sei, ob denn die stolze vielumworbene Gräfin Arnau wirklich im Ernst an eine Verbindung mit dem jungen unbedeutenden Maler denken könne, der, quelle horreur! ihr statt der Grafenkrone nur einen bürgerlichen Namen geben konnte. Welch eine unverzeihliche Extravaganz! Welch ein Scandal für die Familie! Eine alte Baroneß, die mehr Neugierde besaß und mehr sittliche Empörung fühlte, als all’ die Anderen, beschloß, sich um jeden Preis Gewißheit darüber zu verschaffen und sich zu diesem Zweck gleich an die sicherste Quelle, an den Grafen Hermann zu wenden.

Es dauerte lange, bis sie den Gesuchten fand, der den Tanz überhaupt nicht liebte und auch diesmal nicht daran Theil nahm. Er stand allein in einem Nebenzimmer, hatte das Fenster desselben geöffnet und sich weit hinausgelehnt. Unten auf der Landstraße schmetterte ein Posthorn, dessen Klänge sich mit der rauschenden Tanzmusik mischten. „Mein bester Graf, was thun Sie um’s Himmelswillen hier in diesem abgelegenen Cabinet, bei offenem Fenster? Die ganze Gesellschaft vermißt Sie bereits!“

Hermann wandte sich um, mit einem Gesicht, auf dem der Aerger über die Störung ziemlich deutlich geschrieben stand. „Es war mir zu schwül im Saale,“ erwiderte er sehr kühl und abweisend, „ich fand es für nöthig, einige Minuten lang frische Luft zu schöpfen.“

„Sie haben Recht, es ist entsetzlich heiß drinnen, und die Luft nach dem Gewitter ist so erquickend! Aber Sie versäumen zu viel hier, Ihre Cousine walzt zum Entzücken mit Ihrem Freunde, dem jungen Maler – apropos, bester Graf, ist es denn wahr, was man sich erzählt, die Gräfin erwidere die ganz offen zur Schau getragen Leidenschaft dieses Herrn Reinert, und denke wirklich daran, ihn mit ihrer Hand zu beglücken?“

Hermann schlug klirrend das Fenster zu. „Ich bedaure, meine Gnädigste, Ihnen darüber keine Auskunft geben zu können. Ich bin über die Intentionen meiner Cousine so wenig unterrichtet, als Sie selber. Inzwischen dürfte es doch hier zu kühl für Sie werden, Sie gestatten wohl, daß ich Sie in den Saal zurückbegleite.“

Er reichte ihr mit kalter Höflichkeit den Arm und führte sie in den Tanzsaal zurück. Der Walzer war noch nicht zu Ende, als sie eintraten; soeben schwebte Gräfin Antonie im hellsten Kerzenglanz, getragen von der rauschenden Musik, am Arme Eugen’s vorüber – und in der Ferne erstarb der letzte Klang des Posthorns!




Sieben Jahre waren dahingeschwunden, sie hatten Manches verwischt und begraben, Vieles geändert, und, wie oft im Leben, so war auch hier die Wirklichkeit einen ganz, ganz anderen Weg gegangen, als die Hoffnungen und Erwartungen der Menschen.

Von dem Künstlerruhme Eugen Reinert’s hörte man wenig oder nichts. Zwar hatte sein erstes größeres Werk, das Portrait der Gräfin Arnau, auf der Ausstellung ein bedeutendes Aufsehen [775] erregt und zu den schönsten Erwartungen für die Zukunft berechtigt, aber diese Voraussetzung erfüllte sich nicht. Mit jenem Bilde, das ihm die Hand des Originals eintrug und ihm allerdings einen Namen in der Kunstwelt schuf, schien er seine beste Kraft erschöpft zu haben. Er malte zwar noch immer ausschließlich Portraits aus den aristokratischen Kreisen, denen er durch seine Gemahlin nahe getreten war, und in welchen seine Arbeiten natürlich für genial und unerreichbar gehalten wurden, aber die eigentlichen Kunstkenner hielten nicht viel davon, und im Publicum beachtete man sie wenig. Eugen’s Hauptfehler, der Mangel an Energie und Ausdauer, trat mit der Zeit immer deutlicher hervor. Er schwankte fortwährend zwischen allen möglichen Studien hin und her, fing Alles an und brachte Nichts fertig, entwarf die großartigsten Pläne, um keinen auszuführen, und verschwendete sein so großartig angelegtes Talent an den distinguirten, aber nichtssagenden Gesichtern von Grafen und Excellenzen und den Albumblättern vornehmer Damen. Seit das Glück ihm mühelos all’ die Güter in den Schooß geworfen, die er einst durch die Kunst zu erreichen gehofft, war seine Lust am Schaffen und damit auch seine Kraft ermattet. Wozu auch noch arbeiten? Der Reichthum, den seine Gattin ihm zugebracht, die Verbindungen, zu denen er durch sie gelangte, und das glänzende Haus, welches sie machten, sicherten ihm allen Lebensgenuß und eine unbestrittene Stellung in der Gesellschaft, und als ihm nun vollends im Laufe der letzten Jahre, wegen seiner „künstlerischen Verdienste“, der Adel ertheilt ward, schien er die höchste Staffel irdischen Glückes erstiegen zu haben.

Während dies einst so viel versprechende und viel bewunderte Talent allmählich zu Grunde ging, hatte sich in aller Stille ein anderes entwickelt, an das Niemand gedacht, dessen Dasein Keiner geahnt hatte. Graf Hermann Arnau, der seines kalten, schweigsamen und verschlossenen Wesens halber wenig gekannt und noch weniger geliebt worden war, hatte plötzlich einen Aufschwung genommen, der Alles in Erstaunen setzte. Nach der Rückkehr von einer größeren Reise, die er zu seiner ferneren Ausbildung unternommen, trat er in den Staatsdienst und ging mit der Gesandtschaft seines Fürsten nach Wien. Aber kaum zwei Jahre vergingen, und der jüngste Attaché war bereits die rechte Hand des nicht sehr befähigten Gesandten, sein Rath und seine Stütze in allen schwierigen Fällen, schließlich sein Vertreter, der all die Geschäfte leitete, zu denen Seine Excellenz den Namen hergab. Ein Zufall enthüllte dem Fürsten die Art dieser Geschäftsführung; er wurde aufmerksam auf den jungen Grafen, er berief ihn zurück, um ihm in der Residenz eine für seine Jahre bedeutende Stellung zu übertragen, und es dauerte nicht lange, so hatte Hermann auch hier allen Einfluß und alle Autorität an sich gerissen. Sein scharfer Blick, der jede Sache bis auf den Grund durchschaute, die rücksichtslose Energie, mit der er überall vorging, und die fast unglaubliche Thätigkeit, die er entwickelte, verschafften ihm Erfolg auf Erfolg. Er stieg von Stufe zu Stufe und stand jetzt im Alter von kaum zweiunddreißig Jahren bereits auf einem der ersten Posten des Landes, an der Spitze der Verwaltung und an der Schwelle des Ministeriums, das sich beim nächsten Umschwunge der Politik ihm öffnen mußte. Allerdings thaten das alte Grafengeschlecht, dem er entstammte, sein Reichthum und die persönliche Gunst des Fürsten das Ihrige zu dieser schwindelhaft schnellen Carrière; aber sie dienten im Grunde nur dazu, ihm den Weg zu ebnen und Hindernisse wegzuräumen, die ein Bürgerlicher erst hätte bekämpfen müssen. Hunderte mit dem gleichen Range und Vermögen blieben am Fuße oder in der Mitte jener Leiter stehen, deren oberste Stufe er jetzt schon erklomm – in Wahrheit verdankte er jene Erfolge doch nur sich selber.

Auf dem Gute der verwittweten Präsidentin von Sternfeld hatte man Vorbereitungen zum Empfange verschiedener Gäste getroffen. Der älteste Sohn, Baron von Sternfeld, befand sich mit seiner Gemahlin und seinen beiden kleinen Töchtern bereits seit einer Woche dort, Graf[WS 1] Arnau war heute Morgen aus der Residenz eingetroffen, und Herr und Frau von Reinert wurden am nächsten Tage erwartet.

Im Gartensaal des alten Herrenhauses, an der geöffneten Glasthür, die auf die breite steinerne Terrasse hinausführte, saß Hermann an der Seite seiner Großmutter. Das Aeußere der nunmehr siebenzigjährigen Frau zeigte noch immer die ungebrochene geistige und körperliche Kräftigkeit, mit der sie nach wie vor den Mittelpunkt der Familie bildete und die alle Autorität darüber ausübte. Die kraftvolle Gestalt schien sich nur widerwillig dem Alter zu beugen; das Haar war schneeweiß, das Gesicht voller Runzeln und Falten, aber es war eben ein Gesicht, dem das Alter nicht viel anhaben konnte. Es hätte weder den vorherrschenden Ausdruck von Energie verwischen, noch das scharfe, klare Auge trüben können, und wenn auch der Rücken sich etwas unter der Last der Jahre neigte; der Kopf ward noch ebenso aufrecht getragen wie früher.

Graf Arnau hatte sich im Laufe der Zeit kaum verändert; sie schien spurlos an diesen festen, kalten Zügen vorübergegangen zu sein. Der Blick war vielleicht noch schärfer, die eigenthümliche Linie um den Mund noch herber geworden, und die Haltung zeigte bei aller Einfachheit ein größeres Selbstbewußtsein; aber auffallender als je trat jetzt die Aehnlichkeit mit seiner Großmutter hervor, deren Gesicht sich fast Zug für Zug in dem seinigen wiederholte, wie sein Charakter Zug um Zug dem ihrigen glich.

Man hatte lange von der Residenz, von der jetzigen Stellung Hermann’s, von seinen Aussichten für die nächste Zukunft gesprochen und sich dabei immer mehr in ein politisches Gespräch vertieft; jetzt fragte der Graf endlich, auf ein anderes Thema übergehend: „Morgen treffen also Eugen und Antonie ein?“

„Deinem bestimmt ausgesprochenen Wunsche nach – ja. Ich bringe Dir ein großes Opfer damit, Hermann! Ich, das weißt Du, werde Antonien diese Mesalliance nie verzeihen, und wenn ich mich dessenungeachtet überwand, sie und den Herrn Maler Reinert einzuladen, so geschieht es einzig und allein um Deinetwillen.“

„Ich danke Dir, liebe Großmutter; ich weiß, was es Dich kostet; aber diese Anerkennung der Heirath Deinerseits war mit der Zeit doch nothwendig geworden. Im Uebrigen ist ja der äußeren Form Genüge geschehen, und Du begehst keinen gesellschaftlichen Verstoß mehr, wenn Du Herrn und Frau von Reinert als Verwandte empfängst.“

Die Präsidentin zuckte die Achseln. „Die Verleihung des Adels war eine Nothwendigkeit, nachdem Antonie einmal jenen wahnsinnigen Schritt gethan hatte. Sie ist und bleibt trotz alledem eine Gräfin Arnau und kann als solche nicht einfach bürgerlich Frau Reinert heißen, wenn sie hierher zurückkehrt. Aber eine Rücksicht, zu der man der Welt gegenüber gezwungen war, um den Familienscandal zu verdecken, hat auf mein Urtheil keinen Einfluß. Mir bleibt Herr Reinert nach wie vor bürgerlich.“

Hermann sah vor sich nieder und eine leichte Falte legte sich zwischen seine Augen. „Ich hoffte, Eugen würde sich einen Künstlernamen erringen, der diese Adelskomödie überflüssig machte; leider ist es nicht geschehen.“

„Wie?“ Die Stimme der Präsidentin nahm unwillkürlich einige Schärfe an. „Willst Du damit sagen, daß der Ruhm eines Malers die angeerbte Grafenkrone aufwiegen kann?“

„Aufwiegen – nein! aber in gewisser Hinsicht ersetzen, zumal bei einer so romantischen Natur, wie die Toni’s ist.“

Das Gesicht der Präsidentin zeigte, wie wenig sie mit dieser Antwort zufrieden war. „Du hast von jeher eine Schwäche für diesen Reinert gehabt,“ sagte sie mit unwilligem Kopfschütteln.

„Er war mir einst sehr lieb!“

„Er war es?“

„Ja. Es hat sich so Manches erkältend und entfremdend zwischen uns gedrängt. Ich setzte die größten Hoffnungen auf sein Talent, auf seine Zukunft – er hat nicht eine davon erfüllt.“

Die Präsidentin richtete sich in ihrem Lehnstuhle empor und fixirte ihren Enkel scharf. „Ich gestehe Dir offen, Hermann, daß ich früher ernstliche Besorgnisse wegen dieses Umgangs hegte. Du hieltest sonst streng an den aristokratischen Traditionen Deiner Familie; aber dieser Reinert war Dir immer und überall eine Ausnahme. Unter meinen Augen hätte es Toni allerdings nicht gewagt, ihre Freiheit in solcher Weise zu mißbrauchen. Ich war leider abwesend, aber Du warst ihr nahe. Du mußtest an meiner Stelle eintreten und die Ehre der Familie wahren. Statt dessen begünstigtest Du ganz offen jene Verbindung, führtest sie in Rom zusammen, nahmst sogar mir gegenüber ihre Partei. Ich fürchtete damals im vollen Ernste für Deine Grundsätze.“

Der Graf lächelte, es war sein altes sarkastisches Lächeln; das nicht eine Spur von Heiterkeit in sich schloß. „Das war eine grundlose Furcht; Du, Großmutter, hättest mich doch besser kennen müssen. Ich bin eben aus einem anderen Stoff gemacht; und was ich bei [776] Eugen und Toni gut hieß, würde ich mir selber nie verziehen haben. Ich schließe keine Mesalliance, darauf kannst Du Dich verlassen.“

„Ich weiß es,“ sagte die Präsidentin mit ruhiger Zuversicht. „Du hast zum Glück keine Spur jener unseligen Romantik in Dir, die aller Vernunft Hohn spricht.“

„Nein! – Und überdies – Du weißt, ich habe alle Ursache, meinen Namen rein zu halten.“

Seine Stimme sank bei den letzten Worten und seine Stirn furchte sich tief und schwer, während sein Auge den Boden suchte. Auch die Großmutter war ernst geworden, aber es lag etwas wie Unwillen in diesem Ernst. „Immer noch der alte Kampf? Hast Du denn jene Erinnerung noch nicht überwunden?“

„Ich beneide Dich, daß Du es vermagst. Vergessen kann ich es wohl auf Stunden, auf Tage und Wochen sogar, überwinden – nie!“

Die Präsidentin schüttelte den Kopf. „Du quälst Dich mit selbstgeschaffenen Schrecken! Wir beide allein teilen das Geheimniß und bei uns ist es sicher genug verwahrt. Die Welt kann und wird nie auch nur einen Hauch davon erfahren.“

Der Graf hob langsam den Blick empor, sein Antlitz war finster wie die Nacht. „Die Welt! Aber ich weiß es, daß ich entehrt bin! Ich kenne die Schande, den Fluch, der auf meinem Namen, meinem Reichthum ruht, und das ist der dunkle Punkt in meinem Leben, über den ich nie, niemals hinwegkomme. Was ich auch erstreben, was erreichen mag, immer und immer drängt sich diese Erinnerung dazwischen. – Ich kann sie nicht loswerden!“

Die Großmutter legte beschwichtigend ihre Hand auf seinen Arm. „Laß das ruhen, Hermann! Ich erkenne Dich kaum wieder, sobald dieser unglückselige Gegenstand berührt wird. Du, so stark, so energisch in allen anderen Dingen, bist in diesem Einen schwach wie ein Kind. Der Knabe zeigte einst mehr Muth, er verschwieg sein Geheimniß der Mutter, die daran gestorben wäre, und offenbarte es nur da, wo es ertragen werden konnte. Er schwieg Jahre hindurch, wie vielleicht kein Kind es gethan hätte, und machte mir so mein Hüteramt leicht. Soll der Mann jetzt zagen und sich die Verantwortung aufbürden für Etwas, das er nicht verschuldete?“

Hermann gab keine Antwort, er starrte düster vor sich hin.

„Wenn wir nur wenigstens eine Spur von der Frau und dem Kinde aufgefunden hätten! Deine Nachforschungen blieben damals fruchtlos, ich habe sie mit erneutem Eifer wieder aufgenommen, mir stehen jetzt alle Quellen zu Gebote, aber umsonst, sie sind wie von der Erde verschwunden.“

„Sie werden das Land verlassen haben.“

„Und sind vielleicht im Elend umgekommen, während ich –“ Er sprang plötzlich auf, trat an die Thür und lehnte die Stirn gegen die Scheiben, der sonst so ruhige Mann war in einer furchtbaren Erregung. Die Präsidentin schwieg, sie kannte diese Stimmung; wie groß ihr Einfluß auf den Enkel auch sein mochte, das war ein Punkt, an den sie nicht rühren durfte, auf den sich ihre Macht nicht erstreckte, sie wußte, daß man ihn jetzt gewähren lassen mußte, sollte es nicht noch schlimmer werden.

Ein minutenlanges Schweigen folgte, endlich wendete sich Hermann um. Seine Züge waren wieder kalt und ruhig wie zuvor, nur auf der Stirn lag eine schwere Wolke. „Verzeih’ mir, Großmutter, daß ich auch Dich damit quäle. Du hast Recht, es ist besser, wir lassen das ruhen! Wovon sprachen wir denn vorhin?“

Er nahm wieder an ihrer Seite Platz und sie ergriff sofort die Gelegenheit, auf ein anderes Thema überzugehen.

„Ich wollte längst schon eine Frage an Dich thun, Hermann. Hast Du noch nicht daran gedacht, daß es für Dich, als Majoratsherrn und einzigen männlichen Sproß des Hauses Arnau, bald nothwendig werden dürfte, zu einer Vermählung zu schreiten?“

Der Graf stützte den Kopf in die Hand. „Allerdings habe ich daran gedacht,“ entgegnete er gleichgültig, „zumal ich jetzt auch die Nothwendigkeit einsehe, in der Residenz ein Haus zu machen und in der Gesellschaft einen Mittelpunkt zu bilden.“

„Hast Du schon gewählt?“

„Nein. Ich habe, wie Du weißt, wenig Neigung für die Frauen und ich halte von meinem Standpunkte aus eine Convenienzheirath für die beste. Ich werde nicht viel Zeit für meine Frau übrig haben, und suche in ihr ja überhaupt nur eine Repräsentantin des Hauses.“

Die Großmutter neigte beistimmend das Haupt. „Und welche Ansprüche machst Du bei der Wahl Deiner zukünftigen Gemahlin?“

„Viel und wenig, wie man es nimmt. Vor allen Dingen muß sie aus altem edlem Hause sein; vermögend, denn ich habe gefunden, daß die armen Fräulein, wenn sie plötzlich in den Schooß des Reichthums versetzt werden, sich zu allen möglichen Extravaganzen fortreißen lassen, und nicht auffallend schön, weil ich keine Lust habe, mich zum Hüter meiner Frau zu machen – das Uebrige findet sich wohl von selbst.“

Der junge Graf setzte diese Bedingungen seiner künftigen Ehe mit einer so vollkommenen Gleichgültigkeit auseinander, als ob es sich etwa um den Ankauf eines Gutes handelte, aber diese Art, die Sache aufzufassen, hatte augenscheinlich den ganzen Beifall der Präsidentin.

„Ich bin durchaus Deiner Meinung,“ entgegnete sie, „und es freut mich sehr, daß Du diese Angelegenheit mit einer solchen Klarheit behandelst. – Was wünschen Sie, meine Liebe?“ unterbrach sie sich jetzt, gegen die Thüre gewendet.

„Die Kinder wünschten der Frau Präsidentin vor dem Spaziergange Lebewohl zu sagen.“

Graf Hermann fuhr vom Stuhle empor beim Klange dieser Stimme und blickte mit dem Ausdruck grenzenlosen Erstaunens die Dame an, welche, zwei kleine Mädchen von sechs und acht Jahren an der Hand führend, soeben eingetreten war. Es war Gertrud, die ehemalige Braut Reinert’s. Die Präsidentin bemerkte sein Erstaunen.

„Ah so! Mademoiselle Walter – der Herr Graf Arnau.“

Sie beugte sich zu ihren Enkelinnen nieder und reichte ihnen die Wange zum Kusse hin.

Hermann’s Verneigung ward mit der vollendetsten Fremdheit und Gemessenheit erwidert. Auch nicht die leiseste Bewegung in dem Gesichte Gertrud’s verrieth ein Wiedererkennen, sie nahm die Hände der Kinder wieder in die ihrigen, und schickte sich an, den Gartensaal zu verlassen.

„Dehnen Sie den Spaziergang heute nicht zu weit aus, Mademoiselle, es ist zu heiß für die Kleinen.“

„Ich werde sie nicht anstrengen, wir bleiben diesmal im Umkreise des Parks.“

Eine zweite, ebenso förmliche Verneigung und sie schritt mit den Kindern über die Terrasse in den Park hinunter. Die Präsidentin wandte sich wieder zu ihrem Enkel.

„Wir sprachen also – aber weshalb setzest Du Dich nicht, Hermann?“

Er stand noch immer, die Hand auf den Lehnsessel gestützt, und das Auge unverwandt auf die Allee gerichtet, in der die Drei verschwanden; der Aufforderung mechanisch gehorchend nahm er wieder Platz.

„Wir sprachen also von Deiner künftigen Gemahlin. Ich meine, Dir steht die Wahl frei; Graf Hermann Arnau mag noch so hoch anklopfen, er wird schwerlich ein Nein erhalten.“

„Wer ist diese Mademoiselle Walter?“ fragte Hermann statt aller Antwort, ohne den Blick von der Allee abzuwenden.

Die Großmutter sah ihn etwas befremdet an, die Frage schien ihr sehr wenig in dies wichtige Gespräch zu passen.

(Fortsetzung folgt.)




Laurence.
Episode aus der Belagerung von Metz. Von unserem Berichterstatter Georg Horn.

„Eine Dame ist eben angekommen,“ raunte mir im Vorübergehen ein Bekannter zu und zeigte nach dem kleinen Entrée im Schlosse von Corny, von dem ich meinen lieben Lesern im letzten Artikel ein Bild zu geben versuchte. Eine Dame im Hauptquartier! Das ist ein seltener und jedenfalls ein interessanter Fall. Eine Dame, die sich in den Mittelpunkt des Krieges wagt, besitzt Muth und Entschlossenheit, und eine Frau mit diesen Eigenschaften kann nicht zu den gewöhnlichen ihres Geschlechts gehören.

[777]

Der Sieger von Beaumont.
Prinz August von Württemberg, Commandeur des Gardecorps.       v. Alvensleben I., Commandeur des 4. Armeecorps.
Originalzeichnung von Adolf Neumann.

[778] Was mag sie hierher führen – was mag sie wollen? Sollte sie Anschläge auf die Herzen unserer jungen, eleganten und lebensfrischen Officierswelt haben, sollten hinter diesen Absichten andere verborgen sein, sollte sie vielleicht etwas auszukundschaften suchen, und wäre sie von drüben als Sirene und Emissärin geschickt? Emissärin? Ach, das wäre vortrefflich! Eine Emissärin kann nur jung, schön, nur bezaubernd sein – eine Hospitalpfründnerin werden sie uns nicht schicken. Da ist sie. Jung? Ja, vielleicht sechsundzwanzig Jahre, wenn unsere verwöhnte Männerwelt dieses Alter noch für jung gelten lassen will. Schön? Das gerade nicht; eine kleine, wenn auch sehr graziös gebaute Gestalt, das Gesicht rund, wohlgebildet, aber bleich und abgehärmt, die Augen grau, groß und mit vielem Weiß, lebhaft blinkend, wenn auch wahrscheinlich vom Weinen etwas geröthet; der Mund anmuthig, die Lippen frisch und über der Oberlippe ein Merkmal, charakteristisch und allerdings auf Entschlossenheit deutend – ein leiser dunkler Flaum. Die Kleidung war einfach, aber von gutem Geschmack; der Anzug bestand aus einem dunkelbraunen Wollenstoffe, ohne die tausend Schnurrpfeifereien, mit denen die bonapartistische Ueppigkeit die herrliche Schöpfung des weiblichen Körpers zu verunstalten gesucht hat, auch der kleine Hut von braunem Stroh saß nicht so kühn und herausfordernd, wie es die geschmacklose Mode der letzten Saisons forderte, auf dem Kopfe; unter diesem Hute waren aber weder Flechten noch Locken noch sonst etwas zu erspähen – merkwürdigerweise – das Haar war gänzlich abgeschnitten.

Der Eindruck, den die ganze Erscheinung machte, war ein vertrauenerweckender; von dem Abenteuerlichen, das man sich versprochen, war nichts herauszufinden. Es that Einem innerlich wohl, wieder einmal eine anständige, wohlgekleidete Frauenerscheinung zu sehen; das Geschlecht war zwar in den Dörfern, in denen wir bisher rangirt hatten, nicht ausgestorben, aber mehr als das, es bestand fast nur in alten Weibern und die jungen, die man von der großen Mädchenflucht zurückgelassen hatte, waren des Ansehens nicht werth, trugen zerlumpte Kleider und Lederschuhe, die sich schon jahrelang nach etwas Wichse zu sehnen schienen. Die junge Dame, die hier saß, hatte ganz allerliebste Stiefeletten an, die einen kleinen, gewölbten Fuß umhüllten, und diesem Fuße entsprach die kleine, prachtvoll geformte weiße Hand, in die sie traurig ihren kleinen Kopf legte.

Ihr Erscheinen an diesem für eine Dame etwas ungewöhnlichen Orte, das Interesse und der Antheil, welchen sie vielleicht aus den sie umstehenden Officieren herausfühlen mochte, erleichterte die Anknüpfung einer Unterhaltung um ein Wesentliches. Lassen wir diese von dem Officier führen, in dessen Ressort die Fremde gehört.

„Wie die Meldung der Sie begleitenden Ordonnanz aussagt, kommen Sie, Madame, aus dem Hauptquartier des commandirenden Generals von ***.“

„So ist es, mein Herr. Ein Verwandter der Gemahlin des Generals hat mich an ihn empfohlen, in der Hoffnung, daß ich vielleicht durch die Fürsprache seiner Excellenz bei dem Prinzen Friedrich Karl meinen Zweck erreichen könnte.“

„Und welcher wäre dieser, wenn Sie mir die Frage erlauben?“

„Ich will nach Metz zu meinem Manne.“

„Sie verlangen gleich eine Unmöglichkeit, Madame.“

„Dasselbe sagte mir zwar auch der General von ***, aber ich bat ihn so lange, mir eine Empfehlung an den Obercommandirenden mitzugeben, daß er schließlich mir diesen Brief übergab. Hier ist der Brief – melden Sie mich Monseigneur, ich will einen Fußfall vor ihm thun. Wie man mir sagte, ist Monseigneur ein Mann von Herz und Edelmuth, auch er hat Frau und Kinder, und ich will ja nichts weiter, als zu meinem Manne, zu meinem armen, verlassenen Manne, der vielleicht in diesem Augenblicke verzweifelnd die Arme nach seiner Laurence ausstreckt, der vielleicht stirbt, ohne daß meine Arme ihn noch einmal umfangen, meine Lippen ihm zugeflüstert haben: Ich bin’s, mein geliebter Gaston, ich, Deine Laurence – aber ich bin nur allein, Lilli, unser Kind, ist nicht mitgekommen – ich konnte es nicht wagen, das Kind mit mir zu nehmen. O mein Herr, melden Sie mich Monseigneur.“

„Nach alledem, Madame, ist Ihr Herr Gemahl in Metz?“

„Ja. Verzeihen Sie, mein Herr, daß ich in der Verwirrung meiner Verzweiflung, die noch durch Ihr Schweigen erhöht wird, ein Schweigen, das wie ein Nein klingt – o sagen Sie es nur – es ist ein Nein – sagen Sie es, ich kann Alles hören, ich habe seit Wochen so unsäglich viel gelitten. O mein Mann, mein angebeteter Mann! Drei Jahre erst sind wir verheirathet, und wie lieben wir uns! – Aber ich vergesse, was ich Ihnen erzählen wollte. Mein Mann heißt T. F. und ist Capitain im Generalstab, wir wohnen in Paris. Bei Ausbruch des Krieges wurde er Adjutant des Generals B., der eine Gardedivision commandirt, und wurde bei St. Privat am 18. August verwundet. Wer von der französischen Garde wäre an diesem Tage überhaupt nicht verwundet worden! Ich erfuhr es einige Tage später – ich war mit unserem Kinde in Paris zurückgeblieben. O, wenn Sie Gaston und Lilli sehen könnten! Beide ein Gesicht – ein Herz! – Auf diese unglückselige Nachricht hin begab ich mich zum Kriegsminister General Trochu; er kennt meinen Mann, er achtet ihn sehr. Vielleicht, daß es durch seine Vermittelung mir gelang, nach Metz zu kommen, das die Preußen bereits cernirt hatten. Seine Antwort war ein ‚Unmöglich!‘ Seine Macht über Metz war durch die Preußen genommen. Mein Jammer, meine Verzweiflung gingen ihm zu Herzen. ‚Vielleicht können Sie Ihren Zweck auf einem Umwege erreichen,‘ sagte er nach einigem Nachdenken. ‚Ich habe Nachrichten von Marschall Mac Mahon, daß er von dem Lager von Chalons aufgebrochen ist und sich nach dem Norden gewendet hat, um an der belgischen und luxemburgischen Grenze entlang Thionville zu erreichen und von da zum Entsatze von Metz den Preußen in den Rücken zu fallen. Ich werde Ihnen eine Empfehlung an den Marschall geben.‘ Mit dieser Empfehlung reiste ich in den letzten Augusttagen von Paris ab. Ich hatte Sachen für meinen Mann mitgenommen, ich hatte Wäsche und einige Toilette für mich und dazu zweitauseud Franken, die ich in einem kleinen Koffer bei mir trug. In Beaumont traf ich den Marschall, der mich auf das Schreiben des Generals Trochu hin sehr liebenswürdig aufnahm, meinen Absichten förderlich sein zu wollen mir versprach, und mich einer Ambulance zutheilte. In einen der Wagen wurden meine Sachen gebracht, die Wagen fuhren auf dem Markte auf, und in einem dabeiliegenden Hôtel ließ ich mir ein Zimmer geben. Das Herz wurde mir nach langer Zeit wieder einmal leicht; ich wagte wieder einen Gedanken der Hoffnung zu fassen. Alle Welt versprach sich von dem Unternehmen des Marschalls Erfolg, und ich selbst am meisten, mein Herz wünschte ihn doch; denn nur so konnte ich meinen geliebten Gatten wiedersehen. Aber ach – alle diese süßen Hoffnungen wurden durch die Niederlage meines Beschützers, des Marschalls, mit einem Male vernichtet. Der Angriff durch die Preußen und Sachsen, Baiern und Schlesier –“

„Bitte, Madame, Schlesien gehört zu Preußen.“

„Ah – Pardon! Ich dachte, Schlesien wäre eines von den unzähligen Fürstenthümern Deutschlands. Wir Frauen in Frankreich treiben Geographie nur mit unseren Herzen. – Ich weiß nicht, welche von den Deutschen bei der Schlacht von Beaumont waren, man muß so viele Namen merken, wenn man darüber orientirt sein will; aber Mac Mahon wurde geschlagen. Der Angriff war so heftig, der Kampf so blutig! O, wenn ich an diese Stunden der Entscheidung denke, die auch die Entscheidung über mein Schicksal in sich bergen! Von meinem Fenster aus konnte ich einen Theil der Schlacht mit ansehen – bald war ich an diesem Fenster, bald lag ich auf den Knieen betend, schluchzend, jammernd! Plötzlich hieß es: ‚Die Franzosen sind geschlagen. Die Preußen kommen!‘ Die Panique war entsetzlich. Ich stürzte hinab. Ich wußte nicht, was ich wollte, ich hatte keinen klaren Gedanken mehr, ich war sinnlos vor Schmerz, daß auch hier wieder das Schicksal meinen Weg hemmte, der mich an das ersehnte Ziel führen sollte; nur noch eine dunkle Idee hatte ich, mich meines Eigenthums, das auf einem der Ambulance-Wagen untergebracht war, zu versichern. Als ich unten im Flur des Hôtels angekommen war, verbarrikadirte ein dichter Menschenknäuel den Ausgang, Alles schrie, jammerte, tobte: ‚die Preußen, die Preußen!‘ Der einzige Ausgang, der noch blieb, war rückwärts nach dem Garten, von dort konnte man ins Freie gelangen. Ich hatte keinen Gedanken, keinen Willen, nur ein dumpfes instinctives Gefühl ließ mich an meine Selbsterhaltung denken, und so wurde ich mit fortgeschoben. In der Ambulance, der mich der Marschall zugewiesen hatte, hatte ich einen Arzt kennen gelernt, den ich jetzt plötzlich wieder an meiner Seite sah. ‚Wo ist unser Wagen, wo ist mein [779] Eigentum?‘ rief ich ihm zu. ‚Ich weiß nicht,‘ war seine Antwort. Die feindliche Cavallerie kam auf den Markt gesprengt – ‚retten wir uns, vielleicht giebt es noch einen Ausweg‘ – ‚aber mein Gepäck und meine einzige Baarschaft, die ich besitze?‘ – ‚Lassen Sie das, vertrauen Sie sich mir an, dort sehe ich einen Ambulance- Wagen, vielleicht daß der uns aufnehmen kann, vielleicht ist es der unsrige.‘ – Abermalige Täuschung, es war der unsrige nicht, aber er nahm uns auf.

Sie werden, meine Herren, gehört haben, daß bei Beaumont sich eine französische Colonne von fünftausend Mann durchgeschlagen und die luxemburgische Grenze erreicht hatte. Zu dieser Colonne hat uns ein glücklicher Zufall gelangen lassen. Sie kam bis Arlon, ich in dem Ambulance-Wagen mit; dort wurde sie entwaffnet, ich war es bereits. Ich war noch in demselben Zustande, in welchem ich das Zimmer verlassen hatte, ich besaß nichts, als das, was ich auf dem Leibe trug, kein Stück Wäsche, selbst meine Börse hatte ich auf dem Zimmer liegen lassen. Ich war hülfloser als ein Kind, denn mit einem solchen hätte man Mitleid. Auf eine Frau aber, die in diesem Zustande in einer militärischen Truppe erscheint, auf diese wälzt man den finstern Verdacht, den Gedanken der Schuld, den Vorwurf der Schande. Ich habe die Blicke, die mir hierher begegneten, gesehen, ich habe sie verstanden, ich habe sie getragen. Was auch die Welt, was Sie, meine Herren, von mir halten werden, mag es Tugend oder Laster, mag es der Glaube an die Wahrhaftigkeit meiner Worte sein, oder mögen Sie mich innerlich der Lüge bezichtigen, ich habe so entsetzlich gelitten, daß ich auch noch dieses Leiden auf mich nehmen kann. Wenn ich nur wieder bei meinem Manne bin, dann ist Alles gut, dann ist Alles vergessen und verziehen, Gott ist mein Zeuge, daß mein Herz und mein Wille rein ist, und habe ich Gott und meinen Mann zum Zeugen, was brauche ich dann mehr auf der Welt!“

Eine Pause trat ein, die Sprecherin hatte sich schluchzend auf einen der kleinen Fauteuils geworfen.

Der Ton ist es, der die Musik macht, und aus jedem ihrer Worte sprach eine überzeugende Wahrheit, daß wir alle, die um sie her standen, das tiefste Mitgefühl ihr nicht versagen konnten.

„Und wie sind Sie, wenn ich weiter fragen darf, über die französische Grenze gekommen?“ frug der Officier.

„Trotz aller Hemmnisse und Unglücksfälle habe ich meinen Plan doch nicht aufgegeben,“ war die Antwort der Dame. „Vielleicht fand sich doch ein Mittel, ein Ausweg, eine Person, die mir zu meinem Ziele verhalf, wer weiß? Aber ich war von allen Mitteln entblößt; ich war noch dazu in einem Orte, in dem ich Niemand kannte. Bei meiner Abreise von Paris hatte ich allen Schmuck abgelegt, ich trug nur noch eine kleine goldene Uhr und meinen Trauring. Die Uhr hatte ich in Beaumont auf meinem Zimmer liegen lassen, den Trauring besitze ich noch und nur der Tod wird mich von diesem Kleinod trennen. Ich war für meinen Gatten doch nicht so ganz arm, ich besaß noch etwas, wofür ich mir noch einige Baarschaft zur Fortsetzung meines Weges verschaffen konnte, da ich zu stolz war, Jemand um eine Gabe anzusprechen. Ich hätte für Gaston meinen letzten Blutstropfen, mein Leben gegeben, warum sollte ich nicht mein Haar ihm opfern, mein reiches Haar, auf das er stolzer war als ich selber?! Ein Coiffeur schnitt es mir ab und bezahlte mir dafür zweiundzwanzig Francs. Davon bezahlte ich meine Gasthofsrechnung und aß mich nach zwei Tagen zum ersten Male wieder satt. Während ich im Speisesaale mein bescheidenes Mahl einnahm, machte ich die Bekanntschaft eines Herrn, der mir gegenüber saß. Es war ein Deutscher, ein Johanniter, ein Mann voll feiner Rücksicht, voll zarter Zurückhaltung, der mir großes Vertrauen einflößte. Ihm erzählte ich im Laufe des Gesprächs meine Schicksale, ihm vertraute ich auch Zweck und Ziel meiner bisherigen Opfer; wie eine Stimme der Sphären klang es aus seinem Munde, als er mir sagte: ‚Vielleicht kann ich Ihnen helfen. Mein Schwager ist der commandirende General v. ***, an ihn will ich Ihnen einen Empfehlungsbrief mitgeben, vielleicht kann er Ihnen zu Ihrem Ziele verhelfen. Ich sehe, daß Sie von Allem entblößt sind, gebieten Sie über meine Börse ohne jede Scheu, es werden sich wohl später Mittel und Wege finden, das auszugleichen. Sie brauchen keinen Anstand zu nehmen, von meinem Anerbieten Gebrauch zu machen, jedenfalls werden Sie mir gestatten, Ihnen einen Wagen zu besorgen.‘ Mit dem Empfehlungsbriefe dieses edeln Mannes versehen, kam ich nach dem Hauptquartier des Generals. Ich fand bei ihm die menschenfreundlichste, ritterlichste Aufnahme, aber leider meinte er zur Förderung meiner Zwecke wenig beitragen zu können. Den Eingang nach Metz könnten mir nur zwei Menschen verschaffen, der Prinz Friedrich Karl oder der König; ersterer sei näher, darum möge ich in dessen Hauptquartier nach Corny gehen, er wollte mir als Schutz und Begleitung einen Dragoner mitgeben. Vor einer halben Stunde kam ich hier an. Ihr Blick, meine Herren, sagt mir, daß meine Aussichten in dieser Beziehung hoffnungslos sind; nach Metz darf ich nicht hinein, nach Paris kann ich nicht zurück, da dasselbe bereits cernirt ist; ich bin heimathlos, ich bin getrennt von Mann und Kind, ich armes, armes Weib, das nicht Thränen genug hat, um sein Unglück zu beweinen. Wer wird sich meiner erbarmen!“

Zwei Stunden darauf nahm eine Kutsche den Weg nach Nancy; auf dem Bocke saß ein Soldat, im Fond die Gattin des französischen Capitains; ersteren hatte man ihr zum Schutz und zu ihrer Sicherheit mitgegeben. Man hatte von Seite des Hauptquartiers als Ausdruck des tiefen Mitleids, welches die Schicksale der unglücklichen Frau einflößten, alle möglichen Rücksichten für dieselbe: man ließ ihr ein Diner serviren, man bot ihr bei der Frau des Maire ein Nachtquartier an, man stellte eine Summe zu ihrer Verfügung – aber sie durch die Vorposten hindurchlassen, das konnte unter keiner Bedingung geschehen, hier handelte es sich um ein Princip, das selbst dieser Armen gegenüber nicht aufgegeben werden konnte, wenn auch der Anblick so vielen Herzensjammers seine Aufrechthaltung erschweren mochte. Metz war ihr verschlossen, die Wege nach Paris, nach ihrer Heimath zurück, waren ihr durch die Märsche unserer Truppen abgeschnitten. Was sollte sie beginnen? Nancy lag in der Nähe, eine größere Stadt, dort fand sie jedenfalls französische Freundinnen, mit denen sich Anknüpfungspunkte darboten, bei denen sie Aufnahme wenigstens für die nächste Zeit finden konnte. Man bot ihr einen Wagen dorthin an, den sie mit Dank annahm, wenn auch unter Thränen des Schmerzes, daß der Wagen sie in entgegengesetzter Richtung führen sollte, nicht nach Metz hinein zu ihrem Manne, dem sie schon so nahe war; nur eilf Kilometer – das hatte ihr beim Hierherfahren der Meilenstein gezeigt – trennten sie Beide noch, und diese Entfernung war von ihrer Hoffnung ausgefüllt. Schon hatte sie ganz nahe das Fort St. Quentin sehen können, und nun wurde sie durch ein grausames Gebot militärischer Pflicht dem Ziele, dem einzigen Willen und Gedanken, dem Herz ihres Herzens, dem Leben ihres Lebens entrückt! –

Es war etwa zehn Tage darauf, als ich gegen Abend einen Spaziergang über Jouy hinaus nach der Brücke machte, die über die Mosel nach Ars sur Moselle, also auf das linke Moselufer führt. Ueber die Brücke kam ein Wagen, von einem Gensd’armen escortirt; in dem Wagen saß eine anständig gekleidete weibliche Erscheinung, die in dieser Begleitung jedenfalls die Aufmerksamkeit erregen mußte. Wen erkannte ich zu meinem höchsten Erstaunen? Madame Laurence T. F. de C.

„Woher kommen Sie mit dieser Dame?“ frug ich – ich verhehle es nicht – in höchster Neugierde.

„Von Vaux, einem Dorfe zwischen Ars sur Moselle und Gravelotte!“ war die kurze Antwort des Feldgensdarmen.

„Was hat sie denn verbrochen?“ war meine weitere Frage, wobei ich absichtlich verschwieg, daß mir die fragliche Person bekannt war. Auch die Insassin des Wagens machte keine Miene, als ob sie mich scho irgendwo gesehen hätte, vielleicht hatte sie mich auch nicht wieder erkannt.

„Eine Spionin,“ raunte mir der Gensd’arm im Weiterreiten zu. „Wir fahnden schon lange auf sie, unterschiedliche weibliche Personen sind anstatt ihrer schon arretirt worden, die anständigsten Frauenzimmer, wie sich nachher herausgestellt hat. Das kann man aber doch nicht vorher wissen. Sehen Sie sich einmal die an. Sieht die aus, als wenn sie ein Wasser trüben könnte? Und doch ist sie eine gefährliche Spionin, für deren Ergreifung wir die strengsten Befehle haben.“

Sollte dies wirklich der Fall sein? Sollten ihre Erzählungen von damals nur erfunden, Fabeln sein, um allen Verdacht von ihr abzulenken, sollte ihr Jammer, ihre Verzweiflung nur erheuchelt gewesen sein? Unmöglich! dann muß die Wahrheit selbst eine Lüge sein, wenn die Lüge so sehr den überzeugenden Eindruck jener in ihrer Gewalt hat. Und doch [780] – das Dorf Vaux liegt in unmittelbarer Nähe unserer Vorposten. Der Aufenthalt war allerdings verdächtig. Wie kam sie von Nancy zurück nach Vaux, was hatte sie hier zu thun, wenn sie nicht den Zweck verfolgte, Nachrichten über die Stellung unserer Truppen zu sammeln? Hätten wir es hier wirklich mit einer raffinirten Gaunerin zu thun? Es wäre entsetzlich. Dann ist in Zukunft jedes Mitleid mit fremdem Elende eine Schwäche, ein Wagniß, ein Unrecht.

„Wohin wird die Dame gebracht?“ frug ich den Gensd’arm weiter.

„Nach Corny, zum Chef der Feld-Gensd’armerie, zum Oberst Kurt.“

Ich habe die Ehre, den genannten Officier zu kennen; wenn ein Gensd’armerie-Oberst liebenswürdig sein kann, so ist er es, dabei rechtwollend und verständig.

Ich ging nach Corny zurück und nahm meinen Weg nach der Wohnung des genannten Stabsofficiers. Der Bursche sagte mir beim Eintreten in die Wohnung, daß eine Dame zu dem Herrn Obersten gebracht worden sei. Ich konnte aus dem Nebenzimmer die Stimme des letzteren ganz deutlich vernehmen; die Thür stand etwas offen.

„Sie sind in Vaux im Garten des Herrn Curé von einem meiner Leute arretirt worden?“

„Ja! Warum, mein Herr? Was habe ich verbrochen? Der Herr Gensd’arm kam plötzlich auf mich zu, als ich mit dem Herrn Curé im Garten auf und nieder ging. Ist es ein Verbrechen mit einem so würdigen Manne spazieren zu gehen?“

„O bitte, gewiß nicht, Madame! Gehen Sie mit dem Herrn so viel als Sie wollen, wir treten Privatvergnügungen niemals hindernd in den Weg. – Aber sagen Sie mir, sind Sie nicht – bitte um Vergebung – ich muß nur eine Depesche einsehen, die mir zugegangen ist – richtig – hier ist das Datum – sind Sie nicht an diesem Tage, der hier verzeichnet steht, mit einem jungen Manne auf der Straße von Novéant nach Ars sur Moselle gegangen?“

„Gewiß, mein Herr. Ich ging mit dem jungen Manne zu Fuß nach Vaux, weil in Novéant der Zug einige Stunden sich aufhielt wegen einiger Granaten, die in den Bahnhof von Ars sur Moselle von St. Quentin eingeschlagen hatten, so sagte man wenigstens in Novéant. Ich wäre durch diesen Aufenthalt in die Nacht gekommen, und zu dieser Zeit in einem mir ganz fremden Hause einzutreffen, das ist für beide Theile nicht angenehm; also zog ich es vor, mit meinem Begleiter den Weg nach Vaux zu Fuß zu machen.“

„War Ihnen auf diesem Wege kein Officier zu Pferde begegnet?“

„Ich glaube, ja, mehrere sogar.“

„Haben Sie einen nicht besonders erkannt?“

„Ich sehe nicht nach den Officiren, mein Herr, am wenigsten nach den Feinden meines Vaterlandes.“

„Wenn man aber den Feinden seines Vaterlandes Dank schuldig ist -“

„Was meinen Sie damit, mein Herr?“

„Ein Herr, der Ihnen begegnete, hatte Sie bereits früher im Hauptquartier des Generals von *** gesehen, Sie auf der Landstraße wieder erkannt, und es gemeldet. Mit Recht, denn unter diesen Umständen mußte, da Sie nach Nanzig dirigirt worden waren, Ihr Wiedererscheinen in dieser Gegend, in dieser Begleitung doch sehr verdächtig vorkommen –“

„Mein Herr, kein Wort weiter – das ist eine Beleidigung.“

Es war ein zorniger, jäher Ausruf der Dame; dann war sie plötzlich still und fuhr nach einigen Secunden mit gedämpfter, schmerzbewegter Stimme fort:

„Verzeihen Sie meine augenblickliche Aufwallung. Ich habe einen Augenblick vergessen, daß Sie nur Ihre Pflicht erfüllen und als Frau eines Officiers weiß ich, was das heißen will. Ich kann mich immer noch nicht genug in mein Elend finden, das mich dulden und leiden heißt. Es kommt immer noch ein Ton herüber aus den Zeiten des Glückes und des Glanzes. Verzeihen Sie mir darum! Allerdings, jetzt sehe ich ein, die Verwickelungen, in die mich mein Schicksal bringt, sind solcher Art, daß sie jedem Andern unmöglich, zum wenigsten zweifelhaft erscheinen müssen; mir selbst kommt das Schwerste und das Wunderbarste als etwas Alltägliches vor, und ich bin sicher und gewärtig, daß es mich nicht verschonen wird. Aber ich wollte Ihnen doch erzählen, wie ich nach Vaux kam. Vom Hauptquartier war ich nach Nancy dirigirt worden, dort jedoch konnte ich keine Unterkunft finden, weder in einem Hôtel noch in einem Privathause; alle disponibeln Räume waren mit Einquartierung belegt. In meiner Rathlosigkeit wandte ich mich an den deutschen Präfecten, Herrn von B., ihm schilderte ich meine Noth, meine Verlegenheit; er rieth mir in einem Kloster bei den Nonnen von Sacré Coeur eine Zuflucht zu suchen. Das that ich auch; die Nonnen gaben mir Nachtquartier und am andern Morgen rieth mir die Oberin, der ich mich anvertraut hatte, nach Vaux zu ihrem Bruder zu gehen, der sei dort Geistlicher, habe eine Mutter und eine Schwester bei sich; der würde mich gern aufnehmen; dort sei ich auch in der Nähe der Vorposten und dort würden sich sicher auch Mittel und Wege finden, mich durch die preußischen Vorposten hindurchzubringen. O mein Herr, was brauchte ich mehr, als diesen Fingerzeig, diesen schwachen Hoffnungsschimmer, um mich sogleich auf den Weg zu machen! Als Begleiter gab man mir einen sechszehnjährigen Schüler aus einem Seminar in Nancy mit, der begleitete mich nach dem Dorfe. Die Schwester von Sacré Coeur hatte nicht unrichtig vorausgesagt; in dem Pfarrhause von Vaux fand ich die liebreichste Aufnahme, in dem Priester einen geistlichen Tröster, einen väterlichen Freund, in seiner Familie Hülfe, Antheil und Freundschaft. – Ich hätte dort so glücklich sein können, wenn nicht der eine Gedanke mich bewegte, nicht Tag und Nacht mich beschäftigt hätte, wie ich die Wachsamkeit der Preußen täuschen könne, um hindurch – hinüber zu meinem Volke, zu meinem Gatten zu gelangen. – Anstatt näher der Erfüllung meiner sehnsüchtigsten Hoffnung, bin ich Ihnen gegenüber jetzt derselben ferner als jemals. Die Kraft meiner Seele ist jetzt gebrochen – ich will nun nichts mehr versuchen, nur noch einen Wunsch, ein Sehnen, ein Gebet erfüllt mein Herz – für mein Kind, für meinen Gatten. Aber ich will Alles in die Hände Gottes legen, der wird wohl Erbarmen mit mir haben.“

Man war einigermaßen in Verlegenheit, was man mit der armen Frau anfangen sollte. So auffallend ihre Wanderung nach Vaux erschien, so einfach war sie durch ihre Angaben motivirt. Im Uebrigen hatte sie so gar nichts Abenteuerliches an sich; trugen ihr Ton, ihre Geberden so ganz das Gepräge einer anständigen Frau, daß das Auffallende, Verdachterregende nur der verzweifelten Situation zuzuschreiben war, in der sich die Unglückliche befand. Das war auch das Urtheil Derjenigen, die nach ihrer Stellung mit ihr zu verkehren hatten, und dieses Urtheil wurde bestätigt durch die Antwort auf die Erkundigungen, welche man in Nancy und in Vaux über sie eingezogen hatte und die von ihren Aussagen in Nichts abwichen. Was aber sollte mit der Stättelosen geschehen? Sie nach Vaux zurückzuschicken war nicht rathsam; denn über kurz oder lang würde sie doch einen Versuch gemacht haben, durch die Vorposten zu dringen, und dann hätte sich dieselbe Geschichte wiederholt.

Madame T. F. de C. hatte keine Eltern mehr, auch keine Blutsverwandten, nur in Lille lebte ein Onkel ihres Namens, und auf den Rath und die Vorstellungen der militärischen Behörde willigte sie ein, sich zu diesem zu begeben. Vorläufig hatte man sie bei der Frau eines der angesehensten Männer in Corny untergebracht. Oberst Kurt erhielt den Auftrag, sie nach Courcelles zu bringen, von da sollte sie nach Saarbrücken dirigirt werden und von dort durch Belgien Lille, das Ziel ihrer Reise, zu erreichen suchen. Als der Wagen auf der Höhe von Corny anlangte, von wo man einen Ueberblick über die Stadt und Festung Metz hat, brach sie in ein fast krampfhaftes Schluchzen aus. Da drüben in einer der Straßen der stattlichen Stadt lag ein Haus, in einem Zimmer desselben ihr Gatte mit brennenden Wunden, hülflos vielleicht und allein dem Tode entgegengehend, und sie muß hier Abschied nehmen von ihm, vielleicht auf ewig. Da nahte sich eine preußische Patrouille, die einen französischen Soldaten brachte. Oberst Kurt ließ halten und erkundigte sich bei derselben wo und auf welche Weise derselbe zum Gefangenen gemacht worden war; dann wandte er sich mit Fragen an den französischen Soldaten selbst.

„Sie sind Artillerist?“

„Ja, mein Colonel.“

„Von welchem Corps?“

„Von dem Gardecorps.“

„Kennen Sie Officiere von demselben?“

[781] „O gewiß, sehr viele!“

„Nennen Sie mir welche!“

„Ich kenne den General Bourbaki, den Commandeur des Gardecorps, den Divistonsgeneral B.“

„B., gut. Kennen Sie auch den Adjutanten des Generals, den Capitain T. F.?“

„O gewiß, mein Colonel! Ich habe ihn erst vor wenigen Tagen gesehen.

„Sie haben ihn gesehen?“ rief Madame T. F., die bisher athemlos dem Gespräche gelauscht hatte, in größter Erregung. „Er lebt! er lebt! O mein Gott! Sprechen Sie; wo haben Sie ihn gesehen? Sprechen Sie; Sie wissen nicht, welchen Trost, welches Glück Sie mir bringen. Möge Gott es Ihnen lohnen; ich bin seine Frau. Was wissen Sie von meinem Manne?“

„Ich sah ihn am Fenster des Lazareths mit einem Verband am rechten Arme.“

Vor der Kirche von St. Privat la Montagne.
Nach der Natur aufgenommen von Chr. Sell.

„Ganz recht,“ versetzte Madame T F. fast athemlos; „er hatte einen Schuß in die rechte Schulter, einen Streifschuß in die Hüfte, und ein Pferd wurde unter ihm erschossen. Aber er saß am Fenster, sagen Sie?“

„Und rauchte eine Cigarre, Madame!“

„Er rauchte eine Cigarre, haben Sie gehört, Colonel? und dachte vielleicht dabei an mich und Lilli. Ach, dann kann es ja nicht so schlimm sein; meinen Sie nicht, Colonel?“

„Das ist auch melne Ueberzeugung, Madame,“ entgegnete Oberst Kurt, „und es war mir eine große Freude, daß ich auf Ihre Reise Ihnen noch diesen Trost mitgeben konnte. Jetzt aber müssen wir eilen, um den Anschluß in Courcelles zu erreichen.“

„Nein, nein! Lassen Sie mich hier; ich werde mir einen Pfad suchen, ich werde eine Stelle finden, wo ich unbemerkt unsere Linien erreichen kann, und Gott wird den Kugeln der Ihrigen gebieten, daß sie mein Herz nicht treffen. Ueberlassen Sie mich

[782] hier meinem Schicksale; ich beschwöre Sie im Namen alles Dessen, was Ihnen heilig und theuer ist im Himmel und auf der Erde!“

„Sie erschweren mir meine Pflicht furchtbar, Madame; ich bitte Sie, thun Sie das nicht länger; ich werde meine Ordre erfüllen, Sie nach Courcelles bringen und dem dortigen Etappencommandanten zur weiteren Beförderung übergeben. Kutscher, fahren Sie weiter!“

So geschah es auch.

In Courcelles fanden sich für die arme Frau als Reisebegleiterinnen zwei Nonnen aus dem abgebrannten Kloster von Peltre, die ebenfalls nach Belgien gingen. Ihnen empfahl Oberst Kurt seine Schutzbefohlene, und unter heißen Dankesausbrüchen schied sie von ihm.

In dem Augenblicke, wo diese Zeilen ihren Abschluß erhalten, wird in dem Schlosse Frescaty vor Metz die Capitulation der Armee und der Festung unterzeichnet. Dieselbe öffnet auch dem Capitain T. F. die Thore der Festung, und hoffentlich wird es ihm gelingen, sich mit seiner Gattin zu vereinigen und in dem Glück der Liebe ihr den Lohn zu bieten für ein so erhebendes Beispiel der Treue und Aufopferung inmitten der Zersetzung und Zerrüttung ehelicher Verhältnisse, an denen Frankreich zu Grunde gegangen ist.




Aus eigener Kraft.

Von W. v. Hillern geb. Birch.
(Fortsetzung.)

Alfred hatte nicht weit von dem General und Feldheim gestanden und das Gespräch der Beiden gehört.

„Feldheim,“ sagte er vortretend, „wenn Du wirklich Garnisonsprediger in der Residenz werden sollst – werde ich Dich nimmer halten und nicht zum zweiten Male ein solches Opfer von Dir annehmen.“

„Ich bringe es dennoch!“ erwiderte Feldheim. „Ich lasse Dein Werk nicht im Stiche.“

„Nun,“ lächelte Alfred, „so bleibt mir nichts übrig, als Dich abzusetzen!“

Er wandte sich an den General: „Excellenz sind Zeuge, der Prediger Feldheim ist von Stund’ an seines Amtes entsetzt.“

Der General lachte und reichte den Beiden vom Pferde herab die Hände: „Wohl Jedem, der einen solchen Freund besitzt!“

Als er fortgeritten, schloß Alfred Feldheim in die Arme, er sah mit Begeisterung zu dem Freunde auf, seine ganze Seele strömte über in Liebe und Dankbarkeit für den großen Mann, den alle Welt bewunderte und an den Niemand ein Recht hatte, als er, der noch so wenig für ihn gethan.

In dem Augenblick erscholl ein Alarmsignal, die Vorposten waren auf den Feind gestoßen, und die Mannschaft, welche sich zum Abkochen gelagert hatte, fuhr empor wie ein aufgestörter Bienenschwarm. Der halb zum Munde geführte Bissen ward ungenossen weggeworfen. Die gefüllten Kessel wurden ausgeschüttet, die dampfende Suppe düngte den Boden und trockenen Gaumens – sie hatten seit zweiundvierzig Stunden nichts als Brod über die Lippen gebracht – trat die immer geduldige, immer leidensbereite Mannschaft an’s Gewehr, kaum einen flüchtigen Blick dem kostbaren Labsal nachwerfend, das dem erschöpften Leib Stärkung geben sollte und nun von der staubigen Erde eingeschluckt ward. Vorwärts ging es über die fleischduftenden Schollen hinweg mit Sturmschritt dem Feinde entgegen.

„Das wird ein heißer Tag, leb’ wohl!“ hatte Feldheim Alfred zugerufen und fort stürmte er mit seiner gehetzten Heerde.

„Was thun diese Alle – und wie wenig thue ich!“ dachte Alfred, als er mit der Ambulance der Truppe folgte. „Was würde Anna sagen, sähe sie den ‚Flickschneider‘ in sicherer Schußweite seine Bude aufschlagen; würde sie ihn nicht wieder verhöhnen um solcher Feigheit willen?“

Ein jähes Anhalten der Wagen schreckte ihn aus diesen bittern Gedanken empor. Die Feinde waren auf einander gestoßen, ein heftiger Kampf begann.

Alfred errichtete den Verbandplatz auf einer steilen Anhöhe, von wo aus er die Schlacht im Thale ohne Gefahr übersehen konnte. Die Träger standen mit ihren Bahren bereit. „Vorwärts,“ commandirte Alfred und da schritten sie hin, je zwei und zwei eine Bahre tragend, hinein in das heiße Schlachtgewühl und die kleinen Wagen, eigentlich Betten auf Rädern, folgten ihnen. Alfred sah zu seinem Schrecken, daß sie sich nach rechts wandten, denn dort waren bereits Johanniter und Sanitätspatrouillen, während der linke Flügel noch aller Hülfe zu entbehren schien. Er warf sich auf ein Pferd und ritt den Trägern nach. Der nächste Weg führte ihn über den Hügel, von wo aus der General mit seinem Stab die Schlacht leitete. Alfred’s Blick hing bewundernd an dem greisen Kriegsmann, der stramm und hoch zu Roß dasaß, als wäre er bereits seine eigene in Erz gegossene Statue. Nichts regte sich an der eisernen Gestalt als die Lippen, die seinen Adjutanten Befehle ertheilten. In dem Augenblick aber, da Alfred vorüberritt, streckte der General in hastiger Bewegung seinen Arm aus, nach einem entfernten Punkte deutend. „Dort ist Einer gefallen, um den’s schade ist!“ rief er. „Und dort gerade ist weder ein Sanitätssoldat noch ein Freiwilliger in der Nähe! Zum Teufel, wo bleiben die Schlafmützen? Sehen Sie nicht?“ rief er Alfred zu, „dort drüben, wo die Cavallerie anrückt, Feldheim ist gefallen!“

Er wandte den Kopf zu Alfred um – aber Alfred sprengte schon den Hügel hinab. „Feldheim – Feldheim gefallen!“ schrie er, und der Schmerz und die Angst machte ihn taub, daß er das Gebrüll der Schlacht nicht mehr hörte. Als seien mit dem Wort „Feldheim ist gefallen“ alle Bande zerrissen, die ihn gelähmt, so jagte er jetzt auf dem schäumenden Renner, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, über Hecken und Gräben weg, als wäre er eins mit dem leichtfüßigen Thier, und stieß ihm die Sporen in die Weiche, daß es dahinschnellte in beflügelter Angst vor dem furchtbaren Reiter, der so fest saß, als wären die sonst so machtlosen Schenkel plötzlich angeschmiedet. Einzelne Kugeln sausten an ihm vorbei – aber es war, als ständen sie still und er sause an ihnen vorüber. „Nur vorwärts,“ war sein einziges Gefühl – sein einziger Gedanke.

Kaum zehn Minuten hatte der tolle Ritt gedauert, als er bei der Abtheilung anlangte, in deren Mitte Feldheim gefallen. Der Kampf stand; keinen Zoll breit vor, keinen zurück war das Bataillon in den wenigen Minuten gerückt. Feldheim mußte noch auf demselben Flecke liege, wenn ihn Niemand aufgehoben. Ein heftiges Gewehrfeuer ward unterhalten, und von feindlicher Seite sah Alfred durch die Rauch- und Staubwolke ein Regiment Dragoner über den weiten Plan heransprengen. Es war die höchste Zeit! Er stieg vom Pferde. Die Hände, welche die Zügel gehalten, zitterten, der Schweiß troff ihm von der Stirn in die Augen, der ganze Körper bebte, das Blut kreiste ihm wild durch die Adern. Aber weiter, er mußte weiter. Er mußte! Und Schritt für Schritt drang er ein in die dichten Reihen. Jetzt schwirrten die Kugeln um ihn her wie ein Haufe schwärmender Mücken, die ihr Opfer suchen, und die athemlose Lunge sträubte sich, die verdickte Pulveratmosphäre einzuathmen, in welcher sich diese fürchterlichen tödtlichen Mücken erzeugten. Und jetzt war er plötzlich wieder sehend und hörend geworden, und da stand er inmitten des Schlachtgewühls, umringt von den tausend Gestalten, in denen hier die Vernichtung wüthete, allein, so furchtbar allein, zwischen diesen Tausenden, die sich durch Nichts stören ließen in dem gräßlichen Geschäft des Tödtens. Der schwache, hülflose Mann, er mußte zermalmt werden inmitten dieser kämpfenden Gewalten. Die Kraft verließ ihn, die Kniee brachen – er fühlte sich verloren, er gab sich auf, und nackte, zitternde Todesangst schüttelte ihn. Aber dort, noch zwanzig Schritte vor ihm, that sich eine Lücke auf, es waren drei nebeneinander gefallen, er konnte durch die traurige Bresche in die vordersten Reihen sehen. Da lag eine Gestalt im schwarzen Priesterrock am Boden, – nun hatte er sein Ziel vor Augen, nun gab es kein Zögern, kein Zweifeln mehr. Vorwärts!

Und weiter strebte er der offenen Stelle zu, durch die er am besten hinzugelangen hoffte, die sich jedoch wieder schloß, bevor er [783] sie erreichte. Es war ein furchtbarer Weg, dieser Weg, durch Lücken, die der Tod in die Reihen der Lebenden riß. Aber er schaute nicht rechts noch links, er mußte ja durch! Dann und wann regte sich’s unter seinen Füßen, er mußte über Leiber hinwegsteigen, die sich im Todeskampfe aufbäumten. Er hörte, wie vor und hinter und neben ihm die Kugeln mit dumpfem Geräusch in lebendiges Fleisch oder in die Erde einschlugen. Er fühlte, wie seine Schuhe feucht wurden von rothen Lachen, durch die er schritt. Es brauste ihm in den Ohren, es war ihm zu Muthe wie einem Ertrinkenden, dem die Fluth donnernd, erstickend in Ohren, Mund und Nase stürzt, und es war eine heiße Fluth – in der er hier unterzugehen fürchtete, heiß war der Brodem dieser enggeschlossenen, wuthentflammten Masse und heiß das schäumende Blut, das aus den Wunden spritzte, wie siedendes Wasser, wenn es sein Gefäß zersprengt. Heiß war der sonnendurchglühte Pulverdampf, der die goldenen Strahlen in seinem schwarzen Schooße über den Häuptern der Kämpfer ansammelte, und heiß waren die wuchtigen Leiber der Soldaten, die sich um Alfred zusammendrängten, wo der Kampf sich staute, und ihn zwischen sich einkeilten in fürchterlicher athemraubender Enge. Es war nicht mehr die Furcht vor den Kugeln, welche über ihm und um ihn her schwärmten – es war die Todesangst des Erstickens, des Zerquetschtwerdens, die ihn ergriff. Er wußte nicht, wie er weiter kam, oder wie weit er gekommen, – blindlings – nur noch einem dumpfen Instinct folgend, der ihm zuraunte, daß Feldheim verloren sei, wenn er nicht eile – schob und wand er sich vorwärts.

Schon hörte er nah und näher das Getrappel der Cavallerie, schon kam eine ganz neue Bewegung in die Mannschaft, die Carré bildete, um die Reiter mit dem Bajonnet zu empfangen, noch wenige Minuten und die Schlacht wälzte sich über den theuren Leib des Freundes hin! Weiter, immer weiter peitschte die Angst den Entkräfteten, es war, als zerre ihn eine unsichtbare Faust an den Haaren fort. Da stieß sein Fuß an etwas, fast wäre er in seiner Betäubung darüber weggeschritten – ein gellender Schrei entrang sich seinen Lippen, und er brach über der leblosen Gestalt Feldheim’s zusammen - er war am Ziele! –

Aber kaum eine Secunde übermannte ihn die Erschöpfung. Dann raffte er sich auf, das Schwerste blieb ja noch zu thun. Er mußte ihn fortschaffen, den starren, kolossalen Körper. Jeder Augenblick des Zauderns brachte den Tod. Wie ein einziges vielköpfiges Ungeheuer, so dicht geschlossen, so festgefügt, so gleich im Tact brauste das Dragonerregiment heran, daß die Erde unter ihm wankte und der Staub himmelhoch aufwirbelte. Ein wieherndes Kampfgeschrei scholl ihm entgegen, dem schönen, dem gewaltigen Feind, und wie ein Kornfeld, dessen Aehren sich vor der Sense des Schnitters plötzlich in Stahl verwandelt haben, starrten die Reihen der Bajonnete dem Feinde entgegen. Das gab ein starkes Mähen! „Fort – nur fort!“

Und Alfred faßte mit den schwachen Händen die Schultern des Freundes und versuchte ihn aufzuheben, zwei-, dreimal, die Zähne bissen die Lippen wund, die Füße stemmten sich fest in die blutgedüngten Schollen, die Adern schwollen, die Muskeln spannten sich an zum Zerreißen – vergebens, er brachte ihn nicht in die Höhe. Hoffnungslos ließ er die Arme sinken und schaute aus, ob kein Sanitätssoldat, kein Helfer in der Nähe sei. Umsonst, nichts zu sehen weit und breit als wild auf- und niederwogender Kampf. Es war nicht Zeit zu warten, nicht einmal, einen Nothverband anzulegen.

Nah und näher kam die Gefahr wie mit Sturmesfittigen daher. Verzweiflung faßte den machtlosen Mann und mit dem letzten Aufgebot aller Kräfte schleifte er den geliebten Körper auf der Erde hin sich nach, daß die Kleider in Fetzen rissen und das Blut stromweise aus einer klaffenden Halswunde floß. Jeder Stoß, der Feldheim traf, traf Alfred zehnfach, es war ihm, als schleife er sein eigenes Herz auf dem rauhen Boden hin, als würde ihm die eigne Brust zerschunden. Heiße thränenvolle Abbitte that er dem Besinnungslosen für die Mißhandlung, die er ihm doch nicht ersparen konnte, ihm, den er auf Händen getragen hätte, wenn er es vermocht. Aber da war ja keine Wahl; wie er ihn herausbrachte, war jetzt gleichgültig, wenn er ihn nur herausbrachte. Es war einer jener trostlosen Augenblicke, wo der Mensch noch auf Tod und Leben mit dem Schicksal um die Trümmer dessen ringt, was es ihm zerstörte. So schleppte, riß und zerrte er in gräßlich langsamer Flucht vor der anstürmenden Cavallerie den Freund auf demselben Schreckenswege fort, auf dem er sich zu ihm durchgearbeitet. Es war ein Gang nach Golgatha, wie kein schwererer gemacht werden konnte! Gehetzt von allen Schrecken der Kriegesfurie und doch kaum von der Stelle kommend mit der unbehülflichen Last, in zitternder Ungewißheit, ob der Verwundete nicht indessen den edlen Geist aushauchte! An sich dachte er nicht mehr, für sich fürchtete er nichts mehr – nur Feldheim galt seine Angst, nur dem schwachen Faden, an dem dies kostbare Leben hing, und der jetzt vielleicht bei dem rücksichtslosen Hinzerren über Wurzeln und Steine zerriß.

Wieder, immer wieder spähte Alfred’s scharfer Blick nach einem Johanniter, nach einem seiner Leute umher. Vergebens, sie waren Alle dort drüben beschäftigt, wo ein mörderischer Artilleriekampf ganze Reihen niederwarf.

„O, unser Prediger!“ wehklagten die Soldaten, wo Alfred Feldheim vorüberbrachte, und schwuren dem Feinde, der ihnen das gethan, Rache. Und während dessen war dieser bereits prasselnd auf die vorderen Reihen gestoßen, die Alfred kaum hinter sich hatte, und er hörte die Sensen klingend und klirrend um die eisernen Aehren schwingen, und hörte den dumpfen Schlag gestürzter Pferde, und wie eine ganze Wagenreihe durch eine anstoßende Locomotive nach rückwärts getrieben wird, so wichen die vorderen Reihen unter dem ersten übermächtigen Anprall zurück und Alfred ward von der plötzlichen Stauung zu Boden gerissen. „Euer Geistlicher – Ihr zertretet Feldheim!“ schrie er den rückwärts Schreitenden zu, und wieder wirkte das Ansehen Feldheim’s auch in der leblosen Gestalt; mit gewaltiger Anstrengung hemmten die Soldaten ihre Schritte, stemmten sich wie eine Mauer gegen die wankenden Vordermänner und brachten diese dadurch gleichfalls zum Stehen. Alfred ahnte nicht, daß dieser kleine Vorfall den Ausgang des Gefechts entschied. Noch wenige Minuten und der Angriff ward abgeschlagen, der Kampf zog sich weiter ins Feld hinein, nichts zurücklassend als seine Gefallenen, die weithin den Boden bedeckten. Jetzt hielt Alfred inne in seiner schrecklichen Flucht, die Gefahr war vorüber, er konnte nun Feldheim’s Zustand untersuchen. Fiebernd, athemlos kniete er nieder und hob den Oberkörper des Freundes zärtlich auf seinen Schooß. Feldheim war noch warm, aber der Puls nicht mehr zu fühlen. Alfred riß ihm den Rock auf, um die Wunde zu untersuchen; der Abendwind strich kühl über die entblößte herculische Brust, aber kein Hauch von innen hob und senkte sie mehr. Er wusch ihm die Schläfen mit Branntwein aus seiner Feldflasche, er träufelte ihm davon ein. Umsonst. Kalter Schweiß bedeckte Alfred’s Stirn und Hände, während er alle Mittel der Kunst zur Wiederbelebung anwandte, und alle vergebens. War es denn möglich, konnte denn wirklich so Gräßliches geschehen? Er hatte eine Leiche gerettet! Es war Alfred, als stürben ihm alle Glieder ab, so steif und schwer wurden sie. Er zog noch die Kugel aus der Wunde, aber das Blut hatte aufgehört zu fließen, Feldheim brauchte keinen Verband mehr – die große Seele war der Knechtschaft des Körpers entflohen. Alfred sank zurück. Das Maß des Möglichen war für ihn erschöpft. Nacht umschleierte seinen Blick, die Welt drehte sich im Kreise um ihn her. Vielleicht war es nur ein Traum, ein wüster entsetzlicher Traum, aus dem er noch erwachen konnte?! Er gab sich alle Mühe, zu erwachen, er wollte sich bewegen, wollte schreien – vergebens, seine Muskeln versagten ihm den Dienst, es war sicher, er träumte nur – er konnte ruhig weiter schlafen!

Das Bewußtsein hatte ihn verlassen, er lag in tiefer Ohnmacht. Als er wieder zur Besinnung kam, neigte sich der Tag zu Ende, das Kartätschenfeuer ward schwächer, und in der Ferne rollten Johanniterwagen mit Verwundeten beladen zum Lazareth. Er hatte geglaubt, es riefe Jemand seinen Namen, aber Niemand war bei ihm als der stumme Gefährte, den er gerettet – gerettet? O bitterer Hohn! Ringsumher war die Erde mit Todten bedeckt. Er konnte sich nicht erheben, der wuchtige Mann lag noch immer auf seinem Schooß, er war zu entkräftet, um sich der Bürde zu entledigen. Die Grundsäule seines ganzen Lebens war zusammengebrochen und hatte ihn unter sich begraben. Er weinte nicht, klagte nicht; was er in dieser Stunde erlebt, war zu ungeheuer, um zu weinen; stumpf glitt sein wirrer Blick über den leichenbesäeten Boden hin, nach dieser Stunde hatte die Erde keine Schrecken mehr für ihn. Er hob das Haupt des Freundes in die Höhe. Ein zufriedenes Lächeln lag auf des Todten Gesicht, es schien zu sagen: „Mir ist wohl!“

[784] Alfred küßte die bleiche Stirn, die kalten Lippen, die geschlossenen Augen. Ueber seinem Haupte rauschten die versengten Wipfel zerschossener Bäume im Abendwind, daß es ihm war, als höre er die tiefe melodische Stimme des Freundes zu ihm sprechen: „Führe durch, was ich gewollt, lebe in meinem Geiste, dann bin ich nicht gestorben, dann lebe ich fort in Dir.“ Und eine wundervolle Tröstung kam über ihn, als er das heilige Vermächtniß in seinem Busen empfing. Er fühlte es, er hatte den Freund beerbt, das Feuer, in dem Feldheim gefallen, hatte ihn zum Manne gehärtet.

Die Sonne ging unter, strahlend, blutroth. In der Ferne ertönten Hornsiguale, der Feind blies zum Rückzug. Der Schlachtlärm verstummte. Es war Feierabend – Feierabend, schöne heilige Stunde, wo der friedliche Bauer den Pflug ausspannt und von der Mühe des Tages ausruht auf der Schwelle seines Hauses, sein rosiges Kind auf dem Arm. Selbst der würgende Tod in der Schlacht ehrt diese Stunde und spannt den tausendzackigen Pflug aus, der nur über Menschenherzen geht.

Vom fernen Kirchthurm läutet es den Abendsegen, und vor dem frommen Klang, der wehmüthig mahnend über die blutgetränkten Felder zieht wie ein Klageruf des entweihten zerstörten Friedens, entfliehen die bösen Geister der Wuth und der Rache. Durch die müden Seelen der Soldaten zieht die Erinnerung an das heimische Dorf, wo unter dem Läuten der Abendglocke jetzt eben die Zurückgebliebenen ein banges Vaterunser für sie sprechen – und wie der perlende Schweiß der Stirn, so entquillt auch wohl dem Auge ein heißer Tropfen, eine verborgene Thräne des Heimwehs und der Sehnsucht nach dem Frieden.

Die Sonne ist unter. Das Heer bereitet sich zum Bivouac. Die Wachtfeuer lodern auf, erst gelb und matt abstechend von der röthlichen Dämmerung, mit der sinkenden Nacht aber immer heller leuchtend. Unzählige rührige Gestalten gleiten daran vorüber. Es ist ein Summen und Schwirren, ein Hin- und Wider- und Durcheinanderrennen, eine Geschäftigkeit auf dem weiten Plan, als könnten diese Massen nie zur Ruhe kommen. Endlich strecken sich die müden Soldaten auf der harten Erde aus. Die Feuer lodern leise knisternd zu dem gestirnten Firmament empor. Rieselnder Thau kühlt die fieberheißen Stirnen der Schläfer. Eine Grille singt in dem geknickten Korn das Klagelied um ihre zertretenen Gefährten. Wie Leuchtkäfer funkeln die ruhenden Waffen im Schimmer des Mondlichts und geheimnißvoll wundersam flüstert es in den Lüften – die Götter steigen zu den Helden hernieder.

(Fortsetzung folgt.)


Halt eines Gefangenentransports auf dem Marktplatz zu Remilly.
Nach der Natur aufgenommen von Chr. Sell.




Streifzüge eines Feldmalers.
Mit drei Abbildungen.

„Heute da und morgen dort, wie Einen der rauhe Kriegesbesen fegt und schüttelt von Ort zu Ort; bin indeß weit herumgewesen.“ So kann ich auch von mir sagen, indem ich Ihnen heute die neuesten drei Skizzen schicke, welche ich in den letzten Tagen der Ruhe ausgeführt und ausgearbeitet habe. Dieselben sind, wie Sie sehen, an verschiedenen Orten und zu verschiedenen [785] Zeiten entstanden. Das eine der Bilder rührt aus den Tagen nach Sedan, die andern beiden verdanken ihre Entstehung den Tagen von Metz, die nun auch, Gott sei Dank, ihr Ende gefunden haben.

Zu der erstgenannten Illustration fand ich das Motiv auf dem Marktplatz von Remilly, einem Dorfe in der Nähe von Sedan (s. S. 784), wo ich mit einem französischen Gefangenentransport zusammentraf, der sich noch einmal einige Stunden Ruhe gönnte, bevor er die Fahrt nach Deutschland antrat, wohin der Kaiser, gleichfalls gefangen, bereits vorausgeeilt war. Die escortirende Mannschaft bestand aus Landwehr-Infanterie und Landwehr-Cavallerie, Kürassiere, aber ohne die beschwerlichen Kürasse. Die Gefangenen sahen über alle Begriffe abgerissen und heruntergekommen aus, Viele liefen auf bloßen Füßen; das Wenige, was ihnen von den Einwohnern des kleinen Dorfes gereicht wurde, nahmen sie mit Begier an. Sie hatten offenbar seit Tagen keine ausreichende Nahrung mehr gefunden, und Viele von ihnen mochten die Gefangenschaft, so schmerzlich sie auch an sich war, doch als das willkommene Ende eines unerträglich gewordenen Zustandes ansehen.

Von Sedan aus zog ich wieder südwärts auf Metz zu, wo inzwischen die Armee Bazaine’s von den Bajonneten des deutschen Heeres umschlossen und umgittert lag. Ich wollte zunächst nach Marly, einem kleinen Dorfe südlich von Metz und zwischen diesem und dem Hauptquartier des Prinzen Friedrich Karl, Corny, gelegen. Schon meine letzte Zeichnung „Wache im Dorfe Marly“ hat Ihnen Anlaß gegeben, davon zu reden.

Officiers-Quartier im Schlosse Montbel in Marly bei Metz.
Nach der Natur aufgenommen von Chr. Sell.

Auf dem Wege dorthin kam ich über St. Privat la Montagne, ein in der Schlacht von Gravelotte vielgenanntes Dorf. Es ist damals total zusammengeschossen worden, von der preußischen und der sächsischen Artillerie. Was stehen geblieben war, ward von den Flammen eingeäschert. Noch sah ich die Spuren dieses grausamen Geschickes, dem das arme Dorf zum Opfer gefallen war. Der Thurm der Kirche war in sich zusammengestürzt und hatte die Glocken in seinem Sturze begraben. Der Kirchhof, der sich um die Kirche rundum zog, der Todten Ruheplatz, war von Granaten durchwühlt, die Leichensteine abgebrochen und zerschossen, die Kreuze verkohlt, die Bäume, welche rings den Platz umfriedet hatten, hingeschmettert und angebrannt. Das Thor der Kirche war verschwunden; vielleicht hatten es die Geschosse zertrümmert, vielleicht auch war es am Abend nach dem blutigen Kampfe beim nächsten Bivouac in Stücke gespalten und in das Feuer geschoben worden. Nun sah man durch die zertrümmerte Kirchhofsmauer und durch die Thorwölbung in’s Innere der Kirche, das unheilig genug aussah. Der Kronleuchter war zerschmettert, die ewige Lampe verlöscht, Balken, Steine, Ruinen bedeckten rings den Boden, und da das Kirchendach in Brand geschossen worden war, so sah des Himmels Blau auf alle die Gräuel und Schrecken, welche hier von nackten Kirchenwänden eingeschlossen wurden, ungehemmt herab. Die Treppe zur Kirchenthür aber war merkwürdiger Weise ganz wohl erhalten; auf ihr und um sie saßen und standen unsere tapferen Soldaten, ernst und ruhig. Die Einen bereiteten und verzehrten ihr einfaches Mittagsmahl, die Andern setzten ihre Waffen in Stand zu neuem Kampfe, wenn ihn der Feind wagen sollte (s. S. 781).

Man hatte in der That damals alle Ursache, auf seiner Hut zu sein; Bazaine hoffte in jenen Tagen noch ernstlich, durchzubrechen, und [786] so gehörte es denn keineswegs zu den behaglichsten Situationen, hier Tag und Nacht auf der Lauer zu liegen und jede verdächtige Bewegung des eingeschlossenen Feindes, der die belagernde Armee überdies beständig in Athem zu halten suchte, zu beobachten. Ich erfuhr das bei meinem ersten Nachtquartier auf Schloß Montbel in Marly, welches den Gegenstand meiner dritten Darstellung bildet (s. S. 785). Das genannte Schloß gehört einem Grafen oder Baron von Montbel. Wie man aus den zerstreut umherliegenden Briefen ersehen konnte, hatte derselbe es erst Ende August schleunigst verlassen. Das dargestellte Zimmer war unser Nachtlager. Die erste Nacht, welche ich hier zubrachte, war, ich will es gern gestehen, etwas unheimlich für mich. Denn eben hatten wir eine treffliche Glühweinbowle geleert und standen im Begriffe unser Lager aufzusuchen, als mein Freund, Hauptmann R., den Befehl gab, daß Jeder seine Sachen neben sich zu legen und seine Waffen umzuschnallen habe, damit, wenn die Franzosen ausfallen sollten, Alles zur Stelle sei. Die Thüren mußten geöffnet bleiben, und vor dem Haupteingange blieb ein Meldeposten aufgestellt. Auf meine Bemerkung: „Sieht es hier so aus?“ erwiderte mein Freund: „Ja, gestern haben wir Metz beschossen und heute werden sich die Franzosen möglicherweise dafür revanchiren; wir müssen also jeden Augenblick bereit zum Abmarsch sein.“ Der Hauptmann machte noch seine Nachttoilette, indem er verschiedene Leibbinden sich um Kopf und Hals band, und ermüdet streckten wir Alle uns nunmehr auf das bereitgehaltene Strohlager. Als Decken benützten einige Herren außer unseren Mänteln noch mehrere Damengarderoben, welche sich in den von uns benutzten Zimmern vorfanden. Alle schliefen auch sofort ein, nur ich konnte den so nöthigen Schlaf lange nicht finden, mir gingen die aufregendsten Gedanken durch den Kopf.

Nach und nach duselte auch ich ein, und als ich Morgens zwischen drei und vier Uhr wach wurde, bemerkte mein Freund, daß wir jetzt noch einmal so ruhig unsern Schlaf fortsetzen könnten, denn jetzt würden die Franzosen nichts mehr untermehmen. Doch kaum waren wir fest eingeschlafen, als der Posten uns weckte und meldete, daß nach der Feldwache Nr. 3 zu stark geschossen würde! Seine Meldung wurde durch vielfaches „Paff, Paff!“ unterstützt. Wir sprangen auf und gingen zur Dorfwache, wo gerade die Meldung anlangte, daß die gegenseitigen Patrouillen aufeinander gestoßen seien und etwas heftiger, als sonst, auf sich schössen. Das Geknatter hörte bald auf, wir suchten schleunigst unser Lager wieder, denn es war sehr kalt und nebelig, der Tag dämmerte kaum und es war eine unheimliche Stimmung. Als wir eben wieder lagen, ging das Geknatter nochmals los, jedoch viel näher; dasselbe verstummte aber auch diesmal bald wieder, und als auch keine weitere Meldung kam, schliefen wir, namentlich ich, fest ein, und wurden erst durch die Burschen, welche uns schon einen ausgezeichneten Kaffee bereitet hatten, geweckt. Derselbe schmeckte uns aus den reich verzierten Tassen und Pokalen des Herrn von Montbel vortrefflich. Dies war die erste Nacht, welche ich so nahe, kaum achthundert Schritt, am Feinde verlebte. Die folgende Nacht schlief ich schon weit besser, obwohl wir wieder in derselben Weise gestört wurden, ich hatte mich aber an diese Neckereien des Feindes rasch genug gewöhnt und diese Gewöhnung kam mir später noch in mancher unruhigen Nacht vortrefflich zu statten.

Chr. Sell.




Deutsche Treue im Elsaß.
Von August Becker.

Seit den Pariser Friedensschlüssen, welche Deutschland um den Lohn seiner blutigen Anstrengungen gebracht, erregte bis in die jüngsten Tage herein kein geographischer Name uns Deutschen so schmerzliche Gefühle, als der des schönen Landes zwischen Rhein und Vogesen, welches unsere deutschen Heere siegreich nunmehr wieder zurückerobert haben, und jener der stolzen Stadt, welche einst als der Schlüssel des deutschen Reiches galt und die erst seit wenigen Wochen wieder der Obhut deutscher Tapferkeit zurückgegeben ist. Unvergessen ist es geblieben, daß das Elsaß Deutschlands schönstes Reichsland war, daß Straßburgs Münsterthurm des Reiches Sturmbanner trug, und daß das Volk daselbst auch immer treu und fest zum Reiche gestanden hat.

Schon frühzeitig lag aber die anwachsende Macht des großen Nachbarstaates wie ein Alp auf dem Lande am linken Oberrhein. Zwar im vierzehnten Jahrhundert, während Frankreich unter den englischen Bedrückern litt, wagten sich nur einzelne räuberische Haufen über das Gebirg, um mit blutigen Köpfen wieder zurückgeschickt zu werden. Sobald sich jedoch Frankreich der Engländer entledigt hatte, fing es auch an seine Annexionspläne bis an den Rhein zu erstrecken. Mit jenem heuchlerischen und gewissenlosen Ludwig dem Eilften, dem Frankreich seine Einheit dankt, und den uns Walter Scott im Quentin Durward so treffend schildert, beginnen die französischen Uebergriffe. Schon als Dauphin sprach er seine Gier nach den schönen Rheinlanden unverhohlen aus, da er mit den Banden der Armagnacs, den sogenannten „armen Gecken“, mordend und brennend über die Vogesenpässe herunter in’s reiche Elsaß fiel, um gegen die Schweizer zu marschiren und jene Schlacht von St. Jacob zu schlagen, wo ihn der unterliegende Heldenmuth des helvetischen Volkes zum Rückzuge zwang.

Er selbst sprach es damals in einem noch vorhandenen Manifeste geradezu aus, daß die natürliche Grenze Frankreichs der Rhein sei, und er sei gekommen, das, was im Laufe der Zeiten verloren gegangen, wieder an sich zu bringen. Aber das elsässische Volk, obwohl ganz auf sich selbst angewiesen, erhob sich muthig gegen seine Dränger und trieb sie mit Karst und Flegel über die Vogesen zurück. Der Unmuth des Volkes kehrte sich deshalb in Liedern und Sprüchen vor Allem gegen die damaligen Reichsfürsten, die dem Unrecht nicht gewehrt hatten:

„Das sind die Kurfürsten von dem Rhein,
Die wirken wenig nach Ehren.
Sie lugen durch die Finger gar
Und lassen das römisch Reich untergahn,
Deß sollten sie nun wehren.“

Aber auch dem Dauphin und seinem Vater ruft der elsässische Dichter zu:

„Delphin, was hast Du gedacht,
Daß Du die Mörder her hast ’bracht?
Schäm’ Dich, Du edles Blut!

Bist Du ein König von Frankreich? ..
Du thust einem König gar ungleich! ..
Es steht einem König gar übel an,
Daß er läßt morden Weib und Mann.
Dein Lob hört man nicht mehren.“

Am heftigsten wenden sich jedoch diese „Cantilen von den armen Gecken“ gegen den Kaiser selbst, der die Franzosen gegen die Schweizer zu Hülfe gerufen hatte:

„Bist Du ein König von Oesterreich,
Des römischen Reichs ein Herre?
Du solltest mehren das römisch’ Reich,
Nun willst Du es zerstören.
Du hast die Mörder hergeladen
Allen Städten auf ihren Schaden,
Schäm’ Dich der großen Unehren! ...

Und nun ruft der schneidige Sänger den Städten zu:

„Daran gedenkt ihr Städte gemein,
Die zu dem Reich gehören!
Kommt deß überein,
Wie ihr das Uebel woll’t zerstören.
Ihr sollt ihrer keinen leben lan,
So mag das Land in Frieden stahn!
Ihr könn’t euch wohl noch wehren.“

Doch genug der derben Reime, welche von der Entrüstung und dem vaterländischen Ehrgefühl des elsässischen Volkes vor vierhundert Jahren Zeugniß geben. Aber nach diesen Versen handelte man auch, wie mein demnächst in Leipzig bei Günther erscheinender Roman „Thurmkätherlein“, eine elsässische Geschichte, darthun wird, und deutsche Fäuste, Schwerter und Spieße waren für die Franzosen noch gründlich gefürchtete Dinge. Unter dem gewissenlosen König Ludwig dem Eilften und seinen Nachfolgern blieb man in den Landen am Oberrhein gut deutsch. Die Zusammengehörigkeit mit dem Reiche gebar patriotischen Stolz, und die nämliche Stimmung, welche heute Fürst und Volk erfüllt, war damals schon, vor vierhundert Jahren, auch im Elsasse lebendig. Das Wort Nation wurde damals und später, wie auch Hutten’s patriotische Lieder zeigen, vorzugsweise von dem deutschen Volke gebraucht, und dieses war von einem kriegerischen Stolze erfüllt, von dem man einige Jahrhunderte später keine Ahnung mehr hatte. Erst als die Macht des Reichs mit den Reformationsstreitigkeiten durch innere Kriege lahm gelegt ward, [787] wagte es wieder ein französischer König als Bundesgenosse des Kurfürsten Moritz gegen den Kaiser und als „Schirmer der deutschen Freiheit“ die lothringischen Städte und Bisthümer an sich zu reißen. Auch vor Straßburg rückte der welsche Fuchs; die Bürger aber zeigten ihm die Kanonenschlünde und Musketenläufe von ihren Wällen und scheuchten den Feind mit wohlgezielten Schüssen hinter die Vogesen zurück. Die protestantischen Fürsten aber dachten leider keineswegs mehr daran, dem Kaiser und Reich die lothringischen Reichsstädte zurückzuerobern.

Die beste Gelegenheit für die lauernde Politik Frankreichs, sich am Oberrhein festzusetzen, bot der unselige dreißigjährige Krieg. Zwar im Felde konnten auch damals die Franzosen deutschen Truppen nirgends Stand halten und wurden allüberall in längst vergessenen Schlachten auf’s Haupt geschlagen. Dennoch wußte sich welsche List immer fester im Elsaß einzunisten, und der westphälische Friede überlieferte ihnen das Land großentheils, trotz des Unwillens aller Vaterlandsfreunde. Sang doch der treffliche Oschatz schon 1646:

„Nun ist es Zeit zu wachen,
Eh’ Deutschlands Freiheit stirbt
Und in dem weiten Rachen
Des Krokodils verdirbt.
Herbei, daß man die Kröten,
Die unsern Rhein betreten,
Mit aller Macht zurücke
Zur Son (Saone) und Seine schicke.

Wollt ihr euch unterwinden,
Zu thun, was euch gebührt,
Ein Herman wird sich finden,
Der euch zum Siege führt.
Laßt euch verstellten Frieden
Zum Schlagen nicht ermüden!
Mit Wachen und mit Wagen
Muß man die Ruh’ erjagen!“

Man weiß, wie von da an Frankreich mit Gewalt und List sich in Besitz des ganzen Elsasses, wie überhaupt des linken Rheinufers zu setzen suchte. Der fürchterliche lange Krieg hatte die Reichskraft für Jahrhunderte hinaus gebrochen. Der früher so mächtige Kurfürst von der Pfalz konnte dem Verwüster Türenne, dem Vorgänger der Melac und Monclar, kein Heer entgegenstellen, und sein Schmerz mußte sich darauf beschränken, den Franzosen zum Zweikampfe herauszufordern und durch die Verheirathung seiner Tochter an einen französischen Prinzen, jener edeln Elisabeth Charlotte, die sich selbst als Opfer der Politik ansah, den gefährlichen Nachbar milder zu stimmen. Die Großen des Reichs sahen ungerührt zu, wie Deutschlands schöne Grenzmarken systematisch zur Wüste gemacht wurden, und äfften noch Ludwig dem Vierzehnten nach, so daß schon Moscherosch singen konnte:

A la mode bringt uns noch
Unter ein fremd’ Reich und Joch!“

Das war die Zeit, wo französisches Geld den Verrath an Deutschland nährte und die Elsässer für ihre Anhänglichkeit an das Reich noch unendlich mehr litten, als in unseren Tagen etwa die Schleswig-Holsteiner erduldet haben.

„Elsaß, ach! das edle Land
Seelzagt zwischen Raub und Brand!“

klagt der ehrliche Han in seiner Darstellung des „seelzagenden, edeln, nun fast öden Elsasses“, während das verzweifelnde Volk sich gegen die französischen Mordbrenner erhob und einzelne Bandenführer, wie unter Anderen den entsetzlichen La Brosse, erschlug, stets in der Hoffnung auf endliche Hülfe durch Deutschland. Singt doch der vorhin genannte Han:

„Gott wird den gerechten Waffen
Endlich Fried’ und Ruhe schaffen,
Der Tyrannen Hochmuth strafen,
Einst im Grimm dahin sie raffen,
Oder plötzlich legen schlafen.
Hie! Gott und des Kaisers Waffen!“

Der ehrliche Mann sucht sich in der damaligen Noth und Verwüstung noch damit zu trösten, „daß die Feinde so grausam nur deshalb verfahren, weil sie das Laud doch nicht auf die Länge behaupten könnten, sondern es Kaiser und Reich wieder überlassen müßten.“

Vergeblicher Trost des armen gehetzten Volkes! Wer etwas tiefer in die Geschichtsacten nach dem dreißigjährigen Kriege geschaut, ist schmerzlich berührt davon, wie schmählich das Elsaß von Deutschland verlassen ward. Es krümmte und bäumte sich unter den Geierskrallen des mächtigen Feindes; sein geängstigtes Volk stand todesmuthig auf, die Dränger zu erschlagen; Landschaft und Städtebund ließen laute Nothschreie in’s Reich erklingen, klammerten sich an jeden Strohhalm an, der noch die Verbindung mit Deutschland vermittelte. Vergeblich. Es war die Zeit von Deutschlands tiefster Erniedrigung. Die durch des „großen Ludwig“ Einfluß entnervten Fürsten überwiesen feig die Reichsstädte des Elsasses dem Erzfeinde, stießen sie ihm gleichsam in die Hände, bis sie sich, an Allem verzweifelnd, ohne Hülfe und Beistand, dem Dränger endlich ergeben mußten. Durfte doch Ludwig der Vierzehnte mitten im Frieden Straßburg, eine der wichtigsten Städte des Reichs, ungestraft wegnehmen. In banger Ahnung dieses Schlusses der Dinge aber gingen durch das Land die warnenden Verse:

„Wann’s Colmar, Landau, Weißenburg übel geht,
So seh’ zu, Hagenau, wie es um dich steht.
O Rath zu Straßburg, siehe zu,
Und hüt’ dich, mach dein’ Thür’ wohl zu.
O römisch Reich! Sieh’ wohl für dich,
Damit der Bund nicht von dir wich.“

Wollen wir uns heute daran und an alle die Leiden erinnern, welche das Elsaß für Deutschland erduldet; wollen wir nicht vergessen, daß es sich erst von uns verlassen ergab, daß es Deutschlands eigene Schuld ist, wenn die Elsässer uns im Laufe der Zeiten auch in ihren politischen Sympathien verloren gegangen sind.

Und trotzdem, noch lange, nachdem das Elsaß eine französische Provinz geworden, blieb es in Sitte und Gesinnung ein deutsches Land. Nicht umsonst hatten da gewirkt Mönch Otfried, Gottfried von Straßburg, Tauler, Geyler von Kaisersberg, Sebastian Brandt, Murner, Fischart und hundert Andere in Kunst und Wissenschaft. War es auch dem Reichsfeind geopfert, so blieb es doch eines der Mutter- und Pflegeländer des deutschen Volksgesanges, und unser größter Dichter bildete bekanntlich am elsässischen Volksliede zuerst sein lyrisches Genie. Klingt doch auch heute noch, nachdem uns das Elsaß mit der großen französischen Revolution erst völlig verloren gegangen war, in hundert Variationen durch das deutsche Volksgemüth:

„O Straßburg, o Straßburg,
Du wunderschöne Stadt!“

Erst die große Revolution entfremdete uns die Elsässer politisch. Zwar regte sich auch noch während der Schreckenszeit der Föderalismus zumeist im Elsasse und mußte durch Kerkerluft und Blut erstickt werden. Die gemeinschaftlichen Siege der republikanischen Periode und des ersten Kaiserreichs jedoch haben die Elsässer fest an Frankreich gekettet. Ihrem Stolze schmeichelte es, redlich zu jenen Siegen beigetragen zu haben. Denn gerade aus dem Elsasse kamen der Republik und dem ersten Napoleon die tapfersten Generale und kamen bis heute noch der französischen Armee die besten Soldaten. Der kriegerische Sinn der Alemannen verleugnete sich auch in der fremden Uniform nicht.

Hat die große Revolution die Elsässer erst politisch zu guten Franzosen gemacht, wozu sie im Hinblick auf die deutsche Zerrissenheit leider sich nur bestärkt fühlen konnten, so ist denn auch besonders seit 1848 unter dem zweiten Kaiserreich französisches Wesen in Sitte und Sprache zum Durchbruch gekommen. In den größeren Städten wird von den Gebildeten das Elsässer Deutsch von oben herunter als Dialekt angesehen, den man dem gewerbetreibenden Volke überläßt und nur noch mit den Dienstboten spricht.

Dennoch hat sich immer noch viel deutscher Sinn, besonders auf dem Lande, bewahrt. Heute wie früher betet und flucht der Elsässer deutsch, wenn auch in Schule und Kirche lange Zeit nur französisch gelehrt und gepredigt worden war. Das Alemannische des obern Landes und das Rheinfränkisch-Pfälzische um Weißenburg ist ihm „Muettersprooch“ geblieben. Wenn er sich auch gern an den „Dütschen“ rieb, deren politische Zerrissenheit ihm vor Augen lag und die er bald Gelbfüßler, bald Schwaben nannte, so sah er doch verachtungsvoller herunter auf den „Wälschen“ hinter den Vogesen, den er sich durchaus nicht ebenbürtig denken wollte. Dem deutschen Einflusse ist es zuzuschreiben, daß im Elsasse bessere Schulen sind als sonst in Frankreich, und der verwälschte Lothringer gilt dem intelligenteren Oberrheiner als „dummer Tuifel“. Der Kinderspott kennt aber heute noch den Zuruf: „Wälscher Hannikel, Gukummersalat etc.“

Auch im Aeußern, im Charakter der Häuser und Straßen, sind sowohl die Dörfer als Städte noch deutsch. Seltsam berührte [788] uns aber, als wir vor Jahren durch die Straßen Straßburgs gingen, die nun von den festen Schritten der deutschen Landwehr wiederhallen, die Tricolore an den öffentlichen Gebäuden und die munteren Rothhosen, die unbekümmert um unsre Stimmung mit den Händen in den Taschen und den Pfeifenstummeln zwischen den Lippen dahin „wiesselten“, indem sie sich völlig heimisch geberdeten in der Stadt Erwin’s von Steinbach und in der des Mönchs Otfried, der unserer deutschen Sprache gleichsam erst ihre literarische Tiefe gegeben.

Wenn sich auch der Elsässer politisch für den besten Franzosen hielt, lebt und webt doch überall im Lande noch deutsche Sage und Sitte. Wie sehr dies der Fall ist, hat uns August Stöber in seinem elsässischen Sagenbuch, in der Alsatia und anderen Schriften bewiesen. Man darf nur flüchtig das Land durchstreifen, um durch malerische Volkstrachten überrascht zu werden, welche einzelne Gegenden sich noch bewahrt haben. Die reizenden Kochersbergerinnen, die Bäuerinnen von Seebach und die rothröckigen Mädchen bei Schlettstadt schaffen der milden, fruchtreichen Landschaft vor den Vogesen allenthalben die schönste Staffage. Und nun das Land selbst – ein Garten in der Ebene, ein vierundzwanzig Meilen langer Weinberg am Gebirgshange!

Das Elsaß ist eines der schönsten und fruchtreichsten Länder. Besonders vom Odiliensberge an aufwärts bis Mülhausen ein paradiesisches Frucht- und Weinland mit stattlichen Berghöhen voller Wälder und mit prächtigen Thälern, reich an Industrie und Verkehr. Wie eine Perlenreihe schließen sich im Weingürtel der Vogesen Städte und stadtähnliche Dörfer an einander. Fast jedes Städtchen hat sein altes Münster, jedes Thal seine schönen Klosterreste, fast jeder Berg seine Burgruine, zumeist höchst sehenswerthe, architektonisch schöne Zeugen einer culturreichen Vergangenheit. Selbst der Eisenbahnreisende, der bei Schlettstadt und Colmar sich dem Fuße der Vogesen nähert, wird mit Ueberraschung die Pracht eines Landes gewahr, von dessen Naturschönheiten die Welt noch nicht besonders viel gehört hat, obgleich die Vogesen den Schwarzwald darin noch überbieten. Und gerade bei den genannten Städten, die in der reichen Ebene vor den Eingängen der schönsten Thäler liegen und als Hauptstapelplätze des Weinsegens gelten können – bei Schlettstadt und Colmar verewigt sich gleichsam die Herrlichkeit des Landes zu einem großen Bilde. Dort entstand auch der Spruch vom Wahrzeichen des Elsasses:

„Drei Schlösser auf einem Berg,
Drei Kirchen auf einem Kirchhof,
Drei Städt’ in einem Thal:
So ist das Elsaß überall.“

Und dem schärfern Beobachter wird alsbald auffallen, daß die Elsässer sich in Sitten und Gebräuchen deutsches Wesen da und dort treuer bewahrt haben, als so viele andere Stämme des alten Reichs; daß die Trachten noch immer so schön und ansprechend sind, wie irgendwo; daß es beim Erntetag und Feierabend, bei der Weinlese und Kirchweih klingt und singt in echt deutschen Liedern und Weisen; ja daß durch die Spinnstuben noch überall die Schatten der germanischen Götterwelt schauern und die ahnungsvollen Reden laut werden von der entscheidenden Weltschlacht auf elsässischem Boden, wo die Pferde bis an die Knöchel im Blute waten und der Herrscher von Frankreich von dem Könige der Deutschen geschlagen werden wird. Wo aber in solcher Weise noch deutsches Wesen wurzelt, läßt sich der französische Firniß leicht von der Oberfläche lösen, und er wird um so rascher entfernt werden können, je mehr das alte Vaterland den wiedergewonnenen Kindern Liebe und Ehre zurückbringt. Und statt halb verstohlen und halb verschollen, wie der Straßburger Dichter Karl Bernhard im Bivouac der algerischen Sahara, kann der Elsasser laut über den Rhein in’s große Vaterland hinein singen:

„Miin Muedersprooch isch lieb mir, werth,
I kann’s halt nit verhehle,
und wenn au Mancher drum sich scheert,
Wer wird sich dorum quäle!
Merr redde ditsch! d’ Kindskinder noch,
In viele hundert Johre,
Redde mit Freud’ ihr’ Muedersprooch,
Nein, nie geht die verlore!“




Aus dem Lager unserer Heere.
Von Otto von Corvin.
Siebenter Brief. Meine ersten Tage in Versailles.

Mein heutiger Brief wird in seiner ersten Hälfte nicht viel mehr enthalten, als eine Reisebeschreibung; allein die Reise ging durch Feindes Land und auf einer Straße, welche der Kriegsbesen rauh genug gefegt hat, und wenn ich dabei meine Erlebnisse erzähle, so geschieht das nicht, weil ich mir einbilde, daß die lieben Leser A- bis Zmeyer sich für meine Person interessiren, sondern einfach, weil eine persönliche Erzählung lebhafter ist und weil das, was ich erlebe, ungefähr ebenso von anderen Leuten erlebt wird, welche dieselbe Straße gehen, und weil – endlich die Erzählung des Erlebten die beste Schilderung der Zustände ist.

Jeden Tag geht jetzt, schon früh am Morgen, ein Personenzug von Saarbrücken nach Remilly, der ziemlich schnell fährt. Diesen benützte ich, um von Remilly nach Pont à Mousson zu fahren, von wo ich mich nach kurzem Aufenthalt in Jouy nach Nancy begab. Nancy ist eine sehr schöne Stadt. Wer indessen behauptet, daß es eine deutsche Stadt sei, der irrt sich, trotz des deutschen Namens Nanzig. Die Stadt ist fast französischer als Paris. Schon früh am Abend waren die breiten Straßen wie ausgestorben, nur im Cafe Stanislas fand man es gedrängt voll von Officieren aller Grade.

Am nächsten Tage passirten wir Toul und Vitry und kamen spät Abends in der Champagnerstadt Epernay an, wo es mir mit Mühe gelang, mir einen Platz in einem Gasthofe zu sichern. Nach mir Kommende wurden abgewiesen. In dem großen, dunkeln Speisesaal fand ich zwei Herren in glänzender Uniform, die ich für baierische hohe Officiere hielt, und denen ich mich gebührend vorstellte. Dasselbe thaten später preußische Capitains, was die betreßten Herren veranlaßte, sich als baierische Eisenbahnconducteure zu erkennen zu geben.

In Chateau Thierry fand ich am folgenden Tage einen jungen Arzt aus Berlin, der als Delegirter des dortigen Centralvereins mit drei Wagen nach Versailles ging und dort in drei Tagen anzukommen hoffte. Ich schloß mich ihm an, und trotz der ermüdenden Langsamkeit, mit welcher die Fahrt vor sich ging, erreichten wir doch am nächsten Abend noch Villeneuve le Roi, welches ein Stündchen jenseits der Seine liegt. Es war Nacht, als wir in dem jämmerlichen Neste ankamen, welches wohl nur bei dem Regenwetter und tiefem Schmutz so elend erschien, denn es waren darin sehr große und schöne herrschaftliche Besitzungen, die bei gutem Wetter und im Sommer reizend sein mußten. Durch den tiefen Schmutz gingen wir zum Etappencommando, wo ein gefälliger Gefreiter für unsern Wagen uns einen Platz in einem ungeheuren Gehöfte anwies, wo man bis über die Knöchel im Lehm versank. Quartier für uns war nirgends zu finden, denn in dem Orte lagen der Stab des dritten Armeecorps und einige Tausend Mann, die es sich in den verlassenen Häusern so bequem gemacht hatten, wie es nur anging. Der Doctor fand endlich ein Unterkommen mit siebenzehn Soldaten in einem Zimmer ebener Erde, wo im Kamin ein Feuer brannte. Mir bot ein Unterofficier in einer elenden Küche einen Platz auf einer Matratze neben sich an, weil sein Camerad auf Wache sei.

Im Nebenzimmer lagen sechs Schlesier in einer Reihe; prächtige Jungen, die sehr guter Laune waren. Ehe wir noch unser Lager suchten, hielten vor unserer Thür sechs oder acht städtisch aussehende Wagen, auf deren jedem eine weiße Flagge wehte und die von Armeegensdarmen begleitet waren. Es verbreitete sich das Gerücht, daß Parlamentaire von Paris angekommen seien, und die Soldaten liefen von allen Seiten herbei. In einigen der Wagen sah ich Damen, und da diese nicht wohl Parlamentaire sein konnten, so trat ich näher, mich zu erkundigen. Es war eine Anzahl amerikanischer Familien und die portugiesische Gesandtschaft, welche Erlaubniß erhalten hatten, Paris zu verlassen. Selbst die Kutscher waren Herren, [789] und einen von ihnen hörte ich „Commodore“ nennen. Die Flüchtlinge, so konnte man sie wohl nennen, hatten bereits einen weiten Weg gemacht und hofften noch in derselben Nacht mit nach Versailles zu reisen, welches indessen noch drei Meilen entfernt war. Ihre Pferde waren erschöpft, und ich verschaffte ihnen Wasser und Heu durch die Soldaten, denen ich erklärte, daß sie es nicht mit Franzosen, sondern mit Amerikanern zu thun hätten. Diese letzteren waren etwas ungeduldig, allein der commandirende General war auf ihre Ankunft gänzlich unvorbereitet und die Papiere mußten natürlich erst untersucht werden. Es wurde der Befehl gegeben, Niemanden an die Wagen zu lassen, und ich konnte den Amerikanern weiter nicht behülflich sein. Es kam jedoch bald ein Oberst, welcher englisch sprach, und es wurde befohlen, daß die Fremden die Nacht in Villeneuve le Roi blieben, wo für sie in den Häusern höherer Offiziere Quartier gemacht wurde.

Ludwig Freiherr von der Tann.


Am andern Morgen fuhren sie unter Bedeckung und im schauderhaftesten Wetter nach Versailles, wo sie viele Stunden früher ankamen als wir, die wir nur in Schritt fahren konnten. Diese drei Meilen waren ganz außerordentlich abscheulich, denn es wehte ein Sturm, begleitet von einem Regen, der eiskalt war und in’s Gesicht wie Nadeln stach. Auf dem ganzen Wege sah man keinen einzigen Einwohner, nur deutsche Soldaten. Die Häuser waren leer; die meisten waren verschlossen, allein viele waren erbrochen und die Möbeln darin zerschlagen. Diese Verwüstungen waren großenteils durch die Gardes mobiles angerichtet worden, welche die Möbeln zerstörten, damit sie den Preußen nicht nützen sollten. Ueberall dieselbe Thorheit, überall die bis in die kleinsten Details erkennbare Unüberlegtheit und sinnlose Thätigkeit. Die schönen Bäume an den breiten Landstraßen waren niedergehauen. Zu welchem Zwecke, war nicht wohl einzusehen; Wälder hätte man fällen müssen, um Verhaue zu bilden, welche solche breite Straßen mit Erfolg sperrten; und um all die Straßen zu sperren, würden kaum alle Wälder um Paris hingereicht haben. Hin und wieder hatte man kindische Versuche gemacht, die Straßen auf Strecken unfahrbar zu machen, eine mühsame Arbeit, die zu dem Erfolge in gar keinem Verhältnisse stand, denn das kleine Hinderniß wurde durch die deutschen Pionniere bald überwunden.

Schon bei einer früheren Gelegenheit habe ich erwähnt, welche abgeschmackte Befürchtungen man in Bezug auf die Deutschen hatte, und erzählt, daß Mütter ihre Knaben nach Metz sandten, damit sie nicht von den Preußen mitgenommen würden. Die Moral der deutschen Soldaten schätzte man nach Erfahrungen, die man an französischen gemacht hatte. Man sah fast nichts als alte Weiber. Meine Portiersfrau hier in Verfailles mußte ihrem Schwiegersohn aushelfen, welcher einige Mann Einquartierung erhalten hatte. Auf seine Frage, wo dessen Frau sei, antwortete sie: „Meine Tochter ist sehr schön; und wir haben sie fortgeschickt, damit ihr nicht Gewalt angethan würde!“

Unsere guten bescheidenen Jungen sehen gerade danach aus! Sie sind hier in größerer Gefahr als die Weiber. Ich habe manche komische Scene mit angesehen. Eine hübsche Wirthin und noch hübschere Kellnerin in einem Wirthshause küßten ein paar tischende junge Husaren fast mit Gewalt im Wirthszimmer. Sennerinnen sind ganz entzückt über die schönen blonden Deutschen, und selbst elilugirte Preußenfeinde müssen zugeben, daß sich unsere Truppen ganz musterhaft benehmen. Wo irgend ein Fall vom Gegentheil erzählt wurde, habe ich stets eine französische Lüge gefunden oder eine französische Unverschämtheit, welche derbes Auftreten nicht nur rechtfertigte, sondern zur Pflicht machte.

Durch und durch naß und halb erstarrt trabte ich mit einem Commissionair durch das weitläufige Versailles; überall wurde ich in den Gasthöfen abgewiesen. Endlich entdeckte ich einen einsamen Miethszettel. Ich stürzte in’s Haus und fand, freilich im vierten Stock ein prächtiges Logis, bestehend aus Wohnzimmer, Speisezimmer und Küche, vollständig mit Allem versehen, was ein junges Ehepaar für die Flitterwoche bedarf; für den mäßigen Preis voll zwanzig Franken die Woche. Hier will ich die Uebergabe von Paris abwarten; von hier will ich meine militärischen Excursionen machen, wozu ich bereits die nöthige Erlaubniß vom Generalquartiermeister der Armee erhalten habe. Seit ich hier bin, habe ich noch keinen Kanonenschuß gehört; ich glaube, die Pariser hungern und überlegen; doch zweifle ich nicht daran, daß ich Stoff genug haben werde, in meinem nächsten Briefe die Blutneugier schlachtenhungriger Leser Ihres Blattes zu befriedigen.

Ich muß annehmen, daß Versailles und seine Geschichte bekannt ist, denn wenn ich auch gar nicht abgeneigt bin, hin und wieder „Belehrendes“ in meine Briefe einzuflechten, so muß sich das doch wohl nur auf solche Dinge beschränken, von denen man nicht unbedingt voraussetzen kann, daß sie jedem Gebildeten bekannt sind.

Im gegenwärtigen Augenblick macht die schöne Stadt keinen besonders freundlichen Eindruck: die reicheren Einwohner haben sie meistens verlassen und die Straßen sind ziemlich todt. Sie werden hauptsächlich von Soldaten belebt, welche entweder hier einquartiert sind, oder von benachbarten Orten und Bivouacs hereinkommen. Die lebhafteste Straße ist noch die Rue de la Paroisse in der ich wohne. Die Läden sind überall offen und ihre Besitzer machen recht gute Geschäfte mit den Soldaten; allein leider fangen manche Waaren an zu fehlen und unsere deutschen Kaufleute sind zu zaghaft und langweilig, den Markt zu versorgen. Einige schwache Versuche sind gemacht worden; allein es fehlten der amerikanische praktische Sinn und Rührigkeit. Brennöl ist in der ganzen Stadt nicht zu haben und Kerzen werden auch bald erschöpft sein, da sie von Marketendern centnerweise gekauft werden. An Salz ist auch Mangel, ebenso an Schwefelhölzchen und eine Citrone ist nicht aufzutreiben. Fische und Austern giebt es natürlich gar nicht, doch ist der Markt überflüssig mit Gemüse, köstlichem Obst, Butter, Eiern, Geflügel und Fleisch versehen. Die Preise sind freilich hoch, besonders in einzelnen Artikeln. Gute Tischbutter kostet über einen Thaler das Pfund; das Pfund Zucker vierundzwanzig Groschen bis einen Thaler.

Die Einwohner der von den Deutschen besetzten Orten dürfen frei hin- und herpassiren ohne daß ihnen irgend welche Schwierigkeiten in den Weg gelegt werden oder sie zu fürchten brauchen, daß man ihre Fuhrwerke oder Pferde requirirt. Ueberhaupt existiren hier keine kleinlichen Bestimmungen in Bezug auf Schließung der Wirtshäuser oder Ausgehen am Abend etc. Nur ist Befehl gegeben, daß, wenn die Truppen alarmirt werden, alle Einwohner zu Hause bleiben müssen, und ist ihnen angekündigt worden, daß die Soldaten Befehl haben auf jeden zu schießen, der sich zeigt. Vernünftige Versailler sind mit all’ den Einrichtungen außerordentlich zufrieden und betrachte es als ein großes Glück, daß König Wilhelm hier sein Hauptquartier aufgeschlagen hat.

[790] Der König wohnt nicht im Schloß, sondern in der Avenue de St. Cloud, im Präfectur- Gebäude. Graf Bismarck wohnt nicht weit davon in einem stattlichen Hause in der Rue de Provence, und vorn weht die Fahne des norddeutschen Bundes. General Moltke hat sein Bureau in der Rue neuve aufgeschlagen. Ich sehe nirgends besondere Vorsichtsmaßregeln oder verstärkte Wachen, sondern nur dieselben Schildwachen wie in Berlin. Nichts erinnert an Frankreich als die Sprache. Man könnte sich mitten im Frieden in einer preußischen Garnisonsstadt glauben. Kaiserliche Adler habe ich nirgends entdeckt. Die Diener der Mairie - untere Beamte hat man vernünftiger Weise in ihren Stellen gelassen - tragen eine dreifarbige Binde um den Arm. Französische Uniformen sieht man sehr selten, hin und wieder einen Krankenpfleger. Viele Versailler glauben ganz im Ernst, daß Frankreich preußisch werden wird. Frankreich würde sich gar nicht schlecht dabei stehen, wenn es seine Regierung für einige zwanzig Jahre an Preußen verpachtete. Da würde Ordnung in die Finanzen kommen.

Auf dem Versailler Schloß weht - warum, weiß ich eigentlich nicht - die preußische und nicht die norddeutsche Fahne. Die unteren Säle des Schlosses sind in Krankensäle verwandelt, in denen zahlreiche barmherzige Schwestern ab- und zugehen. Lügenhafte französische Blätter haben verbreitet, daß die deutschen Soldaten die Gemälde der Galerie mit Säbeln und Bajonneten zerfetzt und die Statuen zerschlagen hätten. Dergleichen haben die Franzosen allerdings in Sanssouci gethan, allein Deutsche sind nicht solche Barbaren. Die unendlich vielen Büsten und Statuen sind unverletzt und nicht einmal durch Anschreiben von Namen verunreinigt. Von einem Apoll von Belvedere im Garten fehlt ein Daumen, und an dem Bruch im Marmor erkennt man, daß der Schaden noch frisch ist; das ist aber auch der einzige, den ich entdecken konnte. Nicht ein Baum im Garten ist beschädigt; der Rasen ist geschont, die Wege sind rein erhalten und die Soldaten sind so gewissenhaft, daß sie nicht einmal eine Blume auf den Beeten abzubrechen wagen; kurz, sie betragen sich, wie sie sich in Sanssouci oder im neuen Palais in Potsdam betragen würden. Die Gemäldegalerien sind von zehn Uhr Morgens bis vier Uhr Nachmittags geöffnet und werden von Offizieren und Soldaten sehr häufig besucht. Die französischen Aufseher sind in ihre Stellen wieder eingesetzt worden, und man merkt dem Schloß und Garten nicht an, daß es von feindlichen Truppen eingenommen ist.

- Die Uebergabe von Metz und die Gefangennahme von hundertdreiundsiebenzigtausend Mann wird hier von vielen Franzosen nicht geglaubt. Auf das Placat, welches dies Ereigniß anzeigte, hatte Jemand mit Bleistift: Blague (Aufschneiderei) geschrieben. Die Franzosen beurtheilen Jeden nach sich selbst; weil sie solche Aufschneider sind, halten sie jeden Andern dafür. Es ist ihnen gar nicht mehr möglich, die Wahrheit zu reden oder die Dinge in ihrem wahren Lichte zu sehen. Das ganze Volk ist, so zu sagen, getränkt mit Lüge und Eitelkeit.

Am Siebenundzwanzigsten Abends wurde die Uebergabe von Metz durch einen großen Zapfenstreich gefeiert. Eine Menge, meistens Soldaten, zog die breite Avenue hinunter nach der Wohnung des Königs, bei dem großes Diner gewesen war. Der König öffnete mehrmals das Fenster und wurde von dem wiederholten donnernden Hurrah der Soldaten begrüßt.

Daß der Kronprinz von Preußen und Prinz Friedrich Karl zu Marschällen ernannt sind und General Moltke zum Grafen gemacht ist, werden Sie natürlich längst wissen. Diese Auszeichnungen sind gewiß verdient. Die Menge der eisernen Kreuze, die ich sehe ist erstaunlich groß. Obwohl ich durchaus der Ansicht bin, daß fast alle Soldaten der Armee durch ihre beispiellose Tapferkeit, Ausdauer und treffliches Betragen dieses Kreuz verdient haben, so meine ich doch, man sollte etwas sparsamer mit dieser Auszeichnung sein, damit sie nicht an Werth verliert.

Neulich Abend besuchte ich einen Freund, der in dem Hause wohnt, in welchem der Bundeskanzler sein Quartier- und Bureau aufgeschlagen hat. Ich sandte meine Karte hinein. Es dauerte etwas lange, ehe mein Freund erschien und mich in ein Zimmer führte, wo wir allein waren. Nach einiger Zeit öffnete sich die Thür und die imposante Gestalt des Grafen Bismarck trat ein.

Er trug seinen gewöhnlichen Uniformüberrock und das eiserne Kreuz im Knopfloch. Ich war sehr überrascht, und angenehm überrascht. Ich habe eine unüberwindliche Abneigung mich an bedeutende Männer heranzudrängen besonders an solche wie Graf Bismarck, deren Zeit viel zu kostbar ist, um sie mit unbedeutenden Personen zu verlieren. Ich habe drei Jahre in Berlin gewohnt und nie die Gelegenheit gesucht, mich dem Grafen vorzustellen so sehr ich ihn auch bewunderte. Ich sprach meine Freude unumwunden aus, erwähnend, daß ich den Grafen nur von Weitem im Reichstage gesehen habe. Er behauptete indessen, daß wir schon früher zusammengetroffen seien und er erinnere sich genau meines Namens. Ich weiß es nicht. Der Graf setzte sich und blieb eine kleine halbe Stunde. Es ist wohl natürlich, daß ich ihn mit dem allerlebhaftesten Interesse betrachtete und ihm zuhörte. Er sieht bedeutend besser aus als alle Portraits, die ich von ihm gesehen habe. Auf den meisten derselben hat er etwas Hartes und Finsteres. Davon war an jenem Abende auf seinem Gesichte keine Spur. Die Farbe desselben sieht gesund und frisch aus und seine Züge erscheinen mild und freundlich. Wie wunderbar contrastrirte sein einfaches und natürliches Wesen mit der pompösen, bureaukratischen Steifheit der sich wichtig machenden Mittelmäßigkeit!

Der Graf fragte mich, wo ich her käme. Ich mußte ihm von Straßburg und vom Elsaß erzählen. Er bemerkte, daß wir im gleichen Alter seien und wie gut ich mich erhalten habe. Ich erwiderte scherzend, daß das Recept dazu etwas langweilig sei: sechs Jahre Zellengefängniß!

Wie häufig bin ich mit hohen Beamten zusammengekommen und von ihnen halb und halb als ehemaliger Zuchthaussträfling tractirt worden! Wie anders behandelte mich Graf Bismarck! Er verstand mich durch und durch und mit einer Liebenswürdigkeit und Zartheit, von der mir auch nicht die kleinste Nuance entging, gab er mir das zu erkennen, indem er gewissermaßen eine Parallele in dem Entwickelungsgange unserer politischen Ansichten zog. Er bemerkte, daß wir Beide ungefähr unter denselben Verhältnissen und unter dem Einfluß derselben Ideen aufgezogen worden seien, und wie er sich einerseits von diesem Einfluß freigemacht habe, während andererseits Erziehung und Gewohnheit ihr Recht behaupteten.

Schon im Jahre 1832 sei die Einheit Deutschlands sein Lieblingsgedanke gewesen. Er habe sogar mit einem Amerikaner eine Wette um vierundzwanzig Flaschen Champagner gemacht, daß Deutschland nach zwanzig Jahren einig sein würde („ich hätte vierzig oder fünfzig sagen sollen,“ bemerkte er). Wer die Wette verliere, solle den Andern in seinem Lande besuchen. Der Amerikaner starb 1850 und der Graf konnte seine verlorene Wette nicht bezahlen. - Er habe immer freisinnige Ansichten gehabt und sei besonders nie ein Freund der Bureaukratie gewesen. Manche Beziehungen seiner Rede verstand ich nicht recht, da mir die Details seiner politischen Laufbahn nicht so recht bekannt sind, indem ich von 1849 bis 1855 im Gefängniß war, und von jener Zeit bis 1867 in England und Amerika lebte. Der Graf äußerte jedoch, daß man im Alter Vieles objectiver ansehe, als in der Zeit der leidenschaftlichen Jugend, und ferner, daß, von einer gewissen Höhe herab gesehen, die Parteifarben verblassen.

Das Jahr 1848 habe ihm manche Täuschungen gebracht. Die Art, wie die Soldaten von den Demokraten behandelt worden seien, habe ihn empört, und die selbstsüchtige Gemeinheit vieler Männer jener Zeit habe ihn angeeckelt. -

Der Graf sagte manches Andere, was mich höchlich interessirte und umsomehr, da er gewissermaßen aus mir heraussprach; ich verstand Alles, was er nur andeutete; indem er von seinen Empfindungen redete, analysirte er die meinigen. „Ja,“ bemerkte er, „Sie haben diese Gesinnungen in's Gefängniß und mich haben sie in die Stellung geführt, die ich jetzt einnehme.“

Der Graf bedauerte, daß Geschäfte ihn hinwegriefen, und stand auf. Er gab mir die Hand, sagte, er freue sich, meine Bekanntschaft gemacht oder vielmehr erneuert zu haben, und hoffe mich öfter zu sehen.

Ich gestehe es, ich war tief bewegt. Ein Vertreter des Jahres 1848 und der Mann des Jahres 1870 hatten sich versöhnend die Hände gereicht!

[791]
Blätter und Blüthen.


Der Sieger von Beaumont. (Mit Abbildung.) Nach den großen Schlachten vor Metz vom vierzehnten bis achtzehnten August wurden durch eine königliche Ordre das vierte und das zwölfte (königl. sächsische) Armeecorps von der zweiten Armee abgezweigt, um gemeinsam mit dem preußischen Gardecorps eine vierte Armee zu bilden, deren Oberbefehl der Kronprinz Albert von Sachsen erhielt. Seine Unterbefehlshaber wurden Prinz August von Württemberg von der Garde, General von Alvensleben vom vierten Armeecorps und Prinz Georg von Sachsen trat in die Stellung seines Bruders als Chef des zwölften Armeecorps. Zur vierten Armee gehörten ferner die fünfte und sechste Cavalleriedivision, jene unter dem General von Rheinbaben, diese unter dem Herzog Wilhelm von Mecklenburg.

Eine solche Auszeichnung, wie die Führerschaft über eine solche Streitmacht offenbar zu nennen ist, mußte in einem so ernsten Kriege und unter so gewissenhafter Leitung in der Erprobtheit des Erwählten begründet sein. In der That zog der älteste Sohn des Königs Johann von Sachsen schon als zwanzigjähriger Jüngling das Schwert in einem guten patriotischen Kampfe: in jenem ersten schleswig-holsteinischen Bundeskriege, in welchem Sachsen und Baiern am dreizehnten April 1849 die ersten Düppelstürmer waren. Hatte der Prinz damals seinen persönlichen Muth bewährt, so gab das Jahr 1866 ihm Gelegenheit, als Befehlshaber der sächsischen Armee in Böhmen die Fähigkeit zur Führung großer Truppenkörper, und zwar in den bedenklichsten Momenten, in einer Weise darzuthun, die selbst des Gegners Anerkennung fand. Der amtliche Kriegsbericht des preußischen Generalstabs hob seinerzeit die taktische Gewandtheit und die Präcision, mit welcher Kronprinz Albert mehrere Male, namentlich bei Königsgrätz, in den Kampf eingegriffen, besonders hervor.

Nach der Neugestaltung des deutschen Heerwesens durch das Oberhaupt des norddeutschen Bundes bildete die königlich sächsische Armee das zwölfte Armeecorps dieses Bundes, und Kronprinz Albert wurde der Chef desselben. Beim Ausbruch des gegenwärtigen Krieges der zweiten Armee des Prinzen Friedrich Karl zugetheilt, nahm das Corps hervorragenden Antheil an dem Kampfe bei St. Privat und trug wesentlich zur Einschließung Bazaine’s in den Metzer Fortsgürtel bei, Als die erste und zweite Armee das Wächteramt vor Metz übernahmen, traten die beiden Kronprinzen-Armeen den Marsch nach Paris an. Der Abmarsch der Franzosen aus dem Lager von Chalons, ihre Absicht, durch eine nordöstliche Wendung dem Stoß der Deutschen zu entgehen und Metz zu erreichen, führte zu den Gefechten und Schlachten von Nouart, Beaumont und Sedan, in welchen Kronprinz Albert sein Feldherrntalent abermals bewährte und sich das Eiserne Kreuz verdiente.

Nach diesem größten Siege des Jahrhunderts vollendeten dann beide Kronprinzen den Marsch nach Paris, dessen Ost- und Nordseite der Umarmung der vierten Armee übergeben ist. Da, so lange die Welt steht, noch keine Festung von der Größe von Paris belagert worden ist, so sind auch die Lorbeern außergewöhnliche, welche hier den glücklichen Siegern blühen.



Norton der Erste,
Kaiser der Vereinigten Staaten und Protector von Mexico.

Kaiser Norton. Unsere Leser erinnern sich wohl noch der Notiz in Nr. 32 u. 42 Jahrgang 1869 unseres Blattes, worin zuerst von der Existenz eines mächtigen Potentaten in San Francisco berichtet wurde. Der Redacteur der Gartenlaube erhielt nun soeben eine sehr interessante Zuschrift aus Californien, die wir bei der Wichtigkeit der Sache der Oeffentlichkeit nicht vorenthalten dürfen. Sie lautet:

„San Francisco, Anfang October 1870.

Ich nehme mir die Freiheit, sehr geehrter Herr, Ihnen beifolgend ein auf Ihren Namen von Norton dem Ersten, dem Kaiser der Vereinigten Staaten und Protector von Mexico, ausgestelltes Anleihe-Certificat zu überreichen. Seine Majestät wünschen, in Berücksichtigung der durch den deutsch-französischen Krieg verursachten allgemeinen Handelskrisis, allen Capitalisten eine Gelegenheit zu verschaffen, ihre Gelder sicher zu investiren, und haben deshalb diese Schatzscheine ausgestellt. In San Francisco haben die begüterten Engroshändler sowohl als die ersten Bankfirmen dieses glänzende Anerbieten mit Dank entgegengenommen, und sieht man bereits des Kaisers Schatzscheine fast in jedem ihrer Bureaus eingerahmt über den eisernen Geldschränken hängen. Seine Majestät der Kaiser sähen es gerne, wenn diese Papiere auch auf europäischen Börsen notirt würden.

Der französisch-deutsche Krieg hat Seiner Majestät besondere Unzufriedenheit erregt und ist Er bemüht, dem Blutvergießen Einhalt zu thun. An Wilhelm von Preußen hat Er deshalb bereits ein energisches Telegramm entsendet und wird sich herablassen, nächstdem auch an Bismarck einige Drohungen ergehen zu lassen, und ihm befehlen, Frieden zu schließen.

Ihnen, werther Herr Keil, schickt der Kaiser auch noch Sein Bildniß mit eigenhändiger Namensunterschrift, zum Beweise Seines besonderen Wohlwollens, durch die Vermittelung

Ihres ganz ergebenen  
Theodor Kirchhoff“

Der mit rosafarbenen Lettern bedruckte Schatzschein, welcher außer der eigenhändigen Unterschrift und dem Siegel des Kaisers noch die Abbildung eines feuerfesten, zu allem Ueberfluß von einem Hunde bewachten Geldschrankes giebt, lautet:

„Der Betrag nebst Zinsen wird convertirt in siebenprocentigen Bonds von 1880 oder ausgezahlt von den Agenten unseres Privatvermögens für den Fall, daß die Regierung Norton’s des Ersten nicht fortbestehen sollte.

Norton der Erste, 
Kaiser der Vereinigten Staaten und Protector von Mexico.“



Der Stürmer von Orleans. (Mit Abbildung.) Das Jahr 1870, so reich an herrlichen, großartigen Erfolgen für das gesammte deutsche Volk, hat speciell einem Manne, der einst viel gescholten und viel gelästert worden ist, eine Genugthuung und Rechtfertigung gewährt, die ihm wohl zu gönnen war und die schwerer in die Wagschale fällt, als seiner Zeit ein die verleumderischen ultramontanen Blätter verurtheilender Richterspruch in die Wagschale gefallen wäre. Es ist ja noch bekannt, wie nach dem für Baiern so unglücklichen Verlauf des Krieges von 1866 die an den Ufern der Isar und der Donau heimischen, ihr Stichwort aus den bischöflichen Palais holenden Tagesblätter wüthend über den General Ludwig Freiherrn von der Tann, welcher dem Prinzen Karl als Chef des Generalstabes der mobilen baierischen Armee beigegeben war, herfielen, ihn theils der Unfähigkeit, theils des Verraths beschuldigend. Der General, der nie ein Hehl daraus gemacht hatte, daß seine politische Gesinnung und sein patriotisches Empfinden über die blauweißen Grenzpfähle hinausreicht, mußte der particularistischen Partei in Baiern von je ein Dorn im Auge sein, und wenn es auch ihren eifrigsten Bemühungen nicht gelang, den bei der ganzen Armee hochgeschätzten und von seinem Könige mit Auszeichnung überhäuften Mann zu stürzen, so mußte es doch bei den Wohldenkenden eine gewisse Verstimmung zurücklassen, aus dem von General von der Tann angestrengten Proceß die ultramontanen Blätter unverurtheilt hervorgehen zu sehen.

Die dem schwer beleidigten Manne damals versagt gebliebene Genugthuung hat er sich nunmehr glänzend selbst geholt und der vielgepriesene Führer der schleswigschen Freischaaren hat seine alte Tüchtigkeit in noch viel umfassenderer Weise auf’s Neue bewährt. Die Tage von Wörth, Beaumont, Sedan und Orleans sind für die baierischen Truppen ebenso ruhmreiche, als blutige Tage gewesen, und es mag dem Führer des ersten baierischen Armeecorps ein freudiges Bewußtsein sein, daß diese von seinen braven Soldaten errungenen Erfolge dem ganzen großen deutschen Vaterlande zu gut kommen werden.



Mac Mahon. Von allen Marschällen und Generälen, welche dem französischen Exkaiser gedient haben und von denen nicht jeder den Anspruch auf den Namen eines „honetten“ Mannes zu machen vermag, ist Mac Mahon dadurch ausgezeichnet, daß selbst nach der für Deutschland so glorreichen Capitulation von Sedan seine Feinde keine Verdächtigung seines Charakters oder seiner Tapferkeit wagen durften. Es wird unsere Leser darum interessiren, zu erfahren, daß die Mutter des genannten Mannes eine Deutsche war und daß dieser selbst somit halb ein Sohn des Landes ist, dessen Bekriegung für ihn so verhängnißvoll werden sollte. Nach einer Version, die augenblicklich durch mehrere Zeitungen geht, war der Vater des Marschalls als französischer Kriegscommissair 1807 in Hannover im Hause des Medicinalraths Hurlebusch einquartiert, wo er dessen Nichte Emilie, die verwaiste Tochter des ehemaligen kurhannoverschen Hauptmanns Behne, kennen und lieben lernte. Seine Liebe ward erwidert, und seinem Muthe gelang es, die Geliebte, die man wider ihren Willen vor ihm nach Rinteln an der Weser geflüchtet hatte, nach Hameln und von dort nach Frankreich zu entführen. Hier wurde Emilie Behne die Gattin des Kriegscommissairs Mac Mahon und gebar ihm 1809 einen Sohn, den nachmaligen tapfern französischen Marschall M. Ed. Maurice Patrice Mac Mahon, Herzog von Magenta.



Der Prinz von Armenien. In Nr. 34 der Gartenlaube von 1869 erzählte Herr Wallner von den großartigen Schwindeleien einen Hochstaplers, welcher unter obigem Titel 1865 in Berlin der Criminaljustiz verfiel, ohne daß sein Geheimniß je vollständig hat gelüftet werden können. Der Artikel schließt daher mit der Frage: „Wer war der Prinz von Armenien?“ Darauf erhalten wir soeben von dem Lehrer der reformirten Kirche in Pehalongan aus Java, Herrn Bruinier, folgende Nachricht: „Dieser Prinz von Armenien war Daniel Johannes, geboren in Samarang auf Java, Sohn des reichen vormaligen Opium-Pächters Johannes, ein Armenier.“

[792]
Eine große Bitte an alle deutschen Kinder.

Das herrlichste Fest im ganzen Jahr, euer Fest naht heran: die fröhliche, selige Weihnachtszeit der deutschen Kinderwelt! Denn nur so weit auf Erden deutsche Sitte herrscht und germanisches Blut durch die Herzen strömt, jubeln die Kinder um die strahlenden Christbäume der Weihnacht, und ebenso weit erfüllt sie Alle die Seligkeit des schönen Glaubens, daß alljährlich zu dieser Zeit Jesus selbst vom Himmel herabkommt, um wieder als Kind sich mit den Kindern zu freuen.

Aber strahlt denn das Bäumlein überall so im lieben Vaterlande? Leider nicht! Es hat noch jedes Jahr in jedem deutschen Orte, ob groß, ob klein, dunkle Fenster gegeben, hinter denen arme Familien oder arme Mütter allein mit ihren Kleinen still oder weinend saßen. Hat doch die Liebesgabe deutscher Dichter, der „Weihnachtsbaum für arme Kinder“ weit über Hunderttausend solcher dunklen Fenster zu erhellen gehabt; und wie viel Tausende wurden von der milden Hand dieser und vieler anderer Wohlthätigkeit nicht erreicht! Wer zählt die Thränen hinter den dunkel gebliebenen Scheiben?

Nicht wahr, das betrübt euch, ihr braven Kinder? Das ist recht so. Laßt nur die Wehmuth einziehen in eure Herzen, das macht sie rascher fähig zu dem Entschluß, der euch bald aus den Augen strahlen soll.

So hört denn! Ihr Alle singt „Die Wacht am Rhein“ und wißt längst, warum? Ihr eilt auf die Straße, wenn die Siegesfahnen ausgesteckt werden, mit welchen eure Eltern die Triumphe unserer Heere in Frankreich verherrlichen; und wie oft erzählten sie euch schon, von welchen Gefahren unser deutsches Vaterland bedroht war und welches Unglück über euch und welche Schande über uns hätte kommen können ohne die große Tapferkeit unserer Soldaten und Landwehrleute. Aber wie viele Tausende von ihnen sind nun auch schon todt, und noch viel mehr liegen verwundet und krank auf den Schmerzenslagern der Lazarethe; – wie viel Mütter sind dadurch zu Wittwen, wie viel Kinder zu Waisen, wie viele durch des Vaters Fleiß noch vor einem Vierteljahr mit dem Loos der Zufriedenheit beglückte sind jetzt schon zu armen Kindern geworden!

Nun merkt auf! Wie die heldenmüthigen deutschen Soldaten für eure Eltern in den Tod gegangen sind, so sind des Wehrmanns arme Kinder für euch zu Waisen geworden!

Während ihr im Schooße eurer Eltern jubelt, strecken sie vergeblich die Händchen nach dem Vater aus, der im fernen Grabe liegt. Während eure Mütter euch den Christbaum schmücken, ringen die Mütter der armen Wehrmannskinder jammernd die Hände, die nun das harte Brod allein für sie erwerben sollen. Und wenn nun für euch Alle der Weihnacht Engelgruß erschallt: „Vom Himmel hoch da komm’ ich her“, – wer wird den armen Wehrmannswaisen das Christbäumchen aufpflanzen und die Lichtlein der Freude anzünden?

Ihr, glückliche, elternselige Kinder, ihr sollt es thun! Ihr sollt die Weihnachtsengel eurer armen Cameraden sein! Herbei mit den Sparbüchsen und ausgeleert den ganzen Schatz für das Christfest der armen Kinder und Waisen den Kriegs!

Es versteht sich von selbst, daß nur Schulkinder, nicht auch die kleinen Hemdläuterchen daheim, an diesem Werke eurer Pflichterfüllung Theil nehmen können. Die Schule ist das Standquartier eurer Thätigkeit. Die Herren Lehrer, immer eure besten Freunde, gehen euch dabei gern an die Hand; sie werden sich über die ernste Beschäftigung freuen, welche euch damit anvertraut ist.

Für die Ausführung eurer Unternehmung schlage ich euch Folgendes vor. Sie zerfällt in drei Theile: 1) Sammeln von Geld und Bescheerungssachen; – 2) Ermittelung der armen Kinder und ihrer Bedürfnisse; – 3) Einkäufe und Bescheerung.

1) Sammeln von Geld und Gaben. In jeder Schulclasse wählen die Kinder ihrer Drei von ihren Genossen zur Besorgung des Sammelns. Das eine Kind sammelt das baare Geld ein, das andere die Bescheerungssachen, welche von wohlwollenden und wohlhabenden Kinderfreunden so gern gegeben werden. Denn, wie meine fünfundzwanzigjährigen Bescheerungserfahrungen mir bewiesen, giebt z. B. der Bäcker lieber eine Anzahl Christstollen, der Lebküchler lieber Dutzende von Pfefferkuchen, der Conditor lieber ein paar Düten voll Baumzucker her, als baares Geld; ebenso der Tuchhändler ein Stück Tuch, der Schnittwaarenhändler ein Restchen Kleiderzeug, der Gerber ein Stück Leder, der Spielwaarenfabrikant eine ganze Kiste Spielsachen etc. Das dritte Kind endlich ist der Buchführer: es schreibt die Namen der gebenden Kinder und das, was sie gebracht haben, Geld oder Waaren, und wieviel, genau auf. – Jeden Abend liefert ihr das Eingesammelte sammt dem Verzeichniß desselben dem Herrn Lehrer zur Aufbewahrung ab. In Städten, wo viele Lehrer an einer Schule thätig sind, mein’ ich damit den Herrn Classenlehrer; auf den Dörfern, wo nur ein Raum alle Kinder umfaßt, sammeln wenigstens die Mädchen und die Knaben besonders. Es versteht sich von selbst, daß ihr Alle erst eure eigenen Sparbüchsen ausleert, ehe ihr anderweit anklopft.

2) Während ihr sammelt, muß gleichzeitig das Verzeichniß all’ der Mütter und Kinder eures Orts festgestellt werden, welche durch den Krieg in Noth und Trauer gekommen sind. In Dörfern und kleinern Städten ist das ein Leichtes, in großen Städten wird’s Arbeit machen, die aber Niemandem etwas schadet. Das besorgen am besten mit Hülfe der Ortsobrigkeit eure Eltern. Und nun kommt wieder etwas Wichtiges! Bittet eure Eltern, sich nicht auf das kalte Verzeichniß zu verlassen, auch nicht zu verlangen, daß die bedrängten Mütter zu ihnen kommen, – sondern eure Mütter sollen sich selbst in die Wohnungen derselben bemühen und sich recht liebevoll nach Allem erkundigen und mit eigenen Augen sehen, was etwa besonders fehlt und womit eine recht große Freude zu bereiten sei. Es ist rathsam, daß sie ganz besonders durch der Eltern Wohlhabenheit bevorzugte Kinder auf solchen Gängen mitnehmen, damit diese kennen lernen, wie es bei der Armuth aussieht. Das kann ihrem Herzen außerordentlich gesund sein, besonders in ihrer Beziehung zum lieben Gott und zur Dankbarkeit.

Sobald ihr, liebe Kinder, mit eurer Sammlung fertig seid und eure Eltern das Verzeichniß der armen Kinder des Kriegs und ihrer Bedürfnisse aufgenommen haben, wird gerechnet. Eure Eltern berechnen, wie groß der Bedarf ist, um allen ausgeschriebenen Kindern ein Christfest zu bereiten, das ihnen zum Spielzeug auch neue warme Kleider, Stiefel und Schuhe, Hauben und Mützen und dergleichen bescheert, – und ihr berechnet, ob eure Sammlung den Bedarf deckt. Reicht’s noch nicht aus, so helft ihr euch nicht damit, daß ihr den Kindern eben weniger bescheert, sondern ihr sammelt weiter, bis der Bedarf gedeckt ist. Das ist das Beispiel, welches ihr Kinder den Herren von der deutschen Invalidenstiftung geben sollt.

Nun kommen wir 3) zur Bescheerung selbst. Bei unseren, aus dem Erlös für den „Weihnachtsbaum für arme Kinder“ hergestellten Bescheerungen begleiteten die Mütter, Väter oder älteren Geschwister oder sonstige Verwandte die Kinder in den Schul- oder Rathhaussaal, wo die Feier stattfand. Die Kinder wurden gleich so geordnet, daß beim Hereinziehen in den lichterglänzenden Bescheerungssaal und um die gabenbedeckten Tafeln herum jedes an die Stelle kam, wo seine Herrlichkeiten lagen. Und war ein schöner Gesang verklungen und eine kurze Ansprache gethan, so bekam jeden Kind seine Gabe, und die Angehörigen bargen dieselbe in die mitgebrachten Körbe. Bei eurem Fest müßt ihr selbst mit den Kindern Hand in Hand zur Bescheerung vor die strahlenden Christbäume ziehen und die Gaben auf den Tischen und am Baume vertheilen. Einmal wählten wir die Zahl der Christtannen so, daß wir ebenso viele Aeste als Kinder hatten. Jeder Ast trug dieselbe Zahl von Zuckerstücken, Nüssen und Aepfeln und ein Lichtchen, und zum Schluß des Festes schnitten wir jedem Kinde seinen Ast ab, – und so zogen sie, den Ast glückselig vor sich hinhaltend, viele mit den brennenden Lichtchen, heim, um bei den Ihrigen nun die Christfestfreude noch recht zu genießen. Das war sehr schön und verdient Nachahmung.

Aber Eines vergeßt ja nicht! Wenn eure Eltern ihre Besuche bei den Frauen und Wittwen unserer Wehrmänner machen, werden sie auch solche finden, welche die Beiziehung ihrer Kinder zur öffentlichen Bescheerung tief schmerzen würde. Diesen gebt Alles, was ihnen bestimmt ist, zu ihrem stillen Feste daheim. Macht überhaupt kein Schaustück der Wohlthäterei aus eurem Fest; nur mit innigster Hingebung und Liebe könnt ihr den armen Kindern des Krieges Das zu vergelten suchen, was sie euch geopfert haben. Schließt Freundschaft mit ihnen und verliert sie nicht aus euren Augen! Diese Wohlthat für euer Herz bezeigt euch selbst: Das wird eure ganze Zukunft segnen!

Sind wir nun fertig? – Nein! Gerade das Schönste habe ich noch auf dem Herzen.

Es wäre doch wohl möglich, daß an vielen Orten im lieben Vaterlande mehr als der Bescheerungsbedarf für arme Kinder des Krieges von euch aufgebracht würde. – Man wird sagen: „Gut, es giebt ja mehr arme Kinder im Orte, gebt’s diesen!“ – Darauf antworten wir: Nein! Für die übrigen armen Kinder sollen die Erwachsenen sorgen; es wäre sogar eine große Schande, wenn in diesem gottgesegneten Ehrenjahre der deutschen Nation ein einziges deutsches armes Kind ohne sein Christbäumchen bliebe! Wir aber wollen unsere Ueberschüsse zusammenthun, das giebt eine Summe, groß genug, daß wir Kinder Deutschlands unseren neuen Vaterlandsgenossen jenseits des Rheins den Weihnachtsgruß damit bieten können. Wohl nicht weniger, als bei uns, giebt’s im Elsaß und in Lothringen arme Kinder und Waisen des Krieges. Auf, pflanzt die deutschen Weihnachtstannen den armen Kindern in Straßburg auf, in Mülhausen und Schlettstadt, in Breisach und Weißenburg etc., ja selbst den kleinen Franzosen in Metz bringt eure deutsche Weihnachtslust, und wäre es nur, damit sie sehen, wie gut und glücklich die deutschen Kinder sind.

Das wird Versöhnung bereiten im Elsaß wie in Lothringen; durch die Freudenthränen der Kinder werdet ihr die Herzen der Eltern erweichen, der deutsche Weihnachtsbaum wird das alte deutsche Land rascher mit uns wieder verbinden als alle Post- und Zollvereine, die Kinder werden durch die Kinder das Volk besiegen, und in wenigen Jahren wird es möglich werden, daß ihr dem König Wilhelm zurufen könnt: „Da schau’ her, Majestät, wir haben so viel erobert wie Du!

So viel für heute, liebe Kinder! Ueberlegt die Sache mit euren Eltem und Lehrern und schreitet rasch zur That! Es wird noch Manches darüber zu fragen und zu antworten sein. Schreibt mir nur frisch drauf los. Kann die Antwort gleich für Viele gelten, so wird Herr Ernst Keil gern ein Plätzchen in der Gartenlaube für sie hergeben.

Euch Allen meine schönsten Grüße!

Leipzig, Mitte November 1870.
Dr. Friedrich Hofmann.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Grau