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Die Gartenlaube (1872)/Heft 25

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1872
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 25.   1872.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Die Diamanten der Großmutter.


Von Levin Schücking.


(Fortsetzung.)


5.


Als Max Daveland sich zur Ruhe begeben, hatte sogleich auch der Hausherr sein Schlafgemach oben im Hause aufgesucht; Valentine und Ellen waren ihm gefolgt. Valentine fand in ihrem hübschen Mansardenzimmer, das ebenfalls auf den Hof hinausging, das Fenster noch geöffnet. Sie sah, daß die Regenwolken, welche den Tag über den Himmel überzogen hatten, ohne sich zu entladen, sich mit dem Einbruche der Nacht nur noch mehr verdichtet hatten und jetzt das ganze Himmelsgewölbe bedeckten, von dem weder Mond noch Stern niederglänzten. Ein leichter Strichregen fiel unhörbar leise nieder. Valentine legte sich in das Fenster und ließ sich von einzelnen feinen Tröpfchen die brennende Stirn kühlen – denn ihre Stirn brannte, ihre Wangen glühten. War es die Musik, die sie mehr als jemals ergriffen? Es war in ihr eine eigenthümliche Erregung, etwas von einer Unruhe, die doch nicht quälte, etwas von einer innern Spannung, als ob in den nächsten Augenblicken irgend ein Unerwartetes, irgend ein ihr ganzes Leben erfassendes Schicksal vor sie treten könne; dazu kamen dann aber bald wieder, wie Anwandlungen, die auftauchen und schwinden, die früheren Gedanken ängstlicher Sorge um etwas, das sich still und heimlich hinter ihrem Rücken bereite, eine böse Intrigue, die Gaston anzettele und zu der Miß Ellen den Einschlag liefere mit ihren rosigen, dünnen und kalten Fingern, deren Berührung Valentine stets gescheut hatte. Miß Ellen hatte ihre Erziehung geleitet, aber sie hatte sich ihr Herz nicht gewonnen, weder früher, als sie ihre Lehrerin war, noch jetzt nach dem Tode der Mutter, wo sie die Frau dem Hause ersetzte und sie ebenfalls Herrn d’Avelon ersetzen zu wollen schien … Valentine konnte sich nicht verhehlen, daß sie, um dies Ziel zu erreichen, die lebhafte Begünstigerin Gaston’s und seiner Wünsche war; ja sie mußte vermuthen, daß für den Fall ihrer Verbindung mit Gaston de Ribeaupierre sich ihr Vater an Miß Ellen bereits gebunden hatte – Miß Ellen übte wenigstens schon jetzt eine ziemlich große Herrschaft über Herrn d’Avelon aus. So war das Bündniß zwischen Gaston und Miß Ellen ein natürliches, und das eben verschärfte jetzt Valentinens Sorge; die ängstliche Beklemmung, die von Zeit zu Zeit in ihre erregte, schwunghaft hochfliegende Stimmung kam, wie ein Windstoß die Oberfläche eines träumend daliegenden Weihers kräuselt und aufwühlt.

Valentine blickte aus ihrem Fenster auf den schweigend und dunkel daliegenden Hof nieder, über die Dächer der Oekonomiegebäude fort, auf die leise ansteigenden Höhen dahinter, nach der schmalen, aber ziemlich tiefen Einsattelung, die im Westen den Kranz dieser Höhen unterbrach – plötzlich fiel ihr auf, daß das gewöhnliche Schauspiel, welches sie Nachts von ihrem Fenster aus hatte, wenn sie den Blick auf die Einsattelung richtete, heute fehlte – der Gluthschein und das von Zeit zu Zeit sich wiederholende Aufleuchten der Frischfeuer in dem Eisenwerke, das zu Givres gehörte und das gerade hinter jener Einsattelung lag, über deren Kamm sonst der Feuerschein in jeder Nacht den Horizont mit seiner rothen Gluth übergoß und in regelmäßigen Pausen stoßweise sich verstärkend an das Arbeiten eines Vulcans erinnerte.

Weshalb fehlte heute dies Feuer, das sonst immer nur in der Nacht vom Sonntag zum Montag erlosch? Hatten die Arbeiter Strike gemacht, hatte der Krieg sie von ihrem rußigen Tagewerke abgerufen, hatte sonst ein Ereigniß den Stillstand dieser Werke erzwungen? Das Alles konnte nicht sein, denn Gaston würde es ganz sicherlich mitgetheilt und ausführlich mit ihrem Vater darüber geredet haben. So warf es plötzlich Valentinen eine Last auf die Brust, die das Gewicht ihrer Sorge verzehnfachte. Gaston, so gab ihr diese Sorge ein, war zu seinem Eisenhammer gegangen; er hatte die Leute, die er dort beschäftigte, eine Schaar starker und wüster verwildeter Menschen, die meist aus dem Wallonenlande daheim waren, zusammengerufen, sie mit der Arbeit innehalten lassen und ihnen geboten, ihm nach der Ferme des Auges zu folgen, um diese zu umstellen und den deutschen Officier, der darin übernachtete, aufzuheben! War es so, oder war es nur eine thörichte Ausgeburt ihrer Sorge, ihrer mit dem jungen Deutschen beschäftigten Phantasie? Wer konnte es ihr sagen … wie konnte sie sich Licht darüber verschaffen … was konnte sie thun? – Wenn nur nicht Miß Ellen dem Gaste das untere Zimmer angewiesen hätte! Es stimmte so beunruhigend zu ihrem Argwohn; es war so viel leichter, ihn, ohne das ganze Haus in Alarm zu setzen, aus diesem nach hinten hinaus zu ebener Erde liegenden Gemache zu holen und fortzuschleppen!

Valentine stand und sann und starrte nach der Gegend des Horizonts, wo die Feuer brennen mußten, ob sie nicht wieder aufleuchten würden. Aber der Horizont wurde nur dunkler und dunkler. Ihr Herz klopfte hörbar. Sollte sie auf einen solchen bloßen Verdacht hin gehen und Max warnen? Was sollte sie ihm sagen, was vorbringen, daß er ihre böse Ahnung, ihre Sorge [400] nicht für die Einbildungen eines jungen Mädchens halte, aus denen er am Ende gar Schlüsse ziehen würde, die sie ihn nicht ziehen lassen wollte – um keinen Preis! Sie konnte sich ja irren – und dann, wie durfte sie Gaston so bloßstellen, einem Fremden gegenüber verrathen, daß sie ihn eines solchen bösen Planes für fähig halte – ja, sie mußte sich irren, denn unmöglich konnte Gaston vorhaben, durch einen solchen Handstreich ihren Vater, das ganze Haus zu compromittiren …

Valentine athmete auf, als sie diesem Gedankengange zu folgen begann – plötzlich aber stockte ihr Athem wieder. Sie vernahm ein Geräusch … bewegte sich nicht eine Thür in ihrer Nähe, leise und fast unhörbar? Die Angst hatte Valentinens Sinne geschärft; sie hörte eine Thür gehen und einen leisen Schritt auf dem Corridor obendrein.

Es mußte die Thür zu Miß Ellen’s Zimmer sein.

Valentine wandte sich, ergriff ihren Leuchter und setzte ihn ebenso rasch wieder nieder. Es war besser ungesehen zu beobachten, was Miß Ellen antrieb, ihr Schlafzimmer zu verlassen und heimlich den Corridor hinabzugehen. Valentine öffnete daher ihre Thür ebenso vorsichtig und leise und spähte auf den Corridor hinaus. Sie sah Miß Ellen, mit einem Lichte in der Hand, noch völlig angekleidet, an der nach unten führenden Treppe angekommen, schon halb auf dieser verschwunden. Valentine schlich ihr nach; sie betrat, als Miß Ellen unten angekommen war, die oberste Stufe der Treppe und schritt unhörbar auf dem weichen darüber liegenden Teppich hinab. Unten vom Flur aus sah sie durch die halb offen gelassene Thür des Eßzimmers bis in den Salon hinein, den Miß Ellen jetzt mit ihrem Lichte nothdürftig erhellte. Leise trat Valentine in das Eßzimmer; mit dem Arme sich an der Einfassung der Thür haltend, folgte sie mit den Augen allen Bewegungen Ellen’s; weiter voranzuschreiten in das Dunkel, das sie umgab, wagte sie nicht, in der Furcht, an einen Tisch oder ein Möbel zu stoßen und so sich zu verrathen; auch bedurfte es dessen nicht – sie sah genug!

Sie sah, wie Miß Ellen quer durch den Salon schritt nach der auf die Terrasse führenden Glasthür zu, diese, die wie immer Abends von Herrn d’Avelon selber vor dem Zubettgehen mit Läden geschützt, abgeschlossen und verriegelt war, wieder aufriegelte und aufschloß, leise ein wenig öffnete, so daß sie angelehnt stand, und dann zurückkam, denselben Weg, den sie gegangen. Valentine flüchtete sich in den Flur zurück; sie schlüpfte hinter den großen dort stehenden Wäscheschrank; von diesem Versteck aus sah sie nach wenig Augenblicken Miß Ellen quer durch den Flur, leise und behutsam auf dem Teppichstreifen in der Mitte auftretend, wieder der Treppe zugehen und auf dieser mit ihrem Lichte oben verschwinden.

Valentine drückte ihre beiden Hände auf ihr fieberhaft klopfendes Herz, erhob sie dann und drückte sie wie mit einer krampfhaften Gewalt an ihre beiden Schläfen; ein Schrei der Angst und der zornigsten Entrüstung schien sich von ihren Lippen losringen zu wollen und gewaltsam unterdrückt zu werden mit dem stürmischen Wogen ihres Busens … einen Schritt trat sie dann vor, richtete das Haupt auf, wie nach oben horchend – und dann nahm sie, ohne sich weiter zu besinnen, denselben Weg, den eben Miß Ellen gegangen, durch das Eßzimmer, den Salon, zu der Terrassenthür; diese öffnete sie geräuschlos so weit, um hinausschlüpfen zu können, eilte über die Terrasse, um die Ecke des Gebäudes herum, über den Hof, um die zweite Ecke – dann blieb sie an dem dieser Ecke zunächst liegenden Fenster stehen.

Da der Hof, nach rückwärts hin sanft aufsteigend, höher lag als die Terrasse vor dem Hause, stand sie völlig hoch genug hier, um leise an das Fenster klopfen zu können … ein Mal, zwei Mal, stärker zum dritten Male.

Sie hörte Schritte im Innern des Zimmers – dann das Aufschlagen der im Innern angebrachten sichernden Läden – endlich öffnete sich ein wenig der eine Fensterflügel, und der in der Dunkelheit nicht zu erkennende Kopf eines Mannes blickte heraus.

„Ich habe Ihnen etwas mitzutheilen,“ stieß Valentine kaum hörbar, kaum verständlich heraus. „Werfen Sie sich augenblicklich in Ihre Kleider – Sie müssen fort – eine große Gefahr bedroht Sie – man will in die Ferme einbrechen, man will …“

„Bei Gott, Sie sind es, Valentine! … Sie? eine Gefahr? … und Sie kommen, um mich zu warnen, um mich zu …“

„Sprechen Sie leiser, um Gottes willen, leiser, oder besser, sprechen Sie gar nicht, eilen Sie, sich zu kleiden, springen Sie zu diesem Fenster heraus … dann führ’ ich Sie – aber eilen Sie, ehe es zu spät ist!“

„Aber welche Gefahr kann es sein?“ …

Valentine hob wie bittend beide Hände auf.

„Glauben Sie mir doch nur, daß Ihr Leben vielleicht an einer Minute hängt!“ rief sie fast wie zornig aufwallend aus.

Max verschwand im Innern des Zimmers. Einige Minuten vergingen – dann öffnete sich der Fensterflügel ganz; Max streckte den Arm mit seinem Degen heraus, um diesen unten an die Mauer zu stellen; gleich darauf erschien seine Gestalt, auf die Brüstung des Fensters tretend; einen Augenblick später stand er unten im Hofe und steckte seinen Degen ein.

„Folgen Sie mir!“ sagte sie mit einem Tone, der halb zitternd, halb gebieterisch klang, und wandte sich, um den Hof zu verlassen.

„Sie wollen mich führen – durch diesen Regen, diese kalte Nacht, und haben nicht einmal ein Tuch, nicht den geringsten Schutz!“ rief Max aus.

„Die Kälte wird mir nicht schaden,“ versetzte Valentine voraufschreitend, „ich spüre sie nicht, und der Regen hat aufgehört.“

„Und wozu,“ fuhr Max, an ihrer Seite jetzt dem gen Void hinausführenden Hofthore zueilend, fort, „wozu diese seltsame Flucht – so reden Sie doch, welche Gefahr fürchten Sie denn für mich?“

„Ist es Ihnen nicht genug, wenn ich Sie versichere, daß die dringendste Gefahr für Sie da ist, daß … mein Gott, ist es denn schon zu spät?“ unterbrach sie sich, plötzlich stehen bleibend, „sehen Sie dort, dort hinaus!“

Sie wies durch das jetzt unmittelbar vor ihnen weit offen stehende Hofthor, von dem ein Weg abwärts sich über einen Flurrücken der Chaussee nach Void zuschlängelte – der Weg für das Ackergefähr, das den von der vordern Terrasse durch den Garten und die Allee führenden herrschaftlichen Weg nicht benutzen durfte.

„Sehen Sie nicht Licht da unten?“

„Ich sehe allerdings ein Licht sich dort in der Ferne bewegen – es muß eine Laterne sein!“

„Man wird den Weg nach Void schon besetzt haben, er wird Ihnen abgeschnitten sein – vielleicht ist unser Haus rings umher schon umstellt – mein Gott, was beginnen?“ flüsterte das junge Mädchen. „Es bleibt nur Eines – kommen Sie hierher, hierher!“

Und in furchtbarster Erregung wandte sich Valentine und nahm mehr laufend als schreitend die entgegengesetzte Richtung, dem andern Hofthore zu, dem, durch welches am Nachmittag Max mit Gaston geschritten war.

„Aber ist denn ein ganzes Detachement wider mich im Anmarsch?“ fragte Max, der fast Mühe hatte, an ihrer Seite zu bleiben.

„Ein ganzes Detachement – ja, vielleicht ist es so, vielleicht eine ganze Schaar!“

„Franctireurs?“

„Was kommt auf den Namen an?“ fiel Valentine eifrig ein. „Hören Sie nichts?“

Sie waren zwischen den Hecken, die draußen den leise aufsteigenden Weg begrenzten, angekommen, und Valentine blieb hier lauschend stehen.

„Ich bilde mir ein, ganz in der Ferne vor uns Schritte zu hören – aber die feuchte schwere Last erstickt jedes Geräusch und macht es schwer, etwas zu unterscheiden … ich täusche mich vielleicht …“

„O nein, nein, kommen Sie hierher!“

Valentine schlüpfte durch einen kleinen Einschnitt in der Hecke, der sich links neben ihr befand, und eilte nun zwischen den Beeten eines Gartens, in den sie eingetreten, weiter. Am Ende des Gartens befand sich ein kleines hölzernes Gatterthor; sie öffnete dieses und ging weiter über eine mit kurzem Grase bewachsene Halde, über die ein für Maxens Augen nicht zu erkennender Fußweg lief, und dann weiter die Höhe hinauf, in das Gehölz hinein, das am Rande der Halde begann und den oberen Theil der Höhe bedeckte. Von rechts und links her schlugen der hastig Vorwärtseilenden die feuchten Zweige und Blätter entgegen. Valentine schien es so wenig zu achten, wie sie das feuchte Gras auf der Halde geachtet hatte. Ein eigenthümlich entschlossener [401] Muth schien über das junge Mädchen gekommen; daß sie durch Nacht und Regen, durch den unwegsamen Wald, in welchem Max wenigstens sehr bald gar nicht mehr begriff, wie sie den Fußpfad noch erkannte, und in dem eine völlige Dunkelheit herrschte; daß sie allein und unbeschützt mit dem fremden Officier dahineilte, das Alles schien nicht einen Augenblick ihren elastischen Schritt zu hemmen; der Eine Gedanke, wie sie Max in Sicherheit bringe, schien alle andere Rücksicht in ihr aufgezehrt zu haben; mit einer wie leidenschaftlichen Hast eilte sie weiter, bis sie endlich die Höhe des Berges erreicht hatte und auf einer kleinen Lichtung hochaufathmend stehen blieb. Am Tage mußte sich hier eine weite Fernsicht bieten; man sah jetzt nur über das nächste Unterholz fort und zwischen dunklen Stämmen hindurch ganz ungewisse und unerkennbare Umrisse der Thalbildung, unterschied nur, wenn man die Lage kannte, da, wo die Ferme stand, etwas, das wie dunkle Linien von Dächern und Gebäuden aussah. Von Zeit zu Zeit blitzte der Lichtschein wieder auf, ganz in der Ferne jetzt; es war allerdings, wenn er von einer Laterne eines verspäteten Wanderers herrührte, auffallend, daß er stets an derselben Stelle blieb. Ebenso auffallend war, daß ein Hundegebell sich plötzlich vernehmen ließ, von links her, von der Gegend her, wo die Straße, die zwischen den Gartenhecken begann und der Valentine ursprünglich hatte folgen wollen, die Bergseite hinauf lief; hätte Valentine nicht den Weg durch die Gärten und dann weiter hinauf durch das Gehölz eingeschlagen, so mußte man jetzt ungefähr da sein, wo der Hund anschlug, und auf seinen Führer stoßen. Dieser Ton aber schien Valentine auf’s Neue aufzuschrecken, sie wandte sich, um weiter zu eilen, über die kleine Lichtung fort und, jetzt bald bergabwärts schreitend, an der anderen Seite des Höhenrückens hinab.

„Ich bewundere Sie, wie genau Sie den Pfad durch dies Waldgestrüpp erkennen!“ sagte Max, „meinen Augen entzieht er sich vollständig.“

„Ich kenne ihn, ich bin ihn ja als Kind schon so oft gegangen,“ versetzte Valentine kaum hörbar, mit der Hand einen der nassen, sich vorstreckenden Zweige zurückbiegend, der gleich darauf gegen Maxens Brust schlug und seine Tropfen darüber schüttelte.

„Und wohin führt er, wohin führen Sie mich, Valentine? wollen Sie mir nicht endlich sagen, was eigentlich Ihre Aengstlichkeit hervorruft und weshalb Sie glauben, daß ein ganzes Corps gegen mich anrückt, weshalb Sie selbst diesen unglaublichen Weg machen und mich sich nachziehen? Verlangen Sie noch länger, daß ich Ihnen schweigend vertrauen soll?“

„Vertraue nicht ich Ihnen?“ fragte Valentine.

„Ja, bei Gott, das thun Sie, und dies Vertrauen macht mich so glücklich, daß dahinter meine Sorge um die Gefahr, aus der Sie mich retten wollen, völlig zurücktritt … ich kann nicht einmal recht glauben an diese Gefahr, die sich nur in Gestalt eines Lichtschimmers, eines in der Ferne bellenden Hundes offenbart …“

„Und doch, glauben Sie es mir, sind Sie in dringender Lebensgefahr; aber fragen Sie nicht, verlieren wir die Zeit nicht mit Reden; ich kann, ich mag Ihnen nicht mehr sagen, ohnehin sind wir dem Ziele nah, wohin ich Sie bringen will, dem sichern Asyl!“

Der Weg senkte sich jetzt plötzlich ziemlich steil abwärts; man mußte mit großer Behutsamkeit Stützpunkte für den Fuß suchen, wenn man nicht stürzen wollte, sich an den nächsten Aesten und dem Strauchwerk halten; die Füße glitten sonst auf dem losen Felsgeschiebe unsicher abwärts. Doch war es nur eine kurze Strecke; dann erreichte man ebenen Grund, die Sohle einer scharf eingeschnittenen Schlucht. Max konnte die hoch und steil an der anderen Seite der Schlucht sich erhebende Bergwand wahrnehmen. Valentine wandte sich links, die Schlucht hinauf, über ebenen glatten Rasenboden; dann ging es über Steingeröll einige Schritte weit aufwärts, und jetzt sah Max, daß er in der Oeffnung einer düster aufgähnenden Höhle stand, einer Oeffnung, die so schmal war, wie eine alte Burg- oder Gefängnißthür, auch durch den fast spitzbogigen Schluß daran erinnerte.

„In diese Höhle sollen Sie sich retten.“

„Am Ende gar die Höhle der Jungfrau?“

„Es ist die Höhle der Jungfrau. Schreiten Sie muthig hinein. Nur nicht weiter als nöthig, das heißt nicht weiter als etwa hundert, hundertfünfzig Schritt, denn dort, ganz im Hintergrunde, beginnt der Abgrund mit dem Gewässer in der Tiefe …“

„Und da hinein soll ich mich verkriechen?“

„Da hinein sollen Sie sich flüchten – Sie sind sicher da, denn Niemand wird Sie hier suchen. Zudem hat die Höhle eine feste, mit Eisen beschlagene Thür, die Sie mit einem inneren Riegel schließen können. Helfen Sie sich, so gut Sie können – wenn die Gefahr vorüber, komme ich oder sende Jemand Sie zu befreien – jetzt leben Sie wohl, seien Sie guten Muthes und Gott sei mit Ihnen. Je rascher ich wieder daheim bin, desto besser ist es. Adieu.“

Max ergriff ihre Hand. „Und in diesem Dunkel, in einem doppelten Dunkel wollen Sie mich zurücklassen, ohne daß ich eine Ahnung davon habe, was eigentlich Ihr Handeln bestimmt, Ihre Angst begründet, wie lange ich hier allein harren soll, wer der Feind ist, vor dem ich mich in diese schaurige Unterwelt verkrieche …“

„O, werden Sie hier nicht Zeit haben, sich das selbst auszudenken?“ antwortete sie, ihm ihre Hand entziehend – „wenn es nicht ein übermächtiger Feind wäre, würde ich Ihnen zumuthen, sich auf diese Art zu retten? Sie werden erlöst werden, sobald ich diesem Feinde, wenn er kommt, werde den Glauben beigebracht haben, daß Sie nach Void hinaus gegangen, und längst sicher bei den Ihren sind … und nun,“ fügte sie mit einem eigenthümlich bewegten Klange der Stimme hinzu, „nun adieu, adieu – halten Sie mich nicht – ich werde thun, was ich kann, Ihre Gefangenschaft abzukürzen – unterlassen Sie nicht, die Thür Ihres Zufluchtsortes zu schließen, wenn sie auch anfangs widersteht, weil sie lange nicht gebraucht ist – aber vermeiden Sie, Geräusch dabei zu machen – hüten Sie sich vor dem Abgrund – nochmals, Gott sei bei Ihnen!“

Valentine verschwand bei diesen Worten in der Dunkelheit, ehe Max antworten konnte. Er sah nur noch einen Augenblick lang den Umriß ihrer Gestalt die kleine Anhöhe unmittelbar vor dem Eingang der Höhle wieder hinabeilen, dann war sie auf dem Hintergrund der schwarzen Bergwand rechts verschwunden … nur ein rascher Schritt, wie sie auf dem steilen Wege wieder emporklomm, war noch eine Weile zu vernehmen.




6.


Kaum eine Viertelstunde später war Valentine wieder auf dem Hofe der Ferme; Alles lag anscheinend in friedlichster Ruhe begraben, ganz wie damals als sie den Hof mit Max verlassen – sie zog das Fenster, das Max offen gelassen, wieder zu und ging leise über die Terrasse in den Salon zurück, dessen Glasthür noch angelehnt stand; sie schloß und verriegelte diese hinter sich und huschte dann durch die dunklen Zimmer, die Treppen hinauf, oben über den Corridor. Hier sah sie einen feinen Lichtstreifen unter der Thür zu Miß Ellen’s Zimmer schimmern – Miß Ellen war also wach, hatte Licht und harrte der Dinge, die diese Nacht bringen sollte! Valentine glaubte etwas rauschen zu hören, wie wenn man ein Blatt in einem Buche umschlägt – konnte sie ruhig lesen in solch einer Stunde der Erwartung und Spannung? Vielleicht las sie – in ihrer englischen Bibel!

In ihrem Schlafzimmer angekommen, begann Valentine sich ihrer feuchten Kleider zu entledigen; nachdem sie die durchnäßten Schuhe mit Hausschuhen vertauscht, war sie eben damit fertig geworden einen Morgenrock überzuwerfen und gürtete ihn jetzt fest, als sie erschrocken inne hielt; sie vernahm ganz deutlich Stimmenwechsel draußen, nach der andern Seite des Hauses zu, also auf der vorderen Terrasse – dabei war ein Rütteln und Schütteln an einer Thür. Mit hochklopfendem Herzen nahm sie ihr Licht und im Begriff hinauszugehen horte sie Miß Ellen’s Thür sich öffnen. Im nächsten Augenblick war sie draußen auf dem Corridor, Aug’ in Aug’ mit Miß Ellen, die auf ihrem Wege zur Treppe überrascht innehielt und bei ihrem Anblick heftig die Farbe wechselte.

„Sie, Valentine?!“ rief sie aus, „… und gekleidet – was geht vor?“

„Dasselbe möchte ich Sie fragen – ich höre Stimmen draußen – man scheint in’s Haus dringen zu wollen – kommen Sie, daß wir sehen, was es bedeutet, wenn Sie es nicht wissen!“

[402] Sie schritt herzhaft voran, ihr Licht in der erhobenen Rechten – auch Miß Ellen trug ihr Licht.

Unten im Flure angekommen, hörten sie an der Hauptthür, die vom Hofe her hier hereinführte, ein Reißen und Rütteln am Schlosse – Miß Ellen wollte dahin eilen, wie um es zu öffnen, Valentine aber winkte ihr und flüsterte: „Kommen Sie zur Glasthür drüben, wir können dort durch die Scheiben sehen, wer Einlaß verlangt …“

Im Salon eilte Valentine ihr Licht hinzusetzen, den Laden von der Glasthür zurückzuschlagen und dann, das Gesicht dicht an die Scheiben gedrückt, in die Nacht hinauszuspähen. Sie sah mit einem leisen Aufschrei des Erschreckens unmittelbar in die sie anfunkelnden Augen Gaston’s, der sein Gesicht eben an die andere Seite der Scheibe gedrückt hatte, um in’s Innere zu spähen. Valentine fuhr zurück, wie von einer Natter gestochen. …

„Es ist Gaston!“ rief neben ihr im selben Augenblicke Miß Ellen – „es sind Leute bei ihm – aber öffnen wir ihm …“

„Ja, öffnen Sie ihm,“ athmete Valentine kaum hörbar – „es ist besser, als daß dieser Haufe dunkler Männer hinter ihm mit Gewalt einbricht, wie er vorzuhaben scheint.“

Miß Ellen öffnete die Salonthür – Gaston trat herein, ihm nach drängten sich vier oder fünf Männer in schmutzigen Blousen, ein paar mit Revolvern, die sie in der Hand trugen, bewaffnet, die anderen mit Stöcken; ihre geschwärzten Hände und Gesichter ließen sie auf den ersten Blick als Eisenarbeiter erkennen.

Gaston’s erstes Wort war ein zorniger Ausruf:

„Was thun Sie hier, Valentine? Wer rief Sie? Miß Ellen, Sie hielten Ihr Wort nicht …“

„Mein Gott, Gaston – sind Sie Anführer einer Räuberbande geworden?“ rief Valentine ihm entgegen. „Was bedeutet dies, wozu kommen Sie, was sollen diese Menschen hier?“

„Etwas, das Sie in aller Welt nicht angeht; gehen Sie, hinauf, Valentine, ich bitte Sie – es ist besser für Sie, gehen Sie hinauf!“

„Merkwürdiger Befehl! Ich soll gehen, während Sie hier von unserem Hause Besitz nehmen?“

„Ihr lautes Schelten wird nur Ihren Vater wecken und herbeirufen,“ fuhr Gaston dazwischen, „und wir brauchen ihn so wenig wie Sie – es ist auch für ihn besser, wenn er diese Nacht ruhig verschläft.“

„Kommen Sie in der That, um uns auszuplündern?“

„Nein, um dem Vaterlande einen Dienst zu erweisen, um einen seiner Feinde unschädlich zu machen!“

„Also Sie kommen nicht als Räuber, sondern nur … als Mörder …“

„Valentine, ich bitte Sie, mäßigen Sie Ihre Ausdrücke! Sie sind in einer Aufregung, worin Sie nicht wissen, was Sie reden. Sie werden uns aber nicht hindern, zu thun, was unsere Pflicht gegen Frankreich gebietet.“ …

„Wollen Sie mit solchen Phrasen diese ehrlichen Männer zu einer abscheulichen Handlung verleiten?“

Gaston schob in aufwallendem Zorn Valentine zur Seite und schritt weiter in den Salon; Miß Ellen, die athemlos horchend hinter Valentine gestanden, eilte ihr auf einen der Tische niedergestelltes Licht zu nehmen, wie um sich zu flüchten – die Arbeiter, die, ohne viel auf die Verhandlung zwischen Gaston und Valentine zu achten, sich erst neugierig nach allen Seiten in dem Salon umgeschaut hatten, drängten sich, einzelne Ausrufe wechselnd, nach – die ganze Gruppe nahm den Weg durch das Eßzimmer und den Flur, wo Gaston jetzt rasch die eigentliche Hausthür aufschloß, und dann zu der Thür des Fremdenzimmers, in welchem Max untergebracht worden war. Gaston klopfte an dieselbe; er rüttelte am Schloß – es kam keine Antwort von innen; die Thür widerstand den Versuchen, sie zu öffnen; sie war von innen verriegelt und keine Hand kam, den Riegel fortzuziehen.

Valentine war dem eingedrungenen Haufen gefolgt – als Gaston jetzt flüsterte: „Wir werden uns zu helfen wissen,“ und einem der Arbeiter Platz machte, der sich mit einem kurzen starken Stemmeisen, das er unter der Blouse hervorgezogen hatte, herandrängte, fiel sie ein:

„Sie können es leichter haben und es ist nicht nöthig das Schloß zu sprengen und uns die Thür zu verderben. Steigen Sie doch vom Hofe aus ein – das Fenster steht offen, die Läden ebenfalls …“

„Das Fenster und die Läden stehen offen!“ riefen jetzt mehrere der Leute, die eben durch die von Gaston geöffnete Hauptthür vom Hofe her in den Flur drängten.

„So laßt die auf dem Hofe hineinsteigen!“ gab Gaston zur Antwort. „Oder,“ fuhr er hastig sich zu Valentine wendend fort, „ist der Vogel ausgeflogen und danken wir es Ihnen, Valentine?“

Er wurde abwechselnd bleich und roth bis über die Stirn vor Zorn und Aerger bei diesen Worten.

„Sie danken es nur der Wachsamkeit und Vorsicht Dessen, den Sie suchen, Gaston – diese Art Leute, scheint es, lassen sich nicht überlisten von – Ihnen!“

Sie sprach das mit einer Bitterkeit und einem Sarkasmus, dem gegenüber Gaston Mühe hatte, sich zu beherrschen.

„Erbrechen Sie die Thür!“ rief er mit einem Fluche dem Arbeiter neben ihm zu. „Wir wollen doch sehen, ob dies wahr ist.“

Der Mann setzte sein Brecheisen ein – aber es war kaum geschehen, als die Thür sich wie von selbst öffnete; sie wurde von innen aufgeschlossen, von den Leuten Gaston’s, die schon vom Hofe her durch das offene Fenster gestiegen waren.

„Es ist Niemand d’rin – er ist entwischt – er ist zum Teufel, dieser schlaue Preuße – welcher Verrath!“ schrieen die Leute durcheinander und zeigten sich in einer wüsten Aufregung, als ob sie nicht übel Lust hätten, sich an den Bewohnern der Ferme des Auges und an Allem, was sie um sich her sahen, mit ihren gewaltigen schwarzen Eisenhammerfäusten zu rächen. In der That begannen sie, wie unter dem Vorwande des Suchens, sich in beunruhigender Weise in die nächsten Räume zu verbreiten. Zum Glücke kamen vom Hofe her die durch den Lärm aufgeschreckten Dienstleute herbeigestürzt, und von oben, rasch und schwer die Treppe herab, kam jetzt eben auch Herr d’Avelon, der, auf dem Perron stehend bleibend, auf’s Aeußerste überrascht die merkwürdige nächtliche Scene da unten anstarrte, diese dunklen, unheimlichen, in der spärlichen und doch grellen Beleuchtung doppelt dräuend und räuberhaft aussehenden Gestalten, die seine furchtlos ihnen Trotz bietende Tochter und die ängstlich sich an sie drängende Miß Ellen umringten – im nächsten Augenblicke erkannte er auch Gaston, kam die letzten Stufen herab, und sich hastig durch die den Flur füllende Schaar Bahn brechend, eilte er auf ihn zu:

„Gaston – zum Henker, was geht hier vor? was wollen diese Menschen hier? – es sind Ihre Arbeiter – was wollen Sie hier? – was überfallen Sie mitten in der Nacht mein Haus? – werden Sie mir Rede stehen oder nicht?“


(Fortsetzung folgt.)




Aus deutschen Lustschlössern.


2. Der vorletzte der fränkischen Hohenzollern.


Die Mitte und das Ende des achtzehnten Jahrhunderts war die Zeit der Nachäffung französischen Wesens. Wenn einerseits jeder unserer zahlreichen Duodezmonarchen einen Ludwig den Vierzehnten spielen wollte, sich Schlösser erbaute, die oft größer waren als seine ganze Hauptstadt, und Hof und Höfchen mit einem Pomp und Ceremoniell à la Versailles umgab; wenn die Copie unserer westlichen Nachbarn das allgemeine Merkmal dieser Kreise bildete – so hatten und pflegten daneben doch die Meisten noch ihre speciellen Absonderlichkeiten und Narrheiten. Die Tollheit aber ward wiederum gehörig in System und Methode gebracht und so die Carricatur vollendet. Ist denn nicht Carricatur jener Herzog Moritz von Sachsen-Merseburg, der nur für die Baßgeige lebt und seiner Tochter als Wiegengeschenk eine kleine Baßgeige einbindet? Nicht Carricatur jener schlesische Graf Hoditz, welcher auf seinem Gute Roswalde das Alterthum leibhaftig in Scene setzt, seine Hörigen und Bauern in griechische Gewänder hüllt und als Auguren und [403] Haruspices schalten läßt, der Diana, Flora, Ceres, Thetis Tempel stiftet und der Sonne ein ewiges Feuer weiht – Alles zu Ehren der Kaiserin Maria Theresia, nach welcher er seinen ergötzlichen Mummenschanz die „theresianische Schäferei“ benennt? Nicht Carricatur der schnurrige Kauz, jener Landgraf von Hessen, der in seiner Miniaturresidenz Pirmasenz den Potsdamer Soldatenglanz nachahmt und die Einkünfte seines Ländchens in Riesengrenadieren vergeudet? Steckt doch selbst in den bedeutendsten Regenten jener Tage ein gut Stück Wunderlichkeit und Sonderlingsthum. Friedrich Wilhelm dem Ersten von Preußen und seinem großen Sohne wird sicher Niemand die ausgesprochene Eigenartigkeit abstreiten.

Schloß Drossenfeld bei Baireuth im Jahre 1763.
Nach einem alten Kupferstich aus dem vorigen Jahrhundert.

Einen hervorragenden Platz unter diesen gekrönten Originalen ebenso wohl wie als eifrige Versaillescopisten behaupten die Hohenzollern der fränkischen Linie, die Markgrafen von Brandenburg-Culmbach vorauf. Herren über noch nicht zweimalhunderttausend Seelen, entfalten sie in der Capitale ihres Staates, dem am Fuße des Fichtelgebirges grün und anmuthig, doch von allen großen Straßen der Menschen abseits gelegenen Baireuth, einen so ungemeinen Luxus, daß Friedrich von Preußen, als er den Prunk erblickt, erstaunt fragt: „Wo nehmt Ihr denn zu all Dem das Geld her? Ich kann’s nicht.“ Bekanntlich war seine ihm geistesverwandte älteste Schwester Wilhelmine, mit dem Markgrafen Friedrich vermählt, die Verfasserin jener berühmten und berüchtigten Denkwürdigkeiten, die, zwar vielfach von Spottlust und Verbitterung, von Haß und Rachsucht dictirt, für die Geschichte des Hoflebens im vorigen Jahrhundert eine so werthvolle Quelle abgeben.

In derselben Nacht, ja in derselben Stunde, am 14. October 1758, in welcher der von ihr vergötterte und sie seinerseits vergötternde Bruder – „das Einzige, was mir auf der Welt bleibt, bist Du allein,“ schreibt er ihr; „Du allein fesselst mich noch an das Leben“ – bei Hochkirch von den Oesterreichern überfallen wird, stirbt merkwürdiger Weise Wilhelmine, die Philosophin von Baireuth. Des Zügels ledig, welchen sie ihm angelegt, und in zweiter Ehe mit einer gleich ihm vergnügungssüchtigen braunschweigischen Prinzessin vermählt, überläßt sich Markgraf Friedrich jetzt rückhaltlos seiner Prachtliebe und Verschwendungssucht. Eremitage und Sanspareil werden zu dauernden Festtempeln, von deren Glanz und Ueppigkeit die fremden Gäste Fabelhaftes zu erzählen wissen. Das Land seufzt unter den Leiden des Krieges, sein Fürst aber erscheint mit königlichem Aufwand in den damaligen Modebädern, in Aachen und Spaa; jede dieser Reisen verschlingt Hunderttausende von Gulden, die sein Minister und Factotum, der Verwalter der Staats- und Schatullgeldern Freiherr v. Ellrodt, auftreiben muß, wie er kann, d. h. durch neue Bedrückung der steuergequälten Unterthanen. Als, kurz vor dem Hubertusburger Frieden, den noch nicht zweiundfünfzigjährigen Monarchen eine Lungenentzündung jählings dahinrafft, ist gleichwohl die Trauer im Lande allgemein und ungeheuchelt. Denn [404] der Verstorbene ist ein leutseliger und zugänglicher Herr gewesen, von liebenswürdigem, jovialem Wesen, der gern lebt und leben läßt, und die Pracht seines Hofes, wenn sie auch die Kräfte des kleinen Staates bis zur Erschöpfung anspannt, hat doch manch fremden Gulden in’s Land gezogen und darin festgehalten. Aufrichtig sind daher die Thränen, welche das Volk an seinem Paradebette in der von oben bis unten mit schwarzem Flor überzogenen großen Galerie des Baireuther Schlosses vergießt, echt die Klagen, die es ihm in seine Gruft im Kloster der „Weißen Frau“ zu Himmelskron nachruft. Der Verblichene hat keinen männlichen Erben hinterlassen, und das frühere Leben seines rechtmäßigen Nachfolgers, des Prinzen von Neustadt, wie man ihn heißt, stellt nicht viel Gutes in Aussicht.

Dieser Markgraf Friedrich Christian von Brandenburg-Culmbach, Friedrich’s Oheim, der jüngste Bruder von dessen ebenfalls an Wunderlichkeiten überreichem Vater, von welchem Friedrich Wilhelm der Erste von Preußen sagt: man sollte ihn ohne Umstände in ein Narrenhaus sperren, ist unter den vielen gekrönten Originalen des vorigen Jahrhunderts einer der sonderbarsten Käuze. Seine Schrullen arten allmählich in offenbaren Wahnsinn aus, so daß ihm mit kaum minderem Rechte als jenem Hohenzollern von Schwedt das Prädicat des „tollen Markgrafen“ gebührt.

Die Regierungsperiode Markgraf Friedrich Christian’s zählt zu den interessantesten und jämmerlichsten Capiteln in der Geschichte deutscher Kleinstaaterei, und wir müssen es Karl Gutzkow Dank wissen, daß er sich der Mühe unterzogen hat, die Einzelheilen der leidigen Tragikomödie aus dem Staube der Archive hervorzusuchen und in seinem jüngsten vortrefflichen Romane „Fritz Ellrodt“ an’s Licht zu stellen, um uns einen neuen Einblick zu gewähren in das Leben der von der Partei der Umkehr so hoch gepriesenen „guten alten Zeit“. Zwar ist unserm Dichter das historische Moment, das von ihm zum ersten Male in die größere Oeffentlichkeit geführte, so zu sagen, neu entdeckte historische Detail blos Nebensache, es steht ihm erst in zweiter Linie nach dem schöpferisch-poetischen, dem allgemein menschlichen, ethisch-psychologischen, allein das von ihm erschlossene Material bleibt darum nicht weniger authentisch und bedeutend, so daß wir uns mit gutem Gewissen, was die äußeren Umrisse und die Farbengebung unseres gegenwärtigen Rococogemäldes betrifft, an dasselbe anlehnen.

Christian’s Vater, Markgraf Heinrich, war ein mit einem Jahrgeld abgefundener Prinz des Brandenburg-Culmbacher Hauses, ohne Aussicht, je zur Regierung zu gelangen. Mit vielen Kindern gesegnet, sah er sich bei einem dürftigen Einkommen in beständiger Noth und ließ sich deshalb von König Friedrich dem Ersten von Preußen bestimmen, diesem seine Anwartschaft auf das Fürstenthum gegen eine ansehnliche Pension zu verkaufen und sich nach dem ihm eingeräumten kleinen Schlosse zu Weferlingen, dicht an der preußisch-braunschweigischen Grenze, zurückzuziehen. Hier, in einer lieblichen, von grünen Hügelketten durchzogenen Gegend, wird unser Friedrich Christian geboren und von seiner frommen Mutter, einer Wild- und Rheingräfin von Wolfstein, in Spener’schen Grundsätzen erzogen. Als unerwartet sein ältester Bruder, der nachmalige Schwiegervater Wilhelminens, den Thron der Culmbacher Monarchie besteigt – Prinz Heinrich hat sein Verhältniß zu Preußen bald wieder gelöst – wendet auch er selbst, inzwischen mit einer Prinzessin von Anhalt-Bernburg-Schaumburg verbunden, sich nach dem Baireuth’schen Stammlande. Jähzornigen Temperaments läßt er sich in dem ihm angewiesenen Neustadt an der Aisch, unweit Nürnberg, auf der Jagd zu einem Morde fortreißen. Einer seiner Jägerburschen hat eine dienstliche Säumniß verschuldet und giebt auf die ihm vom Prinzen zu Theil werdende Rüge eine ungehörige Antwort. Ohne Besinnen zieht Christian die Pistole und schießt den Pflichtvergessenen über den Haufen.

Er büßt die Unthat, den Ausfluß eines verstörten Gemüthes, denn er hat die Gewißheit gewonnen, daß seine Gemahlin ihm die Treue gebrochen, auf der romantischen alten Veste Plassenburg bei Culmbach. Mit sich und der Welt zerfallen, vergrämt und verbittert, kehrt er, nach dem Tode seines Bruders aus der Haft entlassen, in die Gesellschaft zurück, sieht sich aber am Hofe von Baireuth, dessen französisches prunkvoll-geräuschvolles Treiben ihm ohnedem in innerster Seele zuwider, beständigen Demüthigungen ausgesetzt, so daß er den Schwur thut: „Nie wieder betrete ich dieses Land!“ und sich nach Dänemark begiebt, in dessen Diensten er als Oberster eines Infanterieregimentes steht und wo zwei seiner Schwestern leben, die eine als Gemahlin König Christian des Sechsten, die andere als kinderlose Wittwe des Fürsten Edzard von Ostfriesland. Seine Nichte Wilhelmine hat ihn noch vor seiner Verheirathung kennen zu lernen Gelegenheit gehabt und entwirft von der äußern Erscheinung des Prinzen kein sehr schmeichelhaftes Bild. Ohne Zweifel sind die Farben desselben zu grell gewählt, begreifen aber läßt sich, daß man nach dem „unvergeßlichen“, verbindlichen, liebenswürdigen Friedrich in Beireuth dem neuen Markgrafen, von dessen „hohenzollernschem Jähzorne“ – so drückt sich seine eigene Mutter aus – die unerhörtesten Gerüchte im Schwange gingen, nicht mit absonderlichem Verlangen entgegensah.

„Ich werde sein Portrait von der guten Seite anfangen,“ beginnt die Memoirenschreiberin. „Er war mehr groß als klein und ziemlich gut gebaut. Die Menge Ratten, die in seinem Gehirne wohnten, verlangten vielen Platz; auch hatte er dessen in seinem außergewöhnlich großen Kopfe. Zwei kleine blaßblaue Schweinsaugen ersetzten sehr schlecht die Leere dieses Hauptes. Sein breiter Mund war ein wahrer Abgrund, zwischen dessen zurückgezogenen Lippen man das Zahnfleisch von zwei Reihen schwarzer, widriger Zähne sah. Dieser Rachen stand immer offen. Sein dreistöckiges Kinn verschönte die Reize noch. Ein Pflaster diente dem untern Theile desselben zur Zierde. Es verbarg eine bösartige Fistel, deren Heilung noch keinem Arzte hatte gelingen wollen. Zu allen diesen Schönheiten gesellte sich noch die eines rothblonden, sehr verwirrten Haarwuchses, welcher sehr gut zu seinem geschmacklosen, aber mit Gold und Silber dergestalt überladenen Kleide stand, daß er es kaum tragen konnte. Seine Seele war ebenso bevorzugt wie sein Leib; er war manchmal im Kopfe nicht ganz richtig. In solchen Momenten von Geistesabwesenheit gerieth er in förmliche Tobsucht und wollte alle Welt umbringen.“

Ein wunderlicher Hofhalt des fürstlichen Sonderlings! Der höchsten Gunst des Herrn erfreut sich ein marktziehender Quacksalber, Caspar Heinrich Schröder, ein unverschämter Patron, der dem fußleidenden Prinzen einst mit Erfolg die Hühneraugen operirt hat und darauf zum hochfürstlichen Leibarzt befördert worden ist. Mit einem Anfluge von Bildung, der ihn über die Leute seines Schlages emporhebt, und von ungemessener Geld- und Ehrgier, schmeichelt der sittenlose Gesell so glücklich und zettelt Kabalen und Verschwörungen so fein an, daß er eines Tages das Fürstenthum Brandenburg-Culmbach als allgebietender Premierminister regiert. Prinz Christian ist abgesagter Feind alles wälschen Wesens, insonderheit der französischen Aufklärung. Seine Lieblingslectüre sind Werke rechtgläubig-christlichen Inhalts; eine Sammlung verschiedener Gesangbücher bildet einen Haupttheil seiner Bibliothek. In ihnen, in Angelus Silesius’ „Cherubinischem Wandersmann“, in Süßmilch’s „Göttlicher Ordnung“, in seinem Liebling Christian Fürchtegott Gellert, sucht er Rath und Trost, wenn ihm seine wirklich ernste Reue, sein ängstliches Streben nach einer Aussöhnung mit Gott keine Ruhe lassen, nach Herrnhuter Weise das erste beste Wort, welches er aufschlägt, als „Bibelloos“, als Orakel und Tagesspruch festhaltend.

Seinen „hohenzollernschen Jähzorn“ hat seine Frömmigkeit indeß nicht zu besiegen vermocht. Schleunigst suchen seine Umgebungen sich rückenfrei zu machen, wenn ein gewisses Lächeln von böser Vorbedeutung, das nicht Ausdruck von Heiterkeit, sondern blos ein angewöhntes Muskelzucken ist, seinen großen Mund umspielt und seine Hand sich nach dem Bambusrohre bewegt. Man weiß, daß, gleich seinem Vetter Friedrich Wilhelm dem Ersten von Preußen, Prinz Christian periodischen Heftigkeitsanwandlungen unterworfen ist, die Niemanden verschonen, selbst die Stabsofficiere seines Regimentes nicht. Ist der Wuthanfall vorüber, dann thut der wunderliche Herr alles Mögliche, den Gekränkten zu versöhnen, und greift mit freigebiger Hand in seine auf einem Tische seines Arbeitszimmers festgeschraubte Cassette, welche mit frischgeprägtem Golde gefüllt ist. Nächst den Gesangbüchern und erbaulichen Schriften und nächst der – deutschen Komödie in Hamburg ist dergleichen „von den Thränen und Sünden der Menschen, vom Schmutz des Lebens“ noch nicht beflecktes Gold seine vornehmste Liebhaberei; seine größte Antipathie hingegen der Voltairianismus und – Alles, was von Preußen [405] kommt und mit Preußen zusammenhängt. Der Gedanke der „Preußenseuche“, an dem ein bekannter deutscher Schriftsteller der Gegenwart laborirt, spukt schon in Durchlaucht Friedrich Christian’s von Brandenburg-Culmbach Kopfe.

In diesem eigenthümlichen Wandsbecker Stillleben erreichte ihn die ministerielle Benachrichtigung vom plötzlichen Hinscheiden seines Neffen Friedrich, und kurz danach, an einem sonnigen Tage des Vorfrühlings, die Baireuther Huldigungsabordnung. Hohe Culmbacher Würdenträger sind es, welche in imposanter Auffahrt, in der Galacarosse des neugebackenen Freiherrn v. Schimmelmann, Commerzdirectors und stimmführenden Gesandten am niedersächsischen Kreistage, Hüte und Arme beflort, den Prinzen aufsuchen, um ihn zum Antritt der Regierung des ihm in rechtmäßiger Erbfolge zugefallenen Markgrafenthums aufzufordern: der Hofmarschall Geheimrath Wilhelm v. Treskow, der Directeur der fürstlichen Parforcejagd und Oberforstmeister Theodosius Christoph Adam v. Reitzenstein, ein donnerwetternder alter Haudegen mit kriegerischem weißen Knebelbart, und der Minister des Auswärtigen und des markgräflichen Hauses, zugleich Gesandter zu Wien und am Reichstage zu Regensburg, Friedrich Reichsgraf v. Ellrodt.

Der Letztere, auch der Held des Gutzkow’schen Romans, ist ein Liebling der Götter; an Leib und Geist vor Tausenden gewöhnlicher Sterblicher begünstigt, von unwiderstehlicher Liebenswürdigkeit, gemahnt er an Goethe, gleich dem Frankfurter Poeten, vor dem er nur ein Dutzend Lebensjahre voraus hat, eine Apolloerscheinung, welcher alle Herzen entgegenschlagen, wo sie sich zeigt; von so seltsamen Körpervorzügen, daß er in Wien allgemein nur „der schöne Ellrodt“ heißt und Kaiserin Maria Theresia, „in der ihr eigenen Offenherzigkeit im Besprechen ähnlicher Dinge“, den Wunsch äußert, sie möchte ihn täglich ein-, und wenn sie in der Hoffnung sei, des Tages zweimal sehen. Während andere von den Universitäten Erlangen und Jena und von Reisen durch Holland, Frankreich, Italien und die Schweiz kaum zurückgekehrt, ihre Laufbahn erst mühsam beginnen, sieht er sich, ohne sein Dazuthun, mit fünfundzwanzig Jahren bereits zum Minister seines Heimathlandes und zum wichtigsten diplomatischen Posten desselben befördert.

Freilich ist er der Sohn seines Vaters, des schon früher erwähnten Premierministers Philipp v. Ellrodt, der dreißig Jahre hindurch das Ruder des Fürstenthums geführt und durch seine geschickte Administration in den schwierigsten Zeiten für den unerhörten Luxus des Markgrafen Friedrich die Mittel flüssig zu machen verstanden hat – ohne sich selber darüber zu vergessen. Hat er sich doch in der Nähe Baireuths einen Herrensitz, Schloß Drossenfeld, geschaffen, welcher mit den fürstlichen Zauberpalästen den Vergleich nicht zu scheuen braucht. Daß das Volk den Mann, der es für den immer bedürftigen landesherrlichen Säckel und für seine eigenen kostspieligen Neigungen ausbeutet, nicht eben mit gewogenen Augen betrachtet, ihm im Gegentheil die Noth, in welcher es schmachtet, mehr zur Last legt als dem Markgrafen selbst – ja, daß die Ellrodt’sche Verwaltung in ganz Deutschland verrufen ist, kann nicht Wunder nehmen. Bürgerlicher Herkunft, einer süddeutschen Theologenfamilie entsprossen, wird Ellrodt Vater, nach absolvirten akademischen Studien, Pagenhofmeister in Baireuth, später markgräflicher Secretär, geheimer Referendar, endlich dirigirender Minister und fast unumschränkter Regent des Landes. Früher schon baronisirt, ist er später von der Kaiserin mit der Reichsgrafenwürde beliehen worden.

Wer sich übrigens einbildet, der im Exile lebende arme Prinz Christian habe mit beiden Händen nach dem ihm dargebotenen Markgrafenhute greifen müssen, der irrt gewaltig. Allem Erdenglanze abhold, weigert sich der Vergrämelte vielmehr auf das Unzweideutigste, die ihm gewordene Erbschaft anzunehmen. Einmal hat er ja verschworen, sich je im Leben wieder in Baireuth blicken zu lassen, und sodann, was soll er in der Residenz, wo er nichts als „französische Windbeutel und verdorbene Schöngeister“ findet; wo auf der Kammerherrenliste und unter den Rittern vom rothen Adler nur noch Fremde verzeichnet stehen; wo er sich alle Tage in Gala und Etiquette zur Tafel setzen muß, er, der blos kalte Speisen genießt und der Fleisch am liebsten mit den Fingern aus der Schüssel nimmt? Nein, rundheraus erklärt er den drei Huldigungsdeputirten, „er sei entschlossen, den Kelch an sich vorübergehen zu lassen, und bitte dahero die Herren Ministres, anderweitige Fürsorge zu treffen und ihn ein- und für allemal zu präteriren.“ Erst der Ermahnung des Pastors Hasse von Wandsbeck, der ihm bedeutet, daß „ein Eid nur dann Werth habe, wenn man sich dabei feierlich auf die Zeugenschaft des Herrn berufen hat“, und der unermüdlichen Beredsamkeit Ellrodt-Apollos, welcher in die pietistischen Grübeleien des Sonderlings einzugehen weiß, gelingt es, die Abneigung des Prinzen gegen den ihm so unerwartet winkenden Thron zu überwinden. Er unterzeichnet endlich das bereitgehaltene Protocoll und verheißt, binnen vier Wochen als Landesherr in Baireuth Besitz zu ergeifen. Alle Beamten, Hofstaatsdiener sollen im Genusse ihrer Stellen und Befugnisse belassen werden, nur die Franzosen und Italiener, „die Schmarotzer und Nimmersatts“, das Feld räumen. Blos Deutsche erwarte er bei seiner Ankunft vorzufinden.

Und als er einzieht in seine Hauptstadt – zur Bestreitung der Reisekosten Seiner Durchlaucht hat der Rothschild des Landes, der Kammerresident Moses Seckel, Hofbanquier und Münzpächter zu Baireuth, die beträchtliche Summe von achttausend Thalern, darunter fünfhundertundsechszig Ducaten in funkelnagelneuem Golde, beschaffen müssen – sind sämmtliche Fremde, auch die Mitglieder der von Friedrich gestifteten Akademie der Künste, längst über alle Berge. Die Angst vor Friedrich Christian’s wohlbekanntem Bambus hat ein allgemeines Sauve qui peut bewerkstelligt. In die ihm bestimmten Zimmer des Schlosses geleitet, wandert er nachdenklich durch die weiten Räume, streift dann seinen Brillantring vom Finger und kritzelt in eine Fensterscheibe die Worte ein: „Eile und errette Deine Seele! denn hier auf dieser Welt ist für Dich kein wahres Gut zu finden.“ Gewiß, eine ungewöhnliche Betrachtung für einen Mann, dem soeben eine Krone dieser Erde, oder doch ein diamantenbesetzter Markgrafenhut, zu eigen geworden ist! Im Uebrigen rechtfertigt er vorerst die Besorgnisse nicht, mit welchen man seinem Kommen entgegengebangt hat. Er zeigt sich in seiner trübseligen Weise huldvoll gegen Jedermann. Zwar scheucht er die zumeist längst verabschiedeten Diener seines Bruders aus ihrer Ruhe wieder auf, um sie in seinem Hofhalte von Neuem anzustellen, allein ohne deshalb irgendwen sonst seiner Stelle zu berauben. Sogar die vier Kammermohren und Hoftürken und Hofkosaken dürfen in ihren Würden verbleiben, und muß der eine von den Erstgenannten, der zu Durchlaucht’s Schrecken noch nicht getauft ist, sich schleunigst dieser Ceremonie unterwerfen. Blos die Parforcejagd wird unerbittlich vom Etat gestrichen – seit ihm in den Neustädter Wäldern das Unglück begegnet, dessen Gedächtniß er nicht aus der Seele wälzen kann, seit er im Zorne jenen Jagdburschen aus Creussen in Franken getödtet hat, ist ihm das Waidwerk ein Gräuel, vor Allem das „Halloh, das Peitschengeknall und Rüdengebell“ der Hetzjagd.


(Schluß folgt.)




Drei Weltverbesserer.


Aus früherer Zeit. Von Arnold Ruge.


Mazzini’s Tod hat ihm mehr Lob eingetragen, als sein ganzes Leben von vierundsechszig Jahren. Daß man so etwas nicht erleben kann! Und doch, wenn Einer recht Vielen ein Dorn im Auge ist, so sollt’ er sich für todt ausgeben lassen, um diese merkwürdige Probe zu machen. Mazzini hätte es möglich zu machen gewußt, war er doch sogar sterbend incognito in Pisa; aber es hätte mehr als sein Lob mit einer solchen Täuschung der Welt erreicht werden müssen, zum Beispiel die italienische Republik. Einen Ruhm ohne so wesentlichen Inhalt kannte er nicht; und weßwegen er so Viele hinriß, das war gerade diese uneigennützige Hingabe an sein Ideal, wozu dann noch seine liebenswürdige gescheidte Persönlichkeit kam.

[406] Als ich ihn vor einigen Jahren mit meiner ältesten Tochter in London besuchte, war er voller Hoffnung für Italien, und als besonderer Freund der Damen richtete er sein lebhaftes Gespräch vorzugsweise an meine Begleiterin, die ihn schon aus Herrn Stanfield’s Salon von früher her kannte und ihm mit großem Interesse zuhörte. „Ich bin ernstlich krank gewesen,“ sagte er „und weiß nicht, ob ich mich für hergestellt ansehen kann.“ Er war über und über grau, auch in Grau gekleidet, um so feuriger leuchteten seine schönen italienischen Augen; sein kräftiger Händedruck sprach für Genesung. „Aber, wenn ich nur noch Ein Jahr vorhalte, so erlebe ich doch noch die italienische Republik. Die ganze Armee bis zum Hauptmann hinauf ist republikanisch; wir werden den Franzosen noch zuvorkommen.“

Er hat länger gelebt, aber die Ereignisse, welche diese seine letzten Jahre brachten, waren ganz anderer Art; und wenn er die Befreiung seines theuren Roms, dem er einst mit Ehren vorgestanden, erlebte, so war es wiederum nicht aus eigenen Mitteln des italienischen Volks – was er immer verlangt hatte mit seinem berühmt, aber nicht wahr gewordenen Worte: „L’Italia farà da se“ („Italien wird allein thun!“) – nein! es waren wiederum die Deutschen, welche die Räumung Roms erzwangen, wie sie 1866 die des Quadrilateros[1] und Venedigs erzwungen hatten. Und die Verbrüderung war keine demokratische, ja, es war gar keine Verbrüderung, sondern nur ein gleiches Interesse vorhanden, eine Politik, die allerdings von Mazzini gewürdigt, von Garibaldi aber, wie wir wissen, und von so manchen anderen verkannt wurde.

Ich habe den braven Tribun mit prophetischer Gewalt und rastlosem Eifer nicht wieder gesehen. Vor zweiundzwanzig Jahren dagegen hatte ich vielfache Berührung mit ihm als sein College im europäischen Centralausschuß seligen Andenkens. Ich will hier einiges Anekdotische mittheilen.

Durch Ledru Rollin und vornehmlich durch den polnischen Gutsbesitzer Worzel wurde ich mit Mazzini bekannt. Worzel, der mir von Paris her befreundet war, hatte mich zum Candidaten des Centralcomités gemacht und beredete mich zum Beitritt. Der Gedanke war sehr richtig: das Comité sollte eine Verbrüderung der Nationen anbahnen und diese zur Politik der Demokratie erheben, so daß die Vereinigten Staaten von Europa es zu einem friedlichen Gemeinwesen brächten. Was ich vermuthet hatte, meine Abwesenheit von London brachte mir mancherlei Ungelegenheiten. Manche Reise, die sehr wichtig sein sollte, erschien mir bei der Rückreise sehr überflüssig und ich konnte es nicht vermeiden, unter manchem Manifest meinen Namen zu finden, das Mazzini mehr in seinem, als in meinem Sinne abgefaßt hatte und das dann im Namen des Comités ging; gegen seinen Wahlspruch: „Gott und das Volk!“ hatte ich nur die Kleinigkeit einzuwenden, daß wir keine Theologen waren und uns nicht für das Volk in jeder Form, sondern nur für das „freie Volk“ interessirten.

Das Centralcomité entsprach aber dem Geiste der damaligen Opposition als Protest gegen die Vergewaltigungen, denen sie eben erlegen war, und wir hatten in Frankreich unser Journal und in der Versammlung unsere politischen Freunde. Dies änderte sich durch den Staatsstreich. Seitdem hatten wir keinen direct politischen Einfluß mehr auszuüben.

Als nun Kossuth nach England kam, und vollends nach seiner Rückkehr aus Amerika, trat ein ganz neues Element auf: die politischen Chefs der verschiedenen Völker, die reges in partibus; und da wir Deutsche einen solchen Glücklichen im Unglück nicht hatten, so waren wir natürlich auch nicht mehr zu vertreten.

Zuerst erkannte Kossuth auch Ledru Rollin und Mazzini nicht an, worüber ich ein wenig mit ihm in Zwist gerieth. Ich sah ihn als Mitglied der Brightoner Deputation, die ihn zu seiner Ankunft in England beglückwünschte. Und als ich fand, er müsse Ledru Rollin besuchen und sich auf gleichen Fuß mit uns stellen, fand er keineswegs eine Gleichheit, weil Ledru nicht die ganze provisorische Republik von 1848 als Chef repräsentiert habe, und uns Deutschen gestand er nun gar nicht einmal die Existenz zu. Auf meine Bemerkung, Ungarn sei gegen Deutschland trotz alledem nur secundär und existire als Culturvolk nur durch Deutschland, wurde er fuchswild, rannte rund um den Tisch herum und erklärte, Ungarn sei jeder Nation ebenbürtig und von selbstständiger Bedeutung.

„Sie sehen, Herr Gouverneur,“ sagte ich, „daß die Sache zwei Seiten hat und daß die Anerkennung mindestens gegenseitig sein sollte. Ich dächte, die Ungarn hätten genug von der Isolirung!“

Wir kamen noch so ziemlich in Frieden auseinander, auch habe ich ihn nachher noch einmal wiedergesehen; aber die Damen im Salon sahen sehr ungnädig drein, denn sie hatten unser Deutsch sehr wohl verstanden.

Endlich gab es eine sonderbare Veranlassung zum Bruch und wieder aus patriotischen Gründen, während man doch über solchen Particularismus hinaus und europäisch sein wollte. Die Deutschen in London feierten Blum’s Todestag und Andenken und luden mich ein, bei der Gelegenheit zu präsidiren, was ich auch that. Es war eine glänzende Versammlung in Freemasons Hall, nur die großen Repräsentanten, die eingeladen waren, Ledru, Mazzini und Kossuth, fehlten. Ledru hatte sich nicht erklärt; von Mazzini und Kossuth waren aber Briefe eingelaufen; und Beide, als hätten sie sich verabredet, erklärten, der Eine die Ungarn, der Andere die Italiener für die wahren Märtyrer und wollten von einer Bevorzugung Blum’s nichts wissen. Natürlich wurde beschlossen, diese Briefe der Versammlung nicht mitzutheilen und das Präsidium zu beauftragen, sie mit Protest zu beantworten. So gerieth ich ganz zufällig mit meinem Collegen Mazzini und mit dem Gouverneur der Ungarn in Conflict; denn ich hatte ihnen mitzutheilen: der Vorstand habe sie einfach als Bürger und Demokraten, nicht als reges in partibus der Italiener und der Ungarn eingeladen und daher es nicht für passend erachtet, ihre Briefe der Versammlung vorzulesen.

Kossuth ging bald darauf nach Italien. Mazzini selbst nahm die Wendung nicht übel; die Damen hingegen, in deren Gesellschaft ich ihn das nächste Mal traf, bestraften mich mit wohlverdienter Kälte: eine solche plumpe Sprache war wider alle Kleiderordnung. Wo sich ein König zeigt, findet sich gleich auch ein Hof, und der Hof ist dann, wie immer, königlicher als der König. Die große Verehrung, die Mazzini von vielen geistvollen und schönen Damen genoß, muß ihn in seiner langen Verbannung sehr getröstet haben.

Aus der Zeit des Centralcomités will ich nur noch „das griechische Feuer“ und „die Kugelspritze“ erwähnen.

Das Centralcomité zog die Herren Erfinder an. Eines Tages machte Mazzini einen glänzenden Bericht von den Versuchen mit einer neuen Art „griechischen Feuers“, von denen er eben herkam. Ein ganzer Teich war mit der Flüssigkeit bedeckt und dann in ein Feuermeer verwandelt worden. Es war klar, wenn man die gefährliche Flüssigkeit aus einem Boote auslaufen ließ und den Ankerplatz der feindlichen Flotte damit bedeckte, so war sie verloren. Es war ein Glück, daß Mazzini und sein Erfinder mit den Seemächten in Frieden lebten, sonst hätten diese sich dem Untergange ausgesetzt. Die Engländer selbst – der Erfinder war ein Engländer – haben weder von dieser noch von Capitain Warren’s Erfindung, aus weiter Entfernung ein Schiff in die Luft zu sprengen – das Experiment wurde zwei englische Meilen in See vor Brighton ausgeführt – Gebrauch gemacht. Hm! vielleicht aus Anstand; denn an den Erfindungen sollen wir doch wohl nicht zweifeln, wenn auch Lord Brougham, der die eine, und Mazzini, der die andere in Wirksamkeit gesehen, Beide nicht mehr unter den Lebenden wandeln?

Die Kugelspritze hab’ ich nun selber in Thätigkeit gesehen. Es war eine große hohle Scheibe, vorn mit einem Kanonenrohr, hinten mit einer Lafette. Der Erfinder, ein Irländer aus New-York, Mac Carthy, hatte sie in einem Schober und ließ sie erst durch Männer, später durch Dampf drehen. Schon das Drehen der Männer setzte die Kartätschen, die in eine Röhre an der Seite hineingeschüttet wurden, in die wildeste Bewegung; sie hatten auf dreihundert Schritt eine Planke durchgeschlagen, und als der freundliche Erfinder, Struven, der Amalie und mir eine Idee von seinem Mechanismus geben wollte, ricochetirten die verwünschten Kartätschen auf’s Empfindlichste gegen unsere Beine, wozu Mac Carthy nur immer: „schadet nichts! schadet nichts!“ rief, und worüber wir beiden Grütlimänner natürlich keine Beschwerde erheben durften.

Später einmal lud Mac Carthy mich zu einer großen Probe [407] ein, zu der das ganze Comité erscheinen sollte und wo er große schwere Kugeln nach einem fernen Ziel mit Dampf werfen wollte.

Ich wandte mein Pfund Sterling an die Reise, fand aber die Collegen nicht zur Stelle; ja, selbst Mac Carthy blieb aus. Sein Bostoner Freund, der das Geld hergab, empfing mich. Da erfuhr ich denn das tiefste Geheimniß, das der Sache zum Grunde lag. Irgendwo im Jesaias zeigte mir mein Wirth einen Vers, der hieß: „Und der Schmied wird das Geschoß schmieden, womit das wilde Ungethüm vertilgt werden wird“ – so oder ähnlich. „Der Schmied,“ sagte der Bostoner, „ist Mac Carthy, das ‚wilde Ungethüm‘ ist der Papst, und Mazzini wird ihm mit Mac Carthy’s Kugelspritze den Garaus machen.“ Wir wissen jetzt, was aus dieser Weissagung geworden ist, und es wird mir Niemand zutrauen, daß ich nur einen Augenblick daran geglaubt hätte, dem Papste sei mit Kugelspritzen beizukommen. Mein Bostoner begnügte sich aber nicht mit Einer Prophezeiung, er trug mir mindestens ein halbes Dutzend vor aus der Apokalypse und anderen heiligen Büchern. Endlich, nach dem Thee, und als ich ihm natürlich nie widersprochen hatte, schlug er das Buch auf und sagte: „Nun wollen wir etwas lesen: ‚Im Anfang schuf – – –‘“

„Warten Sie,“ sagte ich erschrocken, denn wo konnte ich erwarten, daß er aufhören werde, wenn ich ihn einmal richtig anfangen ließ, „warten Sie einen Augenblick! es giebt ja gar keinen Anfang!“

„Keinen An – –, was? keinen Anfang?“

„Nein! Sehen Sie denn nicht, daß etwas vor dem Anfang gewesen sein muß?“

„Nun ja – aber –“

„Und vor dem wieder etwas Anderes?“

„Das ist schon richtig; aber der Herr sagt es ja doch; also fahren wir fort!“

„Nein, nicht eher, als bis Sie mir Ihren ersten Satz bewiesen haben!“

Glücklicher Weise kam Mac Carthy, und nun wurde die Dampfkugelspritze besehen; aber operiren konnte sie nicht, weil wir über einen Fußsteig weg zu schießen hatten, und das durfte die Polizei nicht gestatten. Abends traf ich Mazzini, der sich mit Humor in die Rolle fand, die der Bostoner Puritaner ihm anwies, und meinte, „es sei so übel nicht, wenn man Einen Aberglauben gegen den andern ausspielen könnte.“

Eine gewisse Wendung kam in die italienische Politik durch das Mißlingen der Mailänder Erhebung, bei der einige wenige Verwegene den österreichischen Truppen mit Stiletten zu Leibe gingen. Es hieß, Mazzini wäre selbst in Mailand gewesen und hätte das tollkühne Unternehmen geleitet. Dagegen schrieb aber Orsini seine Memoiren, wies nach, daß dies nicht der Fall gewesen, und erklärte sich überhaupt entschieden gegen die kleinen Aufstände, die immer mißlingen müßten.

Orsini reiste 1857 im Sommer in England umher und hielt Vorlesungen über den Zustand Italiens, um Geld für seine antimazzinistischen Befreiungspläne aufzubringen. Er war zu der Manin’schen Politik übergegangen und glaubte, Italien könne sich allein nicht von Oesterreich befreien; es brauche dazu den Beistand eines freien Frankreichs.

Ich war diesen Sommer auf’s Land gegangen und wohnte während des Juli bei Tunbridge am Eingange von Summerhill Park. Hier erhielten wir einmal Einlaßkarten zu einer Vorlesung, die ein Italiener, Namens Orsini, auf dem Rathhause von Tunbridge halten würde. Da ich Freunde von Mazzini auf einem nahen Landgut kannte, so beeilte ich mich, sie mit einigen Karten zu versehen. Hier fand ich aber eine entschiedene Ablehnung und die Dame vom Hause erklärte mir auch, warum. Orsini hatte einem jungen Mädchen, das später als eifrige Anhängerin Garibaldi’s sowohl bei Mentana als im französischen Kriege erschien, seine Hand angetragen und einen Korb erhalten aus dem sehr guten Grunde, weil sie wußte, daß Orsini verheirathet war. Orsini schrieb nun einen bitterbösen Brief über die Schöne an Mazzini, der aber, weil die junge Dame Secretärin des Italienischen Comités war, durch ihre Hände ging und also gerade an die richtige oder vielmehr unrichtige Adresse gelangte. Dies trennte nun die zwei Männer gänzlich.

Ich hörte den Vortrag mit an, begleitete am anderen Tage Orsini nach Seven Oaks, einem der schönsten Punkte in Kent, und unterwegs gab ich ihm vollkommen Recht, daß vor der Hand für Italien Alles von Frankreich abhinge und die Mazzinische Politik, Italien müsse Alles allein von sich aus thun, sich nicht durchführen lasse. In Seven Oaks wurden wir von Alsop empfangen, einem Engländer ganz eigener Art. Er war der Erste, der mir die indische Empörung mittheilte, und der Einzige, der die Ansicht aussprach: „es würde ein wahrer Segen für England sein, wenn es Indien los würde, denn das verdürbe Alle, die hinübergingen, und gewöhne sie an tyrannische und unmenschliche Sitten!“ Er war in Californien gewesen und hatte die national-englischen Gesichtspunkte gegen umfassendere ausgetauscht: er ist einer der interessantesten Politiker, die mir vorgekommen sind.

Nach Tische schlug er vor, den alten Robert Owen, den großen Socialisten, zu besuchen, der dort in einer Villa von einer begeisterten Verehrerin gepflegt werde. Wir wurden empfangen, und da Alsop etwas und Owen sehr taub war, Orsini aber ein schwer verständliches Englisch sprach, so fiel die Unterhaltung mit dem ehrwürdigen alten Weltverbesserer durch seine Hörtrompete mir vornehmlich zu. Nach seinem ersten großartigen Gelingen in Lanark hatte er’s so anhaltend mit Verlusten und mißlungenen Versuchen zu thun gehabt, daß er nun zuletzt auf die Auskunft verfallen war, „die Geister“ würden seine Ideen zur Hebung der niedern Classen und zur socialen Reform ausführen. Ich widersprach ihm nicht, nahm die Geister in einer richtigeren Bedeutung als die lebenden und antwortete in diesem Sinne, daß man es nicht anders erwarten könne. Alsop lobte mich sehr über diese Wendung, und Owen verehrte mir seine neuesten Broschüren und versprach mir die letzte, die er eben seiner Freundin dictire. Er stand im sechsundachtzigsten Jahre und starb im folgenden, eine ehrwürdige Gestalt, die solche Nachfolger hinterlassen, wie den braven Titus Salt, der seinen Alpacca-Webern eine ganze glänzende Stadt, Salt Air bei Bradford, gebaut hat.[2]

Es ist bekannt, daß auch Orsini, der erst achtunddreißig Jahre zählte, im nächsten Jahr sein Leben lassen sollte.

Sein unglücklicher Privatfeldzug hat ganz unerwartete Folgen gehabt: man brachte ihn mit der Verständigung zwischen Cavour und Louis Napoleon gegen Oesterreich zusammen. Daß sein Gelingen uns den Krieg von 1870 und 1871 erspart haben würde, läßt sich nicht sagen. Es mag aber wohl Manchem so scheinen, der sich in solchen Dingen mit Möglichkeiten herumschlägt. Durch Cavour’s Eintreten in die Manin’sche Politik und durch sein Heranziehen des bonapartischen Frankreich zu italienischen Zwecken, was auch Orsini’s Brief an Louis Napoleon nach dem Bombardement gewollt hatte, wurde nun Mazzini’s Politik so stark angegriffen, daß er in seinem Journal förmlich gegen eine Verbindung mit dem Imperator protestirte und viele Unterschriften zu dem Proteste sammelte.

So läuft nun einmal die Welt, daß die drei Weltverbesserer Mazzini, Orsini und Robert Owen nicht unmittelbar ihre Zwecke erreichten, indem sie diese aber „den überlebenden Geistern“ hinterließen, merkwürdig auf die Neugestaltung der Menschheit einwirkten.

Es ist, als wär’ es etwas längst Vergangenes, was sich an diese drei Namen knüpft, und doch ist es erst von gestern.

Friede sei mit ihrer Asche!


  1. Das Festungsviereck, vergl. Gartenl. 1866, S. 395 ff.
  2. Für diejenigen unserer Leser, welchen Robert Owen keine so bekannte Persönlichkeit ist, wie Freund Ruge voraussetzt, bemerken wir Folgendes. Dieser englische „Verbesserer des Looses der Arbeiter“ war von Haus aus arm, kam als Schwiegersohn eines reichen Manufacturisten zu dem Betrieb einer großen Baumwollenspinnerei zu New-Lanark in Schottland und wurde dort zuerst durch den Anblick der jammervollen Verkommenheit der gesammten Arbeiterbevölkerung von dem Gedanken ergriffen, zunächst an dieser den Segen der Wohlthätigkeit und Bildung zu erproben. Als ihm dies nach wenigen Jahren gelungen war, beschloß er, als Reformator des gesellschaftlichen Elends überhaupt aufzutreten. Sein eigenes Vermögen betrug über eine halbe Million Pfund Sterling. Dies und alle seine Arbeitskraft opferte er seinem hochherzigen Plan durch Anlegung von Schulen und Kinderbewahranstalten, Werkstätten und Colonien mit möglichst communistischer Einrichtung, erst in Großbritannien, dann, als Geistlichkeit und Regierung ihm den Weg vertraten, in Nordamerika und Mexico. In zahlreichen Schriften streute er seine Lehren aus und verfocht sie in großen Volksversammlungen, aber das Glück von Lanark hat sich für ihn nicht wiederholt. Am nachhaltigsten blieb sein Wirken für den sogenannten Chartismus, die Arbeiterbewegung in England zur Erlangung einer Volkskarte gegenüber der „Magna charta“ des Adels, eine Bewegung, aus welcher all die mächtigen Arbeiterbestrebungen hervorgingen, durch welche, vor der Hand noch meist friedlich, eine Umgestaltung der politischen und gesellschaftlichen Zustände der Zukunft angebahnt wird.
    D. Red.




[408]
Ehrenrettung des Schmerzes.


Der Schmerz als Freund. – Der Schmerz als Wächter der Gesundheit. – Der Schmerz bei Kindern. In Knie- und Hüftgelenken. – Gesichtsschmerzen. – Die Nerven als Vermittler der Schmerzempfindung. – Wahrnehmungsfähigkeit des Gehirns.


Von Ewald Hecker.


Es ist eine nicht selten zu beobachtende Thatsache, daß der Mensch in angeborener Kurzsichtigkeit seine besten Freunde nicht kennt oder gar als Feinde ansieht, und schon oft hat gerade der Naturforscher seine warnende Stimme erheben müssen, um der Ausrottung so mancher Geschöpfe Einhalt zu thun, die der Mensch in blindem Hasse zu vernichten trachtet, obwohl er ihnen zu größtem Danke verpflichtet wäre. Ich erinnere nur an den Maulwurf, die Kröte, den Igel etc.

Auch in Folgendem soll von solch einem Freunde die Rede sein, der unzählig oft verkannt und geschmäht wird und doch unsern Dank verdiente: ich will eine Ehrenrettung des Schmerzes übernehmen und den Nachweis versuchen, daß wir in der That in ihm einen Freund erkennen müssen, der nur in liebevollster Absicht uns verwundet, um uns zu warnen, uns zu helfen. Nicht genug, daß er den zum vollen Bewußtsein unseres Glückes so nothwendigen Gegensatz bildet und uns die Güter, die wir besitzen, erst dadurch in ihrem wahren Werthe zeigt, daß er sie uns eine Zeit lang entbehren ließ; – sein Hauptstreben geht dahin, uns das höchste Gut, die Gesundheit, zu erhalten. Der Schmerz ist der Wächter unserer Gesundheit.

Es ist nicht auszudenken, in wie viel tausend Schädlichkeiten wir uns täglich, stündlich begeben würden, in wie viele Gefahren wir unseren Körper brächten, wenn nicht der Schmerz als ein ernster Warner und Mahner uns zur Seite stünde. Wie oft hätten wir unsere Hand schon an dem heißen Ofen verbrannt, wenn nicht der Schmerz mahnte, sie schnell zurückzuziehen; wie oft würden wir die Glieder erfrieren, wenn nicht der Schmerz uns die Kälte zum Bewußtsein brächte und zu Vorsichtsmaßregeln veranlaßte. Ja, wir würden sogar verhungern, wenn nicht das Schmerzgefühl des Hungers uns antriebe, Nahrung zu suchen. Soll ich noch weitere Beispiele anführen? Tausendfach drängen sie sich auf, und daß ich dabei nicht übertreibe, lehrt die traurige Erfahrung solcher Fälle, wo durch Nervenlähmung einem Theil des Körpers die Schmerzempfindung geraubt ist. Nicht selten ist es vorgekommen, daß solche unglückliche Kranke sich arglos mit dem Rücken an den glühenden Ofen stellten und bei lebendigem Leibe anfingen zu verkohlen, ohne es auch nur im Geringsten zu verspüren. Erst der brenzliche Geruch machte sie auf das geschehene Unglück aufmerksam, in Folge dessen sie ein Opfer des Todes wurden.

Gar oft ist der Schmerz auch für den Arzt ein wichtiges, nicht selten das einzige Mittel zur richtigen Beurtheilung einer Krankheit und zur Erkenntniß der Behandlung, die er dabei anwenden muß. Der Sitz des Schmerzes, die Art seines Auftretens, seine Heftigkeit und Dauer geben bedeutungsvolle Winke über die Art und den zuweilen verborgenen Sitz der Verletzung, und von der richtigen Beurtheilung dieser Verhältnisse hängt ja nicht selten das Leben des Kranken oder wenigstens seine Genesung ab. Bei Kindern sind wir in vielen Fällen allein auf die Aeußerungen ihres Schmerzes angewiesen, und nur diese geben uns den leitenden Faden an die Hand, mit deren Hülfe wir uns in dem Labyrinth der vorliegenden Krankheitsmöglichkeiten zurechtfinden können. Dasselbe gilt auch für bewußtlose Kranke. Die Art und Weise ihres Gebahrens, die Art, wie sie ihre Glieder bewegen, um unwillkürlich die am wenigsten schmerzverursachende Lage einzunehmen, hilft uns den Ort der Verletzung auffinden. Wenn Kinder in der Periode des Zahnens sich oft mit den Fingerchen in den Mund fassen, so macht die besorgte Mutter leicht den beruhigenden Schluß, daß der beginnende Zahndurchbruch dem Kleinen Schmerzen bereite; wenn dagegen das Kind mit lautem, durchdringendem Schrei oft aus dem Schlafe auffährt und häufig unter Seufzen und mit stierem Blick mit dem Händchen nach dem Kopfe greift, so stellt sich die schreckliche Furcht vor einer drohenden Gehirnentzündung mit leider allzu sicherer Berechtigung ein.

Nicht immer freilich sind die Schmerzen ein Maßstab für die Schwere des Leidens. Eine große Zahl nicht minder gefährlicher Krankheiten kündigt sich nicht durch Schmerzen an, und der Wurm, der an der Gesundheit und am Leben frißt, nagt im Verborgenen. Zuweilen könnten wir sogar durch den Ort der Schmerzempfindung über den eigentlichen Sitz des Leidens getäuscht werden, wenn nicht andere Symptome und die Erfahrung uns bei der Diagnose leiteten. Besonders eine Krankheit, die gerade unter Kindern so viel Verderben und Unheil anrichtet, giebt bei ihrem ersten Entstehen oft Veranlassung zu unrichtiger Auffassung. Ich meine das sogenannte freiwillige Hinken, ein Leiden, das auf einer schweren, entzündlichen Erkrankung des Hüftgelenks beruht und meist mit Zerstörung und Verkrüppelung desselben, gar oft auch mit dem Tode endet. Die Kinder fangen an, über einen ganz leichten Schmerz im Kniegelenk zu klagen, der meist von der Umgebung deshalb wenig beachtet wird, weil er sich im Laufe des Tages immer wieder verliert. Die Schmerzen steigern sich jedoch und sind namentlich des Morgens, wenn das Kind aufstehen will, so heftig, daß es an dem Gebrauch des Beines verhindert ist und beim Gehen hinkt. Aeußerlich ist am Knie nicht das Geringste wahrzunehmen; doch man glaubt, das Kind sei vielleicht gefallen, und macht kalte Umschläge – die natürlich nicht helfen können – denn unterdessen geht nicht im Knie-, sondern im Hüftgelenk der schleichende Entzündungsproceß vor sich, der solche verderblichen Folgen nach sich zieht.

In diesen Fällen ist es die Aufgabe des Arztes, durch die objective Untersuchung, das heißt durch vorsichtiges Betasten und Drücken die wirklich schmerzhaften Stellen genau ausfindig zu machen. Nur so läßt sich sehr oft ein bis dahin unbestimmt empfundener Schmerz genau feststellen. Die Beschränkung des Schmerzes auf ganz bestimmte Stellen, die wir auf diese Weise vorsichtig prüfen, giebt zum Beispiel bei Knochenbrüchen ein sehr werthvolles Hülfsmittel zur Unterscheidung von anderweitigen Verletzungen, die den Knochen selbst nicht betroffen haben. Umgekehrt zeigt eine bestimmte Verbreitungsweise des Schmerzes, wenn er den peripheren Ausbreitungen eines einzelnen Nerven folgt, oft genau die Stelle an, an welcher wir eine Verletzung dieses Nerven zu vermuthen haben. –

Nicht selten kommt zum Beispiel der Fall vor, daß wir den Ort der Reizung des Nervenstammes gerade in der Strecke seines Verlaufs erschließen können, wo derselbe durch einen Knochencanal hindurchgeht, sei es nun, daß der Knochen an dem Orte entzündlich geschwollen ist oder daß eine Neubildung (eine nicht entzündliche Geschwulst oder Verdickung) gerade da auf den Nerven drückt. Schon Mancher, der aus diesem Grunde an den wüthendsten Gesicht- und Zahnschmerzen litt, die, aller Behandlung trotzend, ihn an den Rand der Verzweiflung brachten, hat dadurch Heilung oder Linderung gefunden, daß der einsichtige Arzt mit sicherer Hand den Knochencanal, in dem der Nerv innerhalb des Unterkiefers verläuft, öffnete, den Nerv durchschnitt und so die Quelle des Schmerzes aufhob. Dasselbe Leiden des furchtbaren Gesichtsschmerzes (Tic douloureux) hat aber in nicht seltenen Fällen eine ganz andere Entstehungsursache, die sich aus der Art des Auftretens erschließen läßt. Sucht nämlich dieser Schmerz in ganz bestimmten Zwischenräumen jedes zu ein und derselben Tageszeit den Kranken heim, so deutet dieses typische Auftreten oft auf eine Vergiftung mit sogenannter malaria (oder Sumpfmiasma) hin. Dieser Seuchestoff erzeugt für gewöhnlich das sogenannte kalte oder Wechselfieber; es kommt aber vor, daß dieses Fieber, wie die Aerzte sagen, sich maskirt und in der Gestalt von Neuralgien oder Nervenschmerzen auftritt. Bestätigt sich diese Vermuthung in einem vorliegenden Falle, so kann der unglückliche Kranke, nachdem alle nur erdenklichen Mittel bis dahin vergeblich angewendet wurden, oft schnell und sicher durch eine Gabe Chinin von seinem schrecklichen Leiden befreit werden. –

Es ist aus diesen Beispielen ersichtlich, welche Bedeutung der Schmerz für die Beurtheilung eines Leidens und seine richtige Behandlung hat. Ebenso leuchtet es aber auch ein, daß wir nur dann im Stande sind, aus dem Ort und der Aeußerungsweise des Schmerzes die richtigen Schlüsse zu ziehen, wenn wir uns mit der Natur desselben und seiner Entstehungsweise vertraut gemacht haben.

[409] Ich darf wohl voraussetzen, daß die Thatsache allgemein bekannt ist, daß wir als Vermittler der Schmerzempfindung die Nerven anzusehen haben. – Die Empfindungsnerven, welche von der äußeren und inneren Oberfläche unseres Körpers ausgehend in den hinteren Strängen des Rückenmarks sich sammelnd nach dem Gehirn verlaufen, haben den Zweck und die Aufgabe, uns von den Berührungen des Körpers mit der Außenwelt und von seinem jeweiligen Befinden zu unterrichten. Bringen uns die höheren Sinnesorgane unsere Umgebung in Bezug auf ihre sichtbare Erscheinung, ihre Schallerzeugung, ihren Geschmack und ihren Geruch zum Bewußtsein, so fällt die große Zahl der übrigen Eindrücke, Tastgefühl, Temperatur und Druckempfindung, sowie die Allgemeingefühle: Müdigkeit, Hunger, Durst, Ekel, Uebelkeit etc. in das Bereich der sogenannten Tast- und sensiblen Nerven. – Alle diese aufgezählten Empfindungen gehen, wenn der Reiz, der sie veranlaßte, ein abnorm hohes Maß erreicht, in Schmerz über. Doch ist die Grenze, wo eine einfache Empfindung zur schmerzhaften wird, eine sehr wechselnde und nach den Umständen und persönlicher Empfänglichkeit völlig verschiedene.

Von der gänzlichen Schmerz- und Gefühllosigkeit, die wir bei vollständiger Durchtrennung eines Nerven oder eines Theiles des Rückenmarks finden, bis zu der so abnorm gesteigerten Reizbarkeit der Hysterischen, denen jede leise Berührung den unerträglichsten Schmerz verursacht, giebt es unzählige Gradabstufungen. Eine Verletzung, die den Einen ganz gleichgültig läßt, da sie kaum von ihm bemerkt wird, preßt dem Andern laute Schmerzensäußerungen aus, und wir müssen uns wohl hüten, den persönlichen Muth und die Selbstüberwindung nach dem Verhalten, das der Einzelne bestimmten Schmerzenseindrücken gegenüber einhält, zu beurtheilen. Werden wir etwa den Heldenmuth des unglücklichen Gelähmten preisen, der, weil er es nicht fühlt, sich ohne Schmerzensäußerungen den Rücken verbrennen läßt? Ebensowenig dürfen wir ohne Weiteres den an Erschöpfung und Ueberreizung des Nervensystems Leidenden verurtheilen, wenn er bei verhältnißmäßig leichten Eingriffen über heftige Schmerzen klagt. Durch tapferes Ueberwinden dieser Schmerzen, die dem kräftigen robusten Manne unbegreiflich sind, kann Jener bewunderungswürdiger erscheinen, als der von Natur weniger Empfindliche, der eine schwere Operation an sich vollziehen läßt, ohne zu schreien.

Es giebt eine große Reihe von Zuständen, die den Schmerz minder empfindlich machen und ihm so zu sagen seine Schärfe rauben, indem sie auf das Gehirn, auf unser Vorstellungsleben einen bestimmten Einfluß ausüben, und wüßten wir es nicht anderweitig, so könnten wir allein daraus den Schluß ziehen, daß das Gehirn die Stätte ist, wo der Schmerz empfunden wird. Durchschneiden wir einen Nerven und setzen ihn so außer Zusammenhang mit dem Gehirn, so können wir sein äußerstes, abgetrenntes Ende, so viel wir wollen, reizen und maltraitiren – es wird keine Spur von Schmerzempfindung dadurch hervorgerufen. Berühren wir dagegen den mit dem Gehirn noch in Zusammenhang stehenden Nervenstumpf, so treten augenblicklich die lebhaftesten Schmerzen auf. Nicht der Nerv selbst ist also die Stätte der Schmerzempfindung; er ist nur der Vermittler, der Leiter, der die empfangene Reizung auf die Gehirnzellen, mit denen er in Zusammenhang steht, überträgt. An welcher Stelle des Gehirns die Wahrnehmung des Schmerzes stattfindet, hat sich bis jetzt durch Untersuchungen noch nicht feststellen lassen; jedenfalls aber übt die gesammte Thätigkeit des Gehirns, sein Allgemeinzustand einen großen Einfluß auf die Schmerzempfindlichkeit aus.

Es ist eine durch exacte Untersuchungen festgestellte Thatsache, daß wir nicht im Stande sind, zu gleicher Zeit zwei verschiedene Empfindungen wahrzunehmen. Die Wahrnehmungsfähigkeit, die unserem Gehirne innewohnt, kann sich jedes Mal nur nach einem Punkte hinwenden, so wie wir etwa mit unseren Augen nur gerade aus und nicht in derselben Zeit auch hinter uns und zur Seite sehen können. Vorzüglich dann, wenn unsere Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Punkt gerichtet ist, entgeht uns völlig das, was außerdem noch um uns geschieht.

Wenn unsere Aufmerksamkeit mit einer gewissen Spannung auf einen Gegenstand oder auf eine Vorstellung gerichtet ist, so kann erst dann eine andere Empfindung, eine andere Vorstellung uns zum Bewußtsein kommen, wenn jene erste gewissermaßen unterdrückt oder verblaßt ist. Hat dieselbe eine solche Zähigkeit und Kraft, daß sie sich nicht leicht verdrängen läßt, so verhindert sie damit die Aufnahme anderer Empfindungen. Und aus diesem Grunde kann oft eine selbst gewaltsame Reizung unserer Nerven, die unter anderen Umständen eine lebhafte Schmerzempfindung hervorgerufen hätte, uns völlig unbemerkt bleiben.

Der Soldat, der im gespannten Eifer des Gefechts auf den Feind eindringt und seine volle Aufmerksamkeit darauf richtet, wie er denselben am geschicktesten angreifen könne, empfindet sehr oft von einer Kugel, die von einer anderen Seite her ihn verwundet, keine Spur. Indem sich die ganze Kraft seines Bewußtseins auf den vor ihm stehenden Gegner concentrirt, vermag selbst eine so heftige Verletzung nicht in dasselbe einzudringen. Erst dann, wenn er den Feind erlegt oder sich sonst von ihm abgewandt hat, kommt plötzlich jener Schmerz zum Bewußtsein und er kann oft gar nicht angeben, wann er die Verletzung erhalten hat. In ähnlicher Weise kann ein Schmerz, den wir empfinden, dadurch unterbrochen werden, daß plötzlich eine andere Empfindung oder Vorstellung, die eine größere Kraft auf unsere Aufmerksamkeit auszuüben und diese in höherem Grade zu fesseln vermag, in unser Bewußtsein eintritt.

Ich erinnere nur an die hierhergehörige und gewiß Allen bekannte Thatsache, daß wir oft absichtlich einen uns besonders unangenehmen Schmerz durch einen größeren zu übertäuben suchen. Wir machen davon namentlich bei den durch ihr unausgesetztes Nagen an den Nerven so peinlichen Zahnschmerzen Gebrauch, und eine große Reihe der allgemein dagegen üblichen Mittel hat eben den Zweck, die Aufmerksamkeit durch einen an einer anderen Körperstelle erregten heftigeren Schmerz von den Zahnschmerzen abzulenken. Wir reiben uns Senfspiritus auf die Backe, tröpfeln uns scharfe, beißende Tropfen in’s Ohr, ja wir beißen uns sogar in den Finger oder kneifen uns kräftig in die Haut – und das Alles thun wir, um einen Schmerz durch den anderen zu vertreiben.

Auch andere plötzliche Wahrnehmungen wirken in gleicher Weise. Eine plötzliche Nachricht, die uns in hohem Grade, sei’s freudig, sei’s traurig, überrascht, bringt nicht selten einen heftigen Schmerz zum Schweigen. Ueberhaupt Alles, wie schon gesagt, was unsere Aufmerksamkeit lebhaft in Anspruch nimmt, z. B. eine angenehme Unterhaltung, läßt uns oft einen (nicht allzuheftigen) Schmerz vergessen. Auch hierfür geben uns die gar so allgemein bekannten Zahnschmerzen ein reiches Beobachtungsmaterial. Die Schmerzen werden ferner sehr leicht in den Hintergrund gedrängt, wenn andere peinliche Erwartungszustände unseren Geist in Beschlag nehmen. Der Entschluß, daß wir uns den Zahn wollen ausziehen lassen, der Gang zum Zahnarzt, während dessen wir mit großer Lebhaftigkeit uns die unangenehme Empfindung dieser Operation vorstellen, hat schon in tausend Fällen als bestes Schmerzlinderungsmittel gewirkt. Während wir pochenden Herzens den Klingelzug vor der Thür des gefürchteten Mannes ergreifen wollen, ist der Schmerz plötzlich verschwunden und wir kehren ruhig wieder nach Hause zurück – freilich nicht selten, um von Neuem von dem alten Leiden überfallen zu werden. So wie die Furcht und schreckhafte Erwartung wirkt aber auch der umgekehrte Zustand des vollen Vertrauens und der glaubensmuthigen Hoffnung. Schon manche Schmerzen sind durch Handauflegen, Zauberformeln, Riechen an unschädlichen homöopathischen Heilmitteln und dergleichen Hocuspocus beseitigt worden, wenn der Gequälte eben nur volles Vertrauen zu diesen Mitteln hatte oder mit einiger Spannung und Neugier ihre Wirksamkeit prüfen wollte.

Wie die lebhafte Erregung sittlicher Gefühle, des Ehrgeizes und der Ruhmsucht abstumpfend auf die Schmerzempfindlichkeit wirken kann, das lehrt unter Anderem das Beispiel jenes Mucius Scaevola, der, erfüllt von echtem Römerstolze, kalten Blutes seinen Arm über ein Kohlenfeuer ausstreckte und, ohne eine Miene zu verziehen, denselben verbrennen ließ. Die christlichen Märtyrer, die von religiöser Schwärmerei erfüllt sich quälen und martern ließen, waren offenbar in derselben Lage. Die Freudigkeit, mit der sie die grausamsten Folterqualen überstanden, die Wollust des Schmerzes, so zu sagen, die sie empfanden, beweist, daß durch jene idealen Vorstellungen ihr Gemüth stärker erregt wurde, als durch die auf ihre Empfindungsnerven ausgeübten Reize. Es kommt in diesen Fällen noch eine andere mächtige Triebfeder hinzu, die durch ihre starke Spannung allen anderen Wahrnehmungen den Eintritt in das Bewußtsein versperrt: nämlich die Nachahmungssucht.

[410] Die Geschichte ist unendlich reich an solchen – man kann sagen traurigen – Beispielen, wo Menschen, von diesem unwiderstehlichen Nachahmungstriebe erfaßt, sich selbst die größten Schmerzen zufügten und in denselben schwelgten. Ich erinnere hier nur an jene schreckliche Epidemie der Flagellanten.

Die umgekehrte Erscheinung, daß die auf eine empfindliche Stelle gerichtete Aufmerksamkeit den Schmerz erheblich steigert, ist uns ebenfalls geläufig. So erhöht die Furcht vor einer Operation durch die fortwährend auf diesen einen Punkt gespannte Erwartung ganz ungemein die Empfindlichkeit. Ein Beispiel hierzu aus meiner Studienzeit steht mir noch in lebhafter Erinnerung. An einem kräftigen robusten Mann, der nebenbei Soldat war, sollte in der chirurgischen Klinik eine verhältnißmäßig leichte und wenig schmerzhafte Operation vollzogen werden. In Rücksicht darauf wurde von der sonst üblichen Chloroformirung abgesehen, obwohl das unglückliche Opfer große Furcht und Zaghaftigkeit verrieth. Als das Messer angesetzt wurde und der Operateur den ersten Schnitt that, erhob unser Held ein furchtbares Zetergeschrei und benahm sich so ungebehrdig, daß die Operation einen Augenblick unterbrochen werden mußte. Natürlich empfing er die lebhaftesten Vorwürfe und die Anrede: „Pfui, schämen Sie sich, wie können Sie nur bei einer so wenig schmerzhaften Operation sich so gefährlich anstellen!“ entlockte ihm die höchst naive, aber sehr bezeichnende Antwort: „Ich glaubte, es würde weher thun.“ – Nachdem er sich nun aber überzeugt, daß die Operation wirklich nicht so unerträglich sei, ließ er sich die Fortsetzung derselben ganz ruhig und ohne auch nur eine Miene zu verziehen, gefallen.

Sehen wir in diesem Beispiel einen vorhandenen Schmerz durch die lebhafte, wenn auch falsche Vorstellung von seiner größeren inneren Kraft wirklich gesteigert, so ist die ebenfalls erwiesene Thatsache, daß man durch scharf auf einen bestimmten Punkt gerichtete Aufmerksamkeit einen Schmerz an demselben erzeugen kann, noch viel auffallender. Besonders bei gewissen krankhaften Zuständen des Nervensystems erreicht diese Fähigkeit einen ungewöhnlich hohen Grad, und so sind vorzüglich die unglücklichen Hypochonder wahre Virtuosen in derartiger Erregung schmerzhafter Empfindungen. Man thut diesen Leuten bitteres Unrecht, wenn man ihnen sagt, sie bildeten sich den Schmerz blos ein. Nein, sie empfinden ihn wirklich, sie bilden sich denselben, so zu sagen, an. Sobald sie von irgend einem krankhaften Zustande hören oder lesen, sofort richtet sich ihre Aufmerksamkeit mit ängstlicher Spannung auf das Organ, von dessen leidendem Zustande die Rede war, und es dauert auch gar nicht lange, da empfinden sie an der bestimmten Stelle den Schmerz wirklich und wahrhaftig, an den sie so lebhaft gedacht. Es giebt deshalb für diese Leute nichts Verderblicheres als das Lesen und Herumstöbern in populär-medicinischen Büchern, zu denen sie sich aber gerade mit einem unwiderstehlichen Triebe hingezogen fühlen. Daß jedoch auch nicht hypochondrische Personen dieser Gewalt der Vorstellungen auf ihre Empfindungsnerven unterliegen, das beweist unter Anderem das Beispiel des berühmten Arztes Peter Frank. Dieser behandelte einen von Tollwuth oder Wasserscheu ergriffenen Patienten und untersuchte noch kurz vor dem Tode des unglücklichen Kranken, der schon ganz mit kaltem, klebrigem Schweiß bedeckt war, dessen Puls. Unmittelbar danach verspürte er in der Spitze der beiden Finger, mit denen er den Kranken berührt hatte, ein unheimliches und ihn beängstigendes Brennen und Beißen. So oft er auch dasselbe zu betäuben suchte durch Waschen mit Essig und Seifenwasser, die unwillkürlichen Vorstellungen, mit der Furcht vor der schrecklichen Krankheit gepaart, riefen jene lästige Empfindung immer wieder hervor und erst nach fünf Wochen verschwand dieselbe, nachdem seine Einbildungskraft sich beruhigt und er sich so lange Zeit umsonst die völlige Grundlosigkeit seiner Vorstellungen vordemonstrirt hatte.

Wir haben hier also die Thatsache vor uns, daß die Empfindungsnerven, statt, wie wir an ihnen gewöhnt sind, einen empfangenen Reiz von der Oberfläche nach dem Mittelpunkt, das heißt nach Rückenmark und Gehirn zu leiten, scheinbar in entgegengesetzter Richtung einen im Gehirn entstandenen Reiz nach der Peripherie übertragen. So auffallend diese Thatsache auf den ersten Blick erscheint, so ist sie uns doch aus dem alltäglichen Leben nicht fremd. Wir wissen, daß ein Stoß an einer bestimmten Stelle des Ellenbogens nicht allein hier, sondern auch an den gar nicht betroffenen Ausbreitungen der gequetschten Ellenbogennerven im vierten und fünften Finger empfunden wird.

Wir haben ferner in dem oben angeführten Beispiel vom freiwilligen Hinken dieselbe Erscheinung. Auch hier wurde eine auf den Stamm des Hüftnerven ausgeübte entzündliche Reizung nicht an dem Ort der Affection selbst, sondern an der Oberfläche des Nerven (im Kniegelenk) empfunden. Ein anderes, noch viel auffallenderes Beispiel liefert uns die chirurgische Praxis. Der Verwundete, dem der zerschmetterte Fuß schon längst abgenommen ist, empfindet bei Reizung des an der Wundfläche zu Tage liegenden Nervenstumpfes einen heftigen Schmerz in den Zehen, die er gar nicht mehr besitzt. – Alle diese Thatsachen sind Beispiele zu dem allgemein gültigen Gesetz von der sogenannten Excentricität der Empfindung, welches dahin lautet, daß jede Neigung eines Nerven, sei’s im Verlauf seines Stammes, sei’s an seiner Wurzel, in Rückenmark und Gehirn, durch einen Trugschluß von uns unwillkürlich an seine periphere Ausbreitung verlegt wird, gewissermaßen deshalb, weil wir im normalen Verhältnisse nur von hier aus Empfindungserregungen zu empfangen gewohnt sind. Bei schweren Rückenmarksleiden, welche die Nerven während ihres Verlaufs im Rückenmark zerstören, werden heftige Schmerzen in der Extremität empfunden, und die übergroße Schmerzreizbarkeit, die wir in den obigen Beispielen kennen lernten, hängt auch mit krankhaften Zuständen des Gehirns und Rückenmarks zusammen, namentlich trägt eine unvollkommene, schlechte Ernährung überwiegend häufig die Schuld an diesen Erscheinungen. Darum sehen wir blutarme Menschen, bleichsüchtige Damen vor Allem an dieser Ueberempfindlichkeit leiden. – Es befindet sich bei diesen das gesammte Nervensystem in einem Zustande der Ueberreizung. Sowie jede leise Berührung der Tastnerven Schmerz verursacht, so wird auch jedes etwas grelle Licht, nicht selten eine besondere Farbe wie das Roth, jeder etwas schrille Ton, jedes laute Geräusch für die Unglücklichen eine Quelle unangenehmer Empfindungen. Und in ganz derselben Weise wirken auch lebhafte plötzliche Vorstellungen und Gemüthserregungen sehr leicht erschütternd auf sie ein. Da auch die Bewegungsnerven an dieser Ueberreizung Theil nehmen, treten nicht selten die verschiedenartigsten Krämpfe auf, die besonders häufig den Charakter der Lach- und Weinkrämpfe annehmen. Alle diese Erscheinungen weisen, wie gesagt, auf eine unzureichende Ernährung der Nervencentren, auf eine mangelhafte Blutbereitung hin, und darum wird bei der Behandlung sogenannter nervöser Damen ein vernünftiges diätetisches Verhalten das beste Mittel sein, um vorhandene Schmerzen zu heben oder zu lindern.

Es wäre ein thörichtes Beginnen, wenn der Arzt in solchen Fällen sein Hauptaugenmerk darauf richten wollte, die Schmerzen durch Betäubungsmittel zu tödten, und dabei die zunächst liegende Aufgabe vergäße, die Ursache des Schmerzes zu heben. Freilich ist das Letztere nicht immer möglich; nicht selten übt der Schmerz eine so vernichtende Gewalt auf den Organismus aus, daß alle anderen Heilbestrebungen daran scheitern. In diesen Ausnahmefällen ist das Bedürfniß, Ruhe zu schaffen, das dringendste. Der Schmerz hat aber hier seine Schuldigkeit gethan; er hat als ein Lärmsignal die drohende Gefahr verkündet, und erst als man seinen Ruf überhörte, wurde sein Mahnen heftiger und dringender. Wir können seine segensreiche Aufgabe auch hier nicht verkennen, und das war ja der Punkt, auf den ich besonders hinweisen wollte.




„Sie weinet ja, wie wir, mein Kind!“

Wohl segnen schon die zweiten Halmen
Den Acker, wo die Feldschlacht war,
Wohl hallten schon die zweiten Psalmen
Auf von des Friedens Hochaltar.

Die großen Feste kehren wieder,
Der Freuden Rose wird gepflückt,
Wo zu dem Tag der deutschen Lieder
Mit Fahnen sich die Straße schmückt.

Beim Jubelmahl – seht, sie erheben
Für Sieg und Ehre hoch das Glas!
Sie lassen selbst die Todten leben –
Und auf den Gräbern wächst das Gras.

Lebt denn kein Schmerz von festrer Dauer?
Such’ nur, wo ihn der Tag nicht sieht:
Der Wittwen und der Waisen Trauer,
Die in die stillen Winkel flieht!

[411]

Zwei Wittwen.
Originalzeichnung von J. Leisten in München.

Da windet sich das Herz im Leide,
Und gleich ist’s, wie es sich versteckt,
Ob es das Prachtgewand von Seide,
Ob es des Lumpens Hülle deckt.

Oft faßt das Mitleid Beider Hände,
Du hörst das Wort, so leis’ und lind:
„Geh’, gieb der armen Frau die Spende,
Sie weinet ja, wie wir, mein Kind!




[412]
Thierstudien eines Laien.


Ameisenwirthschaft.


Wie über die Bienen, so ist auch über das Volk der Ameisen schon so unzählig viel gesagt und geschrieben, daß es kaum mehr möglich erscheint, wirklich Neues zu berichten. Fast jedes Lesebuch bringt ja Capitel und Abschnitte über die Bauten, Reichsverfassung, Eierpflege und Raubzüge dieser Insecten; und allbekannt ist auch schon die Anleitung, wie man dieselben benutzen kann, um aus kleineren Thierleichnamen reinliche Skelete herzustellen. Obgleich ich nun auch auf diesem Gebiete von früh auf ohne mündliche oder schriftliche Anleitung Beobachtungen angestellt habe, so würde ich doch um so weniger wagen, das Thema „Ameisenwirthschaft“ zu behandeln, je anschaulicher die ausführliche und treffliche Schilderung Taschenberg’s (in „Brehm’s Thierleben“) so ziemlich Alles zusammenfaßt, was man von den Ameisen weiß, wenn mir nicht doch einige specielle, dort nicht erwähnte Punkte meiner Ameisenstudien der Erwähnung werth schienen.

Vor Allem habe ich die rothe Waldameise beobachtet, welche in unseren Tannen- und Föhrenwaldungen jene oft sehr bedeutenden Hügel aus trockenen Nadeln aufbaut. Außerdem waren aber auch die rothen und schwarzen Gartenameisen, welche in Erdlöchern hausen, und jene anderen Sorten Gegenstand meiner Forschung, die man in Baumstrünken, alten Maulwurfshügeln und unter Steinen findet. Unter all diesen kleineren Völkern erschien mir die an den letztgenannten Stätten nistende hellgelbe Ameise als die allerfatalste, deren Bisse auch den eifrigsten Forscher bald vom Platze vertreiben.

Der Schmerz des Ameisenbisses wird bekanntlich durch die Ameisensäure erzeugt, welche das Thier aus der Hinterleibsspitze in die Bißwunde träufeln läßt. Lediglich zu letzterem Zwecke wird man stets eine beißende Ameise sich so zusammenkrümmen sehen, daß Kopf und After sich fast berühren. Possirlich aber sind dabei vor Allem die rothen Waldameisen anzuschauen, die sich überhaupt wegen ihrer Größe am besten zur Beobachtung eignen. Taschenberg giebt den Rath, um den würzigen und erquickenden Duft der Ameisensäure genießen zu können, solle man mit der flachen Hand einige rasche Schläge auf den Hügel führen und sie dann unter die Nase halten. Doch fügt er selbst hinzu, es sei Schnelligkeit dabei nöthig, damit sich keins der hierdurch wüthend gemachten Thiere in die Hand einbeiße oder an den Körper krieche. – Ich habe nun aber sehr oft die unangenehme Erfahrung gemacht, daß selbst bei der größten Geschwindigkeit die Thiere doch noch geschwinder waren und ich eine Anzahl tüchtiger Bisse weg hatte, eh’ ich’s dachte. Ich rathe deshalb Jedem, der jenen in der That köstlichen Genuß haben will, blos mit der Handfläche in einer Entfernung von drei bis vier Zoll über dem Haufen hin- und herzufahren; eine Ameise wird sich dann nie an seine Hand setzen können, wohl aber wird er letztere bald von den tausend und abertausend Strahlen der Säure angefeuchtet fühlen, welche die Ameisen, wie Taschenberg dies selbst gleich darauf erzählt, in ziemliche Höhe hinaufzuspritzen vermögen. Außerdem hat der Experimenteur bei diesem Verfahren den oben erwähnten, höchst possirlichen Anblick, daß das ganze Ameisenheer auf dem Hügel, der dicht über ihm befindlichen Menschenhand gegenüber, die energischste Offensivstellung einnimmt; jede Ameise stützt sich auf die hinteren Beinpaare, hält sich so in der Schwebe und streckt Kopf und Hinterleib dem Störenfried entgegen, spritzend und die Zangen bereit haltend. Sowie die Hand stillhält, steht auch die ganze Armee unbeweglich in dieser Stellung; sowie jene sich aber bewegt, folgt auch diese genau jedem Ruck und Zug und zwar so, daß sie in Blitzesschnelle die Stellung ändert, einige Schritte vorwärts thut und von Neuem offensiv gerüstet dasteht. Es erinnert dieser Anblick unwillkürlich an die Evolutionen eines Balletcorps, welches ja auch oft in irgend einer unmöglichen Körperverschlingung unbeweglich sich dem Zuschauer präsentirt, plötzlich einige Schritte weiter galoppirt und sofort wieder in der eben verlassenen oder einer noch schwierigeren neuen Stellung regungslos gebannt dasteht.

Mit blankgewichsten Lederstiefeln geht man ziemlich ungefährdet durch die Schaaren dieser Waldameise, zumal wenn man ab und an aufstampft. Die Ameisen werden allerdings durch dieses Fußstampfen zornig; aber alle etwa auf den Fuß kriechenden werden dadurch leicht abgeschüttelt, da sie auf dem glatten Leder sich nur mühsam halten können. Ich habe dies namentlich erprobt, als ich einst versuchte, eine Ameisencolonie im Garten anzulegen. In demselben befanden sich einige Tannen – für Baumaterial war also gesorgt. Zugleich aber war der ganze Garten so von Insecten, Larven und den kleinen, schädlichen Ameisen bevölkert, daß ich damals glaubte, durch Einbürgerung der großen Waldameise den wirksamsten Schlag gegen das Ungeziefer führen zu können.

Die Beinkleider in den Stiefeln, begab ich mich also eines schönen Sommertags, mit mehreren Beuteln und einer Ofenschaufel bewaffnet, in den nahen Wald, wo ich mehrere große Ameisenhaufen wußte. Am größten hielt ich an, befestigte die Beutel rings an Zweigen so, daß sie weitgeöffnet herabhingen, und schaufelte nun aus der Mitte des Haufens Ameisen, Eier, Larven ohne Unterschied mitsammt ihrem Baumaterial heraus in die Säcke, band diese zu und schaffte sie in den Garten. Durch möglichste Geschwindigkeit, durch fortwährendes Stampfen und durch die Wahl der glattstieligen Schaufel gelang mir die Operation, ohne daß ich gebissen worden wäre. Leider war alle Mühe vergebens, und obgleich ich einige sehr interessante Beobachtungen bei dieser Gelegenheit machte, so bereute ich doch, meine Lieblinge im Walde so decimirt und auf lange Zeit gestört zu haben.

Jene Beobachtungen waren aber folgende. Obgleich ich den ganzen Inhalt der Beutel auf einen Haufen schüttete und die Eier und Puppen möglichst in’s Innere bettete, so zeigten die Ameisen doch eine solche Verwirrung, daß sie nach allen Seiten auseinanderstürzten. Kam ihnen dabei eine Puppe in die Quer, so belasteten sie sich sofort mit derselben und rannten weiter, stets von dem Haufen weg. Auch die innerhalb zu Tausenden krabbelnden Thiere arbeiteten sich, meist mit Eiern und Larven, an’s Tageslicht und flohen ebenso von dannen. – Dennoch bemerkte ich bald, daß diese Züge sich nach und nach gruppirten und fand in mehr oder weniger Entfernung hier und da unter allerlei Deckungsmitteln größere Ansammlungen der Puppen, zum Theil so, daß ich sie später löffelweise hervorholen konnte. Aber ein Zusammenhang aller war nicht mehr da; der leitende, allgemeine Gedanke fehlte; und schon bekriegten die einzelnen Gruppen einander, wobei die Brut bald hierhin, bald dorthin dislocirt wurde. – Das Unglück, dem ich enttäuscht und traurig zusah, wurde vollendet durch die kleinen Gartenameisen, welche – obwohl in viel schwächeren Heeren – einen wahren Vernichtungskrieg gegen die größeren Geschlechtsgenossen führten. Und hier konnte man auf’s Deutlichste lernen, wie Einigkeit stark macht, während Zwietracht auch die an sich mächtigsten Brüder dem Verderben preisgiebt. Die großen Waldameisen, jede für sich allein kämpfend, fielen rasch unter den Bissen der winzigen Gegner, die je zu dreien und vieren über einen solchen Riesen herfielen. Schon am Abend des folgenden Tages lag der Nadelhaufen todt und verlassen da. Weit und breit krochen die ermatteten und augenscheinlich entmuthigten Ameisen umher, am dichtesten noch da, wo sie Theile der Brut geborgen hatten. Zahllose Leichen deckten die Erde und überall sah man die kleinen einheimischen Feinde im Kampf oder mit Fortschleppung der Beute beschäftigt. Nach einigen Tagen war Alles vorbei, und ich sammelte nun die Puppen zum Vogelfutter. – Ich bemerke noch, daß ich auch sehr viele geflügelte Ameisen, jedenfalls also Weibchen, übergesiedelt hatte, daß diese aber am allerersten sich zerstreuten und gar keine Notiz von den übrigen oder von der Brut nahmen.

Daß also die Colonisation der Ameisen durch Menschenhand ein höchst schwieriges, wo nicht unmögliches Unternehmen ist, scheint mir hiernach klar. Denn daß ich einst einen ganzen Staat der Gartenameisen, den ich in einem Blumentopfe fand, lange Zeit in meinem Zimmer in einem großen Blechgefäß hielt, hauptsächlich zum Futter meiner Ameisenlöwen, das kann man keine Colonisirung nennen; diese Ameisen konnten eben nicht über die glatten Wände ihres Kerkers hinaus, und auch bei ihnen merkte ich trotz reichlicher Fütterung doch bald, daß nicht Alles so war, wie draußen in der goldenen Freiheit.

Wie colonisiren sich nun die Ameisen selbst? Ich habe selber [413] die Neugründung einer Ameisencolonie gesehen. Und die geschah folgendermaßen.

In Soltau bei einem Freunde zu Besuch, bemerkte ich gleich am Tage nach meiner Ankunft rothe Waldameisen in dem großen schönen Garten desselben, suchte aber vergeblich nach einem Haufen. Tannen waren auch, so viel ich weiß, im Garten nicht vorhanden. Bald darauf aber, bei einem Spaziergange, entdeckten wir auf einem freien Platze unter einigen großen Tannen wiederum Ameisen derselben Sorte, suchten und fanden nun auch an einer Hecke eine ziemlich bedeutende Colonie. Da jener Ort nicht sehr weit von dem Garten war, so schien uns die Anwesenheit der Thiere in letzterem erklärt, weil die Ameisen bekanntlich sehr weite Streifzüge unternehmen. Allein einige Tage hernach entdeckte ich an einem Rasenabhange des Gartens doch eine Colonie und zwar eine ganz winzige, eben im Entstehen begriffene. Die Stelle lag recht an der Sonnenseite, aber halb unter einem kleinen Busche. Und als ich nun die Wege der Ameisen verfolgte, gelangte ich bis zu der den Garten umzäunenden Planke, unter welcher durch der Strom sich bewegte. Ich kennzeichnete mir die Stelle, verließ den Garten und fand jenseits der Planke bald genug die Heerstraße wieder, auf der die beladenen Thierchen zu Tausenden krabbelten. Und diese Heerstraße führte zu jener großen Colonie oder vielmehr von derselben her; und so eifrig schleppten die Arbeiter Nadeln und allerlei Spiere herbei, daß man das Wachsen der Tochterstadt von Tag zu Tag, ja fast stündlich wahrnehmen konnte.

In Folge einiger Experimente, von denen ich später berichten werde, hatten wir den jungen Staat mehrfach gestört und bemerkten noch gegen Abend eine auffallende Unruhe in demselben. Andern Morgens war das ganze Gemeinwesen – verschwunden! Da indessen noch Ameisen genug umherliefen, so folgten wir diesen und entdeckten nun an demselben Hange und abermals unter einem Strauche, aber etwa zehn Schritte entfernt, dieselbe junge Colonie, die also während der Nacht mit Sack und Pack umgesiedelt war und den ganzen kleinen Nadelhaufen geradezu versetzt hatte. Wir störten sie nun nicht weiter, beobachteten sie aber Nachts bei Laternenschein und fanden das Gewimmel der Arbeit fast noch regsamer, als bei Tage. In der tiefen Stille knisterte und kraspelte das im Grase und drängte, schob, schleppte, baute, daß es eine wahre Lust anzusehen war – eine Lust, die selbst einen Herrscher wie Salomo wohl zu den mannigfachen Worten zum Preise des Ameisenvolks anregen konnte. –

Hier also war die Colonie als eine direct durch Wanderung entstandene constatirt. Und solche habe ich unzählige andere, namentlich in den großen Forsten der Göhrde gefunden. Denn da lagen hohe Ameisenburgen so nahe bei einander, daß die verschiedenen Karawanenstraßen sich hin und her kreuzten und directe Verbindungen zwischen den einzelnen Gemeinden bestanden. – Sollten also je, wie Taschenberg behauptet, an von einer Ameisenburg entfernten Stellen niedergefallene Weibchen Anlaß zu neuen Colonie-Gründungen werden, so kann ich mir das nur so denken: daß dieselben in so geringer Entfernung von ihrem Neste oder auch dessen Nestcolonieen niederfallen, daß sie von Arbeitern ihres Geschlechts gefunden und erfaßt werden können; daß aber andererseits die Entfernung doch wieder derartig sein muß, daß die Arbeiter lieber an Ort und Stelle einen Neubau beginnen, als sich die Mühe des Transports zu der Mutterstadt machen. Ohne Arbeiter aber, blos durch Weibchen die Gründung einer Ameisencolonie anzunehmen, dazu wird mich erst der genaue Bericht eines Sachkundigen bringen, der den Fall wirklich mit angesehen hat. Daß von den Myriaden der Ameisenschwärme, die ja oft wolkenartig und stundenweit vom Winde fortgeführt werden, der allergrößte Theil umkommt, ist bekannt. Die Natur, die vor allem den Grundsatz befolgt: „Allzu viel ist ungesund!“ hat auch hier der ungeheuren Production den nöthigen Damm entgegengesetzt.

Wirft man mir endlich ein, wie es komme, daß Ameisenhaufen ganz vereinsamt und einzeln angetroffen werden, so werde ich erst die Gegenfrage thun: Ob sich Jemand, der eine solche Colonie fand, wirklich auch überzeugt hat, daß sonst keine Bauten dieser Art in der betreffenden Gegend vorkommen? – Und sodann werde ich sagen, daß ich allerdings gerade diesen letzten Fall glaube verbürgen zu können. Denn auf den Göhrdener Bergen bei Hannover, einer Hügelkette, die sich etwa ein Stündchen lang hinzieht und die ich Jahre lang durchstreift habe, fand ich nur zwei Colonien und in einer solchen Entfernung von einander, daß eine Verbindung nicht mehr ersichtlich war. Aber wer sagt, daß diese Entfernung immer bestanden hatte? Können Ameisen in einer Nacht zehn Schritt weit umsiedeln, welchen Weg können dann in vielen Jahren ihre Ansiedlungen zurücklegen! Und wie viel Mittelglieder mögen bestanden haben, die aus irgend welchen Gründen verschwunden sind! Denn – ich füge dies nachträglich hinzu – auch jener große Haufen, dem ich damals so erfolglos seine Bürger raubte, war nach zwei Jahren spurlos verschwunden, also entweder ausgestorben oder umgesiedelt. – Sehr wirkt auch die Abholzung und Neubepflanzung der Forsten auf die Verbreitung der Ameisen ein; ich bin überzeugt, rückte man ein Tannengehölz im Laufe der Jahrhunderte meilenweit von seiner ersten Stelle hinweg, sämmtliche darin befindliche Ameisencolonien würden mit fortrücken. Und endlich kann ich constatiren, daß seit etwa zwei Jahren auf den eben genannten Bergen sich mehrere neue Colonien gebildet haben, und zwar – da sie mit einander in Verbindung stehen – durch Wanderung, ohne daß ich noch hätte unterscheiden können, welches der Mutterstaat und welches die Tochterreiche sind. –

Sollten meine Ansichten nun der Berichtigung bedürfen, so sind mir solche sehr erwünscht. Die Ameisenfrage ist nicht blos eine wissenschaftlich höchst interessante, sondern für das Forstwesen zugleich von hervorragend praktischer Bedeutung. Möge man mir deshalb diese vielleicht etwas umständliche Behandlung zu Gute halten. –

Um noch kurz von den oben erwähnten Experimenten zu berichten, so bezogen dieselben sich auf die Wirkungen des Ameisenbisses und der demselben eingeflößten Säure. Uns Menschen verursacht dieselbe nur einen kurzen Schmerz, obgleich die nöthige Anzahl auch hier höchst fatal, ja gefährlich werden kann. Kommen doch unter den Gräueln des dreißigjährigen Kriegs und der spanischen Kriege auch die entsetzlichen Fälle vor, daß Säuglinge in Ameisennester geworfen und so zu Tode gebissen wurden. – Auf die Thiere wirkt die Ameisensäure nun ganz besonders, aber auf keines mehr, als aus den Frosch. Während Insecten, Würmer und andere viel kleinere Wesen unter vielen Ameisenbissen noch lange Qualen zu erleiden haben und von wenigen kaum angefochten zu werden scheinen, da sie im Fall der Rettung oft munter davoneilen: so ist der Frosch fast immer ein Kind des Todes, ein mittelgroßer Thaufrosch sogar in Folge eines einzigen Bisses. Es handelt sich nur um die Dauer, bis wann das Gift den Tod herbeiführt. Drei Ameisenbisse brachten einen kleinen Frosch fast im Nu in das Reich der Schatten, während ein großer nach demselben Quantum noch etwa eine Minute lebte. Leider sind die Notizen hierüber verloren gegangen, und so will ich diese Zeitmaße nicht als genau verbürgen. –

Auf der bedeutenden Hitze, um zum Schlusse auch dies noch zu erwähnen, welche, wie ich oben anführte, in den Hügeln der rothen Waldameise herrscht, fußt auch das Verfahren, durch welches die Apotheker die nöthigen Thiere zur Gewinnung des Ameisenspiritus erlangen und welches ich ebenfalls in der Lüneburger Haide kennen lernte. Große Glasflaschen werden bis an den Rand der Oeffnung in die Haufen vergraben und dann einige Tropfen Spiritus hineingegossen. Durch die Bruthitze wird der letztere zu besonders starkem Ausdünsten getrieben, und sowie nun eine Ameise dem verderblichen Krater nahe kommt und neugierig in den schwarzen Schlund hinabschaut, wird sie im Umsehen benebelt und stürzt hinab. Man sucht hierbei möglichst die Nester und Eier der nützlichen Thiere zu schonen und versenkt die Flaschen seitwärts am Abhange. Aber so ungeheuer ist die Menge der Thiere, daß oft in wenigen Stunden eine solche große grüne Glasflasche gefüllt ist.

Freilich noch mehr als hierdurch bekommt man einen Begriff von der unausdenkbaren, nach Milliarden kaum mehr zu messenden Anzahl dieser „Ameisenwirthschafts“-Glieder, wenn man den Verbrauch der Puppen sieht, die centnerweis in den Handel kommen. Wie verschwindend sind doch auch hier unsere Zahlen gegen die der allgewaltig schaffenden Natur! –

M. Evers.




[414]
Blätter und Blüthen.


Die deutscheste Stadt Deutschlands. Schon im Anfang dieses Jahrhunderts wurde Goethe’s Vers berühmt: „Mein Leipzig lob ich mir! Es ist ein klein Paris und bildet seine Leute.“ Natürlich wollte er damit sagen, daß, wie Paris als Mittelpunkt Frankreichs gilt, er Leipzig im Kleinen denselben Rang in Deutschland zuspreche. Im Jahre 1833 war Holtei, der als Schauspieler und Theaterdichter in allen möglichen Städten, namentlich auch in Berlin, die verschiedensten, mehr traurigen als freudigen Erfahrungen gemacht hatte, als darstellender Gast in Aufführung seiner eigenen Lust- und Trauerspiele in Leipzig. Er hatte als Dichter und Darsteller bereits einen schönen, volksthümlichen Ruf. In einem seiner Stücke fiel er so gut wie durch, wurde aber doch zum Schlusse lebhaft und vollstimmig hervorgerufen. Nun erzählt er im vierten Bande seiner „Vierzig Jahre“: „Aus diesem Rufe, dem doch der belebende Nerv freudigen Beifalls fehlte, klang die Ansicht heraus: ‚Der Mann hat sich geirrt, sein Stück ist nicht gerathen, aber er verdient doch nicht, daß man ihn deshalb schlecht behandele. Wir wollen ihn trösten.‘ – Ich kann gar nicht beschreiben,“ fährt er fort, „welche Achtung mir das Benehmen des Leipziger Theaterpublicums durch dieses Verfahren eingeflößt. Wahrhaftig! nicht weil es mir geschah, sondern von dem allgemeinen Standpunkte vergleichender Betrachtung gewürdigt. (Holtei war nämlich nicht nur allein, sondern auch mit seiner weit und breit als Künstlerin verehrten jungen Frau nach den herrlichsten Triumphen als Dichter und Darsteller doch wieder wahrhaft bestialisch behandelt worden.) Welch ein bedeutender Vorschritt in Allem, was öffentliches Leben, gemeinsamer Ausdruck des Urtheils, Handhabung geistiger Gewalt heißt, mußte in einer Stadt gethan sein, wo die zufällig im Theater sich zusammenfindende Menge so übereinstimmend und ohne durch spöttische Gegenwirkung behindert zu werden, einen Act entschiedener Großmuth auszuführen vermag! Welch ein Grad durchgreifender und alle Stände durchdringender Bildung muß da herrschen, wo Logen, Parterre und Galerie, die jetzt eben noch den Schluß eines traurig ausgehenden Dramas zu belachen sich geneigt finden, eine Minute nachher in der Ansicht einig werden: wir wollen den Mann, der uns schon so lieb geworden ist, doch nicht kränken! und diese Ansicht augenblicklich von allen Seiten mit herzlichem Wohlwollen kund geben. Ich wiederhole es, nicht weil es mir galt, nein, weil ich überzeugt bin, daß bei ähnlichen Fällen das Leipziger Publicum nie anders als verständig, wohlwollend und gerecht handeln wird. Deshalb achte ich seine Stimme so hoch.“

Davon gab ihm Leipzig nach der glänzendsten Aufführung seiner viele Jahre lang volksthümlichen Tragödie „Lorbeerbaum und Bettelstab“ noch einen schöneren Beweis. Und so schließt er die ganze Darstellung seiner Wirksamkeit und seines Lebens in Leipzig mit folgenden Worten: „Deshalb steht mit unauslöschlichen Zügen die Erinnerung an diese Stadt und all das Gute, welches mir dort zu Theil wurde, in mir fest. Und wenn es sich nicht geziemen will, im Marktschreierton jene Familien aufzuzählen, die dem Wanderer gleich einer Heimath offen standen, so ist es doch vergönnt, der freisinnigen Heiterkeit Erwähnung zu thun, welche Kaufleute, Bürger, Literaten, Künstler und Musensöhne jeder Gattung zu einem großen, sich täglich durch bunten Wechsel erneuernden Kreise verband. Es giebt nur eine Stadt in Deutschland, die Deutschland repräsentirt; nur eine Stadt, wo man vergessen darf, ob man Hesse, Baier, Württemberger, Preuße oder Sachse sei; nur eine Stadt, wo weder hochweise Vornehmthuerei fürstlicher Beamten, noch kecke Zuversicht wohlgeschnürter Officiere, noch Anmaßung adeligen Vollblutes oder (was fast noch schlimmer ist) bürgerlicher Patricier fühlbar wird; nur eine Stadt, wo neben bedeutendem Reichthum des Handelsstandes, dem die Wissenschaft glorreich zur Seite steht, auch Derjenige beachtet wird, der nichts besitzt, als seine Persönlichkeit; nur eine Stadt, wo über einer nicht gänzlich abzulegenden Kleinstädterei doch alle Vorzüge einer großen, ich möchte sagen, einer Weltstadt an’s Licht treten! Diese eine Stadt ist meiner individuellen Ansicht und meiner Erfahrung nach Leipzig.“ –

Seitdem Holtei dies schrieb, sind beinahe dreißig Jahre vergangen und ist das neue deutsche Reich gleichsam aus Kanonen geschossen. Kriegerische Errungenschaft muß sich friedlich verwirklichen. Dies ist bei dem uralten geschichtlichen Gegensatze zwischen Preußen und dem übrigen Deutschland, worüber C. Frantz in seinem dicken Buche „Das neue deutsche Reich“ sich ungemein gründlich, wenn auch krankhaft gereizt ausgesprochen hat, schwieriger, als sich bis jetzt Staats- und Parlamentsmänner träumen lassen. Es ist nur durch Vermittelung und diese nur durch die mitteldeutschen, besonders sächsisch-thüringischen Culturverhältnisse und Menschen möglich. Leipzig ist entschieden der Hauptbrennpunkt derselben und zugleich Weltstadt. Man denke nur an die Waaren- und Buchhändlermesse, den Brennpunkt des deutschen Buchhandels. Außerdem ist es kein Zufall, daß in Leipzig das unter den Deutschen verbreitetste Weltorgan und zwar durch einen Thüringer geschaffen und groß gezogen ward. Um der Sache willen hat die Gartenlaube eine moralische Verpflichtung, diese bescheidene Bemerkung eines der ältesten Mitarbeiter stehen zu lassen. Auch die „Illustrirte Zeitung“ ist ein Reichsorgan, und nur in Leipzig erscheint eine „Deutsche Allgemeine“. Und hat es nicht etwa auch eine Bedeutung, daß diese Stadt fähig war, aus ihren eigenen Mitteln sich ein Theater für nahe an eine Million Gulden aufzubauen, daß sie Hunderttausende von Thalern an ihre Schulpaläste verwendet und daß rein aus Mitteln, die der Bürgersinn als Vermächtniß zur Verfügung stellte und als Geschenk vermehrt, ein Museum gegründet und mit Werken der Malerei, Sculptur und des Stichs ausgestattet werden konnte, welche sämmtlich entschiedenen Kunstwerth haben? Und zu dem Allen kommt, wie ich höre, jetzt der Prachtbau einer wohlthätigen bürgerlichen Stiftung, die Beide, Bau und Stiftung, in Deutschland nicht viel ihres Gleichen haben mögen. Die Bürger einer solchen Stadt sind berechtigt, vor aller Welt das zu zeigen, was nun auch in aller Welt geachtet wird, die wahre deutsche Bürgerwürde.

Holtei machte seine Erfahrung auf dem Theater. Dieses soll die Welt bedeuten. Das kleine Paris Deutschlands ist seitdem größer geworden und strafte noch nie Holtei’s Lobspruch Lügen. Im neuen deutschen Reiche haben Leipzig und die sächsisch-thüringischen Culturmenschen um das Symbol der deutschen Einheit, den Kyffhäuser, herum die hohe Reichsmission erhalten, den Gegensatz zwischen dem noch unverstandenen Begriffe des Reiches und dem starren Staatsbegriff aufzuheben und zwischen den alten süddeutschen Staaten und der ehemaligen Nordmark derselben, Preußen, die Vermittelungs- und Versöhnungsrolle zu übernehmen.

Berlin.

H. Beta.




Der letzte Priester von Gretna Green. In Schottland, wo bekanntlich factische Ehe rechtliche Ehe ist und Erklärung der beiden Betheiligten vor dem Prediger oder dem Friedensrichter ausreicht, um eine gültige Ehe zu schließen, war der Grenzort Gretna Green durch den Schmied, der dort als Friedensrichter so viele Ehen schloß, welche in England ihre Schwierigkeiten gefunden haben würden, berühmt geworden. Der Nachfolger des Schmieds, der Rev. Robert Elliot, der dies Geschäft als Priester fortführte, schrieb 1843 an die „Times“, er habe von 1811 bis 1839 im Ganzen 7744 Personen getraut. 198 wäre die größte jährliche Zahl, 42 die geringste gewesen. Es gab mehrere Gretna-Priester nebeneinander; der letzte von ihnen, Sim Lang, starb den 23. April d. J. Er und sein Vater hatten zusammen achtzig Jahre fungirt. Sim wurde auf dem Kirchhofe von Gretna begraben. Die Laufbahn der beiden Langs, Vater und Sohn, ist eigentlich englisch. David Lang, der Vater, ging als junger Mensch nach Lancashire, zuerst in einen Schnittladen, dann zog er als Hausirer im Lande umher, und dabei wurde er zum Matrosen gepreßt. Während seines Seedienstes wurde nun das Schiff von dem Piraten Paul Jones geentert und genommen. Paul sprang zuerst an Bord und führte seine Gefangenen in einen französischen Hafen, wo er ihnen alle möglichen Anerbietungen machte, um sie in den Dienst der Amerikaner zu ziehen, denen er gerade damals diente. David Lang gelangte bald darauf wieder nach Gretna Green, ohne gegen sein Vaterland gedient zu haben, steckte sich 1792 in das priesterliche Gewand und führte von da an vierzig Jahre lang das Traugeschäft. Die größte That während seines Regimentes in Gretna Green war die Trauung des Lord Thomas Erskine, der sich im hohen Alter mit seiner Maitresse, Fräulein Sarah Buck aus Marylebone, verheirathete. Dafür soll der alte Lang netto hundert Guineen bekommen haben. Er hatte das Glück, noch mehrere Abkömmlinge aus nobeln und mächtigen Häusern zu trauen; dahin gehören die Villiers, die Beauclercs, die Coventrys und Andere von ebenso hohem Range. Er starb plötzlich, im Jahre 1827, zweiundsiebenzig Jahre alt.

Sein Sohn Sim folgte ihm im Geschäft. Seine Nebenbuhler spielten unserm Sim aber allerhand Streiche. Wenn ein neu angekommenes Pärchen den Priester Lang verlangte, so hieß es gewöhnlich auf ihre Veranstaltung:

„Ist längst gestorben und verdorben!“

„Aber sein Sohn lebt doch noch?“ fragten die ängstlichen Fremden.

„Auch todt, mausetodt!“

Alle diese schnöden Streiche waren aber nicht im Stande, Sim aus dem Sattel zu heben. Er machte ein gutes Geschäft und hielt sich ehrlich zum Traualtar und zum Weberstuhl. Gelegentlich machte er auch wohl einen kleinen ruhigen Schmuggel. So überlebte er alle seine Nebenbuhler, und nicht nur diese, sondern die goldenen Tage von Gretna Green selbst; denn in England hatte die Civilehe und das expresse Verbot der schottischen Trauungen für Engländer dem romantischen Gretna Green den Garaus gemacht. Sim Lang hatte sich aber bis zuletzt im Sattel gehalten; denn ungefähr vor zwölf Monaten führte er wahrscheinlich die letzte Trauung in Gretna Green aus, und merkwürdiger Weise in Hemdsärmeln und Unterhosen. Der Grund dieser unerhörten Toilette war die Ankunft eines Pärchens mit dem Mitternachtszuge von Dumfries; und, wie alle Verliebten, war das Pärchen höchst ungeduldig. So wurde der alte Priester plötzlich aus seinem Schlafe gerissen und zur Amtsübung in einem so auffallenden Costüm genöthigt.

Man kann nicht sagen, daß die Trauungen in Gretna Green auf diese Weise nicht zu einem romantischen Schluß gelangt seien.

A. Ruge.




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Von Friedr. Oswald.
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Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.