Die Gartenlaube (1872)/Heft 32
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No. 32. | 1872. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
„‚Na, jung’ Herr‘, sagte ich, ‚das ist doch nicht so schlimm; Sie haben ja nun den reichen Schwager, der kann Ihnen ja das Geld geben.‘
Aber da sprang unser junger Herr auf, stellt sich vor mich hin und kriegt mich vor der Brust zu packen, und schüttelt mich, daß mir heilangst wurde, und ruft: ‚Wo Du noch ein Wort sagst von dem –‘, na, es war ein starkes Wort, wenn man es von seinem Schwager sagt, und besonders von unserm jungen Herrn, der ja sonst so ein guter, freundlicher Mensch war; aber ich sagte ja: er hatte zu viel getrunken; denn er wollte, ich sollte sie umwerfen, wenn ich sie hierher nach Dahlitz führe, auf der Haide, wissen Sie, Herr Gotthold, ehe man nach der Schmiede kommt, wenn man oben auf dem Berg ist und man hat das Moor links unter sich. Na, da kann man ja gut umwerfen, daß, wer drin sitzt, das Aufstehen vergißt; aber es ist doch eine eigene Sache, seinem Herrn seine Tochter umzuwerfen an ihrem Hochzeitstage, und wenn ich es auch gewollt hätte, ich fuhr sie ja gar nicht, weil Herr Brandow seinen eigenen Wagen hatte kommen lassen mit Vieren lang, und Hinrich Scheel, der damals schon sein Kutscher war und noch ist, würde sie schon nicht umwerfen, denn fahren kann Hinrich Scheel und reiten, das muß wahr sein.“
Jochen Prebrow klappte mit der Peitsche, und die Pferde, die bisher auf dem schmalen ausgefahrenen Vicinalwege im Schritt gegangen waren, trabten jetzt munter fort auf der breiteren und glatteren Landstraße.
In geringer Entfernung links lag Dahlitz, das prachtvolle Stammgut der alten adeligen Familie, aus welcher Cäcilie mütterlicherseits entsprossen, jetzt schon lange im Besitz der bürgerlichen Brandows, und Karl Brandow’s Erbe.
Die Straße, wie Gotthold sich erinnerte, führte unmittelbar am Hofe vorüber und dann noch eine längere Strecke an der Parkmauer hin. Sein Herz fing heftig an zu schlagen; seine Blicke schweiften scheu voraus zu dem Hause, dessen weiße Fronte zum Theil schon zwischen den Nebengebäuden hervortrat. So nahe an ihrem Wohnsitz vorüberzufahren; die einzige Gelegenheit, die sich sehr wahrscheinlich in alle Zukunft bot, verstreichen zu lassen, sie niemals, niemals wiederzusehen! Und wiederum, sie zu sehen, als Karl Brandow’s Frau – nein, besser so, viel besser!
Und Gotthold lehnte sich in die Ecke, die breite Krämpe seines Hutes tiefer in das Gesicht ziehend; er hätte am liebsten Jochen befohlen, wieder umzukehren. Indessen Jochen fuhr jetzt schlanken Trab, und so mußte es ja bald geschehen sein. Aber in dem Augenblicke, als sie an dem Hofthore vorüber wollten, kam aus demselben ein leerer Erntewagen ebenfalls im Trabe heraus, so daß die Vorderpferde und Jochen’s Pferde beinahe auf einander stießen. Jochen fluchte, und der Knecht fluchte, und Jemand, der auf dem Hofe stand, fluchte ebenfalls, Gotthold konnte nicht verstehen, ob auf den eigenen Knecht, oder den fremden Kutscher – wahrscheinlich auf Beide; aber es war wenigstens nicht Karl Brandow’s helle Stimme, und der große dicke Mann in Stulpenstiefeln, der jetzt mit schweren Schritten auf das Thor zukam, war gewiß nicht der schlanke elastische Karl Brandow.
Und da hatte denn Jochen auch bereits wieder freie Bahn und fuhr, die scheu gewordenen Pferde nur mit Mühe zügelnd, im Galopp an der niedrigen Parkmauer hin, über die man hier und da zwischen den Bäumen und Büschen einen freieren Blick in die Anlagen und einmal über einen schönen breiten Rasenplatz hatte, in dessen Hintergrunde die Seitenfront des Herrenhauses sichtbar wurde. Auf dem Rasenplatze stand noch die große Schaukel, in welcher eben zwei kleinere Mädchen von einer Bonne, wie es schien, vorsichtig gewiegt wurden, während ein halbes Dutzend anderer Kinder von jeder Größe sich umhertummelte. Ihre frischen Stimmen schallten lustig durch den stillen Abend, und eine große stattliche Dame bewegte sich durch die Spielenden, neben ihr ein kleiner schwarzgekleideter Herr, der wohl der Hauslehrer der Buben sein mochte.
Es waren nur wenige Secunden, während welcher sich dieses Bild darbot, aber Gotthold’s scharfes Auge hatte es bis in die Einzelheiten gefaßt und so stand es noch vor seiner Seele, als der Wagen bereits wieder auf der offenen Landstraße langsamer dahin fuhr. Sein Herz hatte sich vorhin ohne Ursache zusammengekrampft; sie wohnte nicht hier, nicht mehr hier. Wo lebte sie jetzt? er hatte so lange Jahre kein Wort aus der Heimath gehört – war auch sie todt? für ihn war sie es ja, und doch, und doch –
„Das ist ein grober Kerl, der Redebas,“ sagte Jochen, die Zügel in die linke Hand nehmend; „aber seine Sache versteht er, der wird schon damit zurechtkommen.“
„So gehört Dahlitz nicht mehr Herrn Brandow?“ fragte Gotthold.
[516] „Je ja!“ erwiderte Jochen, „haben Sie denn da unten“ – und er deutete mit dem Peitschenstiele irgend wohin in den dämmerigen Abend – „gar nichts gehört, was hier in unserer Gegend passirt ist?“
„Nichts, gar nichts, lieber Jochen, von wem sollte ich es auch gehört haben?“
„Freilich,“ sagte Jochen, „das Schreiben ist nicht Jedermanns Sache, meine zum Beispiel nicht; und wo Sie gewesen sind, da haben sie am Ende gar keine Posten und sonstige Gelegenheit. Mein Feldwebel – das war einer von den Alten, Gedienten – der war auch in Spanien gewesen, achtzehnhundertneun, und –“
„Aber ich war gar nicht in Spanien,“ sagte Gotthold, „ich war in Italien!“
Jochen kam dieser Einwand unerwartet und ungelegen; er hatte, während er stundenlang darüber gegrübelt, ob sein Passagier wohl der Pastorssohn aus Rammin sei, oder nicht, bei sich ausgemacht, daß, wenn er es sei, er jedenfalls geraden Weges aus Spanien kommen müsse; denn er hatte gehört, daß Gotthold die „Priesterei“ aufgegeben habe und jetzt in einem fremden Lande lebe, und Spanien war das einzige fremde Land, von dem er jemals hatte reden hören. So versank er denn, mächtige Wolken aus seiner kurzen Pfeife ziehend, in tiefe Nachdenklichkeit, und Gotthold mußte seine Frage, wo denn Herr Brandow nun wohne, so schwer es ihm wurde, ein paar Mal wiederholen.
„Ja, wo soll er wohnen,“ sagte Jochen endlich, „als in Dollan? er ist vom Pferde auf den Esel gekommen; aber das ist nun nicht anders, wenn die Herren immer so hoch zu Pferde sitzen wollen –“
„Und – und – seine Frau?“
Es mußte gefragt sein; aber Gotthold’s Lippen bebten, als er die Frage that.
„Unser armes Fräulein,“ sagte Jochen; „ja, die hat sich auch wohl nicht träumen lassen, als ich sie an dem Morgen mit Vieren lang zur Trauung nach P. fuhr, daß die Herrlichkeit so bald ein Ende haben würde. Ja, die ist nun wieder auf dem alten Fleck, und unser alter Herr und der junge Herr sind todt, und ihre ersten beiden Kleinen sind ja auch wohl todt, und nun hat sie man ja wohl nur noch eins.“
Sie lebte also, lebte wieder in Dollan, dem lieben Dollan, dem waldumgürteten, meerumrauschten, dem Orte, wo er die seligsten und unseligsten Stunden seiner Jugend durchlebt, dem heilig-unheiligen Orte, zu dem ihn seine Träume so oft, so oft zurückgeführt hatten in Trauer und Lust, daß er mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen, ach, und so oft in Thränen erwacht war! Einen Augenblick war ihm, als wäre sie ihm wiedergegeben, als wäre noch Alles, wie es war. Er sah die schlanke Gestalt durch die Büsche des abendlichen Gartens schlüpfen, während er mit hochklopfendem Herzen oben am Fenster der kleinen Giebelstube stand und Curt die Verba auf „mi“ repetiren ließ, bis der die Grammatik auf den Tisch warf und erklärte, er werde das Zeug nie begreifen, und sie wollten lieber in den Garten zu Cäcilien gehen.
Gotthold fuhr sich mit der Hand über Stirn und Augen. Hatte er den geliebten Namen laut gerufen? Hatte Jochen, der in seiner eintönigen Weise die abgebrochene Erzählung wieder aufgenommen, ihren Namen genannt? Jochen wußte auch nicht recht, wie Alles zugegangen; denn er war noch in Berlin bei der Garde gewesen, als Herr Wenhof starb und der junge Herr Brandow zu seinem eigenen Gute Dahlitz auch noch das Klostergut Dollan übernahm; und dann, als Jochen von den Soldaten loskam, hatte er sich, da der ältere Bruder mit dem Vater für die Schmiede ausreichte, in Altefähr beim Gastwirth Peters als Knecht vermiethet und war dann nur von Altefähr fortgekommen, wenn er Reisende nach Stubbenkammer und sonst über die Insel zu führen hatte, und das geschah nicht eben oft. Auch hatte es sich nie getroffen, daß ihn sein Weg so nahe an Dollan, oder gar nach Dollan gebracht; denn welcher Fremde sollte wohl so weit abseits vom großen Wege fahren! Und so hatte er selbst die Schmiede noch nicht wiedergesehen, und wenn sein Brüder nicht ein- oder zweimal in Altefähr gewesen wäre, so wüßte er gar nicht, wie es jetzt in Dollan aussehe. Sein Bruder hätte freilich, wenn er es recht bedenke, auch nicht viel mehr zu erzählen gehabt, als was er schon von Anderen erfahren; denn Herr Brandow sei ja dafür bekannt, daß er die schönsten Pferde auf ganz Rügen und in Neuvorpommern habe, und komme ja auch alle Jahre im Herbste zum Wettrennen nach Str., und die adeligen Herren hätten ihre liebe Noth, gegen Herrn Brandow aufzukommen, wenn er auch nur ein Bürgerlicher sei; und beim Herrenreiten in diesem Jahre würde er wohl ganz sicher den Preis gewinnen; denn der Hinrich habe ihm ein Pferd trainirt, so eines sei noch gar nicht dagewesen. Und das sei ja richtig, der Hinrich verstehe mehr vom Pferdefleisch als alle die englischen Traineurs, die sich die anderen Herren so viel Geld kosten ließen, zusammengenommen, während Andere freilich meinten, es gehe dabei nicht mit rechten Dingen zu, und der Hinrich könne es mit seinen Schielaugen den Pferden anthun, so oder so, wie er wolle. Und daß es desgleichen gebe, das wisse er, als Schmiedssohn, auch; aber es sei ein großer Unterschied, ob es ehrliche Künste seien, wie sein Vater zum Exempel verstehe, oder ob ein Anderer dabei sein Spiel habe, den er nicht weiter bezeichnen wolle. Denn mit dem komme man nicht über den Berg; er lasse sich sein Vorspann zu theuer bezahlen. Dem Herrn Brandow habe es schon das schöne Gut gekostet, und welche sagten ja, daß er sich auf Dollan auch nicht würde halten können, und daß ihm die Teufelspferde die Haare vom Kopf fräßen. Ob Herr Gotthold auch an so etwas glaube?
„Nein, nein, nein,“ sagte Gotthold sich heftig aus seiner Ecke aufrichtend.
Jochen mußte sich die Pfeife frisch stopfen, um über diese Antwort, die er keineswegs erwartet hatte, in Ruhe nachzudenken. Gotthold störte ihn nicht in diesen Meditationen; still in sich versunken, saß er da, träumend von dem, was war, und von dem, was hätte sein können und nimmer hätte sein sollen. Nicht sein sollen? ja, aber nicht, weil das Schicksal es nicht gewollt; sondern weil die Menschen dies Schicksal gewollt, weil sie es sich bereitet, weil sie sich selbst in ihren Träumen, die sich zu Wirklichkeiten verdichten, in ihren Wünschen, die zu Handlungen werden, das Schicksal sind! War sie nicht mit dem Wunsche, da wieder Herrin zu werden, wo ihre Ahnen mütterlicherseits so lange als Herren gesessen, an jenem Abend bereits zurückgekommen, als sie von Dollan aus eine Partie nach Dahlitz gemacht, der Vater und sie und Curt und er? Wie war sie still durch die stattlichen Zimmer gewandelt und hatte die großen glänzenden Augen nachdenklich schweifen lassen über die dunklen Bilder an den Wänden mit den verblichenen Seidentapeten und über die mancherlei verschnörkelten Zierrathen auf den Simsen der Kamine, die dem unverwöhnten Auge ein Wunder von Kostbarkeit dünkten! Wie hatte sie in den Schlafgemächern mit der Hand leise über die Damastvorhänge gestrichen! wie hatte sie in den Gewächshäusern das glühende Gesicht wieder und wieder in die vollen Blüthensträuche gedrückt, als wolle sie sich berauschen in köstlichem Duft! Mit welcher Andacht hatte sie dem schielenden Hinrich zugehört, als er die Vorzüge der edlen Pferde schilderte, die ihre leichten Halfterketten an den Marmorkrippen erklirren ließen, und welch ein Jammer es sei, daß der junge Herr auf der landwirthschaftlichen Akademie seine Zeit verlöre, die er hier so viel besser anwenden könne! Und wie unwillig hatte sie den Freund, der ihr so viel zu sein wähnte, angeblickt, als er in eifersüchtigem Spott bemerkte, Karl Brandow könne um so früher zurückkehren, da er auf der Akademie voraussichtlich ebenso fleißig gewesen sein würde, wie vorher auf dem Pädagogium! Hernach hatte sie sich wieder auf dem großen Rasenplatz übermüthig mit den beiden Freunden geneckt, aber als sie dann in der großen hölzernen Schaukel saß – in der vorhin die Kinder gesessen –, den schönen Kopf in die eine Hand gestützt, während die andere lässig mit den rothen Bändern des weißen Kleides spielte, und Gotthold herantrat, die Schaukel in Bewegung zu setzen – da war sie aufgesprungen und hatte lachend gesagt: ein so unwissendes Mädchen dürfe doch wohl einen so hoch gelehrten Herrn nicht bemühen. Er hatte nicht gewußt, wie bitter der Ernst war, der sich hinter dem Lachen versteckte; er hätte schwerlich, als er am folgenden Morgen in aller Frühe mit Curt wieder zurück in die gelehrte Frohnde mußte, durch die Ritze unter ihrer Kammerthür ein Blatt geschoben, auf das er die freie Uebersetzung einer Ode des Anakreon geschrieben:
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Thrakisch Füllen, sag, warum nur,
Scheu aus großem Auge blickend,
Fliehst Du grausam mich, und höhnest:
Gar nichts gilt er mir, der Thor!
Wisse denn! ich werde bald Dir
Um den stolzen Hals die Schlinge
Werfen und mit straffem Zügel
Tummeln auf der Rennbahn Dich.
Jetzt noch auf den Wiesen weilst Du,
Leichten Sprunges fröhlich scherzend;
Doch der rechte Ritter kommt Dir,
Kommt Dir bald, mein thrakisch Füllen!
Der rechte Ritter! ja wohl! noch nicht acht Wochen waren um, da war er angekommen, der rechte Ritter!
Ein dunkler Spätsommerabend, wie dieser. Männer, Weiber, Buben und Mädchen, Alle noch draußen auf dem Felde, denn es war Sonnabend, wie heute, und der große Weizenschlag mußte, wenn irgend möglich, fertig gemäht und die Garben mußten gebunden und in Hocken gestellt werden. Jetzt hatten sich die Leute gelagert, eine halbe Stunde zu ruhen und zu warten, bis der eben aufgehende Vollmond sich aus den trüben Dunstmassen losgelöst haben würde und sie die unterbrochene Arbeit wieder aufnehmen konnten. Und Curt und er hatten wacker mitgeholfen, ja Cäcilie hatte lachend ein paar Garben gebunden; dann hatten sie den Leuten das Bier zugetragen, das Vetter Boslaf aus dem großen Fasse verzapfte. Und es war ein Johlen und Singen gewesen, und ein Schäkern der Knechte und Mägde; aber jetzt waren sie still geworden, und Herr Wenhof hatte gemeint, wenn sie nicht bald wieder anfingen, schliefe ihm seine ganze Gesellschaft ein, und dann möchte er Den sehen, der sie wieder auf die Beine brächte. Aber Vetter Boslaf hatte gesagt, noch zehn Minuten müßten sie warten, dann sei der Mond klar; und Vetter Boslaf mußte es wissen. Und immer stiller wurde es in der Runde, so still, daß der Rebhahn meinte, es sei nun vorüber, und laut nach seiner überall hin zerstreuten Familie rief; so still, daß Gotthold das Schlagen seines Herzens zu hören glaubte, während seine Blicke an der holden Gestalt hingen, die dicht vor ihm, so daß seine Hand ihr helles Gewand hätte berühren können, auf einer Garbe saß und in den Mond schaute, dessen bleiches Licht ihr Gesicht sonderbar bleich erscheinen ließ. Nur ihre dunklen Augen leuchteten manchmal aus dem bleichen Antlitz auf, und dann durchschauerte es den Jüngling, als ob ihn ein Strahl aus der Geisterwelt getroffen habe. Ja, aus der Geisterwelt, in der er mit der Geliebten schwebte, hoch über dem irdischen Treiben, so hoch, wie die himmelsreine Phantasie eines Jünglings trägt, dessen Herz voll von einer großen heiligen Liebe ist. O Gott, wie grenzenlos er sie liebte! wie sein ganzes Wesen in dieser Liebe aufging! wie all sein Sinnen, Denken, Fühlen in diese Liebe strömte, von dieser Liebe getragen wurde! wie jeder Tropfen Blut, der durch sein klopfendes Herz floß, von dieser Liebe durchglüht war! wie jeder Hauch, der aus der gepreßten Brust über die heißen Lippen strich, nur immer athmete; ich liebe Dich, ich liebe Dich!
Und in diesem Augenblicke, wo die Himmel sich vor seinen verzückten Blicken aufthaten, und er weit hineinschaute in die Gefilde der Seligen – in diesem Augenblicke sollte der Schlag erfolgen, der ihm die Pforten zum Paradiese seiner Jugend für immer zuschmetterte und seinen Glauben an ein Hochheiliges, das in der Menschenbrust sicher wohnt, auf Jahre hinaus zerstörte. – „Es kommt Jemand zu Pferde,“ hatte der alte Boslaf gesagt, indem er an die Gruppe herantrat und nach dem Walde deutete. Es vernahm sonst Niemand etwas; aber das wollte nichts sagen; denn der Alte konnte ja das Gras wachsen hören. Und sie war aufgesprungen und hatte ein paar Schritte gethan und war dann lauschend stehen geblieben, und Gotthold hatte gesehen, wie sie beide Hände auf’s Herz preßte. Sein eigenes Herz stand still.
Er und Curt waren – in diesen Wochen vor dem nun glücklich bestandenen Examen – nicht in Dollan gewesen. Er hatte nichts erfahren von Allem, was während der Zeit hier geschehen, hatte nur eben von Curt flüchtig gehört, daß Karl Brandow zurück sei; aber jetzt wußte er: das Pferd, dessen flüchtigen Hufschlag auch er jetzt vernahm, trug Karl Brandow, trug ihn nicht zum ersten Mal die Meile von Dahlitz im Galopp herüber. Jetzt wußte er, was der veränderte Ausdruck ihrer Züge, der ihm heute so aufgefallen war, bedeutete – die träumerische Weichheit, die plötzlich einer sonderbaren Erregung wich; er wußte Alles, Alles und daß sein Tempel zertrümmert und sein Heiligthum entweiht. Und so stand er, unfähig sich zu regen, abseits da, während die Anderen den Reiter, der sich vom Pferd geschwungen, umringten, den schlanken Reiter, der sich jetzt aus der Gruppe loslöste – nicht allein! Er den Arm um sie geschlungen, sich flüsternd zu ihr hinabbeugend, sie sich an ihn schmiegend, kamen sie, sein nicht achtend, dicht an ihm vorübergestrichen, jede Linie ihrer Gestalten scharf abgezeichnet auf dem hellen Mondenhimmel, und dann sah er nichts mehr, hörte nichts mehr, und konnte sich später nur noch erinnern, daß er weit von der Stätte an dem dunklen Saum des Waldes lange, lange in dumpfer, fürchterlicher Verzweiflung lag, und dann aufsprang und durch den stillen, schwülen Wald schwankte, wie in einem schauderhaften Traum, ein paar Mal laut aufschreiend, wie ein gequältes Thier, bis er aus dem Walde heraus an den Strand des Meeres kam, das majestätisch, grenzenlos sich vor ihm hindehnte in die Mondennacht. Da warf er sich wieder hin in den Sand, aber jetzt hatte er Thränen gefunden, glühendheiße Thränen, die aber milder und milder flossen, als wäre das Plätschern der Wellen Wiegengesang für das arme zuckende Herz. Endlich hatte er sich auf den Knieen erhoben, die Arme weit ausgebreitet und sich mit einem langen brünstigen Gebet, zu dem das rauschende Meer die Worte gab, an die Allmutter gewandt, die ihr Kind nicht verlassen werde, wie er sie denn immerdar mit grenzenloser Liebe lieben wolle. – Dann hatte der alte Boslaf plötzlich an seiner Seite gestanden, er hatte ihn nicht kommen hören, und der Alte sagte auch nichts; – und so gingen sie schweigend nebeneinander rechts am Strande hin, bis sie zu dem einsamen Häuschen des Alten zwischen den Dünen kamen. Und da machte ihm der Alte ein kunstloses Lager zurecht, sorgsam, schweigend und strich ihm schweigend mit der Hand über das feuchte Haar, als er sich niedergelegt hatte, um eine Stunde zu ruhen und in den Mondenschimmer zu blicken, der durch das niedrige Fenster an der Wand über die Gewehre und ausgestopften Vögel und Netze und Angelruthen weiterrückte, bis das Rauschen der Wipfel auf der Uferhöhe und das Rauschen des Meeres ihn in Schlaf lullten.
Gotthold erwachte aus seinem Traum. Der Wagen stand. Die Pferde schoben in den Wald hinein, den der Weg hier auf eine kurze Strecke durchschnitt. Es war fast vollkommen dunkel, nur daß hier und da durch das dichte Gezweig der Buchen ein Strahl des eben aufgegangenen Mondes zitterte.
„Na, was haben denn die verdammten Mähren?“ sagte Jochen.
Rechts vom Wege rauschte und knackte es in dem dichten Unterholz, näher jetzt und lauter, immer näher in gewaltiger Eile, und nun brach es aus den Büschen heraus, wie im Sturmwind, eine dunkle, festgeschlossene und doch in sich bewegliche Masse, und krachte in das Unterholz auf der andern Seite – kaum gesehen, schon verschwunden, während die Pferde in wahnsinniger Angst sich im Geschirr bäumten und dann sich auf die Seite warfen, daß die beiden Männer, die vom Wagen gesprungen waren, ihrer nur mit äußerster Anstrengung Herr werden konnten.
„Das verdammte Rackerzeug!“ sagte Jochen, „und gerade hier ist mir das schon einmal passirt. Da sollte doch der Fürst ein Einsehen haben; aber das wird alle Jahre mehr, und wenn der alte Boslaf nicht noch manchmal ein Bischen dazwischen aufräumte, wäre es ja wohl gar nicht zum Aushalten Da, hören Sie!“
Links im Walde, wohin das Rudel seine Flucht genommen, ertönte, schon in ziemlich weiter Entfernung, der Knall einer Büchse.
„Das war er,“ sagte Jochen leise, „der braucht nur zu pfeifen, dann laufen sie ihm gerade in den Schuß. Ja, ja, Herr Gotthold, Sie meinten vorhin, es gebe nichts von der Art; aber den alten Boslaf werden Sie doch wohl ausnehmen. Der kann mehr als ein Kunststückchen, das ihm kein ehrlicher Christenmensch nachmacht.“
„So lebt der Alte noch?“ fragte Gotthold, während sie jetzt vorsichtig durch den Wald weiterfuhren.
„Ja, was sollte er nicht!“ erwiderte Jochen, „welche sagen ja, er kann so lange leben, wie er will. Na, das glaube ich nun [518] nicht, einmal wird es auch wohl ein Ende nehmen, wenn ich auch nicht dabei sein mag; aber das weiß ich, daß welche Leute, die ihn schon vor fünfzig Jahren gekannt haben, sagen, damals habe er just so ausgesehen wie heute.“
„Und er wohnt noch immer in dem Strandhause?“
„Wo sollte er sonst wohnen?“ sagte Jochen.
Sie waren aus Wald und Haide heraus auf die schöne chaussirte Straße gekommen, welche, mit mächtigen Pappelbäumen bepflanzt, den müden Reisenden die Nähe der fürstlichen Residenz verkündete. Es war noch eine Wegstunde; aber die Straße fiel ein wenig, und die Pferde, wohl wissend, daß ihr langes Tagewerk zu Ende und eine Krippe nahe sei, nahmen die letzte Kraft zusammen und trotteten wacker dahin. An dem schwärzlich-blauen Himmel schwamm jetzt die Sichel des zunehmenden Mondes in reinem Glanz; hier und da in der dunklen Landschaft bezeichnete ein röthlich dämmerndes Licht die Lage eines Gutshofes oder einsamen Bauernhauses. Und nun schimmerte es heller von dem Hügel her, zu welchem der Weg wieder aufstieg. Weißlich hoben sich stattlichere Häuser aus dem dunklen Laub der Büsche und Bäume, der Huf der Pferde schlug auf Steinpflaster, und wenige Minuten später hielt der Wagen vor dem „Fürstenhof“, dessen behäbiger Wirth den späten Gast mit nordischer Herzlichkeit willkommen hieß.
Gotthold hatte noch bei guter Zeit in P. einzutreffen geglaubt; jetzt war es beinahe zehn Uhr, eigentlich zu spät, den brieflich versprochenen Besuch bei Wollnow noch zu machen. Indessen der Herr wartete vielleicht trotz der späten Stunde, und was er mit ihm zu besprechen, konnte in wenigen Minuten abgethan sein. Dann war auch dieser Nebenzweck seiner Reise erreicht; er konnte morgen früh wieder aufbrechen, und er wäre am liebsten noch heute Nacht weitergefahren.
Der Boden brannte ihm unter den Füßen. Die Erlebnisse der letzten Stunden, die Begegnung vor Allem mit dem Gespielen seiner Jugendjahre, die Mittheilungen desselben – das Alles hatte ihn im tiefsten Innern erregt. Während er die stille Parkstraße nach der Wohnung seines Geschäftsfreundes hinabging, blieb er ein paar Mal tief athmend unter den dunklen Bäumen stehen und machte eine Bewegung, als könne er damit das Geisterheer der Erinnerungen abwehren, das ihn umwitterte.
„Gott sei Dank, daß Du wenigstens jetzt sicher bist, nicht wieder einem alten Bekannten zu begegnen,“ sprach er bei sich, als er an der Thür des stattlichsten der Markthäuser klingelte.
„Herr Wollnow ist zu Hause,“ sagte das junge hübsche Dienstmädchen, „und –“
„Heißt Sie bestens willkommen,“ fiel Herr Wollnow ein, der in demselben Augenblick aus seinem Comptoir trat und dem späten Gast eine breite kräftige Hand entgegenstreckte. „Ich freue mich sehr, endlich Ihre persönliche Bekanntschaft zu machen, wenn es mir auch herzlich leid thut, daß die Veranlassung eine so traurige sein mußte. Haben Sie schon zu Abend gegessen? Nein? Nun, das ist ja schön, ich auch nicht. Sie müssen freilich mit mir allein vorlieb nehmen, vor der Hand wenigstens; meine Frau hat heute ihr großes Kränzchen. Sie wollte nicht hin, denn sie brennt darauf, die Bekanntschaft mit Ihnen zu erneuern oder zu machen, wie ich sage; denn Sie werden sich ihrer schwerlich erinnern. So versprach sie denn, um zehn Uhr wieder hier zu sein; aber ich weiß, wie das ist, wir werden schon noch eine Stunde für uns haben.“
Gotthold bat wegen der späten Störung um Entschuldigung, aber er habe geglaubt, lieber spät als gar nicht kommen zu sollen, umsomehr, als er womöglich morgen in der Frühe weiterzureisen beabsichtige.
„Ich denke, Sie werden sich noch ein wenig bei uns halten lassen,“ erwiderte Herr Wollnow, „indessen Zeit ist Geld, wie der Engländer sagt, und so wollen wir die Zeit, welche Stine braucht, das Abendbrod zurechtzumachen, den Geldangelegenheiten widmen. Ich habe Alles zurecht gelegt.“
Herr Wollnow hatte Gotthold in dem kleinen Privatcomptoir auf das kleine Sopha genöthigt und sich neben ihm in einen mit Leder überzogenen Armstuhl an den runden Tisch gesetzt, auf welchem im Schein der Lampe verschiedene Papiere in sorgfältigster Ordnung nebeneinandergereiht lagen.
„Hier sind die Sachen, die sich auf die Hinterlassenschaft Ihres Herrn Vaters beziehen,“ fuhr er fort. „Ich habe wahrlich herzlich wenig Mühe von der Ausführung des Mandats gehabt, mit welchem Sie mich von Mailand aus zu betrauen die Güte hatten. Baares Geld fand sich nur im Betrage von einigen Thalern vor, und was das Mobiliar und sonstigen Hausrath betrifft, so können die Einsiedler der thebaischen Wüste nicht viel weniger besessen haben, als womit sich Ihr Herr Vater in den letzten Lebensjahren begnügte. Das einzige wirklich Werthvolle seines Nachlasses war die Bibliothek, und hier habe ich mir erlaubt, von Ihrem Auftrage etwas abzuweichen. Sie hatten bestimmt, daß der Gesammtertrag den Armen des Kirchspiels zu Gute kommen solle, zugleich, daß der Nachfolger Ihres Herrn Vaters für Das, was ihm etwa von den Büchern anstünde, seinen eigenen Preis machen dürfe, in der Voraussetzung ohne Zweifel, der Herr werde mit der nöthigen Discretion von dieser Vergünstigung Gebrauch machen. Davon aber war bei Pastor Semmel nicht die Rede. Er glaubte im Rohr zu sitzen; er wollte nicht nur die besten, er wollte alle Pfeifen schneiden und womöglich umsonst. Mit Einem Worte: Ihre beiden Absichten waren nicht zu vereinigen, und da ich wohl richtig annahm, daß Ihnen die Armen näher am Herzen liegen würden als der Herr Pastor, obgleich er viel Wesens von der Intimität machte, die auf der Universität und, ich glaube, schon auf der Schule zwischen Ihnen bestanden haben soll, habe ich mit Ausnahme einiger unbedeutenderen Sachen, die ich ihm lassen mußte, das Uebrige einer respectablen antiquarischen Firma angeboten, mit welcher ich nach einigem Hin- und Herhandeln einig wurde. Wir haben, wie ich Ihnen schrieb, ein tüchtiges Stück Geld herausgeschlagen, und wenn Sie mit mir so zufrieden sind, wie die Ramminer Armen, brauche ich mich der Ausführung meines Mandats nicht zu schämen.“
In Herrn Wollnow’s dunklen Augen blitzte ein Lächeln, als ihm jetzt Gotthold über den Tisch die Hand dankbar drückte.
„Ich wiederhole, es war eine kleine Mühe,“ sagte er, „und ich würde eine hundertfach größere für einen Mann, dem ich so tief verpflichtet bin, mit Vergnügen auf mich genommen haben.“
„Dem Sie so tief verpflichtet sind? mir?“
„Ihnen, gewiß. Hätten Sie mir vor fünf Jahren, als Sie Ihre Erbschaft antraten, die zehntausend Thaler, welche in meinem Geschäfte standen, entzogen, wie ich Ihnen dringend rieth, so wäre ich jetzt vielleicht nicht in der angenehmen Lage, Ihnen das Geld mit bestem Dank zurückerstatten zu können.“
„Um Himmelswillen!“ rief Gotthold, indem er Herrn Wollnow’s Hand zurückhielt, die sich nach einem größeren, mit einem Gummibande zusammengehaltenen Packet ausstreckte.
„Ich hatte das Geld auf alle Fälle zurückgelegt,“ erwiderte Herr Wollnow, „baar und in guten Obligationen nach dem heutigen Course.“
„Aber ich will es heute so wenig, wie ich es damals wollte.“
„Nun,“ sagte Herr Wollnow, „ich kann Ihnen heute nicht mehr so unbedingt zureden, es zu nehmen, als vor fünf Jahren. Heute – ich darf es mit Zuversicht sagen – ist Ihnen dies Geld sehr sicher, und ich kann Ihnen die höchsten Procente geben; damals, als ich hier auf der Basis sehr wunderlich gestalteter Verhältnisse ein neues Geschäft zu gründen hatte und jeden Augenblick in Folge der Unberechenbarkeit meiner Geschäftsfreunde – ich meine der hiesigen Gutsbesitzer – vor einer Krisis stand, that ich nur meine Pflicht, als ich Ihnen rieth, Ihr Geld, wenn nicht reineren, so doch sichereren Händen anzuvertrauen. Nun, Sie wollten davon nichts hören, wollten durchaus, daß ich das Geld behielt, ja ich glaube, ich hätte es ohne Zinsen haben können.“
„Sie werden mir zugeben, Herr Wollnow, daß ich damit ganz im Sinne meines Onkels handelte.“
„Ich weiß nicht,“ erwiderte der Kaufmann. „Ihr Onkel hatte ein reelles Interesse daran, mir das Geld zu lassen. Die großen Vortheile, die durch die neuen Verbindungen, welche ich hier angeknüpft, und ich darf wohl sagen, geschaffen, dem Geschäfte in Stettin zuflossen, waren so erheblich, daß sie das Risico eines immerhin doch nur möglichen Verlustes weit aufwogen. Indem aber der Onkel Ihnen testamentarisch vollkommen freie Verfügung über die Erbschaft ertheilte, erkannte er an, daß [519] ein Künstler andere Interessen hat und haben muß als ein Geschäftsmann.“
„Nun ja, die Interessen seiner Kunst,“ erwiderte Gotthold mit Wärme, „ich habe nie andere gehabt, werde nie andere haben. In diesem Sinne, und nur in diesem, habe ich die reiche Erbschaft, die mir so unerwartet zufiel, nachdem ich mich von dem ersten Erstaunen erholt, mit Freuden begrüßt.“
„Ich weiß es,“ erwiderte Herr Wollnow, „die Unterstützung, die ich auf Ihre Rechnung dem armen verdienstvollen jungen Brüggberg in Str. schon seit drei Jahren auszahle, beweist es; und er wird nicht Ihr einziger Pensionär sein.“
„Ihm ist es nicht so gut geworden, wie mir, daß ihm die Hülfe kam, als es noch Zeit war,“ erwiderte Gotthold.
Er stützte den Kopf in die linke Hand und zeichnete mechanisch Arabesken auf ein Blatt, das vor ihm lag, während er mit leiserer Stimme fortfuhr:
„Und es war auch für mich die höchste Zeit. Zwei Jahre hatte ich bereits in München jede Stunde und jede Minute, die mir die Arbeit für meinen Lebensunterhalt übrig ließ, der Kunst gewidmet, der geliebten Kunst, die gegen den Anfänger – zumal den, welcher mit einundzwanzig Jahren von vorn anfangen muß, – so unendlich spröde ist. Meine Kraft war nahezu gebrochen; ich hatte der Hoffnung letzte Sterne versinken sehen; nichts hielt mich noch im Leben, als eine Art von Trotz gegen ein Schicksal, das ich nicht verdient zu haben glaubte, und die Scham, als ein Thor in den Augen dessen, der mir zum Leben verholfen, aus dem Leben zu gehen. Da – wie deutlich ich mich der Stunde erinnere! Ich war gegen Abend aus dem Atelier eines berühmten Meisters, zu welchem mir ein Bekannter Zutritt verschafft, in mein Dachstübchen zurückgekehrt – die Seele zum Zerspringen voll von dem ungeheuren Eindruck genialster Schöpfungen, und doch tödtlich erschöpft, denn ich hatte ein paar Tage vorher beschlossen, keine Lectionen mehr zu geben, und sollte ich verhungern, und ich war dem Verhungern nahe. Ich hatte mich an meine Staffelei gestellt, aber die Farben schwommen ineinander. Die Palette fiel mir aus der Hand; ich wankte an den Tisch, mir ein Glas Wasser einzuschenken, und – auf dem Tische lag der Brief, der mir ankündigte, daß ich von einem Verwandten, den ich nie, der mich nie gesehen, zum Erben eingesetzt war, und daß ich der Herr eines Vermögens sei, welches sich nach einer vorläufigen Schätzung auf mehr als hunderttausend Thaler belief. Was ist wohl natürlicher, als daß ich mir in diesem wunderbaren Augenblicke den Schwur ablegte: dies soll der Kunst gehören, und Dir selbst nur, soweit Du Künstler bist.“
„Nichts ist natürlicher und einfacher,“ sagte Herr Wollnow, „aber, daß Sie den Schwur gehalten, und ich weiß, daß Sie ihn gehalten, das ist – wie wir Adamskinder nun einmal geartet sind – nicht eben so natürlich und nicht ganz so einfach. Aber nun, da das Geschäftliche abgethan, wollen wir, wenn es Ihnen recht ist, bei einem Glase Wein gemüthlich weiter plaudern.“
Wo aber dieser Grundzug einer braven Natur vorhanden ist, da braucht man Prügel am allerwenigsten. Und doch bekam ich Prügel, ja, das Allerübelste dabei war, daß man uns wegen Vergehen züchtigte, die blos Vergeßlichkeit ober Uebereilung, ja, die manchmal gar keine Vergehen waren; denn leider züchtigen Eltern in der Regel nur das an den Kindern, was sie selber verschuldet haben. Gerade die Fälle, in denen ich ungerechter Weise geschlagen worden bin, haben sich mit ätzender Schärfe in meine Seele gegraben, und ich vermag trotz all dem harten Unrecht, das seitdem dem Jüngling und Manne widerfahren ist, jene kindischen Erinnerungen nicht los zu werden. So sagte ich einmal beim Schreibunterricht: „Mutter, thun Sie dies oder das, oder ich geb’ Ihnen eine Ohrfeig’.“ Das war ein unschickliches Wort und verdiente einen Verweis, aber ich hatte es im höchsten Spaß gesprochen, und wie oft sind meine Kinder, wenn ich ihnen bange machte, oder sie sonst neckte, lachend an mich herangesprungen, um mir einen Liebesschlag zu geben! Meine Mutter aber war so schwach, dieses dem Vater anzutragen, der mich denn sehr heftig und zornmüthig mit einem Knotenseilchen durchhieb.
Ein anderes Mal hatte der Vater selbst mich mit einer Pfeife zum Drechsler geschickt, der ziemlich entfernt im Dorfe wohnte. Ich betrat dessen Werkstätte zum ersten Mal, und da ich an allem Handwerkerwesen große Freude habe, erstaunte ich mich auf’s Höchste über die Schnelligkeit, mit der die raschlaufende Maschine die kleine Reparatur an der Pfeife vollendete. Da Niemand mir geboten hatte, ohne Verzug heimzukehren, so blieb ich da und sah dem Manne auch bei seiner ferneren Arbeit zu. Ich konnte gar nicht satt werden, mich über die blitzschnell sich rundenden Holzstücke und die lustig fortspringenden Spähne zu freuen, und so mochten wohl ein paar Stunden verflossen sein, als endlich der Drechsler selbst mich heimschickte; denn meine Eltern, meinte er, möchten Sorgen um mich haben. Er schnitt mir sodann noch von seinem Weinspalier eine große weiße Traube ab, und seelenvergnügt ging ich schmausend und über die große Drehbank nachsinnend die Zippergasse hinauf, dem Pfarrhause zu. Da kam mir ein Nachbarskind entgegen und sagte: „Wart’ Du, Dir wird’s schön gehen; Dein Vater und Deine Mutter meinen, Du wärst todt, und suchen Dich im ganzen Dorf.“ Und so war’s. Der Vater hatte den Auftrag ganz vergessen, den er selbst mir gegeben, und da ich nie aus den vier Mauern des Pfarrgebiets hinaus durfte, hatten sie schon im Brunnen nach mir gefischt, in allen Regensenken nachgesehen und zuletzt auf der Straße Nachforschungen angestellt. Das halbe Dorf lief an der Linde zusammen, weil Pastors Gottfried verloren gegangen war, und als ich nun mit meiner Traube wie ein Hühnerdieb die Gasse heraufschlich, schlug bei meiner Mutter die ausgestandene Todesangst in jähen Zorn um, und sie züchtigte den unschuldigen Knaben öffentlich vor den Augen des ganzen Dorfes. Dürfte man sich wundern, wenn durch diesen Einen herben Mißgriff mein Ehrgefühl eine unheilbare Wunde erhalten hätte? Uebrigens hat die Mutter gewiß bald ihre Hitze bereut, denn später schützte sie mich gegen den Vater.
Eines Tages war Besuch von einer befreundeten Familie da, und ich hatte mit einem der Kinder, einem wilden Mädchen, fröhlich gespielt. Als sie abfuhren, jagte ich durch den Garten und schwang mich auf die Mauer, um Alwinen noch einen Gruß zuzurufen. Ich hörte, daß der Wagen schnell fuhr, lief also, um nicht zu spät zu kommen, in der Hast über ein neu angelegtes Spargelbeet, und das war durch die peinliche Ordnungsliebe meines Vaters streng verpönt. Er sah vom Söller aus meinen Gartenfrevel, schoß eilig die Treppen herab, ergriff mich und schleppte mich zu einer ungebührlich strengen Execution in’s Haus. Da trat meine Mutter dazwischen; man entfernte mich rasch in ein anderes Zimmer, und es muß eine überaus heftige Scene zwischen den Eltern gegeben haben, während ich armer Schelm glaubte, daß die Mutter wegen der Größe meines Verbrechens in Nervenzufälle gerathen sei. Dieser Tag einsamen Arrestes ist mir durch Angst um die Mutter und durch Gewissensqual so schauerlich gewesen, daß ich sogar den Jahrestag behalten habe: es war der fünfte März. Von da an habe ich denn, wenn ich nicht sehr irre, nie wieder einen Schlag bekommen. Auch meine späteren Lehrer, was ich hier sogleich beifügen will, sind stets durch Worte mit mir fertig geworden, und meine Natur ist so gesetzlich angelegt, daß man mich während sechs Gymnasialjahren kein einziges Mal durch Züchtigung oder Einsperrung auf den besseren Weg hat bringen müssen, so wie ich auch in fünfjährigem Universitätsleben niemals vor den Senat oder Universitätsrichter citirt oder mit irgend einer Carcerstrafe belegt worden bin.
Man wird aus dem Vorstehenden wohl ersehen, daß die moralische Seite meiner Erziehung nicht zu gelind gewesen ist. Besonders trüb wurde mir die Kindheit dadurch, daß die Bestrafung gar oft eine ungleiche war. Kleine Fehler zogen mir vom Vater schon sehr heftige Vorwürfe zu, und die Mutter drückte mein Gewissen fast noch härter durch ihre tiefen Seufzer und Thränen bei jeder Lebensäußerung, die ihr nicht gottselig erschien. Man hatte in unserm Hause als Kind stets das Gefühl, als schwebe ein Donnerwetter in der Luft, das ohne alles eigene Zuthun Einem plötzlich über dem Kopfe losbrechen könne, und das ist keine gute Atmosphäre, um ein kindlich Gemüth friedlich und glücklich zu machen. Doch leider sind für die meisten Eltern ihre Kinder nur dafür da, um nach Laune bald ihre Zärtlichkeit und bald ihren Verdruß an ihnen auszulassen, und ich halte es deshalb bei den meisten Menschen für eine grobe Selbsttäuschung, wenn sie die Kinderjahre für die glücklichste Zeit ihres Lebens ausgeben. Bei mir wenigstens liegen sie in trübem Nebel, und erst mit der steigenden inneren Freiheit, Klarheit und Reife ist auch meine Empfindung von Glück Tag um Tag gewachsen bis in’s Mannesalter.
Nun aber sorgte der Zufall, der so oft bei menschlichem Irrthum als rettender Engel eintritt, auch zur guten Stunde dafür, daß mein nach Weltverständniß und Schönheit schmachtender Geist nicht ohne alle Labung bliebe. Um im Lateinschreiben vorwärts zu schreiten, bedurfte ich eines neuen Uebungsbuches, und so wurde eine Bearbeitung der römischen Geschichte, ich glaube von Döring, angeschafft, welche großentheils aus den classischen Schriftstellern selbst gezogen war. Sobald dies Werk in meine Hände fiel, galt es mir nicht als lateinisches Schulbuch, sondern sein Inhalt war es, der mich ergriff. Zum ersten Mal grüßte mich aus dieser Compilation Klios göttliches Antlitz, zum ersten Mal las ich bei dem Küchenfeuer des Mägdestübchens Geschichte, menschliche, wirkliche, nicht von Pfaffen und Rabbinern zurechtgeschnittene Geschichte.
Mein Geist, dem das kleine Palästina längst zu enge geworden, that einen tiefen, wonnigen Athemzug im freien Luftstrom der unermeßlichen römischen Weltherrschaft, und ohne abzusetzen, ließ ich die Bilder jenes großen Volkslebens vom Königthum bis zum zweiten Untergang der Monarchie an mir vorbeirollen. Dem folgte bald ein noch höherer Reiz. Ich entdeckte in der kleinen Bibliothek unserer Dorfschule Kohlrausch’s deutsche Geschichte und wußte sie mir zu verschaffen. Der dritte Band enthält die Befreiungskriege und ist ungefähr in dem Tone geschrieben, wie etwa in diesem Augenblick (1850) ein österreichischer Schulmeister den ungarischen Revolutionskrieg schildern würde: auf französischer Seite der Teufel, auf deutscher Sanct Michael mit allen erwählten Engeln und Erzengeln. In ähnlichem Geiste war denn auch die Vorzeit unseres Volkes behandelt; die deutschen Kaiser hatten immer Recht, die Päpste unbedingt Unrecht. Allein diese entschiedene Parteinahme sprach den Geist des Knaben mächtig an. In unserm Hause galt ohnehin die französische Revolution für das scheußlichste Blatt der ganzen Weltgeschichte; Napoleon wurde nur insofern anerkannt, als er der Republik ein Ende gemacht hatte, sonst aber als Tyrann und Feind Gottes verabscheut. Franzosenhaß ging am rechten Rheinufer überhaupt bei den Bewohnern durch, weil hier nicht, wie jenseits, die Krieger der Republik und des Kaiserreichs als Freunde, sondern als in Feindesland gekommen waren, und ich habe an dieser Restaurationskrankheit [521] bis über meine Studentenjahre hinaus nachcuriren müssen. Allein trotz jenem Fehler des Buches rundete sich mir doch nun der Kreis der Weltgeschichte von den alttestamentlichen Reichen bis zu meiner Gegenwart einigermaßen ab, und mein zuverlässiges Gedächtniß sicherte mir dauernd eine ziemlich klare Verknüpfung der Begebenheiten.
Und nun trat denn auch die Poesie an mich heran und erlöste mich von der geistigen Dumpfheit. So oft die Mutter verreiste und mich fragte, was sie mir mitbringen solle, verlangte ich nur Bücher und immer wieder Bücher. Einige Erzählungen des gemüthvollen Verfassers der Ostereier wurden mir zu Theil, die mich höchlich entzückten, aber durch ihre religiöse Moral meinen Gesichtskreis nicht erweiterten.
Ein andermal kamen Holberg’s Fabeln mit in’s Haus, gewiß keine Kinderlectüre, aber ich verschlang sie und lernte sie fast auswendig. Nur die rechten Bücher, die eigentlichen Dichter blieben aus, denn eben die wollte man mir ja nicht in die Hände geben. Da erbarmte sich meiner und der Schwester jener Musiklehrer aus der Stadt, der ein gar wunderlicher Mensch war. Anlage zur Schwindsucht, der er auch unterlag, machte ihn griesgrämig und selbst polterig, aber im Herzen war er der wohlwollendste Mann. Bis zum Lächerlichen gesteigert, nährte er in sich einen Haß gegen alle katholischen Priester, den er gegen uns als Protestantenkinder ungefährdet aussprechen durfte. Obwohl er Musik mir nicht eintrichtern konnte, rührte ihn dennoch mein aufgewecktes Wesen, das er in pietistischem Dunstkreise verkommen sah, und er wußte einige Bücher in unser Haus zu bringen, deren Wirkung er dem Zufall und unserm guten Instinct überließ. So bekam ich von ihm Gellert’s Fabeln, meine Schwester aber Schiller’s Gedichte. Letztere waren mir anfangs zu hoch, und ich verstand namentlich die vielen Anspielungen auf griechische und römische Götterlehre nicht, die so Manches in Schiller’s lyrischen Gedichten dem Volke ungenießbar machen. Allein eben dies gab dem Musiklehrer Gelegenheit, auf die Nützlichkeit eines Buches über die antike Fabelwelt aufmerksam zu machen, und so kam mit des alten Ramler Mythologie auf einmal ein gewaltiger Gährstoff meiner Einbildungskraft in’s Haus. Mit diesem Führer trat ich nun rasch und freudig in Schiller’s hohe Gedankenwelt hinein und erhielt von diesem Dichter die ersten Eindrücke einer edeln und erhabenen Poesie. Seine Balladen wußte ich bald auswendig, aber auch seine philosophischen Gedichte übten mein Denken schon frühe. Das Einige, was mir noch zur vollen Ahnung der Dichtkunst abging, war die Leidenschaft, und diese gab mir Körner durch seine Rosamunde, die sich, ich weiß nicht mehr auf welchem Wege, ebenfalls zu uns verirrte. In ihr lernte ich an einem nicht mustergültigen, aber doch tief das Gemüth ergreifenden Werke zum ersten Mal die höchste aller Kunstgattungen, die Tragödie, kennen. Wenn Immermann Schillern einen Jugendschriftsteller nennt, so mag dessen Nachahmer Körner mit Wahrheit ein Schriftsteller für das Knabenalter heißen. Die Wirkung auf meine Seele war unermeßlich; obwohl erst acht Jahre alt, verstand ich ohne alle Unterweisung sofort die fremdartige dramatische Form. Es war wie ein Kernschuß mitten in mein Herz hinein: bei Rosamundens Tod sprang mein ganzes Leben aus Rand und Band, und wie ein Rasender lief ich im dunkeln Vorhaus auf und ab. Mutter und Schwester sahen meinen trunkenen Zustand und begriffen ihn nicht; doch nahm Jene sich fester als je vor, poetische Werke von mir abzuwehren. Das war möglich, so lange ich in Oberkassel unter ihren Augen blieb; aber für mich selber war nun die Brücke geschlagen, über welche ich, der elterlichen Aufsicht bald darauf entnommen, in die Bühnenwelt Schiller’s und dann zu den begeisternden Jugendstücken Goethe’s fortstürmte.
War es dieses Ausbreiten meiner Schwingen in’s Morgenroth der Dichtung oder mein körperliches Heranreifen, genug, meine Mutter fühlte, daß das Vaterhaus mir zu enge werde. Was ich dort lernen konnte, das verstand ich jetzt, und sie selber sah ein, daß sich manche geistigen Gebiete mir ohne Gefahr für mein Fortkommen in der Welt nicht mehr versperren ließen. Man beschloß also, mich Ostern 1825 in’s Gymnasium nach Bonn zu thun, obwohl ich erst neun Jahre alt war und somit nach der Strenge des Schulgesetzes noch nicht aufgenommen werden konnte. Aus einem Worte, das die Mutter später einmal fallen ließ, sah ich, daß sie noch einen anderen Grund hatte. Mein Vater war im Festhalten an begründeten sowohl, als an vorgefaßten Meinungen sehr beharrlich. So hat er sich lange Jahre der Einführung der Union und Agende in Oberkassel widersetzt, welche von dem vorigen Könige so eifrig betrieben wurde. Gleiche Unabhängigkeit stellte er stets den Hohen und Reichen der Welt entgegen und den Staatsbeamten wich er in Sachen, wo er Recht zu haben glaubte, auch nicht einen Fuß breit. Namentlich auf solchen Punkten, wo er inmitten unserer ganz katholischen Umgebung die Gerechtsame seiner reformirten Kirche auch nur im Mindesten beeinträchtigt sah, hatte er keine Ahnung von Menschenfurcht. So war es gleichfalls seine Weise, sich über Alles, was im Staate vorkam und seinem kirchlichen Sinne nicht gefiel, ohne alle Rücksicht auch vor den Kindern auszusprechen. Kam in der Geographie eine deutsche Residenz vor, und es wurden z. B. drei in ihrer Nähe gelegene fürstliche Lustschlösser erwähnt, so sagte er sehr ruhig: „Also zwei zu viel.“ Nun konnte meine Mutter den Vater zu Allem, was sie wollte, bringen, aber das Eine gelang ihr nicht, daß er diesen Freimuth ablegte oder auch nur in unserer Gegenwart zäumte. Bei meinem vor keiner Folge zurückbebenden Charakter fürchtete sie einen Einfluß, der, wie sie ahnend vorschaute, mein Lebensschicksal verwirren könne, und dies gab ihr einen Beweggrund mehr ab, mich aus dem Vaterhause in noch so zarten Jahren zu entfernen. Allein seinem Loose entgeht Niemand, und vergebens suchen wir auch unsere Kinder dem ihrigen zu entziehen.
Ich selbst verließ gern meine Heimath, ich wußte ja, daß ich einer größeren Freiheit entgegenging, und hoffte in breiterer Welterkenntniß von der geistigen Dumpfheit erlöst zu werden, die mich wie eine ägyptische Nacht drückte. Denn allerdings war ich damals ein gar wunderliches Zwitterwesen. Frühauf und über meine Jahre gelehrt, hatte ich doch in ganze große Gebiete des Lebens, die jeder Straßenjunge überschaut, noch niemals einen Blick gethan. Ich war bis zum Aeußersten empfindungsfähig und mein ganzes Wesen eigentlich nur ein fühlender Nerv, und doch stand ich in Geschmack und Kunst dem rohen Barbaren gleich. Streng rechtgläubig, ermangelte ich doch aller religiösen Innigkeit; einen Wurm hätte ich nicht tödten können, daß aber Gott einst das ganze Menschengeschlecht in der Sündfluth ersäuft habe und die nicht Auserwählten ewig zum Höllenfeuer verdamme, das glaubte ich. Meine Einsamkeit hatte mich menschenscheu und verschlossen in meinen innersten Gedanken gemacht; allein ich empfand ein grenzenloses Bedürfniß nach Mittheilung und Liebe, und meine Zärtlichkeit gegen die Meinigen war ohne Maß und Schranke. Ein Vorwurf meines Vaters brachte mich zum Zittern, und doch hätte ich für jeden Punkt des Katechismus, ohne zu erbleichen, den Scheiterhaufen bestiegen, ehe ich meinen protestantischen Glauben verleugnete. Ich war nicht ohne Stolz auf mein Wissen, aber jeder Handgriff eines Arbeiters, den ich zum ersten Mal lernte, demüthigte mich. Und so stand ich denn ganz als das sonderbare, mir und Anderen räthselhafte Wesen da, wie ich nothwendig aus einer Erziehung hervorgehen mußte, die auf der einen Seite mir die wirkliche Welt verschloß, von der andern aber wieder so heftig den Sporn des Fortschritts in meine nachgiebige Seele drückte.
Hier aber, auf dem ersten Wendepunkte meines Lebens, sorgte mein Schicksal dafür, mir auf Einen Augenblick die lichte Gestalt zu zeigen, die dereinst aus diesen und allen späteren Nebeln meinen Geist erlösen sollte.
In meinem Heimathdorfe besitzt die reichsgräfliche Familie zur Lippe-Biesterfeld, welche dort einen stattlichen Herrnsitz bewohnt, viele Grundstücke. Darunter befindet sich eine mit Weinstöcken bepflanzte Terrasse am steilen Rheinufer, die auf ihrer obern, reinlich besandeten und von einer Brüstungsmauer umschlossenen Fläche einen kleinen Pavillon trägt. Die Aussicht von diesem Plätzchen ist herrlich: man sieht mit Einem Blicke Siebengebirge und Godesberg, während abwärts Bonn mit der prachtvollen Schloßfront und dem fünfthürmigen Münster im Rheine sich spiegelt und am Abend seine dunkeln Glockentöne über die purpurglühende Stromfläche herübersendet. An diesen Platz führten wir regelmäßig Fremde, die uns besuchten, und ich selbst saß oft als Knabe dort, um im Anblick der weiten Ebene zu träumen und auf die Eidechsen zu lauern, die aus den brüchigen Steintreppen und Geländern der Terrasse im warmen Sonnenstrahl hervorschlüpften.
[522] Nun begab es sich an einem der schönsten Sommernachmittage, daß ein Gymnasiallehrer aus Bonn unser Haus besuchte und seine Tochter, als gleichaltrig mit meiner Schwester, mitbrachte. Sie stand auf der Grenze zwischen Kind und Jungfrau und war fünf Jahre älter als ich. Waren Fremde bei uns, so kam ich nicht gern in die Stube, sondern trieb mich im Hofe und im Garten umher. Nun aber gingen die beiden Mädchen aus dem Gartenthore und wandten sich dem Rheine zu. Ich wußte also, daß ihr Weg sie zu dem gräflichen Sommerhäuschen führte; aus Langeweile, aus Neugier oder warum sonst machte ich mich auf einem andern Wege auch dahin auf. Am prachtvollsten Abend ging eben die Sonne unter und warf ihren aus Gold und Scharlach gewobenen Glanzteppich über den Strom, auf welchem weiße Segel zogen. Als ich um die Ecke des Weinbergs ging, sah ich die Fremde, an die Brüstung gelehnt und ihren Arm, wie Mädchen thun, in den meiner Schwester geschlagen, wie sie unter dem leichten Strohhut fröhlich die abendliche Landschaft überblickte. Ihre Züge waren viel zu entschieden, um in dem gemeinen Sinne des Wortes schön zu sein, aber eine Fülle von ungebrochenem Lebensmuthe und schwärmender Jugendfreude lag in ihnen. An heißen Sommertagen sieht man wohl Tagfalter, die, auf einer Blume schaukelnd, ihre Flügel aufschlagen und auf dem dunkeln Grunde derselben die schönsten lichtblauen Spiegel ausbreiten. So auch standen in diesem dunklen Antlitz die zwei glänzendsten großen Sapphiraugen, aus deren vom Weinen noch nicht getrübter Klarheit sie so freudig über Flur und Strom blickte, als gehöre alle diese Herrlichkeit ihr und keinem Andern. Sie sah auch mich, und ich trat zu den beiden Mädchen. Ob ich mit ihr ein Wort geredet habe, weiß ich nicht; aber wie das Lichtbild sich in kurzer Minute der empfindlichen Silberplatte einprägt, so gruben sich diese blauen Spiegel in meine weiche Knabenseele, in deren unterstem Grunde das Bild dieses Mädchens ruhend blieb.
Ich habe sie seitdem nicht wiedergesehen, bis ihr Lebensschiff, von den ersten harten Stürmen geschüttelt, dahin zurückgekehrt war, von wo es ausgelaufen. Wer aber erklärt die Räthsel des Herzens? Nach fünfzehn Jahren, als sie mit der gramverdüsterten Stirn, die Züge von gewaltiger Leidenschaft vertieft, im glänzenden Salon mir entgegentrat, leuchteten jene Augen wieder wie Blitze in mein Herz – die Augen, von vielen Thränen dunkler geworden, aber in der Reife ihres Lebens und ihrer Leidenschaft so glühend und verzehrend, als wäre ihre Farbe das dunkelste Braun. In diesem Zeichen erkannte ich augenblicklich sie wieder, trotz der fremden Umgebung und der feinen Modewelt, die uns Naturkinder dort umschwirrte. Und wer löst das andere Räthsel, daß auch sie den blöden menschenscheuen Knaben nicht vergessen hatte und gleich mir des schönen Abends, der Terrasse und der Landschaft gedachte, auf welche sofort, als hätte nichts seitdem sich dazwischengeschoben, unser erstes Gespräch sich richtete? Nord und Süd hatten uns getrennt; sie war verheirathet gewesen, ich hatte andere Mädchen geküßt und zu lieben geglaubt, und doch war es auch zum zweiten Male wieder der erste übergewaltige Eindruck, der unsere Herzen rettungslos zu gemeinsamem Schicksal zusammenschmolz, denn jenes frohe, schwärmerische Mädchen sollte achtzehn Jahre nach jenem ersten Begegnen auf der Terrasse mein Weib werden.
„Die deutsche Dampfcorvette ‚Hertha‘ liegt in Hongkong – nur eine Weile Geduld, und sie wird unsern Hafen anlaufen,“ so hieß es im Maimonate in San Francisco. Welches deutsche Herz in der fernen Goldstadt hätte nicht höher geschlagen bei dieser Kunde! Schnell wurde ein festlicher Empfang beschlossen und vorbereitet. Aber dem schnellen Zurüsten folgte ein langes Harren. Endlich und ganz unerwartet am Nachmittage des 5. Juni verbreitete die Nachricht sich wie ein Lauffeuer in der Stadt: „die ‚Hertha‘ ist da!“
Und richtig! diesmal war es keine Täuschung. Rasch hatte sich eine bedeutende Menschenmenge auf den Quais versammelt, welche das eine Strecke weit in der Bai ankernde erste deutsche Kriegsschiff in diesem Hafen mit Hurrah und Tücherschwenken bewillkommnete. Schwarz-weiß-rothe Fahnen kamen überall in der Stadt zum Vorschein, und es mußte an dem erregten Treiben der deutschen Bevölkerung San Franciscos jedem Uneingeweihten sofort klar werden, daß sich etwas Besonderes ereignet habe. Wie wir später erfuhren, kam der Bemannung der „Hertha“ die Ordre, nach San Francisco zu segeln, ganz unerwartet. Als der Befehl dazu in Yokohama, wohin die Corvette von Hongkong ausgefahren war, von der Admiralität in Berlin eintraf, war der Jubel auf dem Schiffe ein großer. Man hatte, namentlich in der Gartenlaube, während des Krieges so viel von den glänzenden patriotischen Festen der Deutschen San Franciscos gelesen, daß der Wunsch, dorthin zu kommen, ein allgemeiner war. Der Befehlshaber der „Hertha“ äußerte später während einer Festlichkeit im hiesigen „Thalia-Verein“, daß er namentlich deshalb mit seinem Schiffe nach San Francisco gesandt sei, um den Deutschen dieser Stadt ein Compliment zu machen, ihnen zu beweisen, wie sehr man im alten Vaterlande ihre großartigen Anstrengungen und Leistungen während des letzten Krieges gewürdigt habe, und ihnen für ihren Patriotismus zu danken.
Der über bedeutende Geldmittel gebietende „San Francisco-Verein“ stellte den Officieren der „Hertha“ sein prachtvolles Local zur freien Verfügung, und dorthin verlegten dieselben denn auch sozusagen ihr Hauptquartier. Fast an jedem Abende dauerten daselbst die geselligen Zusammenkünfte, bei denen der edle Schaumwein massenweise floß, bis zwei und drei Uhr Morgens; den deutschen Marineofficieren war, wie sie offen gestanden, eine solche verschwenderische Gastfreundschaft noch gar nicht vorgekommen. Ebenso fanden sie selbstverständlich in den deutschen Familien die freundlichste Aufnahme.
Denselben herzlichen Empfang wie ihre Vorgesetzten hatte auch die Mannschaft des deutschen Kriegsschiffes. Es war eine wahre Freude, sich mit diesen aufgeweckten und schmucken Burschen zu unterhalten. Man stellte Vergleiche an zwischen ihnen und den hier oft gesehenen Seeleuten anderer Nationen, und es war nur eine Stimme darüber, daß unsere Landsleute an Intelligenz und Benehmen jenen weit voranständen. Die Stadtpolizei erstaunte darüber, daß bei den fortdauernden Festlichkeiten gar keine unfreiwilligen Gäste von der „Hertha“ in ihren vergitterten Empfangslocalen Quartier fanden. Wenn amerikanische, englische, französische oder russische Kriegsschiffe im Hafen lagen, so zählte man täglich auf durchschnittlich ein Dutzend bis zwanzig Arrestanten von den Theerjacken, die wegen Trunkenheit und Lärmens in den Straßen und Kneipen aufgegriffen und eingesteckt wurden; nicht ein Matrose von der „Hertha“ hat in San Francisco die Stadtgefängnisse mit seinem Besuche belästigt. In den Bierkellern sah man die wackeren Burschen gemüthlich zechend, ihren hiesigen Landsleuten von ihren Reisen erzählend und sich vom Goldlande erzählen lassend; Arm in Arm wanderten sie mit ihren neuen Freunden durch die Stadt, und diese zeigten ihnen die Sehenswürdigkeiten des Ortes. Von Geldausgaben seitens der Matrosen war nicht die Rede. Dies wurde ihnen einfach unmöglich gemacht. Wohin sie kamen, wurden sie freigehalten, oder es fand sich gleich ein deutscher Bürger, der die Rechnung berichtigte; selbst in den Cigarrenläden nahmen die Verkäufer nur selten Zahlung von den wackeren deutschen Seeleuten an.
Fast scherzhaft schien es, den Officieren und Mannschaften der „Hertha“ zuzuhören, wie wohl es ihnen hier war, wie sie Alles so anheimelte, gerade als wären sie wieder daheim in Deutschland. Während drei langer Jahre hatten sie den Continent von Asien, vom rothen Meere bis nach Japan, umkreuzt und, obgleich sie in vielen Häfen gewesen, doch nur wenig von deutschem Leben gesehen. Der Umgang mit deutschen Frauen war dort fast ganz von ihnen entbehrt worden. Kein Wunder, daß sie sich hier unter ihren Landsleuten nun so recht heimisch fühlten!
Das Schiff selbst hatte täglich viele Tausende von Besuchern. Von den Deutschen strömte Jung und Alt dorthin, um auch einmal die Krupp’schen Baßposaunen zu inspiciren und den Fuß [523] auf das Deck eines deutschen Kriegsschiffs zu setzen. Mütter mit Säuglingen auf dem Arm, junge Mädchen, Männer, Frauen und Kinder drängten sich an Bord, wo die dienstthuenden Officiere nicht müde wurden, Erklärungen über Armirung etc. und namentlich über die gewaltigen Hinterlader zu geben. Auch Amerikaner besuchten zahlreich das Schiff, sogar der Bürgermeister der Stadt San Francisco und die commandirenden Generale des hier in Garnison liegenden Militärs, und zwar in officieller Stellung.
Am Sonntage und Montage, den 9. und 10. Juni, fand ein großartiges Minerfest in den „City Gardens“ statt, um unseren Gästen ein getreues Bild von dem Leben und Treiben in einem californischen Minenlager vor Augen zu führen. Etwa zweihundert von der Mannschaft und den Marinesoldaten der „Hertha“ marschirten in Begleitung einer starken Zahl alter californischer Goldgräber, worunter viele Amerikaner, durch die Hauptstraßen der Stadt nach dem Festplatze. Letztere bildeten, in echter Minerkleidung, eine höchst charakteristische Gruppe. Voran wurde die Bärenflagge getragen, das alte Wahrzeichen Californiens; dann kam der Präsident der Minergesellschaft, mit einem riesigen Goldklumpen in der Hand. Darauf folgten zwei Trapper, in mit Schnüren besetzten enganschließenden Lederhosen und Lederwamms und in vollständiger Hinterwäldlerausrüstung; dann ein Indianer nebst einer verwahrlost bekleideten Squaw, letztere mit den allen Indianerfrauen eigenthümlichen kurzen Schritten neben ihrem mit Hahnenfedern in dem schwarzen struppigen Haar, mit Perlenstickereien, Mocassins, elegant bemaltem Antlitz etc. auf’s Täuschendste copirten Gemahl hertrabend, der mit stoischer Miene die ihn bewundernde Straßenjugend musterte. Jetzt kam der Haupttheil des Zuges in groteskem Minercostüm, wilde Gestalten mit langem Haupthaar und riesigen Bärten, schwere Gewehre auf der Schulter und Revolver im Gürtel tragend, in breitkrämpigen, schlotterigen Hüten, mit Sackleinewand geflickten Hosen, bunten Hemden, langen Stiefeln etc., welche mit Lebensmitteln, Blechgeschirr, Minenwerkzeugen, Säcken Mehl, rohem Fleisch, Wolldecken etc. hochbeladene Packthiere an Stricken hinter sich her zogen, – ein treffendes Bild einer wandernden Goldgräbergesellschaft. Einen crassen Gegensatz zu dieser phantastisch gekleideten Schaar bildeten die zu zwei und zwei in langer geschlossener Reihe marschirenden Seeleute der „Hertha“, mit ihren weißen Mützen und flatternden Bändern daran, breiten Umschlagkragen und blauen, mit gelben Knöpfen besetzten Jacken, welche von den zu Tausenden an den Straßen stehenden Bürgern mit lautem Zuruf bewillkommnet wurden.
In den „City Gardens“ wurde ein bereits hergerichtetes Minenlager bezogen. Inmitten einer hin und her wogenden dichten Menschenmenge – es besuchten etwa fünfzehntausend Personen den Festplatz – wurde dort am Rande eines Teiches goldhaltige Erde ausgewaschen; den „Rocker“, die „Arrastra“, die „Sluicekasten“ (Goldwaschrinnen) sah man in Arbeit, um den Proceß des Goldgewinnens zu veranschaulichen. Es waren Preise für das beste Minen ausgesetzt worden und die Goldwäscher arbeiteten mit einem Fleiße, als befänden sie sich hier in einem berühmten „Digging“. Nebenan standen rohgezimmerte windschiefe Minerhütten, wo auf verwahrlosten Kochöfen „Flapjacks“ (eine Art primitiver Pfannkuchen) gebacken wurden und andere Miner Siesta hielten. Ein den Namen „Panama Hôtel“ führendes Gasthaus war von Boarders (Kostgängern) gefüllt, welche dort ein originelles Faullenzerleben führten und auf ein „Big Strike“ (eine riesige Goldentdeckung) warteten. In einem „Store“ wurden, nur für schnöden Goldstaub und zu fabelhaften Preisen, Kleidungsstücke und alle nur denkbaren Handelsartikel feilgeboten. Ein Schlachter hatte sich etablirt und verkaufte den ehrlichen Goldgräbern Hammelrippen etc. für Goldstaub; ein Friedensrichter schlichtete mit der Weisheit eines Solon Händel und Schießaffairen in einer Bude, die den Justizpalast vorstellte; in einer anderen Bretterbude, „Eldorado“ betitelt, wurde mit Karten und Würfeln Hazard gespielt, wobei nur mit Goldstaub und Goldklumpen eingesetzt werden durfte, und wo oft ein grimmiger Wortwechsel stattfand; Claims (Anrecht auf goldhaltigen Boden) wurden ausgesteckt, mancher kostbare Fund gemacht, – genug, es war ein Leben und Treiben wie in einem wirklichen Minenlager. Währenddessen wogte die lebendige Menge in den „City Gardens“ auf und ab; hier lagen groteske Gruppen von deutschen Bürgern mit ihren Gästen von der „Hertha“ auf dem grünen Rasen und im Schatten der Bäume, tranken schäumenden Gerstensaft und fangen und plauderten in froher Lebenslust, dort saßen Reihen von Männern, mit Frauen und Kindern, auf den Bänken. Die Schießstände, das Caroussel waren stets dicht belagert und auf einem unter dem freien Himmel aufgeschlagenen Bretterboden wurde zu rauschender Musik getanzt, daß es eine Freude war!
Ein anderes Bild! Ich befand mich an Bord des deutschen Kriegsschiffs, wo ich meinem Neffen (dem ältesten Sohne meines in Altona wohnenden Bruders, einem flotten „Unterlieutenant zur See“ auf der „Hertha“) einen Besuch abgestattet hatte. Er und seine Cameraden waren ganz entzückt über die liebenswürdige Aufnahme, welche ihnen von Seiten der Deutschen in San Francisco zu Theil geworden war. Wir spazierten auf der hohen „Capitainsbrücke“ langsam auf und ab und redeten von Californien und dem fernen Vaterlande, in unserer Nähe stand ein deutscher Marinesoldat, mit Zündnadelgewehr und in kleidsamer Uniform, und über die bereits dunkelnden Fluthen der weiten Bai blitzten in langen Reihen die Lichter der großen Goldstadt. Da ertönt aus der Ferne Musik, Raketen steigen in die Luft und es naht sich ein von farbigen Lampen glänzender Dampfer. Der Hurrahruf einer dicht auf ihm geschaarten Menschenmenge hallt immer lauter herüber, Schwärmer prasseln und knattern, Raketen auf Raketen sausen in die Luft und streuen zerplatzend, vom Himmel ihre bunten Sterne auf uns hernieder. Zweimal umfährt der Dampfer, auf dessen Vordertheil die Worte „Willkommen Hertha!“ in einem Lichtertransparent schimmern, das Kriegsschiff unter fortwährend prasselndem Feuerwerk; dann ertönen die Klänge des Liedes „Was ist des Deutschen Vaterland“ in schönem vierstimmigem Männergesang. Plötzlich erschallt die schrille Bootspfeife am Bord der Corvette und lautes Commandowort. Am Maste fliegt die deutsche Reichsfahne empor, Matrosen klettern eilig die Strickleitern hinan, lichte Flammen entspringen aus den Enden der Raaen, und Raketen sausen vom Deck hoch in die Luft, während das trefflich eingeübte Musikchor des Kriegsschiffs „Die Wacht am Rhein“ spielt und von der am Bollwerk dichtgeschaarten Mannschaft laute Hurrahs gegeben werden. Dem die „Hertha“ umkreisenden Dampfer ist bald darauf ein anderer, gleichfalls mit bunten Lampen geschmückter gefolgt, den die Turner in dichter Schaar besetzt hatten. Und nun wechselten Musik und Gesang auf den drei Schiffen mit einander ab, und dazwischen prasselte und knatterte das Feuerwerk und erschallten Hurrahrufe, beim Schwenken der Tücher herüber und hinüber, bis die von der Stadt gekommenen Dampfboote sich zur Heimkehr anschickten und unter den Klängen des herrlichen, im vierstimmigen Männerchor gesungenen Liedes „Lebe wohl, du schöner Wald“ (!!) allmählich wieder in das Dunkel entfernten.
Noch ein anderes Bild! – Die Scene spielt in dem jenseits der Bai in idyllischer Umgebung liegenden Landstädtchen Alameda, dessen patriotisch gesinnte deutsche Bewohner zu den Glücklichen gehörten, denen der Befehlshaber der „Hertha“ bei der ihm so kurz zugemessenen Zeit einen Tag für Festlichkeiten zu Ehren seines Commandos bewilligt hatte. Unter dem Geleit der stattlichen Compagnie des „San Francisco-Schützenvereins“ begaben sich am 11. Juni mehrere hundert Seeleute und viele Officiere dorthin, um im Grünen ein echtes deutsches Volksfest zu feiern. Die deutschen Frauen hatten daselbst alle Gärten von Blumen geplündert und im Fahnenschmuck einen überaus anmuthigen Festplatz geschaffen. Jedem Officier und allen Seeleuten wurde bei ihrer Ankunft ein schöner Blumenstrauß überreicht. Der wackere Capitain Köhler von der „Hertha“, ein schlichter, echt deutscher Seemann, den Jeder, der ihn kennen lernte, hochschätzen mußte, wurde bei seinem Eintritt mit einer herzlichen Ansprache empfangen und von jungen Mädchen mit einer prächtigen Blumenguirlande umkränzt. Alle Standesunterschiede waren an diesem Tage verschwunden. Auf dem unter dem grünen Laubdache einer riesigen Lebenseiche aufgeschlagenen getäfelten Boden drängten sich bei den Klängen einer rauschenden Musik Officiere und Matrosen, californische Bürger, Frauen und Mädchen aller Stände im fröhlichen Reigen zwischen einander. Patriotische Reden wurden gehalten, Hochs ausgebracht auf den Kaiser Wilhelm, die Officiere und Mannschaft der „Hertha“, auf Californien, das einige Deutschland etc., und es herrschte ein gehobener Ton, der Jedem der Anwesenden das Herz warm machte. Einer von den Matrosen [524] der „Hertha“ hielt beim Schlusse des Festes eine gewandte und deshalb vielbewunderte Dankrede an die Bürger Alamedas.
Mit einem den Officieren der Corvette vom deutschen „San Francisco-Verein“ am Abend des 12. Juni veranstalteten großen Ball etc. fanden die Festlichkeiten der „Hertha-Woche“ ihren glänzenden Abschluß. Alle Räumlichkeiten des Clublocals waren für das Fest in Anspruch genommen worden. Der Capitain der „Hertha“ hatte eine Menge von Flaggen und Waffenstücken zum Schmuck des Ballsaales bereitwillig zur Verfügung gestellt. Zündnadelgewehre, Säbel und Enterpiken, mit Fahnen und Blumen geschmackvoll verflochten, waren dort pyramidenartig an den Thüren aufgebaut; von der Decke und an den Wänden hingen unter den Fresken (Rheinlandschaften und Scenen aus Figaro’s Hochzeit) die Banner Deutschlands und Amerikas, worunter die prächtige deutsche Reichsfahne; Bilder von Washington und Lincoln, vom deutschen Kaiser, dem Kronprinzen, Bismarck und Moltke zierten, von Immergrün umkränzt, die Wände; die Eintrittshalle und die Zimmer des Clublocals waren in reizende Blumengärten umgewandelt worden; im Billardzimmer, aus dem man die grünen Tische entfernt hatte, war ein Büffet tafelartig aufgebaut worden, das mit den köstlichsten Früchten Californiens, mit Backwerk und Speisen aller Art beladen war, wo Jedermann frei zulangen durfte. Im Mittelpunkte desselben stand ein aus Zuckerwerk kunstvoll gearbeitetes Modell der „Hertha“, welches die Seeofficiere als mustergültig ausgeführt bezeichneten. Lange Eßtafeln waren die ganze Nacht hindurch von mit einander abwechselnden Banketirenden besetzt, – eine in San Francisco ganz neue Festordnung, die allgemeinen Beifall fand. Champagner und Rheinweine flossen in Strömen, Kisten mit den feinsten Havannacigarren boten ihren kostbaren Inhalt Jedermann dar. Alles war frei und unentgeltlich; der Club zahlte für Alles. Hatte sich derselbe doch dieses Fest, an welchem vierhundert bis fünfhundert Personen teilnahmen, dreitausend Dollars Gold kosten lassen! Die Champagnerrechnung allein belief sich auf etwa tausend Dollars. Beim Beginn des Festes wurde jedem Anwesenden mit dem geschmackvoll ausgestatteten Ballprogramm, auf welchem die „Hertha“ abgebildet war, ein Festgruß im Namen des „San Francisco-Vereins“ überreicht, von welchem ich der Redaction der Gartenlaube ein Exemplar übermittele.
Im Ballsaale entfaltete sich ungewöhnliche Pracht und Eleganz. Das Musikchor der Corvette und ein zweites städtisches wechselten die Nacht hindurch ununterbrochen im Spielen mit einander ab. Die Officiere waren sämmtlich in Gala-Uniform erschienen. Der Gouverneur des Staates Californien, der Bürgermeister der Stadt San Francisco und andere hervorragende Amerikaner waren zugegen, um das Fest zu verherrlichen. Auf die Kunstausdrücke von Damentoiletten verstehe ich mich leider nicht – meine lieben Leserinnen im fernen Deutschland werden sich dieselben nach bestem Geschmacke selbst besser, als ich es vermöchte, ausmalen können! –, aber ich nehme das Wort der Officiere dafür an, die bekanntermaßen Kenner von dergleichen Sachen sind, daß sich kein deutscher Hofball derselben zu schämen nöthig gehabt hätte. Unsere Gäste erklärten offen, daß sie sich selbst in Manilla mit den Sennoritas nicht halb so gut als auf diesem Balle amüsirt hätten, und daß sie die deutschen Mädchen Californiens jenen gepriesenen Schönen bei Weitem vorzögen.
Getanzt wurde bis sage sechs Uhr Morgens. Nicht der leiseste Mißton störte das Vergnügen, und es mußte Wunder nehmen, wie sich bei dem massenhaften Verbrauche von edlem Rebensafte, der hier stattfand, Niemand ungebührlich erheiterte. Aber wie jede Freude ein Ende nehmen muß, so auch diese. Der Capitain der „Hertha“ hatte den entschiedenen Befehl erlassen, daß Jeder von den Officieren sowie die Musik des Schiffes Punkt acht Uhr an Bord sein müßten, da die Corvette dann in See gehen sollte. Mit den rauschenden Klängen der „Wacht am Rhein“ fand das Fest seinen Abschluß. Dann sprach einer von den Marine-Officieren noch einige bewegte Abschiedsworte, indem er den Deutschen San Franciscos im Namen aller seiner Cameraden für die beispiellose Gastfreundschaft, welche ihnen hier zu Theil geworden, dankte. Nun noch ein herzlicher Händedruck beim Scheiden – und bald lag eine schöne Erinnerung hinter uns.
Ihr wackeren deutschen Männer auf der „Hertha“ aber, wenn Ihr diese ungeschminkte Schilderung Eures Empfanges in der fernen Goldstadt am Stillen Oceane nach Eurer frohen Heimkehr im alten Vaterlande in unserem deutschen Weltblatte, der „Gartenlaube“, lest, mögen auch Euch dann die hier unter uns verlebten glücklichen Stunden wie ein schönes Traumbild wieder im Geiste wach werden!
San Francisco, Mitte Juni 1872.
Am Ostende der Hospitalstraße zu Leipzig sehen wir einen Palast aufragen mit erhabenem Mittelbau und Thurm und gewaltigen Seitenflügeln, über dem dreigetheilten Portal die pünktliche Uhr und die bunte Rosette eine Kirchenfensters, auf dem Giebel das Kreuz. Trotz seiner Großartigkeit erkennen wir doch, daß es weder ein Schloß noch eine Fabrik, weder ein Gefängniß noch ein Kloster sein kann, und gar bald ahnen wir freudig seine Bestimmung, denn schmückt nicht das Sims jedes Fensters, dem die Frauenfreude eines weißen Vorhangs nicht fehlt, eine Reihe von Blumenstöcken? Und hinter den säuberlich gepflegten Pelargonien und Lobelien, den Fuchsien und Petunien, sieht da nicht manches alte gute Menschenantlitz heiter hervor? Auch Nelken und Levkoyen finden ihre Beachtung, und mancher Alte pflegt seinen Epheustock und manches graue Frauenhaupt läßt noch das Auge auf einem Myrthenstöckchen ruhen. Und wie erfreut grüßen sie herab, wenn wir ihnen zuwinken, wir wissen nun: das freundliche schöne Hans umschließt ein rührend schönes Glück. Wir stehen vor einem Palast der Menschenliebe und der Bürgerehre, einer Stiftung, welche alten Männern und Frauen dieser Stadt nach redlich vollbrachtem Tagewerk einen ruhigen, sorgenlosen und friedevollen Lebensabend in gewohnter bürgerlicher Freiheit sichert: das ist das neue Johannisstift zu Leipzig.
Diese Stiftung wuchs aus einem der neunzehntausend „Leprosen“- oder „Sondersiechenhäuser“ hervor, welche durch das Vordringen der morgenländischen Volkskrankheit des Aussatzes (Lepra) im Abendland während der Kreuzzüge nach und nach daselbst errichtet wurden. Diese „Leprosorien“ erhielten in der Regel durch die Anverwandten der unglücklichen Insassen derselben viele und reiche Vermächtnisse und Schenkungen, und so war auch das Leipziger Johannishospital schon zu nicht unbedeutendem Vermögen gelangt, als die Krankheit gegen Ende des vierzehnten Jahrhunderts hier verschwand. Vermögen und Gebäude wurden nun der heutigen Bestimmung zugewandt. Hauptsächlich durch kluge Erwerbung und Verwerthung von Grund und Boden wuchs nach und nach das Stiftsvermögen zu einer Höhe an, daß, als die alten Räume dem Bedürfniß nicht mehr genügten, für einen Neubau über eine runde Summe von vierhunderttausend Thalern verfügt werden konnte, ohne dadurch die Mittel für den Zweck des Stifts zu verkürzen.
Das Johannisstift bietet seinen Insassen Wohnung, Kost und Heizung, dazu ungestörte Ruhe bei freiem Verkehr nach außen. – Anspruch auf Aufnahme im Johannisstift haben nur Bürger und Bürgerinnen, wie auch Schutzverwandte der Stadt Leipzig, die in einem unbescholtenen Leben ihr sechszigstes Jahr erreicht haben und die Verpflichtungen eingehen, welche ein gedruckter und gerichtlicher Vertrag ihnen vorschreibt, als z. B. friedliches und anständiges Betragen, Folgsamkeit gegen die Anordnungen der Stiftsvorsteher, Unterlassung von allem Verkaufen, Vertauschen, Verschenken von Stiftsgaben (Speisen, Getränken, Holz etc.). Jede Person hat ein für allemal ein Einlagecapital von nur zweihundert Thalern zu entrichten und zugleich das Johannishospital zum Erben ihres gesammten künftigen Nachlasses einzusetzen. Auf diese Bestimmung können die Meisten leicht eingehen, denn reiche Leute ziehen nicht in das Stift, sondern solche alte bürgerliche Eheleute und einzelne Bürger oder Bürgerinnen, namentlich aus dem Handwerkerstande, denen das Alter den Erwerb zu schwer oder unmöglich macht. Diese bringen, außer dem Einlagecapital, selten mehr, als ihre Möbeln, Betten, Kleider und dergleichen mit in’s [525] Haus; in Fällen, welche Berücksichtigung verdienen, wird sogar an Jahren und Einlagecapital nachgelassen, um würdigen Personen den Einzug zu ermöglichen. Sollte aber einem Insassen des Stifts eine Erbschaft zufallen, die ihm das Leben auf eigene Faust wieder gestattet, so kann er jeden Augenblick die Anstalt verlassen, muß aber für jedes Jahr des Aufenthalts im Stift achtzig Thaler entrichten und, falls das Einlagecapital die erwachsene Summe nicht deckt, den Rest nachbezahlen. Diese Fälle kommen vor, ja es haben weibliche Bewohner das Stift schon verlassen, um wieder in die Ehe zu treten.
In diesem Hause gewährt sogar das Sterberegister einen wohlthuenden Einblick. Nichts spricht für die sorgfältige Pflege der Alten in diesem Stift besser, als die Zahlen der Altersjahre: weit unter achtzig ist selten ein Insasse geschieden, die meisten sind über achtzig Jahre alt geworden. Und dies geschah selbst zu der Zeit, wo noch die Oekonomiepächter des Stifts auch die Verpflegung besorgten und wo es wohl vorkommen konnte, daß Gesinde und Stiftsleute aus einem Kessel gespeist wurden. Gegenwärtig ist auch diese veraltete Einrichtung beseitigt, die Oekonomie von der Stiftung getrennt, alles Feld verpachtet und der Gebäudecomplex des alten Johannishospitals zu anderen Zwecken verwendet und umgebaut. In das neue Johannisstift ist keinerlei Erwerbszweck mit eingezogen, es ist ausschließlich der Pflege unserer guten Alten gewidmet.
Betrachten wir unser Stift nun in der Nähe. Mit der Oberleitung des Baues desselben war der Leipziger Architekt Lipsius betraut worden, weil dessen in Folge der ausgeschriebenen Concurrenz eingereichter Entwurf den Preis davongetragen hatte. Seine Aufgabe war zwar nur ein Nützlichkeitsbau, aber auch an diesen stellt er die sehr beachtenswerthe Anforderung: „daß er die bezeichnenden Merkmale seiner inneren Wesenheit zur äußeren Erscheinung bringe“.[1] Und daß der Mann sich selbst Wort gehalten, das beweist sein fertiger Bau, und die beigegebenen Abbildungen sind Zeugen dafür.
Ueber die Größe und besonderen Erfordernisse und Ausführungen des Baues müssen wir einige Zahlen sprechen lassen. Die Baustelle nimmt einen Raum von 45,970 Quadratellen ein; sie gehört zum Grundeigenthum des Stifts und zwar zu den Hunderten der kleinen Familiengärtchen des Johannisthals, einer der originellsten, lieblichsten und heilsamsten Anlagen von Leipzig, die leider durch städtische und Staatsbauten immer mehr verkürzt und sichtlich ihrem Untergang entgegengedrängt wird. – Die Länge des Hauptgebäudes, das aus einem Mittelbau, zwei Zwischenbauten und zwei Eckpavillons besteht, beträgt 234 Ellen, die jedes der beiden Flügel 115 Ellen bei einer Tiefe von 25 und einer Höhe bis zum Dachfirst von 41 Ellen. Die Höhe des Mittelbaues vom Straßenniveau bis zum Dachfirst beträgt 49⅛ und bis zur Thurmspitze 84⅜ Ellen.
Zu beiden Seiten des Hauptgebäudes liegt links gesondert ein Wirthschaftsgebäude mit Leichenstube, Secirstube, Auctionslocal, Waschhaus, Pferdestall, Schweinestall, Schlachthaus, Eiskeller und Hausmannswohnung, und rechts das Desinfectionshaus.
Als Mauermaterial brauchte man Granit, Postelwitzer Sandstein und etwa fünf Millionen Stück Ziegelsteine, unter welchen besonders die Verblendsteine von Stange und Müller in Greppin gerühmt werden. Das Dach des Hauptgebäudes, ein Flächenraum von 18,564 Quadratellen, ist mit glasirten Dachziegeln von Rudolph in Meißen eingedeckt, der Mittelbau reicher, die übrigen Gebäudetheile einfacher im Schmuck der rothen, braunen, schwarzen, grünen und gelben Ziegel. Das Schwierigste bot im Anfange der Arbeit die Schiefheit der Baufläche, denn dieselbe war im Johannisthal über zwölf Ellen tiefer als oben an der Hospitalstraße, welcher der Bau seine Fronte zukehren sollte. Nicht weniger als 270,000 Kubikellen Füllmaterial mußten hier aufgefahren werden. Trotzalledem und trotz des großen französischen Kriegs wurde das am 10. April 1869 begonnene Bauwerk im Frühjahr 1872 vollendet, und als der Baumeister das fertige Gebäude den Stiftsvorstehern übergab und diese die Verbrauchssumme von 374,443 Thalern mit der Veranschlagssumme von 402,328 Thalern verglichen, erfreute sie das seltene Glück einer Bauersparniß von nahe an 28,000 Thalern. Daher erlebten die Bauherren, der Bau- und alle Werkmeister einen gerechten Triumph, als der vollendete Bau am 6. Juli dieses Jahres feierlich eingeweiht und seiner Bestimmung übergeben wurde.
Nunmehr sind die sämmtlichen Insassen des alten Johannishospitals in das neue Johannisstift eingezogen, und wenn wir nun das Innere betreten, begegnen wir überall dem schon eingewohnten Leben. Wie sorglich hier Alles bis auf’s Kleinste für das Alter berechnet ist, erkennen wir gleich an den Treppen: bequemer sind sie nicht herzustellen. Ueber sechs Stufen einer Freitreppe betreten wir durch die mittlere der drei Hauptthüren des Mittelbaues die große Treppenhalle (Vestibüle, vergl. unsere Abbildung), welche den ganzen Raum des Parterre und ersten Stocks desselben einnimmt. Diesen drei Thüren entsprechen drei gleich große auf der entgegengesetzten Hof- oder Gartenseite des Baues. Von beiden Seiten aus schreitet man einer Freitreppe im Innern zu, welche nach links und rechts auf Halbbogen emporsteigend zur ersten Etage des Hauptgebäudes und zunächst zu Vorhallen führt, welche sich trefflich zu Ruhe- und Erholungsplätzchen eignen. Außer dieser Haupttreppe hat das Gebäude noch in den Ausbauten der Flügel gelegene massive Nebentreppen.
Ueber der Treppenhalle des Mittelbaues befindet sich der allgemeine Krankensaal und darüber die Bethalle in Basilikenform. Dadurch scheidet dieser Mitteltheil den Bau so, daß, wenn eine Trennung der Insassen nach Geschlechtern wünschenswerth würde, sie jeden Augenblick eingeführt werden könnte. Besteigen wir eine der Treppen, die uns zu den Corridoren führen. Hier sind zu beiden Seiten die Thüren zu den Wohnungen der Insassen und ist jeder Thür gegenüber die Nische für den Kleiderschrank. Da, wo die Corridors sich kreuzen, im Mittelpunkte der Pavillons, erweitern sie sich zu Rotunden und gewähren für die ganz alten Spaziergänger namentlich bei übler Witterung passende Ausruheplätze; zu trefflichen Plauderstübchen eignen sich auch da sogenannten Lichtfänge, welche das Seitenlicht in die Corridors lassen und zum bequemen Gebrauch beim Kaffeekochen sowie bei der Vertheilung der Speisen und Getränke und der Reinigung der Geschirre mit Kamin, Tisch, Gußstein und Wasserzuführung ausgestattet sind.
Wahrhaft großartig ist die Sorge für die Reinlichkeit in jeder Weise. Durch doppelte Verschlüsse von den Corridors getrennt sind die Privete noch außerdem desinficirt, und ihr Inhalt geht außer dem der Aschen- und Kehrichtrutschen, die Gruben für sich haben, demselben Ziele zu wie der Abfluß aus den Bädern der Küche, der Bäckerei, den Gußsteinen, dem Krankensaale etc., nämlich dem großen Sammelbassin im untersten Raume. Von da wird die ganze desinficirte Masse mittelst Druckpumpe zu dem Desinfectionshause und in das vier Ellen vom Boden hoch stehende Klärbassin gehoben, aus welchem dann das geklärte Wasser in die Straßenschleußen abläuft, während man den festen Rückstand in ein noch höheres Bassin hebt und dann als werthvollen Dünger abführt. Es ist also auch hier, wie im neuen Krankenhause, das Süvern’sche System in großem Stil zur Anwendung gekommen.
Die gleiche Reinlichkeit herrscht auch in den Stuben. Man weiß, wie schwer oft alte Leute zu bewegen sind, die Fenster zu öffnen, um frische Luft einzulassen. Dieser Nothwendigkeit sind sie nun ganz enthoben, denn für frische Luft in jeder Stube sorgt ein Ventilationscanal, der hinter dem Ofen durch Klappen mit dem Corridor in Verbindung steht. Die Ventilation der Corridors, des Vestibüles, des Bet- und Krankensaals, der Küche, Privete etc. wird dadurch bewirkt, daß mit Heizessen verbundene Saugessen die verbrauchte Luft abführen, während die frische, zur kalten Jahreszeit auf zwölf Grad Réaumur erwärmte Luft direct eingeführt wird. Diese Erwärmung der Luft geschieht in sechs Calorifères, welche Ingenieur Kelling in Dresden geliefert hat. Die Zimmerheizung geschieht in Stubenöfen; für die Aufbewahrung des jedem Insassen gewährten Heizmaterials erhält jeder einen Keller- oder Bodenraum, der die Nummer seines Zimmer trägt.
„Wollen Sie nicht eintreten?“ fragt uns ein steinaltes Mütterchen. Sie sagt uns gleich selber, daß sie sechsundachtzig Jahre alt sei und immer so müde Beine habe. Das Mundwerk ging aber mit ergötzlichster Geläufigkeit und aus dem verrunzelten Gesichtchen lachten noch recht muntere Augen. Ihr Zimmer war auf’s Behaglichste eingerichtet, wie wir das auch bei allen anderen fanden. Da Thür und Ofen die dem Fenster gegenüberstehende Wand einnehmen, so sind für Bett und die anderen Möbeln zwei
[526]
[527][Berichtigung]
- ↑ Der Name wird im Kleinen Briefkasten in Heft 37 berichtigt, Vorlage: Lochmann.
[528] ganze Wände frei. Ueberall fanden wir die Einrichtung des mittleren Bürgerstandes, das jedes Zimmer so behaglich machende Sopha, Secretär oder Commode, oder Beides, Tritt und Nähtischchen vor dem Fenster, Spiegel und Bilder, Vogelhäuschen und Blumenstöcke und – die Vorhänge am Fenster, welch letztere, nebenbei bemerkt, sämmtlich mit Außen- oder Winterfenstern versehen sind, denn die Alten wollen vor allen Dingen „warm stecken“.
„Wie gefällt’s Ihnen denn, Mütterchen, in dem neuen Hause?“
„Ach, gar sehre prächtig, wir leben hier wie im Himmel.“
„Aber giebt es nicht doch auch in diesem Himmel manchmal ein wenig Feindschaft und Streit?“
„Nein, nein, nein,“ wehrte die Alte, mit den Händen eifrig gegen den Verdacht fechtend, ab. „Das wäre ja ganz abscheulich von uns!“
„Nun, aber doch so manchmal ein kleines Zänkchen, nicht wahr?“
„Ja, sehnse nu, freilich, was eben so zum Leben gehört.“
Wir drückten dem offenherzigen Mütterchen die Hand und gingen; aber sie ging mit, und Thür um Thür öffnete sich, denn sie plaudern ja alle so gern und hören gern was Neues, die guten Alten. Bei einem Manne sahen wir eine Drechselbank, denn arbeiten darf man, wenn es nicht störendes Geräusch für die Nachbarschaft verursacht. Eine andere Thür führte uns in eine Wohnung von einem Ehepaare; diese besteht aus Stube und geräumiger Kammer für zwei Betten. Der Mann trieb zu seinem Zeitvertreib sein Schneidergeschäft fort, und die Frau versicherte uns, es sei doch recht schön, daß sie nicht mehr an Miethzins und Steuern zu denken brauchten und Mittags und Abends ihr „Tischchen-deck-dich“ hätten. Wieder betraten wir ein Frauengemach. Die Insassin rief uns zu:
„Ach, meine Herrschaften, sehen Sie nur ja nicht an mein Fenster Ich hab’ ein lahmes Bein und da konnt’ ich meine Vorhänge noch nicht aufmachen.“ Wir suchten sie zu beruhigen, aber sie öffnete sofort eine Commode und zeigte uns ihre blüthenweißen neuen Vorhänge. Auf unsere Bemerkung, daß es ja auch ohnedies äußerst nett und freundlich bei ihr sei, gab sie uns zur Antwort:
„Ich danke Ihnen, meine Herrschaften, aber die da draußen (auf der Straße) sollen auch sehen, wie hübsch es bei uns ist.“
Eine bessere Lobrede kann dem Johannisstift nicht gehalten werden. Wir stiegen nun zum Betsaale hinauf; unterwegs lernten wir noch eine Vorrichtung gegen Feuersgefahr, lange, mit der Wasserleitung in Verbindung stehende Schläuche, und einen Aufzug kennen, auf welchem diejenigen Alten, welchen das Treppensteigen gar zu schwer oder unmöglich ist, auf- und abbefördert werden; dies Alles steht unter Aufsicht angestellter Maschinenmeister. Der Betsaal macht einen ebenso erhebenden, als freundlichen Eindruck, Alles hoch und hell, Altar und Orgel einander gegenüber, Säulen- und Fensterrosettenschmuck bunt und doch würdig und einfach. Die Greisengemeinde ist entzückt über ihre „schöne Hauskirche“, aber den Wunsch äußerten Viele: „Wenn doch auch alle Sonntage eine richtige Predigt gehalten und nicht so oft blos vorgelesen würde!“ –
Wir begaben uns von der geistlichen zur allerleiblichsten Anstalt, von der Thurmnähe bis unter das Vestibule hinab in die große Küche. Sie ist fünfundzwanzig und eine halbe Elle lang, dreiundzwanzig Ellen breit und sieben und eine halbe Elle hoch. Der große Herd in der Mitte erregt aller Frauen Wonne. Wenn nicht die seitwärtsstehenden großen Bratröhren gebraucht werden, ist hier kein Funke Feuer nöthig: alles Kochen besorgt der Dampf, der für die Küche, die Bäder, die Bäckerei und zum Betrieb der vierpferdigen Dampfmaschine (für die Desinfection und den Aufzug) in einem Kessel von zehn Quadratmeter Heizfläche und zwei Atmosphären Ueberdruck erzeugt wird. – Die Speisen bestehen an bestimmten Tagen je aus Suppe, Gemüse und Fleisch oder aus Braten und Zubehör. Zur Vertheilung sahen wir ganze Stöße von Tellern und Näpfen stehen, deren jedes die Zimmernummer des Besitzers trägt; eine Wage dient zur gewissenhaften Abwägung der Fleischportionen, und der Aufzug befördert die Speisen für die einzelnen Abtheilungen nach den verschiedenen Stockwerken, so daß Jedwedes das Seine ebenen Ganges sich von dem Tisch in den sogenannten Lichtfangräumen holt, in welchen es aufgestellt wird.
Das „Tischlein-deck-dich“ gilt nur für Mittag und Abend. Damit die Alten einige Beschäftigungen und kleine Sorgen haben, wie sie „eben zum Leben gehören“, wird ihnen kein Kaffee gereicht, sondern so viel Brod mehr, als sie brauchen, daß sie aus dem Verkauf desselben die Mittel zur Beschaffung des Kaffee gewinnen können. Dazu ist eine Kaufs- und Verkaufsstelle im Stifte selbst eingerichtet. Ihr Kaffeechen kochen sich die Alten am liebsten selber. So ist in jeder Weise für Ruhe, Genuß und Arbeit gesorgt. Für die Bewohner von zweihundertundvierzehn Einzelstuben, vierundfünfzig Doppelstuben (für Eheleute) und sechs Stuben für mehrere Personen, die im Ganzen die Zahl von dreihundertachtzig bis dreihundertneunzig erreichen können, ist dieses Prachtgebäude erbaut und mit einem wahren Geäder von Wasser-, Gas- und Abflußröhren durchzogen; doch ist die Gasleitung nur für zweihundertneunundvierzig Flammen zu allgemeinem Dienst eingerichtet; in den Zimmern brennen die Hospitaliten ihre Lampen, um ihrer eigenen Sicherheit willen.
Gegenwärtig ist die Zahl aller Stiftsinwohner 205; davon sind 29 Männer, 142 Frauen, 17 Paar Eheleute und 10 Beamtete der Stiftsverwaltung mit der erforderlichen Dienerschaft.
Vorstehende Ueberschrift trug ein Aufsatz in Nr. 29 dieser Zeitung vom Jahre 1867, der den Lesern der Gartenlaube das schreckliche Ereigniß schilderte, von welchem am Morgen des 1. Juli 1867 das Steinkohlendorf Lugau bei Chemnitz heimgesucht worden war.
„Hoffnungslos verloren!“ So hieß es dort von den „hundertundzwei Bergleuten“, welche in dem Steinkohlenschacht Neufundgrube bei Lugau durch den Zusammensturz dieses ihres einzigen Ausweges aus der Tiefe lebendig begraben waren. „Alle angestrengten und mit wahrer Todesverachtung von den Betheiligten ausgeführten Rettungsarbeiten sind erfolglos!“ das war mit kurzen Worten der traurige Inhalt jener Botschaft. Jetzt nun, nach fünf Jahren und einigen Tagen, ist das entsetzliche Grab dieser Verschütteten wieder geöffnet. Ein schweres Stück Arbeit bergmännischer Technik ist vollbracht. Die Verschütteten sind bis auf einen, dessen Auffinden demnächst zu erwarten steht, gefunden, und dieser Fund hat den Hinterlassenen wenigstens den Trost gebracht, daß jedenfalls der Tod jener Unglücklichen ein weniger qualvoller war, als die Phantasie und die Theilnahme der Ueberlebenden sich ihn gedacht hat.
Die Zahl der Verschütteten betrug übrigens nicht hundertundzwei Mann, sondern nur hundertundein Mann. Von diesen sind bis zum 23. Juli die Leichen von hundert Mann gefunden worden.
Der „Fundgrubenschacht“, von seinem jetzigen neuen Besitzer, der Lugauer Actiengesellschaft, Vertrauenschacht getauft, ist rechtwinklig und hat einen Querschnitt von 6,95 Meter Länge und 2,0 Meter Breite im Lichten, mit welchem er auf 526,75 Meter senkrecht in die Tiefe geht. Dieser Querschnitt wird durch eingebaute, vollkantige 0,20 bis 0,25 Meter starke und in den Ecken zusammengeplattete Hölzer (Umgangs- oder Jochzimmerung), bei deren Einbau Holz auf Holz gelegt wird, hergestellt. Die Jochzimmerung wird wiederum durch Fachzimmerung (Wandruthenstränge) noch unterstützt, und durch diese wird endlich der Schacht selbst in verschiedene Fächer (genannt Schachttrumen) getheilt, von denen jedes seinem besonderen Zwecke dient.
Der Vertrauenschacht hat fünf solcher Fächer oder „Schachttrumen“. Zwei derselben dienen als Förderschachttrumen, wobei in dem einen das volle Fördergefäß an einem Seile hinauf und gleichzeitig im andern das leere Gefäß, durch seine eigene Last jenem helfend, hinuntergeht. Im dritten Schachttrumen, welcher als Fahrschacht zum Ein- und Ausfahren (Ein- und Aussteigen) der Mannschaft dient, sind von acht zu acht Meter horizontal abgetäfelte Bühnen (Fahrbühnen) eingebaut, und [529] durch etwas geneigtstehende Leitern oder Fahrten so miteinander verbunden, daß der Ein- und Ausfahrende bei etwaigem Ausgleiten niemals den ganzen Schacht hineinfallen kann, sondern auf der nächstunteren Bühne auftrifft. In dem vierten, dem Kunstschachttrumen, sind die Pumpen zum Herausschaffen des Wassers aus der Tiefe eingebaut. Der fünfte und letzte Schachttrumen ist von dem ganzen anderen Schachtraum luftdicht (wetterdicht) getrennt und dient zur Herstellung der Luft- oder Wettercirculation. Diese Schachteintheilung ist nur dann eine andere, wenn zu dem Abbaue eines und desselben Grubenfeldes, wie jetzt gesetzlich, wenigstens zwei oder mehrere Schächte im Betriebe, und wenn die verschiedenen Functionen, die allemal erheischt werden, dann unter den einzelnen Schächten vertheilt sind. Das Ein- und Ausfahren wird, hauptsächlich bei tiefen Schächten, jetzt gewöhnlich dadurch erleichtert, daß entweder von Seiten der zuständigen Behörde und unter Berücksichtigung der nöthigen Vorsichtsmaßregeln das Fahren auf dem Fördergerüst, am Schachtseile und durch Dampfmaschine gestattet wird, oder daß für das Ein- und Ausfahren eine ebenfalls durch Dampfkraft bewegte besondere Maschinerie, eine sogenannte „Fahrkunst“, eingebaut wird; jedoch wird immer die zuerst beschriebene gewöhnliche Fahrt in Reserve gehalten.
Die Zimmerung des Fundgrubenschachtes war an dem Unglückstage einige Stunden nach dem Einfahren der Leute in einer Tiefe von 68 Meter unter Tage zusammengebrochen. Die hereingebrochenen Massen, erst das zerbrochene Holz und dann das lose Gestein dahinter, waren anfangs in die Tiefe gestürzt und hatten einen Theil der noch guten Zimmerung mit fortgerissen, bis sich, wie bei dem jetzt glücklich vollbrachten Wiederaufgewältigen des Schachtes nachgewiesen worden ist, das weiterbrechende Holz in einer Tiefe von 253 Meter unter Tage, in der von dieser Stelle abwärts noch ziemlich guten Wandruthenzimmerung, so fest verspreizt hatte, daß diese Verspreizung die ganzen später hereingebrochenen Massen gehalten hat. Unterhalb dieser Verspreizung, also in der Tiefe von 253 Meter abwärts, wurde der Schacht ziemlich frei von hereingebrochenem Gestein gefunden. Das Wiederaufgewältigen hat ferner nachgewiesen, daß der Bruch selbst eine Ausdehnung in verticaler Richtung von 56,5 Meter hatte, er erstreckte sich von 35,5 Meter bis 92 Meter unter Tage, hatte sich also auf- und abwärts vergrößert. Was der Bruch von der Verspreizung aufwärts nicht zugefüllt hatte, war nach dem Aufgeben aller Rettungsarbeiten und um den Schacht zu erhalten, später von über Tage aus hineingefüllt worden. Als nun der jetzige Besitzer durch Ankauf in der Subhastation im Sommer des Jahres 1869 das Grubengebäude erworben, ließ er, nachdem mehrere Sachverständige dies befürwortet, mit der Wiederaufnahme und Aufgewältigung dieses Schachtes und zugleich auch mit der Abteufung eines neuen Schachtes beginnen, und es ist nach rastloser und mühevoller, ziemlich dreijähriger Arbeit gelungen, den alten Schacht wieder herzustellen und seiner Bestimmung zurückzugeben. Zuerst traf man bei 40 Meter unter Tage auf das aus der Tiefe heraufgestiegene Wasser; es war also der ganze Bau, soweit es die abgeschlossene und zusammengepreßte Luft nicht verhinderte, unter Wasser gesetzt, so daß von nun an die Pumpen wieder in Betrieb genommen werden mußten.
Die größte Schwierigkeit bei der Wiederherstellung des Schachtes bestand darin, den zusammengebrochenen Theil des Schachtes, in welchem die festen Schachtwände (Schachtstöße) fehlten, an denen der Stützpunkt für den Ausbau genommen wird, zu durchsinken und von Neuem ganz zuverlässig zu verwahren. Diese Schwierigkeit wurde noch dadurch vermehrt, daß die Bergleute beim Arbeiten sich nicht auf das verlassen konnten, was sie zu ihren Füßen hatten: einen mit Wasser gefüllten tiefen Abgrund! Sie mußten, um gesichert zu sein, mit einem Bauchgurt arbeiten, dessen Seilende nach oben verwahrt war.
Trotz aller dieser Mühseligkeiten und Gefahren ist das Werk gelungen. Der Schacht ist von Neuem erstanden, die alte Zimmerung in demselben ist vollständig beseitigt und durch neue und kräftigere ersetzt worden. Die Bruchstelle des Schachtes, sowie ein Stück darüber und ein Stück darunter, ist mit einer 0,85 Meter starken und auf großen Spannbogen ruhenden Mauer solid verwahrt.
Ein „Glückauf!“ den wackeren Männern, die diese Arbeit glücklich vollbrachten! Im October vorigen Jahres erreichte man bei 253 Meter unter Tage das Ende der Verspreizung und den von hereingebrochenem Gestein freien Schacht. Das schwerste Stück Arbeit hatte man hinter sich; es galt jetzt nur noch das Wasser nach und nach herauszuschaffen und die Zimmerung auszuwechseln. So fand man dann auch in diesem freien Schachte im November vorigen Jahres 256 Meter unter Tage auf der zweiunddreißigsten Fahrbühne liegend die erste Leiche und zwar – als ein Skelet, an welchem von Fleischüberresten wenig oder gar nichts zu sehen war; nur an den Bein- und Fußknochen, welche sich noch in den Stiefeln befanden und dadurch jedenfalls vor der Verwesung mehr geschützt wären, zeigten sich noch Fleisch- und Muskelfaserspuren. Bei der Berührung fiel das Skelet auseinander, die einzelnen Knochentheile hielten nicht zusammen, ebensowenig bot auch der ziemlich stark verweste Anzug einen Zusammenhalt. Erst an der dabei liegenden Uhr erkannte man in der Leiche den Häuer Burkhard.
Wer sich noch des ungeheuren, ja fürchterlich klingenden Getöses im Schachte erinnert, das an dem Unglückstage die über Tage um den Schacht Stehenden erschreckte und öfters verscheuchte, der wird den Muth anstaunen und nicht fassen können, der diesen braven Mann zu solchem überaus gefährlichen Wagstück trieb, sich in den zusammenstürzenden Schacht hineinzubegeben. Es war ihm darum auch nur noch einer seiner Cameraden gefolgt, dessen Leiche in ganz ähnlicher Beschaffenheit wie die des Ersten im December vorigen Jahres dreihundertsiebenzehn Meter unter Tage, auf einem Einstriche sitzend, gefunden wurde. Diese beiden Leichen waren damals vorläufig in einer Todtenhalle am Schachte untergebracht worden.
Im Monat Juli dieses Jahres erreichte man endlich das Füllort des obern Querschlages. Hier dürfte wieder eine kurze Erklärung, zum bessern Verständniß des Nachfolgenden, nöthig sein. Man unterscheidet bei den unterirdischen Räumen eines Kohlenberggebäudes in der Hauptsache erstens: den Schacht, das ist der schon beschriebene Bau, der von über Tage senkrecht in die Tiefe führt; zweitens: die Füllörter, das sind die Räume unmittelbar am Schachte (nicht im Schachte), in welchen die Fördergefäße oder von welchen aus die Fördergerüste im Schachte gefüllt werden; drittens: zusammenhängend mit jenen, Querschläge und Strecken (unterirdische Gänge), welche erstere immer horizontal und letztere auch fallend und steigend gehend nach den eigentlichen Abbauen in den Kohlenlagerstätten führen. Der „Fundgrubenschacht“ hatte nun zwei Füllörter, ein oberes, 423,6 Meter unter Tage, und ein tieferes, 467,8 Meter unter Tage, und diese waren theils durch den senkrechten Schacht, theils abseits von diesem durch Querschläge und Strecken mit einander verbunden, so daß man also vom tiefen Füllorte nach dem obern Füllorte, ohne den Schacht zu passiren, gelangen konnte.
Als man nun zu Anfange dieses Monats das Wasser soweit gewältigt hatte, daß das obere Füllort nach und nach frei wurde, fand man die Leichen auf dem Füllorte und in dem daran stoßenden Querschlage neben einander und über einander geschichtet liegen: ein Beweis, daß sämmtliche Bergleute, auch die aus den tieferen Räumen, sich nach diesem oberen Füllort geflüchtet hatten. Die ursprüngliche Lage der Verunglückten konnte nur bei einigen bestimmt erkannt werden. Die in der Mitte des Füllorts gefundenen Leichen schienen stehend vom Tode überrascht und dadurch über einander gelegt worden zu sein. Einige hatten auf einem quer über das Füllort gelegten Balken gesessen und waren im Tode von demselben herunter gerutscht, so daß beim Auffinden die Füße noch auf dem Balken hingen. Die Leichen waren in der Verwesung fast ebenso weit vorgeschritten, als die beiden zuerst gefundenen, nur etwas mehr schlammige Fleisch- und Muskelfaserüberreste fanden sich an ihnen vor.
Jedenfalls hat das nach und nach aus der Tiefe heraustretende Wasser, welches die tiefer liegenden Leichen früher erreicht hatte, deren Verwesung früher unterbrochen. Bei einer der Leichen, die anscheinend von einem Individuum mit starkem Körperbau herrührte, war der hintere Theil besonders gut erhalten. Sonst bestanden in der Hauptsache die Fleischüberreste nur aus schlammigen übelriechenden Massen, die theilweis noch in den von Fäulniß zersetzten Kleidern hingen. Alles war übrigens mit einer Schlammschicht umgeben, so daß die Zusammengehörigkeit der einzelnen Theile der Leichen nicht bestimmt werden konnte, [530] noch dazu, da bei der Berührung Alles untereinander fiel. Die Anzahl der Leichen wurde nach den Köpfen bestimmt.
Hart am Schachte sitzend fand und erkannte man den Steiger Krüger und den Fahrgehülfen Keller, Ersteren hauptsächlich an seinem Notizbuche, der Lachterkette und der Blende, Letzteren hauptsächlich an der neben ihm liegenden bekannten Tabakspfeife. Das Notizbuch des Ersteren hätte vielleicht durch Aufzeichnungen in demselben über die letzten Stunden dieser Unglücklichen einige Aufklärungen bringen können, aber die Blätter in demselben waren vollständig vom Moder vernichtet, nur die Schalen sind erhalten und mit aufbewahrt. Außer diesen beiden Beamten wurden noch die Leichen der beiden Gebrüder Heinrich von ihrem Vater an den Schnürstiefeln erkannt, und zufällig erkannte auch der Werksarzt einen Dritten, gleichen Namens, mit den Vorhergenannten aber nicht verwandt, an den Narben seines bei Lebzeiten in der Grube wiederholt gebrochenen Beines, und einen Vierten an der außergewöhnlichen Bildung der Zähne (Doppelzähne).
Als Beruhigung und als Beweis dafür, daß der Tod dieser Unglücklichen kein allzulangsamer und vom Hunger herbeigeführter gewesen ist, fand man alle mit Pfropfen noch verschlossenen Oelhörner, Oelfläschchen und Lampen mit reichlichem Oelvorrath gefüllt, so daß also die Lampen nicht lange gebrannt und nicht lange Oel verzehrt hatten. Durch den Zusammensturz des Schachtes war zunächst der Wetterschachttrumen aufgerissen und dadurch die Wettercirculation aufgehoben worden. Nachher hatte die Verspreizung und der dichte Versack über derselben vollends allen Luftzutritt nach unten abgehalten, und so mußte ja bei der starken Ausdünstung der bloßgelegten Kohle in den Grubenräumen die Luft bald so verschlechtert sein, daß die Lampen und mit ihnen oder bald nach ihnen das Lebenslicht der Verunglückten verlöschte. Spuren von besonderem, etwa sehr schmerzhaftem Todeskampfe haben sich nicht gefunden, ebensowenig irgend welches Zeichen oder irgend welche Nachricht von den letzten Stunden dieser Unglücklichen. Bis zum letzten Augenblicke, bis zum letzten Funken von Bewußtsein, haben sie wohl die Hoffnung auf Rettung nicht verloren, dafür spricht die ruhige, gleichsam wartende Lage, in der sie gefunden wurden.
In den Kleidern und hauptsächlich in den Lichttaschen, in der bergmännischen Ausrüstung der Patronentasche des Soldaten entsprechend, fanden sich noch mehrere Uhren und bei einigen auch Geldmünzen, zusammen ein Thaler einundzwanzig Neugroschen und ein Pfennig, vor. Die Uhren sind ganz aufgelöthet und als solche werthlos. Vielleicht bezahlt sie der Raritätensammler noch gut. In der Tasche der einen Leiche wurde ein Fläschchen gefunden, welches noch auf dem Schachte aufbewahrt wird, und von dem man den Inhalt nicht recht erkennen kann. Oel ist dies entschieden nicht, ebensowenig scheint es Schnaps zu sein. Wäre es vielleicht das Arzeneifläschchen, das der Schreiber des ersten Briefes über das Lugauer Unglück in der Gartenlaube erwähnt? Das gefundene Oel und auch der Inhalt dieser Flasche hat einen ganz pestilenzialischen Geruch.
Die zweiundachtzig Leichen, welche man zuerst auf dem oberen Füllorte und dem sich an das Füllort anschließenden Querschlage gefunden, wurden, nachdem sie vorher so viel als möglich mit in Wasser aufgelöster Carbolsäure begossen waren, vom Montag den 8. bis Dienstag den 9. dieses Monats über Tage geschafft und mit ihren zwei früher gefundenen Cameraden Donnerstag den 11. Juli Abends, in zwölf Särgen, im Beisein des königlichen Amtshauptmanns in aller Stille beerdigt.
Auf dem Beerdigungsplatze, dem Lugauer Kirchhofe, steht schon seit Jahren ein vom früheren Hülfscomité errichtetes Denkmal (Obelisk), das die Namen sämmtlicher Verunglückten trägt. Die Enthüllungsfeier und eine größere bergmännische Leichenfeier soll erst vorgenommen werden, wenn sämmtliche Verschüttete gefunden sind. Das weitere Aufsuchen derselben wird jetzt dadurch aufgehalten, daß in dem erwähnten Querschlage bei dreißig Meter Entfernung vom Schachte ein Bruch vorliegt, der erst vorsichtig beseitigt werden muß und unter und wahrscheinlich auch hinter welchem man die noch fehlende Leiche zu finden hofft.
Der Eindruck, den die herausgeschafften menschlichen Ueberreste auf den Beschauer machten, war zwar ein schrecklicher, aber er wirkte doch nun weniger erschütternd, als dies würde geschehen sein, ehe die lindernde Zeit das Ihre zur Verringerung des Schmerzes beigetragen hatte. Die Verhältnisse, unter denen die Hinterlassenen jetzt leben, sind bei vielen andere geworden. Wittwen haben wieder geheirathet, Kinder sind herangewachsen und für Alle hat ja die Opferwilligkeit der ganzen civilisirten Welt in humanster Weise gesorgt.
Möge dieses und das noch größere Unglück, welches zwei Jahre später wieder den sächsischen Kohlenbergbau betroffen hat, vor Allem dazu beitragen, die Gefahren immer besser erkennen zu lernen, die der Abbau und die Gewinnung dieses unentbehrlichen schwarzen Diamanten – des vergrabenen Sonnenscheins der Urzeit und der vergrabenen Ueberreste des ersten vegetabilischen Lebens – mit sich bringt! Möge in den jetzigen Zeiten von den Kohlenbergleuten recht verständig daran gedacht werden, daß gerade der Bergbau und speciell der in vieler Beziehung gefährlichste, der Kohlenbergbau, ebenso wenig wie die Seeschifffahrt fortbestehen und sich fortentwickeln kann, wenn nicht neben der besten Ausbildung des Führers auf den strengsten Gehorsam des Untergebenen gehalten wird und gehalten werden kann! Der Kohlenbergmann steht mit den Elementen in fortwährendem Kampfe: möge er sich immer des Sieges, aber auch des der Gefahr und dem Werthe seiner Diamantengräberei entsprechenden Lohns erfreuen!
Ein wahrhaft „Hochwürdiger“. Da liegt ein starkes Heft, und zwar das dritte, eines periodischen Werkes vor uns, welches den Titel führt: „Lichtstrahlen für das in den dunklen Räumen der Religion und Kirche nach Wahrheit suchende Volk“. (Jena, bei Friedr. Mauke). Wir schlagen das Titelblatt um und finden Lessing’s Ausspruch: „Eine Religion kann, so lange deren Priester das Denken ersticken, durchaus nicht zur Wahrheit führen, sondern nur verwirren“ als Ueberleiter zu einem Vorworte, das in Gestalt eines Briefes sich an einen jener Halben im Priesteramt richtet, die den Muth zur ganzen Wahrheit nicht haben. Diesem sagt der Verfasser u. A.:
„Du machst mir den Vorwurf, daß ich mit einer allzu harten und scharf zugespitzten Feder schreibe … Hast Du, der Du die auch in unserer protestantischen Kirche vorhandenen Mängel und Gebrechen nur leichthin gleichsam mit einem Flederwisch berührst und überstreichst, etwas Wesentliches zur Förderung der Aufklärung bewirkt? Hat nicht eine lange Erfahrung uns erwiesen, daß …halbernste und schüchterne Angriffe auf die kirchlich-religiösen Vorurtheile nicht zum Ziele führen? Ist es jetzt, wo die Intelligenz immer stärker wird und wo man in allen Fächern der Wissenschaft sich der Wahrheit immer mehr nähert, nicht hohe Zeit, muthig und ohne Rückhalt dem religiös-kirchlichen Aberglauben die Stirn zu bieten und mit geschärfter Waffe und offenem Visir gegen Die in die Schranken zu treten, welche sich als die Zionswächter der alten Kirche immer noch geschäftig zeigen? Mußt Du von Deinem Standpunkte aus, bei Deinen Ansichten und Deinem Benehmen nicht unsern Luther tadeln, daß er seine Thesen an die Schloßkirche in Wittenberg anschlug, daß er die päpstliche Bulle verbrannte und vor Kaiser und Reich die Worte sprach: ‚Ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen!‘ –? … Wer den Muth nicht hat, mit mir zu gehen, der bleibe auf seiner angenommenen Stellung, lasse mich aber, so lange ich den Weg zum Lichte der Wahrheit nicht verlasse, ungehudelt!“
Wie alt, oder vielmehr wie jung ist der Mann, der so frisch mit seiner Ueberzeugung heraus und so fest auf sein Ziel los geht? Die Hand, welche die Feder zu obigen Worten geführt, ist sehr alt, aber sie zittert nicht, es ist ohne Zweifel die älteste Schriftstellerhand unseres Vaterlandes, ja wohl unserer Gegenwart: der deutsche Mann, dessen Geist so stark und klar und dessen Herz so warm und tapfer nach mehr als einem halben Jahrhundert redlichen Kampfes und Wirkens sich erweist, ist ein Greis von vierundneunzig Jahren!
Hut ab vor solch einer deutschen Kernnatur des Leibes und der Seele! Wenn wir unter seinem Namen lesen: „Ritter des weimarischen Hausordens“, so freut es uns in diesem Falle, denn ein wahrer Ritter ist dieser Dr. E. L. Hagen, einer der echten Ritter vom Geiste. Nachdem er wohl länger, als das goldene Jubiläum erfordert, zu Rothenstein im Saalthale sein Pfarramt verwaltet hatte, wählte er Jena zu dem, was Andere ihren Ruhesitz nennen. Für ihn war es nur ein Versetzen seines Arbeitstisches aus einem stillen Dorfe in eine alte feste Burg des Protestantismus und des freien Geistes. Sollte es in dem heutigen deutschen Reiche so gleichgültig sein, was eine solche alte ehrwürdige Erfahrung spricht? Wir weisen in dem vorliegenden Hefte nur auf Abtheilungen hin wie: „Eine Dichtung“ – „Mannigfaches aus meinem Tagebuche“ – „Nachtgedanken“ – „Der heilige Geist, betrachtet im Lichte der gesunden Vernunft“ und „Non possumus“ – und sind überzeugt: wer diesen seine Aufmerksamkeit geschenkt, wird dem Manne und seinen übrigen Schriften die Theilnahme zuwenden, die nicht blos sein Alter, sondern die der Mensch – und „Mensch sein, heißt ein Kämpfer sein!“ – verdient.
- ↑ Vergleiche den Separatabdruck aus den Protokollen der fünfundsiebenzigsten Hauptversammlung des sächsischen Ingenieur- und Architektenvereins.