Die Gartenlaube (1873)/Heft 16

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1873
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[253]

No. 16.   1873.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Glück auf!
Von E. Werner.


(Fortsetzung.)


Die junge Dame hob mit unverkennbarer Genugthuung den Kopf. „Ich bin seine Vertraute; mir hat er sein ganzes Herz ausgeschüttet. Ich habe ihn auch trösten wollen, aber er mag keinen Trost; er ist zu unglücklich.“

„Das ist ja eine allerliebste Geschichte!“ brach der Oberingenieur zornig los. „Also bis zum Trösten und Herzausschütten seid Ihr schon gekommen? Ich hätte den Wilberg gar nicht für so gescheidt gehalten. Wer bei Euch Frauen erst auf das Mitleid speculirt – aber der Sache wollen wir denn doch bei Zeiten ein Ende machen. Du wirst künftig nicht wieder solche unpassende Vertraulichkeiten entgegennehmen, Melanie, und die Tröstungsgeschichte verbitte ich mir ein- für allemal. Ich werde sorgen, daß er für’s Erste nicht wieder in’s Haus kommt, und damit Punctum!“

Melanie wendete sich schmollend ab, ihr Herr Papa bewies aber keine sehr große Menschenkenntniß, wenn er mit diesem dictatorischen Punctum die Sache nun auch wirklich beendet und das Schreckbild gebannt glaubte, das in Gestalt eines dichtenden und Guitarre spielenden Schwiegersohnes urplötzlich vor ihm aufgetaucht war. Er hätte doch wissen müssen, daß Fräulein Melanie sich erst recht vornahm, den armen, so arg verkannten Wilberg zu trösten, wo und wie es nur anging, und daß Herr Wilberg sich noch denselben Abend hinsetzte, um ein Gedicht „an Melanie“ zu verfassen; dergleichen ließ sich mit einem bloßen Punctum wirklich nicht verbieten.

Der Tag neigte sich zu Ende. Im Sinken brach die Sonne noch einmal roth durch das sie umgebende Gewölk und ließ Wald und Berge aufglühen in kurzer vergänglicher Pracht. Nur wenige Minuten lang, dann sank der rothe Feuerball langsam am Horizonte nieder und mit ihm verschwanden der Glanz und die Farben, die er einen flüchtigen Moment lang der Erde geliehen.

Arthur Berkow hatte soeben das Gitter am Ausgange des Parkes geöffnet und war hinausgetreten; hier blieb er stehen, unwillkürlich gefesselt von dem Schauspiel, und schaute mit einem langen düsteren Blicke dem scheidenden Gestirne nach. Sein Antlitz trug jetzt den Ausdruck vollkommen erstrittener Ruhe, aber es war nicht jene Fassung, mit der ein Mann sich emporrafft, wenn er eine siegreich überwundene Schwäche von sich wirft, um in neue Bahnen einzulenken. Wenn man allein zurückbleibt auf dem sinkenden Schiffe, und sieht in der Ferne das Boot verschwinden, das die besten Güter und Schätze der sicheren Küste zuführt, während das Schiff selbst unaufhaltsam der Klippe entgegentreibt, an der es zerschellen muß, da hält der Mannesmuth wohl auch noch aus, aber freudig ist er nicht mehr. Wenn die letzte Hoffnung gegangen ist, dann kommt die Ruhe, die im Stande und bereit ist, Allem zu trotzen; sie lag jetzt auch auf Arthur’s Zügen; der Traum war ausgeträumt und die nächste Zukunft forderte wahrlich ein volles ganzes Erwachen.

Er schritt über die Wiese hin und schlug die Richtung ein, die nach den Wohnungen seiner Oberbeamten führte. Der breite Wassergraben, der am oberen Ende des Parkes entlang lief, durchschnitt auch hier den Wiesengrund, aber während dort eine zierliche Brücke den Uebergang bildete, mußte hier ein einfaches Brett, derb und sicher, aber so schmal, daß nur Einer es passiren konnte, denselben Dienst leisten. Arthur betrat es rasch, ohne zu bemerken, daß ein Anderer zugleich von drüben herkam, und bereits hatte er einige Schritte gethan, als er plötzlich vor Ulrich Hartmann stand, der ihn gleichfalls erst in diesem Augenblicke zu erkennen schien. Der junge Chef blieb stehen, in der Voraussetzung, daß sein Untersteiger zurückgehen und ihn hinüberlassen werde, aber es mußte doch etwas an dem „Provociren“ sein, das der Oberingenieur bemerkt haben wollte; ob Jener wirklich einen Conflict suchte, oder aber nur seiner eigenen trotzigen Natur gehorchte, genug, er blieb unbeweglich stehen und machte keine Miene zu weichen.

„Nun, Hartmann, wollen wir so stehen bleiben?“ sagte Arthur ruhig, nachdem er einige Secunden lang vergebens gewartet. „Das Brett ist zu schmal für Zwei; Einer muß zurück.“

„Muß ich der Eine sein?“ fragte Ulrich scharf.

„Ich dächte doch wohl!“

Hartmann schien eine herausfordernde Antwort auf den Lippen zu haben; aber auf einmal besann er sich. „Ja so, wir sind auf Ihrem Grund und Boden! Das hatte ich vergessen!“

Er ging zurück und ließ Berkow hinüber; als dieser jenseit des Grabens war, hielt er seinen Schritt an.

„Hartmann!“

Der Angeredete, der eben im Begriff war, das Brett zu betreten, wandte sich um.

„Ich hätte Sie in diesen Tagen rufen lassen, hätte ich nicht befürchten müssen, zu Mißdeutungen Anlaß zu geben. Da wir aber einmal hier zusammentreffen – ich möchte Sie sprechen.“

Ein Blick des Triumphes schoß über Ulrich’s Züge hin. Dann nahmen sie wieder ihren gewöhnlichen verschlossenen Ausdruck an.

[254] „Hier auf der Wiese?“

„Der Ort ist gleich; wir sind auch hier allein.“

Ulrich kam langsam näher und stellte sich seinem Chef gegenüber, der an einer der Weiden lehnte, die den Rand des Grabens säumten. Auf der Wiese fingen die Abendnebel an emporzusteigen, und drüben über dem Walde, da wo die Sonne gesunken war, glühte jetzt das Abendroth auf.

Es war ein eigenthümlicher Contrast, die Beiden: – die schlanke, fast zarte Gestalt des vornehm aussehenden jungen Mannes mit dem bleichen Antlitz voll stiller Ruhe, den großen ernsten Augen, aus denen jetzt jenes Leuchten geschwunden war, das sie räthselhaft anziehend machen konnte, und die riesige Figur des Arbeiters, mit dem stolz getragenen blonden Kopfe, mit dem Gesicht, eisern wie seine Muskeln und Sehnen, dem flammenden Blick, der sich mit einer Art wilder Genugthuung in die bleichen Züge seines Gegners bohrte; er ahnte, was dahinter verborgen lag. Der Instinct der Eifersucht hatte ihn sehen und deuten gelehrt, wo sonst Niemand etwas sah, und wenn alle Welt behauptete, daß Arthur Berkow fremd und kalt an seiner schönen Gemahlin vorübergehe und nie das mindeste Interesse für sie gehegt habe, Ulrich wußte, daß man nicht gleichgültig bleiben konnte, wenn man ein Wesen, wie Eugenie Windeg, die Seine nannte, wußte, was es heißt, ein solches Wesen zu verlieren, seit jenem Morgen, wo er unter den Tannen stand und dem davon rollenden Wagen nachsah. Aber mitten durch das Weh der Trennung rang sich in ihm ein stolzer Triumph empor. Eine Frau, die ihren Mann liebt, verläßt ihn nicht in dem Momente, wo Alles um ihn her wankt und bricht, und sie ging von ihm, ging im sicheren Schutze ihres Vaters und Bruders und ließ ihn allein zurück, Allem preisgegeben. Das hatte ihn denn doch getroffen, den stolzen Berkow, der sonst nicht zu treffen war mit Haß und Drohungen, mit der Furcht vor Gewalt und Empörung, vor seinem Ruin selbst, und wenn er seine ganze Umgebung täuschte mit dieser ruhigen Stirn, den Feind konnte er damit nicht täuschen; der Schlag war bis an’s Herz gegangen.

„Ich brauche Ihnen nicht erst zu sagen, was in der letzten Zeit vorgegangen ist,“ begann Arthur, „Sie werden ebenso gut und noch besser darüber unterrichtet sein, als ich es bin. Die übrigen Werke sind Ihrem Beispiele gefolgt; wir gehen allem Anschein nach längeren Conflicten entgegen. Sind Sie Ihrer Cameraden sicher?“

Ulrich stutzte bei der letzten Frage. „Wie meinen Sie das, Herr Berkow?“

„Ich meine, ob wir hier unter uns allein fertig werden können, ohne fremde Einmischung. Auf den anderen Werken können sie es nicht. Von den Eisenhütten hat man sich bereits mit der Bitte um Hülfe nach der Stadt gewendet; Sie sind den dortigen Tumulten ja wohl nicht fremd, also werden Sie wohl am besten wissen, wie nothwendig das war. Ich freilich würde nur im Fall der äußersten Nothwehr zu einem solchen Mittel greifen, aber auch der Fall kann eintreten. Bereits sind mehrere meiner Beamten insultirt worden; man war neulich im Walde nahe daran, auch mich zu insultiren; bauen Sie nicht auf meine Geduld oder auf meine Schwäche! So sehr ich das Aeußerste zu vermeiden wünsche, der Gewalt werde ich mit Gewalt antworten.“

Ulrich hatte schon bei den ersten Worten mit finsterer Ueberraschung aufgeblickt. Er mochte wohl etwas Anderes erwartet haben, als eine solche Erklärung, aber die Ruhe, mit der sie gegeben wurde, nahm ihr alles Herausfordernde und zwang auch den Gegner zur Mäßigung; es klang nur ein leiser Hohn in seiner Stimme, als er erwiderte:

„Das ist mir nichts Neues. Gewalt gegen Gewalt! Ich wußte es von vorn herein, daß wir eines Tages dahin kommen würden.“

Arthur sah ihn fest an. „Und wer trägt die Schuld, wenn wir dahin kommen, der Widerstand der Menge oder der Starrsinn eines Einzigen?“

„Der Starrsinn eines Einzigen! ganz recht, Herr Berkow! Sie wissen, daß es Sie nur ein Wort kostet – und morgen arbeiten Ihre Werke wieder.“

„Und Sie wissen, daß ich dieses Wort nicht sprechen kann, weil es Unmögliches einschließt. An Euch ist es jetzt nachzugeben; ich biete Euch noch einmal die Hand dazu.“

„Wirklich?“ rief der junge Bergmann, diesmal mit ausbrechendem Hohne. „Wohl weil es jetzt überall in der ganzen Provinz losbricht und wir einen Schutz und Hinterhalt an unseren Cameraden haben?“

Berkow richtete sich mit einer raschen Bewegung empor, und jetzt flammte auch sein Auge. „Weil man Euch mit den Waffen zu der Ordnung zwingen wird, die Ihr mit Füßen tretet, und weil ich meinen Leuten das Schicksal ersparen möchte. Lassen Sie den Hohn, Hartmann, an den Sie selbst nicht glauben! Was auch zwischen uns geschehen ist und vielleicht noch geschehen wird, von dem Vorwurfe der Feigheit, denke ich, sprechen wir uns wohl gegenseitig frei.“

Es war wieder jener Ton und Blick wie damals im Conferenzzimmer. Ulrich schaute mit einem Gemisch von Groll und Bewunderung auf seinen jungen Chef, der in solcher Stunde so mit ihm zu sprechen wagte, und er mußte es doch von der Scene im Walde her wissen, was bei ähnlichen Begegnungen zu fürchten war; seine Worte bewiesen ja auch, daß er es sehr gut wußte, und dennoch hatte er heute freiwillig dieses Alleinsein gesucht. Der Park war völlig leer, auf der Wiese kein menschliches Wesen zu erblicken, und die Häuser lagen noch eine ganze Strecke weit entfernt. Keiner von den Beamten hätte es gewagt, mit dem gefürchteten Hartmann so unter vier Augen eine Unterredung zu haben, die leicht verfänglich werden konnte, selbst der kecke Oberingenieur nicht; nur der einst so verachtete Weichling wagte es; ja wohl, von dem Verdachte der Feigheit hatte sein Gegner ihn längst schon freigesprochen.

Arthur schien den Eindruck zu fühlen, den seine Haltung hervorbrachte; er trat einen Schritt näher.

„Sehen Sie denn nicht ein, Hartmann, daß Sie sich für die Zukunft unmöglich machen mit diesem Benehmen?“ fragte er ernst. „Sie glauben vielleicht, daß bei dem endlichen Ausgleiche Ihre Cameraden einen Druck auf mich üben werden? Ich lasse mir keinen Zwang anthun, mein Wort darauf; aber ich achte in Ihnen die tüchtige, wenn auch mißleitete Kraft. Sie hat sich bisher nur zu meinem Schaden kundgegeben, und gerade daran habe ich gesehen, was sie wirken kann, wenn sie sich einst nicht mehr feindselig gegen mich wendet. Geben Sie jetzt der Stimme der Vernunft Gehör, begnügen Sie sich mit der Erreichung des Möglichen – und ich biete Ihnen freiwillig das Bleiben auf den Werken und freie Bahn zum Emporsteigen. Ich weiß, was ich damit wage, wenn ich ein Element wie Sie unter meinen Arbeitern behalte; aber ich werde es wagen, wenn meinem Vertrauen das gleiche entgegenkommt.“

Das Anerbieten selbst war vielleicht schon gewagt genug, einem Manne gegenüber, der gewohnt war, jede Mäßigung als Schwäche aufzufassen; aber Berkow schien sich gerade hier nicht verrechnet zu haben. Zwar antwortete Ulrich nicht; er verrieth auch keine Nachgiebigkeit, aber für eine Natur wie die seinige war es schon genug, daß das Gebotene nicht sofort mit finsterm Mißtrauen zurückgestoßen wurde.

„Vertrauen freilich habe ich bisher vergebens von Euch gefordert,“ fuhr Arthur fort. „Ihr habt es mir bis auf diese Stunde verweigert. Ich bin fremd hier eingetreten; wenn auch nicht dem Orte selbst, meinen Werken und Euch war ich ein Fremder. Ihr seid mir mit einer Kriegserklärung entgegengekommen, ohne auch nur zu fragen, was ich freiwillig ändern oder bessern wolle; Ihr habt mich als Feind empfangen und behandelt und wußtet noch nicht einmal, ob ich Euer Feind sein wollte.“

„Wir sind im Kriege!“ sagte Ulrich kurz. „Da gilt jeder Vortheil.“

Arthur hob das vorhin so blasse Antlitz, das jetzt überfluthet war von dem flammenden Purpur des Abendrothes, dessen Wiederschein sie Beide umleuchtete.

Muß denn Krieg sein zwischen uns? Ich meine nicht den jetzigen Streit, der früher oder später sein Ende erreichen wird; ich meine den geheimen erbitterten Krieg, den Härte und Zwang von der einen Seite und Groll und Haß von der andern endlos schüren und endlos fortspinnen. So ist es gewesen all die Jahre lang, ich weiß es, und so wird es wieder sein, wenn der Zwang allein Euch niederwirft. Wir sollten Frieden machen, ehe sich beide Theile daran verbluten; noch können wir es, noch ist nichts geschehen, was den Riß unheilbar erweitert; in wenig Tagen ist es vielleicht zu spät.“

[255] Die Stimme des jungen Chefs hatte in all ihrer Ruhe etwas mächtig Ergreifendes, und man sah an der heftigen Bewegung in Hartmann’s Zügen, daß er nicht unempfindlich dagegen blieb. Der trotzige Bergmann, der, je mehr er gewohnt war, seines Gleichen zu beherrschen, um so tiefer den verletzenden Hochmuth oder die schlecht verhehlte Furcht von Höherstehenden empfand, sah sich hier auf eine Stufe gestellt, die ihm noch Niemand angewiesen. Er wußte sehr gut, daß Arthur mit keinem seiner Untergebenen, vielleicht mit keinem seiner Beamten so gesprochen hätte, daß er diese Art der Verhandlung einzig seiner Persönlichkeit dankte. Der Chef sprach zu ihm wie der Mann zum Manne, in einer Angelegenheit, von der das Wohl und Wehe Beider abhängt, und er hätte wohl auch gesiegt damit, wäre er nur nicht gerade Arthur Berkow gewesen. Ulrich war eine viel zu unbändige, viel zu leidenschaftliche Natur, um da Gerechtigkeit üben zu können, wo er mit ganzer Seele haßte.

„Es ist uns schwer genug gemacht worden mit dem Vertrauen,“ sagte er bitter. „Ihr Vater hat uns so viel davon genommen all die Jahre lang, daß für den Sohn nichts mehr übrig ist. Ich glaube Ihnen, Herr Berkow, daß Ihr Anerbieten nicht von der Furcht herkam; bei einem Andern würde ich das nicht glauben; Ihnen glaube ich es! Aber da wir einmal dabei sind, uns allein zu helfen, so denke ich, wir fechten es auch aus bis zuletzt. So oder so – Einer muß am Ende Recht behalten.“

„Und Ihre Cameraden? Wollen Sie all die Sorge, all den Mangel, all das Unglück vielleicht auf sich nehmen, das dies ‚Ausfechten bis zuletzt‘ mit sich führt?“

„Ich kann’s nicht ändern! Für sie geschieht es.“

„Nein, für sie geschieht es nicht!“ sagte Arthur fest, „sondern einzig für den Ehrgeiz ihres Führers, der die Herrschaft an sich reißen möchte, um ihnen dann ein schlimmerer Despot zu werden, als die gehaßten Herren es je gewesen sind. Wenn Sie noch an Ihre sogenannte Mission glauben, Hartmann, mich täuschen Sie nicht mehr damit, seit ich sehe, daß Sie Alles, wozu ich mich bereit erkläre, um die Lage Ihrer Cameraden zu bessern, als werthlos bei Seite werfen, um des einen Zieles willen, das ich nur zu gut kenne. Sie wollen mich und die Beamten künftig machtlos wissen, Beschlüssen und Auflehnungen gegenüber, die Sie allein dictiren würden; Sie wollen, sobald Sie im Namen einer blind gehorchenden Menge sprechen, alle Rechte des Herrn sich anmaßen und mir mit dem Namen nur die Pflichten desselben lassen; Sie wollen nicht Anerkennung Ihrer Partei, sondern Unterdrückung jeder anderen; das ist’s, warum Sie Alles auf’s Spiel setzen – Sie werden es verlieren!“

Die Sprache war kühn genug einem solchen Manne gegenüber, und Ulrich fuhr auch dabei in gereizter Wuth auf.

„Nun, wenn Sie es denn so genau wissen, Herr Berkow, meinetwegen! Sie haben ganz Recht, es handelt sich nicht blos um den höheren Lohn, um das Bischen Sicherheit in den Schachten. Das mag für die genug sein, die sich nur für Weib und Kinder quälen, und nichts weiter kennen ihr Lebelang; die Muthigen unter uns wollen mehr. Die Zügel wollen wir in Händen haben; respectiren soll man uns als Gleichberechtigte! Das mag sich freilich schlecht genug lernen für die unumschränkten Herren, aber jetzt sind wir an der Reihe. Wir haben endlich begriffen, daß unsere Hände es sind, die Euch Alles erringen, wovon Ihr allein die Früchte genießt. Ihr habt unsere Arme lange genug zur Sclavenarbeit gebraucht; jetzt sollt Ihr sie fühlen lernen!“

Die Worte wurden mit einer so furchtbaren Heftigkeit herausgeschleudert, als sei jedes derselben schon eine Waffe, zum Treffen und Tödten bestimmt. Die ganze maßlose Leidenschaftlichkeit Ulrich’s brach wieder hervor, und die Wuth, die einer ganzen Classe galt, wendete sich im Augenblick gegen den Einen, der gerade vor ihm stand. Die Lage dieses Einen war bedenklich genug, diesem Manne gegenüber, der mit geschwollenen Stirnadern und geballten Fäusten bereit schien, seinen Worten die That folgen zu lassen.

Aber Arthur zuckte nicht einmal mit der Wimper und wich auch keinen Schritt aus der gefährlichen Nähe. Er stand wieder da mit jener Haltung kalter, stolzer Ruhe, das große Auge fest auf den Gegner gerichtet, als habe er mit diesem Auge allein die Macht, ihn zu zwingen.

„Ich glaube, Hartmann, Sie werden vorläufig die Zügel noch den Händen lassen müssen, die gewohnt und im Stande sind, sie zu regieren. Auch das will gelernt sein! Mit roher Gewalt stiftet man Empörungen an und reißt Schöpfungen nieder, aber man erbaut keine neuen damit. Versucht es, die Werke hier mit Euern Händen allein zu leiten, wenn das so sehr gehaßte Element fehlt, das diesen Händen die Richtung, das den Maschinen die Triebkraft und der Arbeit den Geist giebt und das für jetzt noch uns gehört. Stellt Euch dem ebenbürtig an die Seite und man wird Euch die Gleichberechtigung nicht länger versagen. Was Ihr jetzt in die Wagschale zu werfen, habt, die Massen allein, das sichert Euch noch nicht die Herrschaft!“

Ulrich wollte antworten, aber noch erstickte die Leidenschaft seine Stimme. Arthur warf einen Blick nach dem Walde hinüber, wo die Röthe jetzt dunkler und dunkler glühte, und wandte sich dann zum Gehen.

„Hätte ich vorher gewußt, daß jedes Wort der Versöhnung vergebens sein würde, ich hätte diese Unterredung nicht gesucht. Ich bot Ihnen den Frieden und das Bleiben auf den Werken; das Opfer hätte vielleicht kein Anderer gebracht und ich habe mich schwer genug dazu zwingen müssen. Auch das wird mit Haß und Hohn zurückgestoßen. Sie wollen mein Feind sein – nun so seien Sie es denn, aber nehmen Sie auch die Verantwortung für Alles, was jetzt geschieht, ich habe umsonst versucht, es zu hemmen! Wie der Streit selbst auch jetzt ausfallen mag – wir Beide sind zu Ende mit einander.“

„Glück auf!“ rief ihm Hartmann dumpf nach. Es klang wie schneidender Hohn, und das war es wohl auch in diesem Augenblick. Der junge Chef schien es nicht mehr zu hören. Er war bereits einige Schritte fort und schlug jetzt die Richtung nach den Häusern ein.

Ulrich blieb zurück; über seinem Haupte schwankten die Weidenzweige im Abendwinde auf und nieder. Auf der Wiese wallte weißer Duft, und drüben über den Tannen glänzte es noch einmal auf, unheimlich und roth wie Blut, um dann langsam zu verblassen. Der junge Bergmann starrte unbeweglich in den flammenden Abendhimmel; der unheimliche Schein lag auch auf seinem Antlitz.

„Wir sind zu Ende? Nicht doch, Herr Arthur Berkow, wir fangen jetzt erst an! Ich habe nur die Feigheit nicht eingestehen wollen, die mich immer noch zurückhielt; ich wagte mich nicht an ihn, so lange sie an seiner Seite war. Jetzt ist die Bahn frei – jetzt wollen wir abrechnen!“




In der Residenz wogte das ganze buntbewegte Treiben eines Sommernachmittages. In den Hauptstraßen drängte sich die Menge der Spaziergänger, Geschäftsleute und Arbeiter in ewig wechselndem Gewühl; dazwischen tönte endloser Lärm und endloses Wagengerassel; von allen Seiten wirbelte der Staub auf, und die heißen Strahlen der Nachmittagssonne, die schon anfingen etwas schräg zu fallen, beleuchteten das Ganze.

Von den Fenstern des Windeg’schen Hauses, das in einer dieser Hauptstraßen lag, schaute eine junge Dame hinab auf dieses Getümmel, das ihr beinahe fremd geworden war in der Einsamkeit ihrer Waldberge. Eugenie war in das väterliche Haus zurückgekehrt, und damit schien die kurze Zeit ihrer Ehe ausgelöscht und vergessen. Im Familienkreise wurde dieser Punkt nur höchst selten und nur dann berührt, wenn von der bevorstehenden Scheidung die Rede war. Die Söhne folgten darin dem Beispiel ihres Vaters, der sich einfach vorgenommen zu haben schien, jene Erinnerung todtzuschweigen, in seinem Hause wenigstens, während er zugleich in der Stille die nöthigen Schritte zur Einleitung des gerichtlichen Scheidungsprocesses that. Bis dahin sollte die Sache der Welt gegenüber noch nicht berührt werden. Die Dienerschaft und die wenigen um diese Zeit noch in der Residenz anwesenden Bekannten wußten nur von einem vorübergehenden Besuche der jungen Frau bei den Ihrigen, der durch die Verhältnisse auf den Gütern ihres Mannes veranlaßt und geboten war.

Eugenie bewohnte wieder die Zimmer, die sie vor ihrer Vermählung inne gehabt hatte; in der Einrichtung derselben war nichts verändert worden, und wenn sie wie früher am Erkerfenster stand, so begegnete ihr Blick auch draußen den allbekannten [256] Gegenständen, als sei sie nie fort gewesen. Die letzten drei Monate sollten und konnten für sie ja auch nichts Anderes sein, als ein schwerer banger Traum, aus dem sie jetzt erwachte zu der alten Freiheit ihrer Mädchenjahre, und zu einer besseren, als die ehemalige, denn jetzt lauerte das Gespenst der Sorge nicht mehr drohend auf jedem Schritte, den sie und die Ihrigen thaten; jetzt brachte nicht jeder neue Tag wieder neue Demüthigungen und neue Opfer; jetzt wurde nicht jede Stunde des Familienlebens vergiftet durch die Furcht vor der vielleicht morgen schon drohenden Schande des Ruins und vor all seinen furchtbaren Folgen. Das alte edle Geschlecht der Windeg konnte wieder auftreten im vollen Glanze der Macht und des Reichthums. Wer die Rabenau’schen Güter besaß, war reich genug, alle früheren Verluste damit zu decken und sich und den Seinen eine glänzende Zukunft zu bereiten.

Freilich ein Schatten blieb noch immer zurück in all dem neuen Sonnenschein, der dem Baron und auch einst Eugenien so sehr verhaßte bürgerliche Name; aber auch das konnte nur eine Frage der Zeit sein. Das schöne, geistvolle Mädchen hatte schon in ihren eigenen Kreisen manchen Verehrer gefunden, der wohl früher oder später zum Bewerber geworden wäre, trotz der offenkundigen Verhältnisse ihres Vaters. Eugenie Windeg war ganz danach, es einen Mann vergessen zu lassen, daß er die Tochter einer armen und verschuldeten Familie in sein Haus führte. Der alte Berkow hatte damals mit roher Hand in all jene Pläne und Anknüpfungen gegriffen und den Preis seinem eigenen Sohne zugewandt. Er hatte die Macht, zu fordern, wo Andere erst werben mußten, und wußte sie zu gebrauchen. Jetzt aber wurde Eugenie wieder frei; der nunmehrige Majoratsherr konnte ihr eine reiche Mitgift sichern; er kannte mehr als einen Standesgenossen, der gern, und nicht blos aus Berechnung, bereit war, die einst zerrissenen Fäden wieder anzuknüpfen und mit dem Namen auch die letzte Erinnerung an jene Heirath zu verwischen, indem er durch eine ebenbürtige Vermählung die junge Baroneß wieder auf die gleiche, wenn nicht noch auf eine höhere Stufe erhob, als die war, auf welche die Geburt sie gestellt hatte. Dann war der letzte Flecken getilgt von dem Wappenschilde der Windeg und es strahlte wieder im hellsten Glanze.

Aber die junge Frau sah gar nicht so ruhig und hoffnungsfreudig aus, wie man es nach all diesem Sonnenschein des Glückes doch hätte erwarten sollen. Schon wochenlang war sie im väterlichen Hause, und noch immer wollte die Farbe nicht auf ihre Wangen zurückkehren und der Mund das Lächeln nicht wieder lernen. Sie blieb hier, umgeben von all der Liebe und Sorgfalt der Ihrigen, so bleich und still, wie sie nur je an der Seite des ihr aufgedrungenen Gatten gewesen, und auch jetzt schaute sie hinunter auf das Gewühl zu ihren Füßen, ohne daß es auch nur einer der wechselnden Gestalten in der auf- und abfluthenden Menge gelang, ihre Aufmerksamkeit für einen Moment zu fesseln. Es war jener leere, träumende Blick, dem die nächste Umgebung völlig verschwindet, und der statt dessen etwas ganz Anderes an einem ganz anderen Orte sieht. „In Eurer Residenz verlernt man ja Alles, sogar die Sehnsucht nach der Waldeinsamkeit!“ Das schien hier nicht zuzutreffen. Eugenie sah aus, als sehne sie sich recht schmerzlich danach.

Der Baron pflegte vor dem Spazierritt, den er gewöhnlich gegen Abend unternahm, stets auf eine halbe Stunde zu seiner Tochter zu kommen; auch heute geschah das, aber heut war seine Miene wichtiger als sonst und er hielt ein Papier in der Hand.

„Ich muß Dich diesmal mit etwas Geschäftlichem behelligen, mein Kind,“ begann er nach kurzer Begrüßung. „Ich habe soeben eine Conferenz mit unserem Rechtsanwalt gehabt, die über Erwarten befriedigend ausgefallen ist. Der Vertreter der Gegenpartei ist in der That bevollmächtigt, all unseren Wünschen entgegenzukommen; die Herren haben sich bereits über die nothwendigen Schritte geeinigt, und die ganze Angelegenheit wird sich voraussichtlich weit schneller und leichter erledigen lassen, als wir zu hoffen wagten. Ich bitte Dich, dies Blatt zu unterschreiben.“

Er hielt ihr das Papier hin; die junge Frau schien hastig danach greifen zu wollen, aber auf einmal ließ sie die ausgestreckte Hand wieder sinken.

„Ich soll –?“

„Nun, Deinen Namen unter diese Schrift setzen, weiter nichts,“ sagte der Baron ruhig, indem er das Blatt auf den Schreibtisch legte und ihr einen Sessel heranschob. Eugenie zögerte.

„Es ist ein Actenstück – soll ich es nicht zuvor durchlesen?“

Windeg lächelte ein wenig. „Wenn es ein Document von Wichtigkeit wäre, so hätten wir es Dir selbstverständlich zur Durchsicht vorgelegt; es handelt sich hier aber nur um den Scheidungsantrag, den der Justizrath in Deinem Namen stellen wird und wozu er Deiner Unterschrift bedarf – eine bloße Förmlichkeit zur Einleitung des Processes. Die Details folgen erst später. Wenn Du indessen den Wortlaut kennen zu lernen wünschest –“

„Nein, nein!“ unterbrach ihn die junge Frau abwehrend, „dessen bedarf es nicht. Ich werde unterschreiben; aber es muß doch wohl nicht gerade jetzt in dieser Stunde sein; ich bin augenblicklich nicht in der Stimmung dazu.“

Der Baron sah sie höchst befremdet an. „Stimmung? Es handelt sich hier nur um eine Namensunterschrift; sie wird in einer Minute vollzogen sein, und ich habe dem Justizrathe versprochen, ihm das Blatt noch heute wieder zuzusenden, da er es morgen einzureichen beabsichtigt.“

„Nun denn, so werde ich es Dir heute Abend noch mit meiner Unterschrift bringen. Nur in diesem Augenblicke nicht; ich kann es nicht.“

Der Ton der jungen Frau war seltsam gepreßt, beinahe angstvoll. Ihr Vater schüttelte etwas unwillig das Haupt.

„Das ist eine seltsame Laune, Eugenie, die ich nicht begreife. Warum willst Du diesen einfachen Federzug nicht gleich jetzt in meiner Gegenwart thun? Indessen, wenn Du darauf bestehst – ich rechne darauf, daß Du mir heute Abend beim Thee das Blatt zurückgiebst; es ist dann noch Zeit genug, es fortzusenden.“

Er bemerkte nicht das tiefe, erleichternde Aufathmen seiner Tochter bei den letzten Worten, sondern trat an den Erker und blickte gleichfalls hinunter auf die Straße.

„Wird Curt nicht zu mir kommen?“ fragte Eugenie nach einer augenblicklichen Pause. „Ich habe ihn nur erst heute Mittag bei Tische gesehen.“

„Er wird noch müde sein von seiner Reise und wohl etwas ausgeruht haben. – Ah, da bist Du ja, Curt, soeben sprechen wir von Dir.“

Der junge Baron, der in diesem Augenblicke eintrat, mußte wohl darauf gerechnet haben, die Schwester allein zu finden, denn er sagte mit offenbarer und nicht ganz angenehmer Ueberraschung:

„Du hier, Papa? Ich hörte doch, Du hättest drüben in der Bibliothek eine Conferenz mit unserem Rechtsanwalte.“

„Wir sind bereits zu Ende, wie Du siehst.“

Curt schien der besagten Conferenz fast eine längere Dauer gewünscht zu haben, indeß er erwiderte nichts, sondern ging zu seiner Schwester und nahm vertraulich an ihrer Seite Platz. Er war in der That erst heute Mittag aus der Provinz eingetroffen; ein eigenthümlicher, dem Baron im höchsten Grade fataler Zufall hatte es gewollt, daß das Regiment, bei welchem sein ältester Sohn stand, gerade jetzt in die Stadt verlegt wurde, die den Berkow’schen Besitzungen zunächst lag, gerade jetzt, wo man alle Beziehungen dort abgebrochen hatte! Von einem längeren Urlaube des jungen Officiers konnte nicht die Rede sein, da die soeben ausbrechende Bewegung der Arbeiter in dortiger Gegend die ganze Provinz in Aufregung versetzte. Es standen Unruhen und demzufolge das Einschreiten des Militärs zu erwarten – da konnte sich Curt dem Dienste nicht entziehen. Er reiste also ab, mit der gemessenen Weisung des Vaters, in seiner neuen Garnison, wo man natürlich Berkow sehr genau kannte, die bevorstehende Scheidung für jetzt noch zu verschweigen. Der Baron hielt an der Taktik fest, der Welt erst die Thatsache gegenüberzustellen, und im Uebrigen hegte er die stillschweigende Voraussetzung, daß sein Sohn jede persönliche Berührung mit dem einstigen Verwandten möglichst vermeiden werde.

(Fortsetzung folgt.)




[257] 

Wieder eine schlechte Oster-Censur!

[258]
Die Unfälle auf Eisenbahnen und ihre Ursachen.
Von M. M. von Weber.
I.

Es giebt wenige Erscheinungen im Völkerleben, welche so allgemeines und lebendiges Interesse erwecken, als die Unfälle auf Eisenbahnen.

Diese ernsten Vorkommnisse haben immer etwas Dramatisches, spielen sich häufig vor dem mehr oder weniger großen Publicum eines Eisenbahnzuges ab, und jeder glücklich davongekommene Zuschauer hat dabei das unbehagliche Gefühl, vielleicht bei nächster Gelegenheit selbst leidender Acteur bei solcher Scene sein zu müssen, während Schreck und Angst die Empfänglichkeit für den erschütternden Eindruck der oft überaus düster-grandiösen Erscheinung eines verunglückten Eisenbahnzuges vermehren. Der Anblick dieser entweder tief in die Erde gewühlten oder weit ab vom Gleise, auf der Seite, oder gar mit nach oben gekehrten Rädern auf dem Rücken liegenden Locomotiven, die, wie im Todeskampfe, ihren glühenden Athem stöhnend ausgestoßen; der Anblick dieser oft bis zu ihrer zwei- und dreifachen Höhe übereinander und ineinander geschobenen Wagentrümmer, die wie mit Mauerbrechern zusammengekeilt erscheinen; der Anblick endlich dieser blassen Menschen, die das Chaos umstehen – Alles das ist wohl geeignet, auch in einem festen Herzen einen mächtigen Eindruck, und in der Erinnerung ein leicht über die Wirklichkeit hinaus sich vergrößerndes, schwer verwischbares Bild zurückzulassen. Hier sehen wir die Hälfte eines Güterwagens in einem Wagen dritter Classe stecken, dort den Puffer einer Lowry, mit dem Sammtfetzen eines Saloncoupés phantastisch drapirt, zum Dache einer ersten Classe hinausragen, hier die Räder eines Personenwagens unbegreiflicher Weise im Innern eines Gepäckwagens stecken, dort ein Quader, von einem der letzten Stein-Lastwagen dahergeschleudert, sich auf zertrümmerten Sammtfauteuils breit machen, zerschmetterte Balken, gebogene Eisenstangen, wie Strohhalme zerknickte, mannsschenkelstarke Stahlachsen aus dem Chaos herausstarren, geplatzte Koffer, Säcke, aufgesprungene Kisten mit zerschmettertem Porcellan oder Glas den Boden um den Trümmerhaufen bedecken, unheimlich aussehende Rothweinbäche aus zerdrückten Fässern hervorrieseln. Glücks genug, wenn nicht noch das Elend der Verbandsstätte, der Jammer Verwaister oder die entsetzliche Spannung dazu kommt, die sich mit dem Hervorholen von Gefährdeten oder gar Verwundeten aus den ungeheuern Lasten der Haufen von Holz- und Eisentrümmern verknüpft, wo an der athemlosesten Eile Menschenleben hängen, und doch eine nicht mit höchster Vorsicht und Besonnenheit angesetzte Hebewinde einen neuen, alles in seinem Innern Befindliche zerquetschenden Zusammensturz des Trümmerhaufens herbeiführen kann.

Während sich nun einerseits, im Angesicht dieses düstern Bildes, die ganze Kraft der Menschentreue und des Pflichtbewußtseins in jenen entschlossenen schmutz- und rußbedeckten Männern zeigt, die im Augenblicke schon, wo sie kaum selbst dem Tode entgingen, ernst und besonnen Winde und Hebel ansetzen, Meißel und Schraubschlüssel handhaben und sich kaum Zeit lassen, von der schreckensbleichen Stirn den Schweiß oder auch hier und da vielleicht einen Blutstropfen abzuwischen, da es gilt, Leben oder Eigenthum zu retten, oder ihre Bahn wieder frei zu machen, wird andererseits – natürlich und daher entschuldbar – die menschliche Schwäche laut.

Die verletzte, fieberisch unklar erregte Menschennatur fordert ein Sühnopfer, und schnell bildet sich unter denen, welche die Trümmerstätte umstehen, die Meinung über die Ursache des Unfalles und häuft sich der Zorn auf den Armen, den, nach der Ansicht dieser Umstehenden, die unumstößlich bewiesene Schuld der Katastrophe trifft. Wenn sie zu Gericht zu sitzen hätten, so gäbe es nur Lynchjustiz für sie, und doch würden selbst die, welche der Unfall selbst mit betraf, die den ganzen Verlauf mit ansahen, sofort nach demselben dessen ganze Scenerie klar erfaßten, in neunundneunzig unter hundert Fällen einen Justizmord begehen – wenn sie nicht erfahrene, besonnene Eisenbahntechniker sind – und diese würden wieder in neunundneunzig unter hundert Fällen nicht sofort urtheilen.

Das Eisenbahnwesen theilt das Schicksal der Kunst, daß jeder es verstehen, jeder es regieren zu können glaubt. Werden doch Eisenbahn- wie Theater-Regenten meist aus Holz geschnitzt, das möglichst weit vom Schauplatz ihrer Thätigkeit entfernt gewachsen ist; aber fast über nichts im Bereiche des Eisenbahnwesens herrschen so wenig reife Anschauungen, selbst unter Gebildeten, als über das Maß der Sicherheit oder Unsicherheit des Eisenhahnverkehrs und die Momente des Betriebes, welche zur Vermehrung oder Verminderung desselben sachgemäß beitragen.

In Nachstehendem soll der Versuch gemacht werden, an der Hand der zur Zahl gewordenen Erfahrung, der Statistik, auf das Hauptsächliche von Dem hinzuweisen, worauf es dabei wirklich ankommt.

Die Statistik ist aber ein scharfes Werkzeug, mit dem der Weise sehr Nützliches bilden kann, der Unweise aber sich selbst, und der Unredliche, was schlimmer ist, die Wahrheit verletzt. So haben die officiellen Rechenschaftsberichte der Eisenbahnverwaltungen den Begriff der „Selbstverschuldung“ in die Zahlennachweise der Unfälle eingeführt, und die kritiklose Statistik hat es nachgebetet. Damit ist das Mäntelchen fertig, das sich jeder administrativen und technischen Mißwirthschaft in Bezug auf Sicherheit des Betriebes umhängen läßt.

Fast immer wird eine redlich geführte Untersuchung wahrheitsgemäß nachweisen, ob ein Passagier durch seine eigene Verschuldung oder durch die der Bahnverwaltung verunglückte. Es ist nicht seines Amtes, beim Eisenbahnreisen kühn zu sein und zu wagen. Ganz anders verhält es sich aber mit dem Verschulden der Beamten und Arbeiter. Dieses stellt sich nur zu häufig da heraus, wo sich, im Grunde genommen, lediglich Schuld der Verwaltung zeigen sollte.

Wenn ungeheure Dimensionen und unpraktische Anlagen der Stationen ein so complicirtes, unübersichtliches Gebahren beim Arrangiren der Züge, ein so rasches Durcheinanderschieben von Hunderten von Wagen mit mehreren Maschinen gleichzeitig aus verschiedenen Richtungen her, ein gleichzeitiges Signalisiren mit Pfeifen, Fahnen, Hörnern etc. an allen Seiten bedingen, so daß das verwirrte, vielfach gefährdete untere Personal fortwährend kühn Leib und Leben daran setzen muß, damit nur überhaupt der Dienst prompt und stramm gethan werde, die Züge rechtzeitig abgehen können – und ein Mann wird dabei zwischen den Puffern erdrückt oder todtgefahren – Selbstverschuldung!

Wenn einem Weichensteller weit auseinander liegende Weichen zu bedienen gegeben werden, so daß er bei Nacht und Nebel, Schnee und Glatteis zwischen rasch bewegten Wagen, eilenden Maschinen hindurch, über Gleise hin, von der einen Seite zur andern springen muß, und er gleitet aus, fällt und wird getödtet oder verkrüppelt – Selbstverschuldung, Unvorsichtigkeit!

Wenn absurde Glockensignale, deren zahlreiche Töne- und Pausengruppen fast das wache Ohr eines Mozart zu ihrer Unterscheidung bedürfen, von einem schlaftrunken auftaumelnden Wächter im Wintersturmgeheul und Regenplätschern mißverstanden werden und er kommt zu Schaden – Unaufmerksamkeit, Selbstverschulden!

Wenn kauderwelsch gefaßte Instructionen, unklare, widersprechende Ordres, undeutliche Zeichen den schwer beweglichen Sinn des schlichten Mannes verwirren und er wird zum Krüppel gefahren – Selbstverschulden, Unaufmerksamkeit!

Wenn für den vom übermäßigen Dienste todtmüden, auf der Locomotive stehenden Führer, den halberstarrten Schaffner, den durchnäßten Weichensteller, der seit Tagen nur stundenweise geschlafen hat, Wirklichkeit und Halbtraum sich in sonderbaren Hallucinationen durcheinander schieben und er rechts statt links schreitet, nach oben statt nach unten greift – und er verunglückt – Selbstverschulden, Schlaftrunkenheit! Wehe ihm, wenn er etwa, zur Belebung seiner gesunkenen Lebensgeister, vielleicht nur um seinen Dienst treu leisten zu können, einen Tropfen geistigen Getränkes getrunken, das, wie bekannt, drastisch auf den Müden wirkt! Wird er dann schwer verletzt – Selbstverschulden! – geheilt, wird er von Amt und Brod gejagt.

Eine dreißigjährige Eisenbahnpraxis hat den Verfasser mit der Ueberzeugung gesättigt, daß die Disciplin im Eisenbahndienste eine eiserne, unerbittlich arbeitende Maschinerie sein muß, die jeden wirklich Schuldigen erdrückt, aber ein kategorischer [259] Imperativ giebt auch den Bahnverwaltungen auf, durch ihre technischen und administrativen Einrichtungen dafür zu sorgen, daß der Mechanismus der Disciplin nicht zur Fußangel werde, in der auch der Beste und Treueste sich einmal fangen kann, wahrscheinlich einmal fangen wird. Unzweifelhaft aber ist es, daß die reine Wissenschaft, welche die Thatsachen zu Ideen läutert, die Statistik, unrein beeinflußbare Begriffe, wie den der „Selbstverschuldung der Functionäre“, von ihren Folien fern halten soll.

Für sie giebt es nur Verunglückte, die bei dem Eisenbahnbetriebe oder durch denselben zu Schaden kommen. Von Liebedienerei für, oder Uebelwollen gegen die Verwaltungen, von Wissen und Wollen junger die Untersuchung führender Laien im Eisenbahnwesen kann sie sich dieselben nicht willkürlich rubiciren lassen.

Und sie hat dabei den Trost, daß in der Praxis das zu viel Verzeihen hier gegen das zu viel Beschuldigen dort, die stumpfere Intelligenz in diesem Beamtenkreise gegen die überspitzige in jenem sich heilsam ausgleichen und die nicht kritisirte Zahl zuletzt immer die richtigste und gerechteste ist.

II.

Fünf Elemente sind es, die hauptsächlich auf die Sicherheit des Betriebes der Eisenbahnen Einflüsse üben.

Selbstverständlich zunächst die Zweckmäßigkeit und Tüchtigkeit der Construction und Ausführung, sowie der Erhaltung der Bahn und ihrer Betriebsmittel; sodann die Schnelligkeit der Fahrt; ferner die Dichte des Verkehrs und die technische Form desselben; die Construction der Stationen, und endlich das System der Administration und der Betriebsleitung, die Verständigung durch Telegraphen und Signale eingeschlossen.

Den Ermittelungen über das Maß dieser Einflüsse werden wir die Eisenbahnstationen von England, Preußen und Oesterreich vom Jahre 1869 zum Grunde legen, als eines vom Kriege nicht beeinflußten, in Bezug auf Verkehr und Unfälle ungefähr mittleren Jahres und des letzten, über welches die veröffentlichte österreichische Eisenbahnstatistik Auskunft giebt.

Von diesen drei Elaboraten verdient nur das preußische den Namen einer organisch geordneten, der wissenschaftlichen Praxis des Eisenbahnwesens wirklich förderlichen Statistik.


Ueber die Einflüsse des ersten der oben erwähnten Elemente ist kein Wort zu verlieren; selbstverständlich ist eine gut gebaute und erhaltene Bahn, mit guten Betriebsmitteln befahren, sicherer als eine andere, der diese Eigenschaften mangeln. Hingegen sind die im Publicum überaus verbreiteten irrigen Ansichten über die Gefahren, welche aus vermehrter Fahrgeschwindigkeit erwachsen, zunächst zu berichtigen.

Schnellfahren ist nur da gefährlich, wo es auf nicht dafür construirten Bahnen geschieht.

Ein Blick auf die Statistik der erwähnten Länder wird dies lehren. Es waren im Jahre 1869 im Betrieb:

in England 3331 geographische Meilen Eisenbahnen
in Preußen 1370 " " "
in Oesterreich 1056 " " "

Auf diesen Bahnen fuhren:

in England 312 Millonen Menschen
in Preußen 62 " "
in Oesterreich 18 " "

das heißt: auf derselben Wegstrecke bewegten sich in England 41/2 Mal, in Preußen 23/4 Mal so viel Passagiere als in Oesterreich.

Bei diesen Völkerwanderungen kamen zu Schaden, theils durch Tödtung, theils durch Verwundung:

in England 1525 Menschen
in Preußen 782 "
in Oesterreich 412 "

das heißt: auf jede Million beförderte Passagiere wurden durch den Betrieb beschädigt

in England ca. 5 Menschen
in Preußen ca. 12 "
in Oesterreich ca. 23 "

Zur Beruhigung unserer eisenbahnreisenden deutschen Leser müssen wir hier einschalten, daß sich unter diesen großen Zahlen zu Schaden Gekommener in Deutschland und Oesterreich nur ein sehr keiner Procentsätze von ihresgleichen, das heißt von Passagieren befinden. Es wurden deren

in Preußen 4 getödtet, 17 verletzt;
in Oesterreich 3 " 17 "
in England 39 " 1043 "

das heißt: es kam zu Schaden ein Passagier

in Preußen von 3 Millionen Passagieren,
in Oesterreich " 0,9 " "
in England " 0,3 " "

sodaß die Sicherheit für die Passagiere in Preußen 10 Mal größer als in England, 2,7 Mal größer als in Oesterreich war.[1] Die erstgenannten Zahlen umfassen aber auch Beamte, Arbeiter, solche, die beim Ueberschreiten der Bahn getödtet wurden, Selbstmörder etc.

Wir bemerken indeß ganz ausdrücklich, daß unsere Betrachtungen der Sicherheit des Eisenbahnbetriebes im Allgemeinen nicht der Sicherheit der Passagiere allein gelten, daß wir unter Sicherheit eines Eisenbahnbetriebes die Garantien gegen Unfälle verstehen, die er allen Menschen, die mit ihm in Berührung zu kommen haben, gewährt, und daß uns daher der Betrieb derjenigen Eisenbahn als der bestorganisirte und sicherste erscheint, wo bei gleicher Leistung die wenigsten Menschen überhaupt zu Schaden kommen, gleichviel ob dies Passagiere erster Classe oder Weichensteller sind.

Man hat wohl den Tod des Eisenbahnbeamten im Dienste mit dem des Soldaten auf dem Felde der Ehre vergleichen wollen und behauptet, daß der Functionär für die Sicherheit des Passagiers sich opfern müsse. Der Vergleich ist uncorrect, die Behauptung nur halb richtig.

Wie der Soldat für hohe menschliche Güter, Freiheit und Vaterland, zu sterben, ist im höchsten Grade manneswürdig; durch ein falsches Signal, eine unklare Instruction, eine falsche Weichenstellung zu Grunde gehen, ist ein Elend. Auch liegt es nicht im Amte des Eisenbahnbeamten, zu sterben, und hinter seinen Wunden stehen nicht der Ruhm und das eiserne Kreuz, sondern oft Untersuchung, Entlassung, wenn nicht Schlimmeres.

Wenn es gilt, für die Rettung eines Passagiers einzutreten, hat noch kein wackerer Eisenbahnbeamter gezaudert, sich selbst in die Schanze zu schlagen; aber durch das Opfer derjenigen Leute, die auf übel angelegten Stationen zwischen Puffern erdrückt, in Schlaftrunkenheit äußerster Ermüdung überfahren wurden, die sich in complicirten Signalen irrten, beim Billetcoupiren von den Wagentritten fielen etc., ist noch keinem Passagier das Leben gerettet worden. Für sehr viele dieser Opfer haben Unverstand, Geistesträgheit und Schlendrian in der Administration vor dem Gerichte der Menschlichkeit Rechenschaft abzulegen.

Sehen wir nun, welchen Theil der Schuld an den oben aufgeführten Unfällen die Fahrschnelligkeit in den verschiedenen Ländern trug.

Es wurden 1869 expedirt in runden Zahlen.

in England 3 Millionen Züge, davon 600,000 Schnellzüge
in Preußen 900,000 Züge, davon 64,000 Schnellzüge;
in Oesterreich 200,000 Züge, davon 8058 Schnellzüge.

Die Fahrgeschwindigkeit ist durchschnittlich.

in England für Schnellzüge 6,5 Meilen,
" " " für alle Züge 5,1 "
in Preußen für Schnellzüge 6,0 Meilen,
" " " für alle Züge 4,1 "
in Oesterreich für Schnellzüge 5,2 Meilen,
" " " für alle Züge 5,2 "

Die Gesammtgeschwindigkeit der Bewegung verhält sich daher in Oesterreich, Preußen und England wie 1 : 7,2 und 24,6, während die Zahlen der in diesen Ländern getödteten Passagiere sich wie 1 : 1,3 und 13 und die der Verletzten wie 1 : 1 und 61 verhalten. Die Gesammtzahlen aller Verletzungen und Tödtungen in jenen Ländern, die der Beamten und Arbeiter mit inbegriffen, [260] verhalten sich wie 1 : 1,9 und 3,7. Es geht aus der Vergleichung dieser Zahlen bis zur Evidenz hervor, daß die Gefährlichkeit der Eisenbahnfahrt durchaus nicht im Verhältniß zu der Schnelligkeit derselben steht. Die Schnelligkeit wird in der That nur da verhängnißvoll, wo sie zu groß für die Construction und den Dienstorganismus einer Bahn ist.

Unter Dichte des Verkehrs einer Eisenbahn versteht man die Häufigkeit, mit der jeder Theil derselben von Zügen befahren wird, unter Form des Verkehrs die Art, in der dies geschieht.

Der Verkehr zweier Bahnen kann, obgleich von gleicher Dichte, doch von sehr verschiedener Gefährlichkeit sein, wenn die Form der beiden verschieden ist.

Die Dichte würde z. B., obwohl vielleicht sehr groß, doch ohne alle Gefahr sein, wenn sich alle Züge auf einer Bahn mit gleicher Geschwindigkeit bewegten; hingegen kann ein nicht sehr dichter Verkehr sehr gefährlich sein, wenn er eine complicirte Form hat, worauf wir sofort zurückkommen.

Es üben hier noch eine Menge Verhältnisse Einfluß, deren Erwähnung in den Rahmen dieser Skizze nicht paßt. Hier läßt sich nur die in Zahlen auszudrückende Dichte der Verkehre in Rechnung ziehen.

Nun wurde jeder Punkt der Bahnen im Jahre 1869 befahren:

in England 18000 Mal,
in Preußen 6000 "
in Oesterreich 4600 "

Trotz der großen Dichte dieses Verkehrs in England, die dreimal stärker ist als in Preußen, viermal stärker als in Oesterreich, war der Gesammtverlust an Leib und Leben dort verhältnißmäßig geringer als hier, und nur die Zahl der Verletzungen der Passagiere durchbricht abnorm, für England ungünstig, die betreffenden Verhältnisse. Die Dichte des Verkehrs allein macht daher denselben im Allgemeinen auch nicht unsicherer und scheint nur, fast im Extrem auftretend wie in England, die Sicherheit der Fahrt selbst in gewisser Weise abzumindern.

Der Ausdruck „Form des Verkehrs“ umfaßt einen weitern Begriff. Diese Form wird gebildet durch die Art und Weise, wie sich Züge von sehr verschiedener Geschwindigkeit und Natur (Expreß-, Eil-, gemischte, Güter-, Arbeitszüge etc.) auf der Bahn bewegen, wie sie einander folgen, sich kreuzen, überholen, aufeinander warten, auf den Stationen expedirt werden, auf ihnen Wagen absetzen und von ihnen mitführen, wie sie Züge oder Theile von Zügen von einmündenden Bahnen aufnehmen und an diese abgeben, wie sie sich aus Durchgangs- und Localverkehrswagen combiniren, sich auf Knotenpunkten auflösen und neu zusammensetzen, wie sie Zweigbahnen in größerer und kleinerer Anzahl mit mehr oder minderer Frequenz zu bedienen haben, wie sie ihre Wagenparke auf den Stationen rangiren, wie oft sie halten, Wasser nehmen, wie sie von den Signalen etc. beeinflußt werden etc. etc.

Außerdem wirkt auf die Form des Verkehrs einer Bahn vor Allem der Umstand, ob sie ein- oder zweigleisig ist, ferner die Richtung, in der sich die Hauptmassen bewegen, die Steigungen und Gefälle der Bahn, das Klima, die meteorologischen Einflüsse und eine Menge Verhältnisse, deren Aufführung hier zu weit führen würde. Es ist einleuchtend, daß die Gefährlichkeit des Verkehrs sehr mit der Complication dieser Verhältnisse steigen muß, und in der That wird ein doppelt so complicirter Verkehr mindestens viermal gefährlicher sein.

Das Maximum der Complication der Verkehre wird in England erreicht, wo (1869) 6840 Stationen in Wechselwirkung treten, mithin 2 auf jede deutsche Meile Bahn kommen, während in Preußen (1276 Stationen) und in Oesterreich (1064 Stationen) fast genau 1 sich auf jeder Meile fand. Das Netz der Bahnen ist in England so dicht, daß eine Einmündung oder Kreuzung sich durchschnittlich immer auf 3 Meilen Bahnlänge befand. Die Züge sind hier kleiner, folgen sich rasch in großer Anzahl und überholen einander auf unglaublich vielen Punkten. Die Frequenz der großen Stationen und Kreuzpunkte ist bis zu einer auf dem Continent noch ungeahnten Höhe gestiegen. So fahren z. B. in jeder der beiden Londoner Stationen Cannon-Street und Charing-Croß täglich über 600 Züge ein und aus; die große Kreuzung bei Clapham Junction passirten am Derby-Renntage 1871 volle 1023 Züge in 24 Stunden, während die Frequenz keiner deutschen und österreichischen Station 200, beziehentlich 120 Züge täglich übersteigt.

Die Gefährlichkeit der Form des Verkehrs wird wesentlich erhöht, wenn derselbe hin und her auf demselben Gleise erfolgen muß, mit andern Worten: wenn die Bahn eingleisig ist. Der Umstand, daß von 3331 Meilen englischer Bahnen (1869) 2680 Meilen doppelgleisig waren, ist ein Hauptmotiv dafür, daß auf ihnen ein verhältnißmäßig so geringer Gesammtverlust an Leib und Leben stattfindet. Von den preußischen Bahnen war im genannten Jahre noch nicht die Hälfte, von den österreichischen noch nicht ein Sechstheil mit Doppelgleisen versehen.

(Schluß folgt.)


Bühnen-Erinnerungen.
3. Linden-Müller in New-York als Theaterdirector.

„Die Bühne kann viel zur Volksbildung und Volksveredelung beitragen.“ Dieser Satz war lange Zeit ein unumstößlicher. Für seine Wahrheit trat ein Lessing in die Schranken und bekämpfte siegreich, ein zweiter Achilles, die Gegner, in deren vordersten Reihen natürlich ein Hauptpastor stritt. Der moderne Staat scheint die Ueberzeugungen Lessing’s und unserer Besten für irrig zu halten. Als Gesetzgeber hat er durch sein Vorgehen bewiesen, daß er die Bühne nur als eine Art Vergnügungsinstitut – wenn auch vielleicht im höheren Sinne – hält. Der moderne Staat hat die Bühne „freigegeben“, er hat ihr den Stempel des Gewerbes aufgeprägt, und logischer Weise wird die Kunst mehr und mehr zerknetet und zerstampft in der Tretmühle des handwerksmäßigen Gewerbebetriebes.

Es ist doch nicht ganz uninteressant, darauf hinzuweisen, daß die sogenannte Theaterfreiheit eine Erfindung des zweiten französischen Kaiserreiches ist und Anfang der sechsziger Jahre von Louis Napoleon mit einem gewissen Pomp in der Presse verkündigt wurde. Nicht minder verdient Beachtung, daß der Imperator nicht lange darauf sich gezwungen sah, die bedeutenderen Pariser Theater durch ungewöhnlich große Zuschußgelder zu unterstützen. Die Extreme berührten sich auch hier. Und doch hat das Volk – und speciell das deutsche – ein tiefwurzelndes, instinctives Verständniß für den großen Gedanken, dem ein Lessing sein die Nacht durchblitzendes Schwert weihte. Die Liebhabertheater – und ihre Zahl ist Legion – sind unbewußt aus diesem Verständniß hervorgegangen.

Während meines Aufenthaltes in der Union waren sie für mich eine hochinteressante Erscheinung, diese deutschen Liebhabertheater. Vor ein, zwei Decennien waren die „legitimen“ deutschen Theaterverhältnisse in den Vereinigten Staaten von der traurigsten Art. Selbst New-York vermochte kaum ein einigermaßen genießbares deutsches „Stadttheater“ zu unterhalten. Brauchbare Kräfte von Beruf waren nur äußerst wenige vorhanden und die deutsche dramatische Kunst vermochte darum nur schwer sich etwas in Achtung zu bringen. Der reiche Deutsche wie der reiche Yankee konnten nur durch die magnetische Anziehungskraft einer Maretzek’schen italienischen Oper dem Theater zugänglich gemacht werden. Die Matadore der fünften Avenue schworen bei Edwin Booth, dem einzigen amerikanischen Schauspieler von kosmopolitischer Bedeutung. Dazu hatten sie auch volles Recht. Edwin Booth – der Bruder von Wilkes Booth, dem Mörder Lincoln’s – ist ein großer Künstler und verdient einen Ehrenplatz neben Garrick, Kemble, Kean und Ludwig Devrient. Wie bitter hat es Dawison bereut, neben ihm als Jago den Othello gespielt zu haben! Dawison soll geistig ungemein durch die Niederlage gelitten haben, welche ihm Booth beibrachte.

Die legitime, deutsche dramatische Kunst, d. h. die von Künstlern von Beruf ausgeübte, war also vor einigen Decennien [261] das Aschenbrödel der gebildeten Kreise in der Union. Aber sein Theater mußte der Deutsche haben und er schuf es sich in der Liebhaberbühne. Wie viel haben nicht die Deutschen in New-York, Chicago, Milwaukee, Cincinnati, Detroit u. s. w. für ihr Liebhabertheater gethan! Wie groß mußte die Liebe zur Sache sein, daß es Privatmitteln gelang, wahrhafte Kunsttempel zu errichten! –

Es waren deutsche Theater vorhanden, aber Kunsttempel waren es nicht. Es waren „Rauchtheater“, wie wir diese Segnung des Materialismus nun auch bei uns kennen zu lernen Gelegenheit haben. Das Rauchtheater ist eine aus dem eigensten Geiste des Yankeethums hervorgegangene Erfindung, und alle meine Nachforschungen über das erste Entstehen der Rauchtheater haben mich immer wieder nach der Union und auch den englischen Hafenstädten geführt. Daß unsere deutschen Landsleute drüben „über’m Wasser“ Recht hatten, sich selbst ihr Theater zu schaffen und den öffentlichen Schaustellungen dieser Art größtentheils den Rücken zu kehren, wird aus der nachfolgenden Schilderung hervorgehen.

Der geehrte Leser gestatte mir, ihn in ein deutsches Rauchtheater zu führen, und notire sich freundlichst zu diesem Zwecke die Jahreszahl 1858. Dieses Rauchtheater hieß Odeon und sein Director oder Manager war Gustav Müller, genannt Linden-Müller! Wir treten demnach in das Büffetzimmer des in der Bowery gelegenen Etablissements; ich für meine Person – um Engagement zu suchen.

Es ist in den frühen Nachmittagsstunden, und nur wenige Gäste bevölkern den Raum. Ein alter, bärbeißiger Barkeeper (Schenkwirth) zieht meine Aufmerksamkeit zunächst auf sich.

„Mr. Linden-Müller zu sprechen?“

No! Was ist die Matter?“

„Ich suche Engagement.“

„Ah! Ein Zauberer!“

Ich glaubte nicht recht gehört zu haben. „Sie mißverstehen mich. Ich bin Schauspieler und suche Engagement.“

All right – Zauberer!“ – beharrte der dickköpfige Alte.

Ich hätte mich jedenfalls mit echt deutscher Gründlichkeit längerer Reflexionen über den Zusammenhang der Schauspielkunst mit der Zauberei ergeben, wäre nicht der Mann meiner Wünsche eben durch eine Seitenthür in das Gastzimmer getreten. Ich stand vor Linden-Müller, auch Tinen-Müller genannt. Schon zwei Welttheile nannten seinen Namen – also eine immerhin interessante Begegnung.

Die eigenthümliche Persönlichkeit ist einer kurzen Beschreibung würdig: Eine mittelgroße, magere Gestalt, ein scharfkantiges Gesicht mit langem, mausblondem Spitzbarte, der bis zur Brust reichte, graue, stechende Augen, hoher, grauer Hut, der tief in den Nacken geschoben war, ziemlich salopp im Anzug, die Hände in den Taschen der Beinkleider – so stand er vor mir: Gustav Müller, der Linden-Müller der Berliner Märztage! Mit heiserer Stimme, einem abgenutzten Donnerbleche ähnelnd, frug er:

„Wat wollen Sie?“

„Engagement!“

Ein kurzer, scharf prüfender Blick streifte mich.

„Können Sie jenießen! Spielen Sie heute Abend eenen von die Freunde in ‚Dornen und Lorbeer‘. Wenn Sie mir jefallen, denn engagire ik Ihnen morjen!“

Die Audienz war zu Ende. – Um es kurz zu machen: ich spielte am selbigen Abende den Tebaldo in „Dornen und Lorbeer“ als erste Rolle. Bekleidet war ich mit feuerrothen Tricots, hellblauem Wamms und Mantel von höherem Möbelkattun. Am folgenden Morgen empfing mich mein neuer Director mit den Worten:

„Sie sind engagirt.“

„Und die Bedingungen?“

„Fünf Dollars die Woche und Krippe!“

Krippe?!

Er sah wohl meinem erstaunten Gesicht an, daß ich mir bezüglich dieses Wortes noch nicht ganz klar war.

„Nu ja – Krippe! Wer Abends jut zaubert, kann den annern Mittag bei mir – essen!“

Also fünf Dollars die Woche und „Krippe!“ Welch verlockender Beginn! Ich brauche wohl nicht zu versichern, daß wir unter der Oberleitung Gustav Linden-Müller’s eine recht patriarchalische Komödie spielten. Den Vorstellungen wohnte er bei, soweit es seine Pflicht als Wirth erlaubte. Hatte Jemand von uns „Zauberern“ sich seines besonderen Beifalls würdig gezeigt, so ertönte noch nach der Vorstellung das gutgemeinte, aber sonderbare „Morgen um Zwölbe Krippe!“ Er liebte es, seine „Kunstbude selbst zu ironisiren. Wir gaben einmal ein Stück von Dumas dem Vater, „Der Thurm von Nesle“, ein Schauerdrama letzten Ranges. Der Uebersetzer heißt – bezeichnend genug – Theodor Dunkel. Seine That braucht auch die Finsterniß. In diesem Stücke kommt eine französische Prinzessin vor, leidenschaftlich und ausschweifend, aber bildschön, wie Margarete von Valois. Wir hatten für die Darstellung dieser combinirten Venus und Messalina nur eine Dame zu „versenden“, die ich eigentlich nicht näher schildern sollte. – Zunächst stimmte das Alter nicht, aber in auffälligster Weise. Nicht eine Hogarth’sche Linie war an der Figur zu finden, höchstens im Antlitz selbst machten sich tiefere geschlängelte Eindrücke bemerkbar. Die Toilette war äußerst krankhaft. Dieser Ausbund von Schönheit spielte also die besagte Prinzessin. Gustav Linden-Müller stand vorn im Parterre, Allen sichtbar.

Da nahte die verhängnißvolle Scene, worin die hohe Dame es an der Zeit findet, den ihre Reize verhüllenden Schleier zu lüften, um durch die Wirkung ihres Antlitzes den vor ihr stehenden Hauptmann Büridan in die Kniee zu schmettern.

„So sieh, Unglücklicher!“ und mit Aufbietung aller Grazie längst verflossener Jahre warf sie den Schleier zurück und lächelte süß, die Holde! – Große Pause.

Da ertönte die wohlbekannte heisere Stimme Linden-Müller’s: „Dunnerwetter!“ Mit diesem einen Worte hatte er die Situation kräftigst gezeichnet, und das Haus erdröhnte vom „phrenetischen“ Beifall, wie unsere Theaterreporter sagen würden. So „zauberten“ wir fort – bis zur Katastrophe.

Die Weihnachtstage des Jahres 1858 rückten näher. Gustav that das Möglichste, seine Localitäten im brillantesten Feststile herzurichten. Ganze Tannenwälder wurden als Hauptdecoration in den verschiedenen Räumen aufgepflanzt. Wurde Feuer und Licht nicht mit ängstlicher Sorgfalt bewahrt, so war ein Unglück leicht möglich. Das Gebäude wäre sicher verloren gewesen, denn es bestand größtentheils aus Fachwerk. Es gingen auch ganz merkwürdige Gerüchte. Am 1. Januar habe Gustav mehrere Tausend Dollars auf das Haus zu bezahlen etc. In Amerika colportirt man so etwas ja sehr ungenirt.

Eines schönen Wintertags, kurz vor zwei Uhr Mittags, ertönte der Feuerruf. Wir saßen im Büffetzimmer und waren nicht allzu sehr überrascht. In einem oberen Stock war das Feuer entstanden, in einem Zimmer, in welchem Linden-Müller mit mehreren Gehülfen beschäftigt war, und die Flammen schlugen schon über dem Giebel zusammen. Ein Tannenzweig sei einer Gasflamme zu nahe gekommen, hieß es. Die Rettungsversuche begannen und blieben natürlich nutzlos. Als erster Rettender präsentirte sich Linden-Müller selbst. In Hemdärmeln, keuchend, schweißtriefend, mit heiserer Stimme nach Hülfe krächzend, schleifte er einige brennende Tannen durch das Büffetzimmer auf die Straße.

„Aber wo ist Fülling?“ – Fülling, unser bester College, fehlte. Er wohnte im Hause. Er hielt gewiß um die Zeit des beginnenden Brandes sein Mittagsschläfchen. Sollte er – es wäre entsetzlich! – Fülling war nicht sein wahrer Name. Es hieß, er sei von Adel und früher badischer Officier gewesen. Zum Volke übergetreten, habe er im Jahre 1850 flüchten müssen. Er selbst sprach nicht darüber. Ein braver, lieber Mensch – und dieses gräßliche Geschick! Am andern Morgen fand man unter den Brandruinen seine verkohlten Ueberreste.

Trotzdem verkündete uns Linden-Müller: „Ich eröffne heute mein neues Local einige Blocks weiter unten. Wer mitziehen will, komme!“ Er eröffnete selbigen Tages schon das neue Local. Die Fenster der oberen Stockwerke des Hauses verdeckte ein Riesengemälde: „Linden-Müller als Phönix aus den Flammen emporsteigend!“ Und wenige Tage später war Alles wieder in Ordnung, und es war wieder derselbe Zulauf und Alles vergessen. –

Ich sehnte mich fort und kehrte an Bord der „City of Manchester“ über Liverpool, Hull und Bremen in die Heimath zurück. Die deutschen Theaterverhältnisse Amerikas haben sich seit jener Zeit wesentlich gebessert. Unsere Größen haben nacheinander [262] die goldenen Dollars eingeheimst und selbst den Yankee die deutsche Kunst achten gelehrt. Jetzt thut es Pauline Lucca. Aber trotz der goldenen Ernte sehnt sie sich nach den Fleischtöpfen Aegyptens zurück. Vielleicht deshalb, weil die Unterhandlungen mit dem Häuptling der Chippeways, die Scalpirung eines deutschen Intendanten betreffend, nicht zum Ziele geführt haben? – Herzloser Chippeway!

Gustav Linden-Müller ist todt. Möge meinem ersten Director die friedlichste Ruhe nach dem bewegtesten Leben beschieden sein!

Arno Hempel.



Der zoologische Garten in Berlin.

Vor wenigen Jahren wußten die meisten Berliner kaum, daß ihre Residenz auch einen zoologischen Garten besaß; denn man sprach nicht davon, man ging nicht hinein, und wer ihn wirklich besucht hatte, wußte wenig Lobendes von diesem Institute zu erzählen. Der Garten war einer Stadt nicht würdig, die auf dem Gebiete der Wissenschaft und Kunst so Großes geleistet hatte.

Waren Fremde durch ihren Bädeker verleitet worden, den Garten zu besuchen, so kehrten sie gewöhnlich mit langen Gesichtern zurück, denn wenn sie auch nur fünf Groschen für den Eintritt bezahlt, so hatten sie doch weniger gefunden, als sie erwartet. Die Natur hatte den geräumigen, fast neunzig Morgen großen Platz mit dichten schönen Bäumen bedeckt; es fehlte aber noch die schöpferische Hand, welche in diesen Wald Licht und Luft und frisches Leben brachte. Hinter dem denkbar schlechtesten Holzgitter, durch welches man stets nur mit einem Auge schauen konnte und dessen morscher Zustand nicht einmal genügende Sicherheit bot, erblickte man eine Anzahl Thiere, welche den Besucher noch trauriger ansahen als er sie, denn das Geschick der Gefangenschaft war ihnen wenig erleichtert, da ihnen Alles, was zu ihrem Gedeihen nöthig war, nur kümmerlich geboten war: Futter, Luft und Licht und Sonnenschein. Das Raubthier- und das Affenhaus waren nur für Den zu besuchen, der seiner Nase und Lunge die größten Qualen zumuthete; obendrein zogen es die klugen Affen vor, fast jeden Winter gänzlich auszusterben, und daß die Raubthiere nicht diesem Beispiele folgten, lag nur an ihrer zäheren Lebenskraft. Auf einem übel duftenden Sumpfe fristeten eine Anzahl Wasservögel ihr trauriges Dasein; dafür erhoben sich aus demselben im Sommer Myriaden von Mücken, welche die Besucher als willkommene und wohlverdiente Beute betrachteten. In einer Anzahl Käfige waren Raubvögel so glücklich untergebracht, daß sie jede freie Bewegung verlernen und sich an dem unpraktischen Drahtgitter obendrein die Köpfe verletzen mußten. Es war, als ob die Reaction selbst diesen armen Thieren nicht gegönnt hätte, die Schwingen frei zu entfalten. Der ganze zoologische Garten erschien wie eine Strafanstalt für Thiere.

Lichtenstein, welcher 1844 den zoologischen Garten dadurch begründete, daß er die auf der Pfaueninsel bei Potsdam befindliche Menagerie hierher versetzte, hat sich unstreitig ein Verdienst dadurch erworben, und mit Recht erhebt sich im Garten seine Büste auf einem Piedestal; was er begonnen, wurde nur wenig in seinem Geiste weitergeführt. Es ist hier nicht unsere Aufgabe, zu untersuchen, woran und an wem die Schuld lag; wir schildern nur die Thatsache des damaligen Zustandes. Natürlich wurde der Garten sehr wenig besucht; die schlecht gepflegten Thiere, die nassen Wege, die Mückenschwärme, die fortwährenden Angriffe auf die Nase, die Beiseitelassung jedes Schönheitsgefühls und das alleinige Erregen des Mitleids – dies Alles war wenig geeignet, das Interesse des Publicums zu wecken und dem Institute dadurch reichlichere Mittel zuzuwenden. Es war traurig um den Garten bestellt.

Da wurde der Schöpfer des zoologischen Gartens in Köln, Dr. Bodinus, für das verwahrloste Institut als Director gewonnen; er kam im Herbste 1869 nach Berlin. Ihm hat Berlin den jetzigen zoologischen Garten zu verdanken, welcher mit dem früheren genauso viel Aehnlichkeit hat wie ein prachtvolles Palais mit einer alten verfallenden Caserne, auf deren Stelle es erbaut ist.

Bodinus hat aus dem dumpfen, dichten Walde die reizendsten Landschaftsbilder mit Teichen, Hügeln, Inseln und Baumgruppen geschaffen; er hat in wenigen Jahren den zoologischen Garten zu einem der schönsten und bedeutendsten gehoben; er hat aus dem verkommenen Institute eine Zierde der Kaiserstadt gemacht. Der zoologische Garten ist jetzt der Lieblingsort aller Berliner; in ihm schöpft die feine Welt frische Luft; zu ihm pilgert an Sonntagen der schlichte Bürger mit seiner ganzen Familie, um wenige Stunden in einem kleinen Paradiese zu verleben, in welchem es zwar auch Evas, verbotene Früchte und Schlangen giebt, aus dem indessen Niemand herausgeworfen wird, so lange er sich anständig beträgt.

Früher belief sich die höchste Zahl der Besucher an einem Tage auf etwas über dreitausend Personen, im vergangenen Sommer hat der Garten an einem Sonntage über fünfundvierzigtausend Besucher gehabt. Früher sahen alle Thiere kümmerlich aus, und jedes Jahr hatte man einen starken Verlust durch den Tod zu verzeichnen; jetzt glaubt man die Thiere in der freien Natur zu beobachten; sie sind gesund und vermehren sich mit wenigen Ausnahmen sämmtlich. Früher hatte jeder Mitleid mit den armen Thieren; jetzt möchte Mancher die Löwen und Tiger, die Antilopen und Giraffen fast um ihre prächtigen Wohnungen beneiden. Im zoolgischen Garten giebt es keine Wohnungsnoth und hat keiner der Bewohner Mietsteuer zu bezahlen; grobe Hauswirthe giebt es in ihm nicht einen einzigen, er müßte sonst zum Besuche aus der Stadt kommen, wo kein Mangel daran ist.

Möge uns nun der Leser bei einem Besuche in dem Garten begleiten! Wir können freilich bei Manchem nur flüchtig vorübergehen, da es dort des Sehenswerthen zu viel giebt. Wir haben einen Tag gewählt, an welchem in dem Garten Concert ist, weil wir dann die feine Welt Berlins dort finden; gewöhnlich rollen die Equipagen tausendweise an uns, die wir in einer bescheidenen Droschke sitzen, vorüber; vor uns und hinter uns sehen wir eine endlose Reihe von Wagen. Auf dem Halteplatze (3) vor dem Eingange in den Garten sind bereits Hunderte von Equipagen und Droschken aufgefahren, welche kaum eine enge Gasse zum Durchfahren übriglassen; trotzdem geht es ohne Störung ab, denn vor dem Eingange und an den Kreuzpunkten verschiedener Wege halten berittene Schutzleute, um darauf zu sehen, daß die Rosselenker Ordnung halten. „Vordrängeln gilt nicht“ – wie der Berliner sagt.

Diener in Livree empfangen uns am Eingange; wir treten in den Garten ein und schon der erste Blick gerade aus ist ein überraschend schöner. Eine Durchsicht zwischen den herrlichen hohen Bäumen gestattet uns einen Blick auf das zierliche Wasserbassin mit Fontaine (12) und dahinter erhebt sich stolz der neue und prächtige Bärenzwinger (15), in welchem wir aus der Ferne Eisbären rastlos am Gitter auf- und abschreiten sehen, als wären sie immer noch nicht über die Frage mit sich einig, ob es hier oder am Nordpol schöner sei.

Es zieht uns zum Bärenzwinger; es verlocken uns die Töne der Militärmusik, welche links aus dem großen und geschmackvoll schönen Musik-Kiosk (11) in unser Ohr dringen; ein gewissenhafter Führer darf sich indessen nicht verlocken lassen. Wir wenden uns deshalb sogleich rechts, um zuerst (13) die Biber zu besuchen, welche in einer Felsgrotte ihre Wohnung haben und in den Bassins davor sich augenblicklich munter umhertummeln. Wir wenden uns dann ein wenig links, um (15) die Fischotter zu betrachten, wenn sie so freundlich ist, sich uns zu zeigen, denn nicht allein Künstler, sondern auch Fischotter haben Launen, kehren nun zurück, um (14, 16, 17, 18, 19) uns über verschiedene Rinderarten zu erfreuen. Zuerst (14) kommen die hübschen zierlichen Zebu-Sunda-Rinder mit ihren Kälbern fast in jedem Alter; dann treten wir zu dem meist unfreundlichen und von dem unartigen Publicum leider viel geneckten Yak oder Grunz-Ochsen, der durch sein langes, bis auf die Erde hängendes Haar die Bewunderung aller Fremden erregt und durch seinen Blick, und namentlich durch seine langen spitzen Hörner vorsichtig ein Noli me tangere zuruft. Mit Gattin und Kind spaziert er auf seinem geräumigen Hofe umher. Dicht neben ihm wohnen die hübschen [263] Kaffer-Büffel, denen sich die mächtigen Europäischen Büffel (18) anschließen und die letzten in der Reihe (10) bildet der Amerikanische Wisent oder der Bison-Auerochs in kleiner Heerde. Er scheint Amerikas Prairien wenig zu entbehren, zumal kein Indianer oder Büffeljäger ihm nachstellt.

Sämmtliche Rinderarten haben einen geräumigen, schattigen Hof, aus dem sich ein in Blockhausform oder Schweizerstil erbauter Stall befindet. Die Höfe sind mit einem eisernen Gitter umgeben, welches die Betrachtung der schönen Thiere nicht im Geringsten beeinträchtigt und gleichwohl genügende Sicherheit bietet. Den Rindern gegenüber befindet sich (21, nicht 12) ein Rudel Damhirsche, (33) die Molukken-Hirsche und (34) der stattliche Aristoteles-Hirsch mit seinem mächtigen Geweih, welches er regelmäßig abwirft, um das Publicum durch die Neubildung desselben zu erfreuen. An der anderen Seite des kleinen Wildparkes befinden sich (23) der Virginien-Hirsch, (31) der Axis-Hirsch, (30) der Edelhirsch, (32), der Molukken-Hirsch, und friedlich zwischen ihnen wohnt (22) das Mähnen-Zockelschaf.

Nun schreiten wir zu der Perle des Gartens, zu dem prächtigen Antilopenhause (53), welches uns wie ein stolzes Palais entgegenschimmert. Der Geschmack des Dr. Bodinus und des Baumeister Ende, welcher all die Neubauten des Gartens ausgeführt hat, offenbart sich in diesem Gebäude auf das Glänzendste. Es ist auf das Auge des Publicums und auf das Bedürfniß der Thiere in gleicher Weise Rücksicht genommen. Die große innere, von einem Glasdache überwölbte Halle bildet ein Palmenhaus. Schlingpflanzen ziehen sich an den Säulen bis zum Dache empor; eine Fontaine plätschert zwischen dem frischen Grün, zwischen Palmenblättern und Farrnkräutern. Rings um die große Halle läuft ein breiter von zierlichen Säulen getragener Bogengang für das Publicum und neben diesem Bogengange befinden sich die Ställe für die Antilopen, diese schönen graciösen Geschöpfe, von denen der Garten eine so große und schöne Sammlung besitzt. In der Mitte, dem Eingang gegenüber, sodaß der erste Blick des Eintretenden darauf fällt, wohnen die Giraffen, vier dieser Wüstenpferde mit den schönen freundlichen Rehaugen. Die Eleganz und Sauberkeit überall überraschen; kein Geruch beleidigt die Nase; wir wandeln ungestraft unter Palmen und freuen uns über die schönen Geschöpfe, die so wohlgepflegt und zahm uns mit dem Kopfe durch das zierliche Eisengitter begrüßen.

Hier möchten wir bleiben, und doch treibt es uns weiter, denn neue Schönheiten erwarten uns. Hinter dem Antilopenhause hat der schöpferische Geist des Directors aus einem großen Sandplatze, auf welchem früher Rehe, Hirsche, Schafe und Kameele eingepfercht waren, eine reizende Landschaft hervorgerufen, einen kleinen See mit grünen Inseln, von schattigen Hügeln umgeben. Man muß diesen Sandplatz früher gekannt haben, um das reizende Landschaftsbild recht zu würdigen. Es ruht sich so schön auf einer Bank auf einem der Hügel; man träumt fern, fern zu sein von Berlin – wie ein Hauch aus Thüringen weht es Einem entgegen.

Doch auch von hier treibt es uns fort. Nur flüchtig können wir rechts an dem langen Gebäude vorübergehen, welches die verschiedenartigsten Hühner, Fasanen etc. birgt; wir schreiten schnell durch das frühere Raubthierhaus (54), welches jetzt Wölfe und Hyänen beherbergt, spazieren um den See herum und gelangen nach dem Affenhause (51). Da die Zeit uns kurz gemessen, betrachten wir nur den Chimpansen, sowie einzelne junge Affen, welche sich, Menschenkindern gleich, um den Hals ihrer Mutter klammern. Auch dem Elephantenhause schenken wir nur wenige Minuten, denn den alten mächtigen Elephanten kennen wir von früher, wenn er uns vielleicht auch längst vergessen hat – er bekommt zu viel Besuch. Ganz in der Nähe (49) fesselt uns die prachtvolle neue Voliêre. Das ist ein Leben in dem Hause! Es flimmert vor unsern Augen. Hunderte der reizendsten Vögel fliegen durcheinander, spielen, sitzen an den Futternäpfen, bauen an den Nestern oder schaukeln sich singend aus den Zweigen. Hier könnte man Stunden lang weilen, doch wie der alte Blücher rufen wir unbarmherzig: „vorwärts!“ Wir wenden uns zu dem letzten Gebäude (47) auf der linken Seite des Bildes, um uns über die beiden Nashorne, die Kameele und die schönen Zebras zu freuen. Die Nashorne sind noch junge Thiere, die aber kräftig und gesund heranwachsen und ihre Futterstunde ebenso genau kennen, wie der alte Elephant, der dann ungeduldig mit dem Fuße an die Thür stößt. Die Kameele erfreuten die Besucher des Gartens im vergangenen Frühjahre durch ein Junges, welches schnell mit allen Kindern Freundschaft geschlossen hatte. Rasch wandern wir an dem alten Bärenzwinger (46), welcher jetzt einige Wildschweine beherbergt, vorbei, machen auch nur flüchtig den Straußen und Kasuaren (40) einen Besuch und wenden uns zu dem prächtigen Raubthierhause, für die Besucher stets der Punkt, welcher die meiste Anziehungskraft ausübt. Und man kann hundertmal dieses Haus durchwandern, ohne dessen müde zu werden; das Interesse wächst im Gegentheil. Wir lernen die Thiere darin kennen, werden mit ihren Gewohnheiten vertraut und freuen uns über so manchen kleinen Zug aus dem Löwen- oder Tigerleben. Das Haus ist ein Palais, des Königs der Thiere würdig. Eine große breite und luftige Halle, an deren einer Seite sich die Winterkäfige der Thiere befinden, nimmt uns auf. Das Licht fällt von oben. Die Capitäler der Säulen sind mit Blumen geschmückt, Ampeln mit Schlingpflanzen hängen von der Decke herab. Hunderte von Menschen vermag die breite Halle in sich aufzunehmen. Hier empfängt der Löwe seinen Besuch und ertheilt Audienzen. Stolz schreitet das prächtige, fast schwarzmähnige Thier vom Senegal in seinem Käfige auf und ab. Dicht nebenan befindet sich seine Familie, die Löwin mit den Jungen. Zum dritten Male schon hat die Löwin unter Bodinus’ Direction geworfen, und die jungen Thiere haben Tausende von Besuchern in den Garten gelockt.

An der entgegengesetzten Seite des Hauses befinden sich vier herrliche Löwen in einem Raume. Bodinus hatte sie als junge, halb erwachsene Thiere erworben, und sie haben Manchen durch ihre scheinbar unbeholfenen Bewegungen amüsirt. Damals befanden sie sich in den Flegeljahren; jetzt sind sie zu herrlichen Thieren herangewachsen, wie man sie schöner kaum finden wird. Auch die Tigerin hat unter Bodinus’ Direction bereits geworfen, und dem so tüchtigen, erfahrenen Manne gelang es, die beiden Jungen heranzuziehen, was bis jetzt in der Gefangenschaft sehr selten gelungen ist. Die Wartung und Pflege der Thiere ist freilich eine ganz vorzügliche. Sie erhalten nur gutes und gesundes Fleisch und wohnen reinlicher als viele Menschen.

Außen an dem Hause befinden sich die Sommerwohnungen der Thiere, alle groß und luftig, so daß sich die Gefangenen frei bewegen können und den Gebrauch ihrer Glieder nicht verlernen. Es würde uns zu weit führen, all die Thiere, welche das Raubthierhaus bewohnen, aufzuzählen, der Besucher findet sie in dem Kataloge aufgezeichnet, den er an der Casse beim Eintritte in den Garten für wenige Groschen bekommt.

Vor dem Raubthierhause befindet sich der große Teich, welcher sich bis zur neuen Restauration erstreckt, und dieser Teich gewährt ein ganz besonderes Interesse. Hunderte der schönsten und seltensten Wasservögel beleben ihn. Dort durchschneidet ein Schwan mit schwarzem Kopfe und Halse stolz und graziös das Wasser; hier spielt eine ganze Schaar Flamingos und ihr prächtiges Gefieder kommt zur vollen Wirkung, wenn sie fliehend oder verfolgend die Flügel ausbreiten, dort tanzen Reiher und Trappen nach den Klängen der Musik und machen die wunderlichsten Bewegungen und Verbeugungen; hier steht der schwarze Storch, welcher die Mohrenkinder bringt, unbeweglich auf einem Beine und sieht wie ein Stoiker auf das bewegte Leben ringsum. Zahllose Entenarten tummeln sich auf dem Wasser, tauchen unter und kommen oft in weiten Entfernungen erst wieder zum Vorschein.

Stundenlang kann man das bewegte Leben betrachten, ohne zu ermüden. Man lernt selbst unter den Wasservögeln die verschiedenartigen Charaktere und Temperamente unterscheiden, die lustigen und leichtsinnigen der meisten Enten, die etwas beschränkte Gleichmäßigkeit der Gänse, das kokette Benehmen der Flamingos bis zu dem stolzen und oft boshaften Reihern und Trappen, die kräftige Hiebe mit ihren Schnäbeln austheilen. Wir wandeln am Ufer des Teiches hin, kommen (8) bei verschiedenen prächtigen Reihern und Kranichen vorbei, betrachten flüchtig die Vögel der Minerva (7) und treten dann vor den großen und herrlichen Raubvogelkäfig hin. Hier ist selbst den Condorn und Geiern der Raum vergönnt, um die Kraft ihrer Schwingen nicht zu verlieren; sie genießen selbst in der Gefangenschaft viel Freiheit. Haben doch sogar einige von den großen grauen Aasgeiern hier genistet, gewiß ein seltener Fall.

[264]

Der zoologische Garten in Berlin aus der Vogelschau nach der Natur aufgenommen von Adolf Eltzner.
1. Eingang. – 2. Vorplatz. – 3. Droschkenhaltestelle. – 4. Neue Restauration. – 5. Raubvögelhaus. – 6. Raubvogelkäfig. – 7. Eulen. – 8. Reiher Kraniche. – 9. Veranda. – 10. Neptungrotte. Wasserfälle. – 11. Musik-Kiosk. – 12. Bassin mit Fontaine. – 13. Biber. – 14. Zebu-Sunda-Rinder. – 15. Fischotter. – 16. Yak oder Grunzochse. – 17. Kaffer-Büffel. – 18. Europäischer Büffel. – 19. Amerik. Wisent oder Bison-Auerochs. – 20. Reserve-Stall. – 21. Damhirsche. – 22. Mähnen-Zackelschaf. – 23. Virginien-Hirsch. Gemse. – 24. Vogelhaus. Schlangen. – 25. Bärenzwinger. – 26. Stachelschwein. Wombat. – 27. Känguruh. – 28. Pelikan. – 29. Schweine-Hirsch. – 30. Edelhirsch. Canadischer Hirsch. – 32. Sika-Hirsch. – 33. Molukken-Hirsch. – 34. Aristoteles-Hirsch. – 35. Raubthiere. Löwen. Tiger. – 36. Monument Lichtenstein’s. – 37. Dampfmaschine zur Wasserleitung. – 38. Comptoir. – 39. Zibethkatzen. – 40. Strauße. – 41. Emu. Casuar. – 42. Jabiru-Storch. – 43. Fasane. Tragopane. – 44. Enten. Schwarzhalsiger Schwan. – 45. Kleine Restauration. – 46. Alter Bärenzwinger. Wildschweine. – 47. Nashorn. Kameele. – 48. Schwarze Schwäne. Enten. Gänse. – 49. Neue Volière. – 50. Elephanten. – 51. Affenhaus. – 52. Lama. – 53. Antilopen. Giraffen. – 54. Raubthiere. Wölfe. Hyänen. – 55. Hühner.

[265] [266] Nun wenden wir uns zu der nahen neuen Restauration. Ein großes prächtiges Gebäude, vorn mit großer freier Treppe und bedeckter Veranda, zur Seite mit offener Speisehalle, welche für Hunderte Raum bietet. Der Blick von der großen Treppe, zu welcher Terrassen emporführen, durch die prächtigen Eichen hindurch auf den belebten und bevölkerten Teich, auf die sprühende Fontaine, auf die in türkischem Stile erbauten Häuser für die Reiher und Kraniche, welche sich von dem Grün der Bäume wunderbar schön abheben, der Blick auf die Tausende von Menschen, welche den ganzen Platz vor dem Teiche und unter den Bäumen erfüllen, der Blick auf den prächtigen Musik-Kiosk – dies Alles übt einen großartigen, berauschenden Eindruck aus. Hier ist das Leben einer Weltstadt; hier empfindet man, welchen mächtigen Zauber der zoologische Garten ausübt. Zwölftausend eiserne Stühle und mehr als fünftausend Tische stehen vor der Restauration und doch reichen sie sehr häufig für die Gäste nicht aus, obschon fortwährend Hunderte von Besuchern auf der Wanderung durch den Garten begriffen sind, und Hunderte in der alten Restauration sich niedergelassen haben.

Der zoologische Garten ist durch Bodinus zu dem Lieblingsaufenthalte für die Berliner, zum Zugorte für alle Fremde geworden. Wer sich hinaussehnt aus dem Staube und dem Gedränge der Stadt, der eilt in den zoologischen Garten, trinkt Morgens still dort seinen Kaffee, speist Mittags mit Freunden daselbst und sieht Nachmittags die feine Welt um sich versammelt. Wir müssen dem Wirthe der Restauration, Schneider, Gerechtigkeit widerfahren lassen: er bietet Alles auf, um seine Gäste zufrieden zu stellen. Wir haben manchen Fremden gesprochen, der erstaunt war, in dem zoologischen Garten wohlfeiler zu leben, als in seiner kleinen Provinzialstadt. Um einen Maßstab für die Größe des Verkehrs zu geben, wollen wir hinzufügen, daß der Wirth an einzelnen Tagen mehr als zweihundert Kellner zur Bedienung hat.

Wir haben den Leser nur ganz flüchtig durch den Garten führen können und Manches überschlagen müssen. Alles, was er gesehen hat, ist Bodinus’ Werk. Thiere, Häuser und Landschaft sind stets in der sinnigsten Weise gruppirt; wohin das Auge blickt, empfängt es einen wohlthuenden Eindruck. Bodinus ist ein Mann mit der größten schöpferischen Thatkraft und der diese ganze Kraft für den Garten einsetzt. Wir werden den Lesern der Gartenlaube nächstens das Bild dieses genialen Mannes bringen; wenn sie vorher den Garten besuchen und sie sehen einen großen, stattlichen und schönen Mann mit dunkeln lebhaften Augen und entschlossenen, aber doch freundlichen Zügen durch die Menschen dahinschreiten, dann dürfen sie dreist den Hut vor ihm abziehen, denn es ist Bodinus und der mächtige, schwarze Neufundländer, der ihm folgt, der gehört ihm; es ist sein „Mohr“.

Fr. Fr.


Schöne Geister und schöne Seelen.
Eine Dichterfreundschaft.

In einem alten düstern, aber stattlichen Hause der Oderstraße zu Frankfurt an der Oder wohnte Frau Wagner, die Wittwe eines reichen Weinhändlers, eine originelle, humoristische Dame, die zu den Honoratioren der Stadt gezählt wurde. Doch genügte diese Auszeichnung ihrem Ehrgeize nicht, und als einst ein General von Zielinski, eine der militärischen „Spitzen der Behörden“, die in kleinen Städten wie halbe Monarchen gefeiert werden, Wohlgefallen an ihrem erblühenden Töchterchen fand, beredete sie dasselbe, den alten Mann zu heirathen und die Schaar der jugendlichen Verehrer von sich zu weisen.

Die junge schöne Generalin fühlte sich jedoch durchaus nicht unglücklich; wie die Dame von Savern streng gegen Huldigungen erotischer Art, ließ sie sich gern als vornehme Dame feiern. Eine reizende Villa am Ufer der Oder, nahe bei dem Denkmal des Herzogs von Braunschweig, richtete sie sich als Tusculum ein und verbrachte hinter dem vergoldeten Gitter ihres Balcons das glückliche Traumleben der ersten Jugend. Schon damals ging ihr nachheriger Gemahl, Herr von Treskow, in stiller Bewunderung vor dem bezaubernden lebenden Bilde vorüber, das sie unbewußt darstellte. Einmal begleitete er eine Dame, deren Schöngeisterei mit ihrer Bildung nicht gleichen Schritt gehalten hatte; sie sagte: „Das ist doch die schönste Wohnung der Stadt; ich bin ganz verliebt in dem Hause.“

„Ja, auch ich bin ganz verliebt in dem Hause,“ seufzte er, den Beugefall in seinem Falle richtiger anwendend als die Dame, die jedoch aus dieser Aeußerung Stoff zu einer Klatschgeschichte zog und die Aufmerksamkeit der bösen Welt auf die Neigung des Lieutenant von Treskow für die Generalin von Zielinski lenkte.

Als letztere kurze Zeit nach ihrer Verheirathung Wittwe wurde, schien sie jedoch nicht geneigt, die wiedergewonnene Freiheit sobald wieder aufzugeben, sondern folgte einer Einladung Rahel’s von Varnhagen, nach Berlin zu kommen. Dort brachte ihr Rosenantlitz im Trauerflor eine vollständige Bezauberung hervor. Rahel selbst liebte die Schönheit wie eine Wohlthat und bewunderte sie völlig neidlos; in ihrem Salon wurde die junge Generalswittwe als Idol verehrt, von ihr selbst wie eine Tochter geliebt. Die berühmten Männer, die damals bei Rahel verkehrten, Heine, Karl Schall, Chamisso, Fouqué und vor Allen der Fürst Pückler-Muskau, huldigten der schönen Frau und entdeckten bald, daß ihr Geist ihre Schönheit noch überstrahlte. Aber auch ihr Herz war nicht aus geringerem Stoffe; es zog sie mit Allgewalt zurück nach Frankfurt, wo ihre alte Mutter weilte, eine traute Häuslichkeit und vielleicht auch ein anderes schönes Erdenglück ihr winkte. Ein Brief von Rahel an sie giebt so anmuthigen Aufschluß darüber, daß er hier folgen möge:

„Sonntag, den 25. September 1831 (bei einer idealischen Mondnacht, die ordentlich fruchtbares Wetter in sich hat, aber leider gewiß uns wieder starken Regen bringt).

Liebe Tochter!

Wie gönne ich Ihnen Ihr Zuhause! das Sie mir so reizend beschreiben, wie Sie es nach Ihrer Rückkehr gefunden haben. Ihre Muße, Stille, Aufgeräumtheit der Zimmer, Möglichkeit zum Fleiß – den weiten Horizont Ihrer Fenster, die Lichter in der Ferne, die Umrisse der Bäume, den hellen Himmel und sein Wolkenspiel, die frische Luft, den Geruch, die Farben der Landschaft, das Schwanken der Zweige und Gewächse, des Windes Töne, das Wasser, den Garten, Alles, Alles. Es ist eine Erholung, wenn ich Sie mir in diesem Asyl denke, – schönes Local und ungestandene Liebe, – unsere uneigennützige Freundschaft nicht zu vergessen! – Pückler ist in Ihrem Anblick so vergnügt gewesen, als wenn ein sechsundzwanzigjähriger Mensch zum ersten Mal eine Rose gesehen und bis dahin alle anderen Blumen geliebt hätte.“ – –

Die „ungestandene Liebe“ kam indessen doch endlich zum Aussprechen und die Generalswittwe entschloß sich eine Lieutenantsfrau zu werden. Die ehrgeizige Mutter erzürnte sich darob mit ihr und verweigerte jede Unterstützung aus ihren reichen Geldmitteln. Die Wittwenpension fiel durch die Wiederverheirathung fort, ebenso eine Leibrente, welche die Familie ihres ersten Mannes gezahlt hatte. Die gesetzlich vorgeschriebene Caution bei einer Officiersehe konnte nicht geleistet werden. Herr von Treskow hatte daher die Wahl, entweder seinen Abschied zu nehmen oder die Heirath aufzugeben. Er entschloß sich zu ersterem, und das liebende Paar sah sich darauf angewiesen, die „Hütte“ für sein Glück anderweitig zu bauen. In Frankfurt ging dies nicht an; die Erinnerung an die früheren glänzenden Verhältnisse wäre allzu störend gewesen. So wurde denn Berlin zum Aufenthaltsort gewählt. Indessen belohnte man dort geistige Arbeit sehr karg, und andere verstanden die jungen Eheleute nicht zu thun. Es ging ihnen anfangs traurig genug, doch besiegten sie durch Fleiß und Wissen bald die tägliche Noth. Die Kenntniß fremder Sprachen war damals noch nicht so allgemein verbreitet wie jetzt. Herr von Treskow erlangte dadurch eine Anstellung im Ministerium des Auswärtigen und erwarb auch durch belletristische Uebersetzungen manche Zubuße zur jährlichen Ausgabe. Sein lebhafter Geist warf sich auch auf das noch wenig bebaute Feld der finanziellen Speculation, und so gelang es ihm, nach verhältnißmäßig [267] kurzer Zeit ein anständiges Vermögen zusammen zu bringen.

Sein häusliches Glück ward durch die Geburt zweier Kinder vermehrt. Das älteste starb in zartem Alter; das jüngste, eine Tochter, Ada genannt, blühte hoffnungsvoll heran. Die Mannigfaltigkeit der Talente Ada’s verursachte anfangs ein Schwanken über die Richtung der Ausbildung derselben. In Musik und Malerei war sie reich begabt, doch siegte schließlich die Poesie über alle anderen Künste, und unter dem Namen Günther von Freiberg trat Ada von Treskow mit Erfolg in die Autorwelt. Ihre frühzeitige Geistesreife gab ihr die Stelle einer Freundin neben ihrer liebenswürdigen Mutter, und es war schwer zu sagen, welche der beiden Damen die begabteste sei. Wie einst in Paris die Marquise de Sevigné und ihre Tochter berühmt waren als geistreich und liebenswürdig, so hatten Frau und Fräulein von Treskow sich durch dieselben Eigenschaften in Berlin Geltung gewonnen. Die Erblichkeit des geistigen Vermögens hatte sich in erfreulicher Weise bei ihnen bewährt.

Der Kreis, der sich um sie bildete, trug den Stempel des Ungewöhnlichen, obwohl er keineswegs exclusiv war, denn die gesellschaftliche Rangordnung galt darin nicht, sondern nur die Aristokratie des Geistes. Neben dem damals schon siebzigjährigen, aber noch jugendfrischen Fürsten Pückler, gehörten Schirmer, Hildebrand, Leopold von Ranke, Ludwig Rellstab, Bernhard von Lepel und Andere zu den nächsten Freunden des Hauses und nicht nur in dem eigenen Salon, sondern auch in dem von Fräulein Selmar, Bettina und Frau von Olfers übte die Familie von Treskow in ihrem Dreiblatt von Vater, Mutter und Tochter ihren anregenden Einfluß aus. „L’élite d’élite“ schaarte sich um sie, wie der allezeit gern französirende Fürst Pückler sagte. Ada von Treskow wußte besonders durch ihr mimisches Talent die Gesellschaft auf’s Angenehmste zu unterhalten. Sie verstand es, die Rachel und die Ristori in ihren Glanzrollen zu copiren; die fremden Sprachen hatte sie dabei völlig in ihrer Gewalt und erntete jedesmal einen ebenso rauschenden Applaus im Salon, wie die berühmten Tragödinnen auf der Bühne.

Einmal wurde sie in einer besonders glänzenden Privatgesellschaft aufgefordert, die Juditta, eine Hauptrolle der Ristori, zu sprechen; sie kam dieser Aufforderung nach, brach aber mitten in der Declamation ab, sich mit mangelndem Gedächtniß entschuldigend. Da trat ein hochgewachsener Ulanen-Officier hervor und recitirte die fehlenden Verse aus dem Gedächtniß, aber leise, indem er sich erbot, als Souffleur zu wirken. Erstaunt hörte sie ihm zu und war nicht wenig überrascht, als der gelehrte Ulan sich ihr durch seinen Adjutanten vorstellen ließ. „Prinz Georg von Preußen“ wurde er genannt. Sein dunkles Auge und seine hohe Stirn ließen schon den Dichter in ihm ahnen; aber er galt damals nur für einen Musik-Enthusiasten und war ein Virtuose auf dem Clavier wie der geniale Prinz Louis Ferdinand, sein naher Verwandter, dem er auch im Aeußern glich. Er bat dann mit der Höflichkeit, die man bei einem so hochgebildeten Manne voraussetzen durfte, die Tochter möge ihn ihrer Mutter vorstellen.

Frau von Treskow erwiderte die verbindliche Anrede des hohen Herrn mit ihrer eigenthümlichen Freimüthigkeit und reizenden Lebhaftigkeit, die wie Sonnenstrahlen die trübe Atmosphäre gesellschaftlicher Gemeinplätze durchleuchteten und der Unterhaltung gleich mit dem ersten Worte eine anregende Wendung gaben. Auf die Frage, ob sie musikalisch sei, antwortete sie lächelnd:

„Nein, ich bin von jedem Talent verschont geblieben.“

In einem Berliner Salon, wo fast alle Anwesende mit ihren Leistungen glänzen wollen, war diese Anschauungsweise, das Talent wie ein Unheil zu betrachten, allerdings vollkommen begreiflich; der Prinz Georg fand sie sehr humoristisch und fühlte sich der liebenswürdigen Frau gegenüber gleich auf einen heitern Ton gestimmt, der nie wieder verklingen und ein ernstes Freundschaftsband anknüpfen sollte.

Schon am andern Morgen und dann fast alle Tage hielt die Hof-Equipage mit galonnirtem Jäger vor dem bescheidenen Gartenhäuschen in der Louisenstraße (später wohnten Treskows am Leipziger Platz Nr. 18 und zuletzt in der Bernburgerstraße Nr. 15 u. 16), welches Frau von Treskow sich wie eine Oase in der steinernen Wüste von Berlin mit ihrem Geschmack für Ländlichkeit eingerichtet hatte. Nebenan wohnte ihr alter Freund, Leopold von Ranke, der vom Gymnasiallehrer in Frankfurt an der Oder sich zum berühmtesten Historiker Deutschlands emporgearbeitet hatte. Der Prinz Georg fühlte sich rasch heimisch in dem Kreise der Familie von Treskow; er erzählte selbst später, daß es ihn dort wie Luft aus einer bessern Welt angeweht habe. Seine geistigen Bestrebungen wurden dort zum ersten Male auf ein bestimmtes Ziel hingeleitet und seine gemüthlichen Anforderungen vollkommen befriedigt. Er lernte dort die heitere Kunst und das ernste Leben in idealer Gestalt kennen. Namentlich aber regte in der befreiten und beglückten Stimmung dieses Hauses die Poesie ihre Schwingen; die Lust des Dichtens und Trachtens entflammte die Geistesfunken zu heller Glut.

Ada von Treskow hatte damals soeben ihre erste Sammlung von hochpoetischen Novellen drucken lassen, und Fürst Pückler schrieb mit Bleistift entzückte Randbemerkungen dazu. Kritik und Kunstregeln wurden eifrig besprochen; Prinz Georg hörte gedankenvoll zu und gab nach einigen Abenden voll lebhafter Erörterungen über Literatur ein Drama an Frau von Treskow. Nachdem sie es gelesen, sagte sie zu ihm: „Gnädigster Herr, das kann keine Erstlingsarbeit sein; sie haben schon mehr geschrieben.“ Das Geständniß, daß er schon lange heimlich dichte, erregte die Theilnahme seiner Freundin im höchsten Grade, doch versuchte sie niemals, ihn mit Rathschlägen zu behelligen; sie achtete die freie Entfaltung der Individualität des Genius viel zu hoch, um in den Fehler der meisten literarischen Rathgeber zu verfallen, durch guten Willens Ungeschick den Autor zu beirren, sie blieb jahrelang die schweigende Mitwisserin des Dichtergeheimnisses, das jedoch natürlich dem Freundschaftsbündniß zwischen ihr und dem Prinzen Georg eine besondere Weihe gab.

Prinz Georg sträubte sich lange gegen das Hervortreten mit seinen Productionen; erst durch wiederholtes Zureden der Genossen des Treskow’schen Kreises entschloß er sich, „Phädra“ dem ihm nah befreundeten Dichter, Baron Putlitz, mitzutheilen. Durch denselben wurde die Tragödie auf die Bühne gebracht und damit die Bahn für die übrigen dramatischen Werke des Prinzen gebrochen. Eine novellistische Arbeit „Vergilbte Blätter“, eine Porträtskizze aus dem Rahel-Kreise frühester Periode, die er nur durch Frau von Treskow vom Hörensagen kannte, ist erst kürzlich (Berlin, bei Hertz) erschienen und bewies seine Gabe für dieses Genre in überraschender Weise.

Den ersten Impuls zum Selbstproduciren hatte der Prinz durch die persönliche Bekanntschaft mit Rachel Felix empfangen. Mit staunender, begeisterter Bewunderung war er ihren Leistungen gefolgt; sie erschien ihm wie die Verkörperung der tragischen Muse. Seine Vorliebe für antike Stoffe ist namentlich ihrem Einflusse zuzuschreiben. Er sah sie zuletzt in Ems, wo sie, von ihrem Todesleiden schon ergriffen, ihm noch die schönsten Stellen aus ihren Rollen vortrug und dadurch einen nachhaltigen Eindruck auf seine ohnehin leicht erregbare Phantasie machte.

Frau von Treskow und ihre Tochter theilten seine Bewunderung für die große Tragödin, wie sie auch für alle seine anderen Sympathien immer ein reges Verständniß hatten. Das gegenseitige Vertrauen wuchs noch durch die Beziehungen, die der Prinz zwischen seinen hohen Verwandten und Herrn von Treskow vermittelte, indem er ihn zum Vorleser bei den Prinzen Friedrich und Alexander vorschlug. Die heiteren und geistreichen Abende, die sich auf diese Weise bald im prinzlichen Palais, bald im Salon der Familie Treskow aneinanderreihten, wurden indessen durch die Reisetage des Sommers für längere Zeit unterbrochen. Namentlich Treskows waren sehr reiselustig und scheuten keine Entfernung; sie betrachteten Constantinopel und Paris nur wie die Ziele eines Spazierganges, von dem sie für die Winterabende Stoffe zum Besprechen und Verarbeiten heimbrachten.

Auf einer Reise nach Italien stellte sich jedoch endlich ganz unverhofft eine Schicksalswendung ein, die Verlobung der Tochter, die von den Eltern abgöttisch geliebt wurde. Sie lernte den sardinischen Justizbeamten Signor Pinelli kennen und gab nach längerer Werbung seinen Bitten Gehör. Kaum hatte sie aber den schweren Entschluß gefaßt, ihre Eltern zu verlassen, als ihrem Vater die drohende Trennung von seinem einzigen Kinde durch einen raschen, schmerzlosen Tod erspart wurde. Herr von Treskow starb auf der Reise und wurde an einem seiner Lieblingsplätzchen in der Schweiz begraben.

[268] In tiefster Betrübniß kehrten die Seinigen nach Berlin zurück; daß Ada’s Myrthe von Cypressen verdunkelt wurde, that dem Mutterherzen der Frau von Treskow innigst leid; sie beschloß, sich nicht von der Tochter zu trennen, sondern ihr nach der neuen Heimath zu folgen, und ging daran, mit fester Hand die traute Häuslichkeit in Berlin aufzulösen. Trauernd sah Prinz Georg ihr zu; er ahnte, wie verwaist Herz und Geist durch die Trennung von der langjährigen Freundin sein würden. Seine Equipage hielt Stunden lang vor ihrem Hause. Er half sogar oft mit eigener Hand die Bilder und liebgewordenen Hausgeräthe in die Kisten und Kasten verpacken, die wie Särge einer schönen Vergangenheit dastanden, und geizte mit jeder Stunde, die er noch in dem Treskow’schen Hause zubringen konnte.

Um diese Zeit war ich als Wittwe von Frankfurt an der Oder nach Berlin gezogen; gemeinsame Erinnerungen an erstere Stadt und gleiche Trauer führten mich mit Frau von Treskow zusammen. Ich hatte den Prinzen Georg bei ihr kennen und werthschätzen gelernt; in einem Anfluge von Humor sagte ich einst, sie solle mich zur Erbin des Reichthums, den sie in Berlin hinterlasse, ernennen. Wehmüthig lächelnd gab sie mir dieses Versprechen und hat es gehalten. Durch ihre freundliche Fürsprache ist es mir zu Theil geworden, daß der Prinz Georg mir zuweilen sein Ohr leiht und mich in meiner bescheidenen Klause, die von den gütigen Berlinern „Salon“ genannt wird, mit seiner Gegenwart erfreut.

Frau von Treskow lebt seit beinahe sieben Jahren in Italien, wo ihre Tochter glücklich verheirathet ist. Prinz Georg steht noch im lebhaftesten Briefwechsel mit Frau von Treskow. Erst kürzlich hat sie ihm das Bild ihres Enkelsohnes – ein Raphael’sches Engelsköpfchen – zugesendet. Der Prinz fährt zuweilen langsam durch die Straße, wo seine Freundin gewohnt hat, und gedenkt der Vergangenheit mit sinnendem Auge.

Der hohe Grad von Werthschätzung, den der Prinz für Frau von Treskow an den Tag legte, wurde in manchen Gesellschaftskreisen allerdings „unbegreiflich“ gefunden, denn gar viele Augen sind blind für den Glanz des Geistes und die Schönheit der Seele, woran sie so reich ist. – In dem reizenden Romane „Fiamma“ hat Günther von Freiberg der Lesewelt ein treues Spiegelbild dieses schönen Zusammenlebens und dieser edeln Dichterfreundschaft geschenkt.
F. v. Hohenhausen.




Blätter und Blüthen.

Für das Studium unserer neueren Literatur. „Wenn dieses Werk dazu dient, der geistigen Entwicklung unserer Nation in diesem Jahrhundert einen rühmlichen Denkstein zu setzen, wenn es das Interesse der Gebildeten, das sich an einzelnen Erscheinungen zersplittert, auf die Gesammtheit unseres literarischen Lebens und ihre Bedeutung hinzuweisen und dem Stolze der Nation auf ihre geistigen Schätze, der sich mehr an die Vergangenheit wendet, auch für die Gegenwart einen sichern Halt zu bieten vermag: so ist sein Zweck vollkommen erreicht. Mag der Verfasser in einzelnen Urtheilen geirrt haben, er weiß, daß persönliche Zuneigung oder Abneigung nicht seine Feder führten, sondern nur der Ernst der Ueberzeugung und die Begeisterung für das nimmer alternde geistige Leben seiner Nation!“ Mit diesen Worten schloß Rudolf Gottschall im December 1854 die Vorrede zu seinem literargeschichtlichen Werke „Die deutsche Nationalliteratur des neunzehnten Jahrhunderts“. Seitdem hat das umfassende (von Trewendt in Breslau verlegte) Buch zwei weitere, jedesmal erheblich vermehrte Auflagen erlebt und dadurch schon den Beweis geliefert, daß es in der That mit seinem Inhalte einem Bedürfnisse großer Leserkreise entgegengekommen ist und durch die Art seiner Darstellung eine über die engere literarische Sphäre hinausgreifende Anziehungskraft geübt hat.

Nicht immer freilich sprechen solche äußere Erfolge für den inneren Werth eines Produktes, aber sie fallen doch stark in’s Gewicht, wo es sich um Arbeiten von ernsterem und wissenschaftlichem Charakter handelt. Gewinnen derartige Erscheinungen nicht blos die Theilnahme eines zahlreichen Publicums, sondern wissen sie auch viele Jahre hindurch sich dauernd in der Gunst desselben zu behaupten, so läßt sich schon annehmen, daß in ihnen keine auf flüchtigen Eindruck berechnete Fabrikwaare, sondern ein positiver Gehalt, ein tüchtiger und solider Kern geboten ist. Auch Gottschall’s Literaturgeschichte haben wir neuerdings wiederholt darauf angesehen und bei reiflicher Prüfung eine ganze Reihe von Punkten gefunden, welche uns die günstige Aufnahme des Buches erklärlich machen. Ein Volksbuch allerdings in einem begrenzten Sinne dieses Wortes ist es nicht. Wer aber von einer höheren, schon gereifteren Bildung aus eine emsig in’s Detail gehende Uebersicht unserer deutschen Geisteskämpfe und Literaturströmungen seit dem Anfange des laufenden Jahrhunderts erlangen will, der findet sie hier unter der Leitung eines kenntnißreichen und vielseitig gebildeten Schriftstellers, der mit Hingebung von frühester Jugend an alle Kraft seines Denkens und Schaffens diesen Studienkeisen gewidmet hat, der edle Wärme, Ernst und Schärfe der Gesichtspunkte mit farbenvoller Anmuth schöner Darstellungsform verbindet und unzweifelhaft einer unserer vorzüglichsten Prosaiker ist.

Damit wollen wir nicht gesagt haben, daß der Leser auf jedes Wort des Verfassers schwören, alle seine persönlichen Auffassungen theilen und jedes seiner Urtheile unterschreiben soll. Der Werth der Gottschall’schen Literaturgeschichte, die man als eine lange Reihe von verbundenen Essays und Abhandlungen bezeichnen kann, liegt eben nicht in jeder dieser verschiedenen, bald schwächeren, bald außerordentlich vortrefflichen Partieen, er liegt überhaupt nicht allein in dem großen Reichthume der mannigfach ja verbesserungsdedürftigen Einzelnheiten, sondern vor Allem in der lichtvollen Gruppirung, der glänzenden Bewältigung und ordnenden Gestaltung eines ungeheuren, noch in chaotischem Flusse begriffenen Stoffes. Wie es da im Ganzen vor uns sich entfaltet, ist es wirklich ein gedanken- und lebensvolles, in großem Stile entworfenes Gemälde zeitgenössischen Strebens und Schaffens, von dem wir überzeugt sind, daß es bereits förderlich und befruchtend auf den Fortschritt der nationalen Bildung gewirkt und daß es in Zukunft eine reiche und ernste Anregung, eine Erweiterung des Wissens und eine Ausfüllung wesentlicher Bildungslücken noch Vielen bieten wird, die es vielleicht in dieser unserer Hinweisung zum ersten Male genannt sehen.


Zu den bittersten Kriegsnachwehen gehört die nachträgliche Störung so mancher tüchtig und mit Glück betretenen Lebensbahn. Die Zahl der jungen Männer, welche durch den Krieg erst ihre Gesundheit und dann noch ihre frühere Lebensstellung verloren haben, ist gar nicht gering. Der Staat hat allerdings gethan, was er konnte: er giebt den so hart Geschädigten Pension und ertheilt ihnen Civilversorgungs-Berechtigung. Da es aber sehr schwer ist, letztere geltend zu machen, so muß manche junge tüchtige Kraft feiern und darben zugleich, wenn auch das Lazareth sein Möglichstes an ihr gethan hat. Von ganz besonderer Härte ist solch ein Schicksal – solch ein Lohn für den Vaterlandsdienst mit allen seinen Entbehrungen und Gefahren –, wenn der junge Mann den Kreisen höherer geistiger Ansprüche, der Künste, Wissenschaften und Kunstgewerbe angehörte und, aus rührigster Thäthigkeit gerissen, nun nicht nur völlig brach gelegt ist, sondern des Lebens Blüthezeit dahinschwinden sieht mit kaum anderer Aussicht als der auf ein frucht- und freudeloses Leben.

Wir kennen einen solchen jungen Mann, welcher, studirter Jurist, vor dem Kriege als praktischer Beamter eine anständige Stellung hatte. Diese verlor er in Folge seiner Invalidität und wollte er in dieselbe Carriere zurücktreten, so hätte er den Dienst so ziemlich von vorne anfangen müssen. Seit noch nicht einem Jahre wieder gesund, ist nun derselbe auf Grund seiner Civilversorgungs-Berechtigung bei sämmtlichen Behörden des Königreichs Preußen, bei sämmtlichen Reichsbehörden vorstellig geworden und hat überall die nämliche Antwort bekommen: „Wegen der Menge der Bewerber sei zur Zeit die Annahme seiner Person unmöglich.“ Er hat sich vergebens bemüht, eine Privatstellung zu erlangen bei der Versicherungsbranche, als Privatsecretär, bei Eisenbahnen etc. Er hat eine für seine Verhältnisse bedeutende Summe (circa sechzig Thaler) für Annoncen ausgegeben; Alles umsonst. Institute zur Unterbringung der Invaliden, wie „Invalidendank“ und andere, haben ihm auch nicht genützt. Kurz, er hat Alles, Alles probirt, überall gebeten, überall gebettelt, und nirgends ist ihm auch nur der Schimmer einer Hoffnung geworden. Und doch war er sehr bescheiden in seinen Ansprüchen; bei den öffentlichen und Privatbehörden hat er nicht etwa gleich Anstellung verlangt, sondern nur vorläufige Probeaufnahme; bei den Privatleuten hat er nur um kleine Stellen, als Secretär, Cassen- oder Rechnungsführer gebeten. Doch, wie gesagt, Alles umsonst. Man denke sich in die Lage eines solchen Bedrängten. Immer an geistige, anregende Beschäftigung gewöhnt gewesen und nun überall zurückgewiesen, verfällt er allmählich in Trübsinn und Stumpfsinn. Es ist schwer sich vorzustellen, wie erschlaffend und zersetzend eine solche Unthätigkeit auf Geist und Körper wirkt.

Wir haben unseren Lesern dieses einen Mannes Lage vorgestellt, weil wir hoffen, daß auf diesem Wege ihm geholfen werden könne, und stellen uns zur Vermittelung von Anträgen zur Verfügung.


Wieder eine schlechte Oster-Censur! (Mit Abbildung. S. S. 257.) „Warte! Ich will Dir die Faulheit anstreichen! Schämst Du Dich nicht vor Deiner Schwester, die wieder eine Eins bekommen hat, und Du, ein Junge, bist ein Nichtskönner und bringst Examenarbeiten voller Kleckse und Flecke? Wer kein Ehrgefühl hat, muß Hiebe haben! Geh’ her, Bürschchen!“

Eine solche schöne Rede wird zur jährlichen Examenzeit schon mancher brave Vater gehalten haben. Aber auch nicht weniger Großmütter oder Tanten hat der liebe Gott zum Schutz der kleinen Sünder geschaffen, die bittend die Hand auf den Arm legen, der, mit dem sonst so friedlicher Bestimmung gewidmeten Lineal bewaffnet, zur Execution schreiten will.

Die Mutter und die vom Vater so schön gelobte, verständig darein schauende Schwester gönnen vielleicht dem allzubeharrlichen Leichtsinn einen angemessenen Denkzettel, wenn sie auch die Bemühung der allzuguten Friedensstifterin nicht ungern sehen. Ganz anders schaut aber das kleine Schwesterchen, des Bruders treue Gespielin, darein: sie verzieht den Mund schon zum Schüppchen, und wenn Papa seinen süßen Liebling vielleicht gar weinen sieht aus Angst vor den Schlägen, die diesem selber am wehesten thun, so ist’s wohl möglich, daß das Lineal seiner ursprünglichen Bestimmung zurückgegeben wird, ehe es im Dienst des väterlichen Zornes für immer schmerzliche Erinnerungen an sein langes, hartes Holz geknüpft hat. Wir wollen für Beide, für den Jungen aus der Furcht vor der gerechten Strafe, und für das gute Schwesterherzchen aus der Begnadigung des Reuigen und Zerknirschten, das Beste hoffen.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Die im Verhältniß zu den anderen Zahlen, besonders auch der Tödtungen, auffallend hohe Ziffer der Passagierverletzungen in England erklärt sich, abgesehen davon, daß deren in der That dort mehr vorkommen als in Deutschland und Oesterreich, zum Theil aus dem Umstande, daß das Publicum in England sein gutes Recht, für unverschuldet erlittene Verletzungen entschädigt zu werden, besser kennt und verfolgt, als in Deutschland und Oesterreich, wo daher eine Menge leichter Verletzungen gar nicht zur Kenntniß der Verwaltungen kommt.