Die Gartenlaube (1873)/Heft 48

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1873
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 48.   1873.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Das Bild ohne Gnade.

Erzählung von A. Godin.
(Fortsetzung.)


5.

Daheim! – Als Thea zum ersten Male wieder im Vaterhause die Augen aufschlug, umfing sie ein wundersamer Zauber. Noch halb von Träumen befangen, die ihr den Pont royal gezeigt, ließ sie den Blick über das kleine Giebelzimmer schweifen, das sie kannte, soweit ihre Gedanken zurückreichten, wo ihr stets gebettet worden, so oft sie zum Besuch in die Heimath kam. Wie vertraut war ihr Alles! Die Wände mit den alterthümlichen Tapeten, deren gemalte Laubgänge das Zimmer zu erweitern schienen, die geschweifte Kommode mit Bronzebeschlägen, welche die Mutter einst zwischen altem Gerümpel auf dem Boden gefunden und restauriren lassen, der Spiegel darüber mit seiner Einrahmung von Spiegelglas, in welche Maiblumensträuße eingeschliffen waren – Alles heimelte sie an, und ein Gefühl kam plötzlich über sie, süß und weich wie Frühlingswehen. Erinnerung berührte sie mit heiliger Hand; das alte Kinderherz wachte auf. Den schönen Kopf auf den Arm gestützt, blickte sie mit leuchtenden Augen umher. Alles, was ihr einst lieb gewesen, war von der Liebe zusammen getragen worden, um das Kind des Hauses zu erfreuen. Dort hing, ihrem Bett gegenüber, der alte Kupferstich – Romeo und Julia auf dem Balle – den sie stets so gerne angeschaut, darüber ihr eigener Namenszug, aus den ersten Frühlingsblüthen und jungem Laub gewunden. Neben dem Seitentischchen die Hänge-Etagère mit all den Sächelchen, den Schätzen aus der Kinderzeit, die von der Mutter sorgsam bewahrt worden, nachdem die kleine Besitzerin in die Ferne gezogen.

Die Augen des jungen Mädchens wurden feucht. Alles, was während der letzten Jahre so bunt an ihr vorübergezogen, versank; sie besann sich auf nichts mehr, was nicht Heimath hieß. Da tönte eine Choralmelodie an ihr Ohr – das Glockenspiel der Katharinenkirche. Wie ein Kind sprang Thea von ihrem Lager hinab, warf ein Morgenkleid über, schlüpfte mit den bloßen Füßchen in die weichen Schuhe und eilte ans Fenster. Als sie den Laden zurückschlug, drang die Sonne mit vollem heiterem Strahl herein und tauchte draußen Alles in ihr goldenes Licht. Es hüpfte in blendenden Funken über die Radaune hin und lag in breitem Streif auf der noch menschenleeren Brücke. Zur Rechten ruhte, von den alten, wohlbekannten Bäumen umschattet, die große Mühle still auf der malerischen kleinen Insel, dahinter hob sich der vierkantige Thurm mit dem zierlichen Aufsatze, von dem der letzte Ton des Glockenspieles eben verhallte.

Daheim! – Eine Sehnsucht, die lange geschlummert, auf welche sie sich im letzten Jahre kaum mehr besonnen hatte, kam über sie – Sehnsucht nach der Stimme, den Augen der Ihren! Sie ordnete rasch ihr Haar, ihren Anzug und eilte hinab. Alles grüßte, die Treppe mit dem gedunkelten Eichengeländer, die schwere, in leisen Angeln gehende Thür, welche beide Stockwerke schied, drunten im geräumigen Flur die bis zur Decke reichenden braunen Leinenschränke und über den drei Zimmereingängen wohlvertraute, vergilbte Kupferstiche in schwarzer Holzumrahmung. Durch die mittelste Thür klang fröhliches Pfeifen, und als Thea öffnete, prallte Robert zurück, um sie sofort mit einem lauten „Bravo!“ in den Arm zu nehmen. Schon saßen die drei kleinen Schwestern um den gedeckten Frühstückstisch, auf dem heute ein Maiblumenstrauß und ein großer Napfkuchen prangte.

„Dir zu Ehren, Dora! Die Mutter hat ihn gestern selbst gebacken,“ vertraute ihr die jüngste der Schwestern, während die ihr entgegenrannte und gleich nach dieser Eröffnung das frische Gesichtchen schämig versteckte.

Thea sah sich um; mehr und mehr war ihr, als erwache sie aus Träumen zum lichten Tage. Ja dort in der Ecke stand noch der alte Sorgenstuhl, in welchem sie als Kind so gerne zur Dämmerzeit gekauert, wenn Robert, der daneben auf dem Schemel hockte, selbsterfundene Märchen erzählte. Leichten Fußes eilte sie hin und rollte ihn zum Tische an den Platz des Vaters, der sich heiter gefallen ließ, darin eingeheimst zu werden. Frau Sophie erschien mit dem Kaffee. Ihr immer noch hübsches Gesicht lächelte aus dem frischen Morgenhäubchen auf die volle Zahl der Ihren, die sie endlich wieder am eigenen Herde vereint sah. Mutterstolz lächelte ihr aus den Augen, so oft sie ihre schöne Tochter anblickte, so oft ein Wort Thea’s mit der Gedankenschnelle und glücklichen Ausdrucksform, die dem jungen Mädchen eigen war, ihr überraschend erklang. Ein unerhörter Bruch aller Gewohnheiten geschah – die unermüdlich schaffende Hausfrau saß heute eine volle Stunde am Frühstückstisch, bis die nahe Schulstunde den Familienkreis zersprengte. Nun gehörte das heimgekehrte Kind des Hauses ganz ihrem Vater, und wie in traulichem Zwiegespräche Frage und Wort sich aneinander reihten, stiegen auch wieder die Gestalten und Bilder der jüngsten Vergangenheit vor Thea auf – doch schien ihr Alles, was sie erfahren und gelernt, heute in weiter Ferne zurückzuliegen.

Dora – so hörte sie sich wieder rufen, und so gewöhnte sich ihr Ohr und Herz zu hören – fand sich zu ihrer eigenen Ueberraschung im Elternhause dauernd wohl, obwohl den geistigen Elementen, welche ihr zum Bedürfniß geworden, wenig Nahrung [772] geboten war. Unbewußt empfand sie, daß ein ganz natürliches Leben Allem die Wage hält. Der warme Odem glücklicher Familienverhältnisse umfing das junge Mädchen unendlich wohlthuend, und dieses Gefühl verließ sie nur dann, wenn Beziehungen von außen, aus einem ziemlich ausgedehnten Umgangskreise, an sie herantraten. Hier stellte sich Thea’s an feinste Lebensformen gewöhnter Geschmack meist zur Wehre, und sie isolirte sich bis zur Rücksichtslosigkeit, was nicht ohne Verstimmungen ablief. Während dies im Laufe der Zeit manchen Gegensatz mit den Eltern hervorrief – denn auch Rostan forderte von seiner Tochter, daß sie sich den Formen jener Welt fügen sollte, mit welcher sein Haus im Zusammenhange war – wurde Dora umsomehr von ihren Geschwistern vergöttert, die sie stets bereit fanden, sich ihnen zu widmen. Zwischen Robert und ihr entstand das innigste Verhältniß. Der ernste junge Mensch fand in der Schwester sein Ideal; sie allein theilte das Vertrauen über all sein innerstes Denken und Leben, das er bisher nur Einem auf Erden gegönnt. Von diesem Einen sprach er Dora gern, mit aller Inbrunst jugendlicher Begeisterung. Der älteste Sohn einer mit Rostans befreundeten Familie, die vor Kurzem durch Versetzung von Danzig entfernt worden, hatte sich des früher im Lernen zurückgebliebenen Knaben angenommen und ihm durch seine Nachhülfe das Aufsteigen in die höheren Classen früher erreichbar gemacht. Er besaß an dem jüngeren Freunde nun einen tief ergebenen Anhänger.

Nur Dora allein durfte die Briefe lesen, welche Robert von Zeit zu Zeit aus Berlin erhielt, wo Ernst Wernick seine Universitätsstudien beendete. Ihr aber brachte er die ihm heiligen Blätter um so lieber, als das lebhafte Interesse, womit Dora sie aufnahm, selbst seinem Enthusiasmus wohlthat. Was sie jahrelang umgeben, was sie jetzt oft entbehrte, der Ausdruck geistig concentrirten Lebens und Denkens, trat dem jungen Mädchen aus diesen Briefen entgegen, vertraut und doch völlig neu. Was ihr früher in glänzender Dialektik, im Streit aufeinander prallender Meinungen scharf und doch für ihren jungen Geist nicht völlig erfaßbar aufgegangen, trat ihr hier in schlichter Klarheit entgegen. So oft sie eines dieser Blätter aus der Hand legte, blieb ein befruchtender Gedanke bei ihr zurück, der gleichsam ein Licht über die Dinge ausströmte. Deshalb theilte Dora auch ihres Bruders Freude, als sein Freund im Laufe des Sommers schrieb, daß er einige Zeit in Danzig verleben würde, wohin ihn Geschäfte riefen. Ein kleines, seinem Vater zugehöriges Grundstück sollte verkauft werden, und da Jener nicht abkömmlich, wurde dem Sohne, welcher eben jetzt seine Studienjahre ganz vollendet, diese Angelegenheit zur Erledigung übertragen. Die Einladung Rostan’s, während seiner Anwesenheit ihr Gast zu sein, war gern angenommen worden, und Groß und Klein freute sich auf den seit Jahren schon dem Hause vertrauten Freund.

Um die gleiche Zeit etwa trafen, nachdem in der anfangs eifrig unterhaltenen Correspondenz des Grafen Hugo mit seiner Pflegetochter[WS 1] seinerseits eine ziemliche Pause eingetreten war, Briefe ein, worin er Dora und ihren Eltern seine Verlobung mit einer vornehmen Wienerin mittheilte. Er lud Dora nicht zu seiner Hochzeit ein, welche nahe bevorstand, schrieb ihr jedoch, daß er nach Rückkehr von der beabsichtigten Hochzeitsreise sie mit seiner Frau entweder abzuholen gedenke, oder, falls sich dies nicht sollte einrichten lassen, jedenfalls darauf rechne, sie wieder bei sich zu sehen, sobald sich entschieden, wo das Ehepaar sich zunächst fixiren würde. Der Ton dieses Briefes war nicht so unbefangen als jener, der an Rostans gerichtet war und mehr Aeußerliches verhandelte. Seine Braut sei reich, schrieb er, und nachdem er ihr Mittheilung gemacht, wären Beide übereingekommen, daß er in gleichem Sinne, wie früher seine Frau, über das Thea ursprünglich zugedachte Vermögen verfügen würde, da nun von nöthiger Vorsorge für etwaige weibliche Nachkommen abzusehen möglich wäre. Diese Verfügung zu Thea’s Gunsten schon zu seinen Lebzeiten in Kraft treten zu lassen, behalte er sich vor, wenn sie selbst sich einen Lebensgefährten gewählt.

War Thea über den sichtlich gezwungenen Ton betroffen, der sie aus den an sie gerichteten Worten kühl anwehte, so wurden dies ihre Eltern noch mehr durch die ihnen gemachte Mittheilung. Daß der Graf noch jetzt darauf bedacht war, sein Pflegekind in Abhängigkeit von sich zu erhalten, erschien bei der neuesten Gestaltung seiner Verhältnisse ganz unmotivirt und stimmte nicht zu dem cavalieren Bilde, welches Rostans von ihm festhielten.

Wurden diesen Eindrücken auch zwischen Eltern und Kind keine Worte geliehen, so wuchs aus denselben ein doppelt warmes Aneinanderschließen empor. Der Entschluß, seine Dora nicht zum zweiten Male aus dem Hause, von dem Herzen des Vaters fortzugeben, schlug in Rostan immer festere Wurzeln. Er sah keinen Grund mehr, sein Theuerstes einem Fremden überlassen zu müssen. Bald sollte dieser Gedanke des Festwachsens in der Heimath im Herzen seines Kindes ein stärkeres Echo finden, als er mit all seiner Liebe darin zu wecken vermocht hätte.




6.

Es giebt ein altes schottisches Lied von einfach süßer Melodie, dessen Refrain Jedem, der ihn vernimmt, Vergangenheit aufweckt, gehörte sie auch längst zu den Todten. „Nimmer vergißt das Herz den Traum der ersten Liebe.“ Bei seinem Klang steigt die Jugend wieder auf, reizender Schwermuth, köstlicher Wonnen voll; vor dem zarten Glanz der Erinnerung erblaßt jedes Bild der Leidenschaft, deren glühender Pinselstrich die lichten Farbentöne übermalt und verdrängt hat – unverwelklich blüht der Frühlingskranz, ein Duft, ein Accord, der Traum der ersten Liebe.

Das Paar, welches an einem sonnigen Augusttage zu der Felswand von Adlershorst aufstieg, träumte ihn auch. Den Anderen, deren Gesellschaft sie zugehörten, weit voran, unwillkürlich in gleichem Tempo schreitend, schien dort, wo sie wandelten, das Laub der Büsche grüner zu werden, das Sonnenlicht feuriger durch die Stämme des Waldpfades zu blitzen. Sie waren Beide so jung, so schön. Auf ihren leuchtenden, einander zugewandten Gesichtern lag göttliches Genügen.

„Hier,“ rief Dora lebhaft, indem sie mit ihrem Begleiter aus den Bäumen hervor auf die freie Höhe trat und einer dicht am steilabfallenden Grat der Klippe stehenden Bank zueilte, „hier ist mein Lieblingsplatz.“

„Und der meine,“ sagte der junge Mann leise, indem er sich neben ihr niederließ.

Dann verstummten Beide. Das Meer lag in überwältigender Großartigkeit vor ihnen ausgebreitet – so weit, als könnte der Sinn es nicht erfassen, so nahe, als sei es ein Theil ihrer selbst. Das dichte Laub der Büsche, welche die Klippe niederwärts bestanden, verbarg Landschaft und Ufer; nur die grünen Blätter zitterten als letzter, leiser Gruß der Erde zwischen den beiden jungen Gestalten und den unendlichen Wassern, die an den Himmel grenzten, gleich ihren Gedanken. Verhallt jeder Laut, überwältigt selbst das eigene Leben und Lieben. Nachdem sie einander mit einem einzigen langen Blick angeschaut, hing ihr Auge wie gebannt an der ruhigen Majestät des Meeres. Die langsam sinkende Sonne warf goldigen Hauch darüber hin und wob lichte Glorie um ein Segelschiff, das sich schwanenruhig am Horizonte wiegte.

Ernst Wernick’s Auge hing so gespannt an dem schimmernden Segel, das unbeweglich zu ruhen schien, als vernähme er ein Orakel. Sobald es nun weiterzugleiten begann, wandte er den Kopf und sah Dora an. Auch ihr Blick folgte dem ziehenden Fahrzeug, als wüßte sie des Freundes Gedanken.

Seine Hand erfaßte die ihre: „Noch badet sich’s im Lichte,“ sagte er halblaut, „dann schwindet es hin. So muß auch ich bald aus Licht und Glanz von dannen – wird Ihr Gedanke mir folgen, wie dem scheidenden Segel? Dora, sagen Sie – können Sie mich lieben?“

Dora sprach kein Wort. Sie nickte nur still, zog die Hand, welche ihre Rechte umschloß, empor und legte ihre Wange darauf. In der Bewegung lag so volle Hingebung, daß Ernst’s zögerndes Hoffen urplötzlich zum siegreichen Glück aufglühte. Sein Arm umfing die reizende Gestalt; sein Mund flammte auf ihrem Munde. „Meine Dora – meine Braut!“

Nur Himmel und Meer waren Zeugen des Bundes. Den jungen Lippen, welche sich Treue gelobten, war bis zu dieser Stunde noch nie ein Liebeswort entglitten; die Augen, welche ineinander tauchten, gaben und empfingen ihren Strahl aus ungekannten Sphären. Alle Himmel thaten sich auf.

Nahe Stimmen aus dem Walde weckten die Liebenden aus dem [773] ersten Glückstraum. Dora sprang auf; noch einmal tranken ihre Augen jeden Zug des geliebten Gesichtes in sich, dann enteilte sie, indem sie den Finger auf die Lippe drückte, und stand, als die Gesellschaft aus der Lichtung trat, bereits auf einer etwas tiefer gelegenen Stelle unter einem Rund von Bäumen, während Ernst den Anlangenden entgegenging.

Nicht seines Mädchens Auge allein haftete bewundernd auf dem jungen Mann, während er, von seinem Glück wie auf Flügeln getragen, einherschritt. Ein eigenthümlicher Hauch des Idealen umgab diese Jünglingsgestalt, blickte aus den dunkelblauen Augen, ruhte um den feinen, ernsten Mund. Wo er immer erschien, fesselte er das Interesse, ohne selbst etwas dazu zu thun, als daß er sich gab, wie er war. Es giebt einen indischen Stamm, dessen Unsterblichkeitsglaube dem Bösen jede Fortdauer abspricht, dem Guten aber in der Sterbestunde eine Lichtgestalt erscheinen läßt, die ihm sagt: „Ich bin, was Du gewollt hast, aber nicht erstreben konntest. Komm’ mit, es jetzt zu erreichen!“

Aehnlich wirkte Ernst’s reine, tief wahre Natur auf Alle fast, denen er begegnete. Die Lichtgestalt der eigenen frühen Jugend trat vor sie hin und sprach: „Was Du gewollt und nicht erstrebt – Dieser erreicht es.“

Und dennoch war, als Dora am Abende desselben Tages den Eltern in ihr Schlafzimmer folgte und ihnen vertraute, daß sie dem Gaste des Hauses Wort und Treue gegeben, der Eindruck dieses Geständnisses mehr Bestürzung als Freude. Namentlich erschrak Frau Sophie, so lieb ihr auch der junge Mann war, den sie seit seiner Kindheit kannte, wie ihren eigenen Sohn. Der Gedanke, Dora je mit ihm verbunden zu sehen, lag ihrem Geiste so fern, daß der trauliche Verkehr des Paares ihr nicht die geringste Besorgniß eingeflößt hatte. Jetzt hielt sie mit ihren Bedenken nicht zurück: Auf der einen Seite ein junger Mensch von dreiundzwanzig Jahren, geistreich und strebsam zwar, aber erst auf der Schwelle künftigen Lebensberufes, ohne Vermögen, selbst ohne Protection, vor einer noch ganz unsicheren Zukunft stehend – auf der anderen Seite Graf Mattern, der unverblümt geäußert, daß er Dora nur im Falle seiner Zustimmung zu einer von ihr getroffenen Wahl ausstatten würde, um dessen guten Willen solche Partie, die sicher seinen Ansichten nicht entsprach, Dora bringen könnte – dieses Bedenken gab das Thema zu lebhaften Einwendungen, die bei ihrem Manne nicht ohne Echo blieben. Sah Rostan, der den ganzen Werth Ernst’s kannte und anerkannte, auch mit freierem Blick auf das Verhältniß, welches sich geknüpft, so erfüllte es doch auch ihn mit ernsten Besorgnissen. Er beurtheilte Dora zu richtig, um vor ihr auszusprechen, daß seine Sorge sich vor Allem auf ihr eigenes reizbares Naturell richte. Ob ein Gefühl probehaltig sein würde, das, in täglichem Zusammenleben aufgekeimt, doch nur wenige Wochen zur Basis seines Entstehens hatte; ob seiner Tochter bewegliches, viel forderndes Wesen zu dem ernsten, beinahe strengen Charakter ihres Erwählten überhaupt passe; ob die junge Liebe all den Opfern gewachsen sei, welche hinsichtlich der Lebensgewohnheiten Dora’s und der ihr Jahre hindurch eingeimpften Ansprüche von ihr gebracht werden müßten – das waren schwere Bedenken, die ihn allem Bitten und Stürmen seines Kindes gegenüber fest machten. Er versagte, jetzt in eine Verlobung zu willigen, und forderte Aufschub jedes bindenden Gelübdes, bis Ernst in der Lage sei, an Gründung eines Hausstandes zu denken. Hatten die Jahre, welche bis dahin verfließen mußten, die Treue erprobt, dann blieb es frühe genug, ein unwiderrufliches Band zu knüpfen.

Dora widerstand dieser Forderung mit aller Leidenschaftlichkeit ihres Fühlens und Denkens. Was galt ihr der Graf, was galten ihr die Gewohnheiten eines Lebens voller Luxus, welche sie meinte abstreifen zu wollen, wie ein überflüssiges Gewand! Ihre Liebe verleugnen und vertagen, um äußere Vortheile nicht in Frage zu stellen, erschien ihr empörend, und doch mußte sie sich fügen, denn nach einer Unterredung, welche ihr Vater am folgenden Morgen mit Wernick tauschte, fand sie den Geliebten überzeugt, daß die an ihn gestellte Forderung erfüllt werden müßte.

Dora begriff ihn nicht, wollte ihn nicht begreifen. Die erste Wolke stieg am Himmel der Liebenden empor. Sie zürnte; er litt, ließ sich aber nicht bestimmen, Dora’s Verlangen nachzugeben, die ihn drängte, den Grafen aufzusuchen, sich ihm vorzustellen und dort um sie zu werben, um so zu ertrotzen, was ihr der eigenen Eltern Wille noch entzog. Erst im Moment des Scheidens empfing er wieder einen Blick der Liebe.




7.

Alles, was Dora das Elternhaus lieb und theuer gemacht, erblich vor dem Widerstande, den sie gefunden. Umsonst versuchte des Vaters liebreiche Hand, das Kind wieder so nahe an sein Herz zu ziehen wie zuvor; sie wandte sich kühl von ihm, trotziger noch von der Mutter ab, deren Weltklugheit sie die Schuld von Dem beimaß, was sie jetzt litt. Um so fester schloß sie sich an Robert, den einzigen Vertrauten ihrer Liebe. Hatte Ernst dem Vater auch sein Wort gegeben, mit Dora keine Briefe zu wechseln, bis derselbe es gestatten würde, so bestand seinem jungen Freunde gegenüber gleiche Vorschrift nicht, und Alles, was sich die Liebenden nicht sagen durften, stand zwischen den Zeilen der häufig hin- und wiedergehenden Briefe.

Schon brach der Winter herein, als ein paar kurze Zeilen des Grafen Mattern sein nahes Eintreffen in Danzig ankündigten und er denselben fast auf dem Fuße folgte. Er kam allein mit der Absicht, Thea zu seiner Frau zu bringen, mit welcher er sich vor Kurzem in der Residenz eingerichtet hatte.

Dem früheren Entschlusse entgegen, stimmten das junge Mädchen und ihre Eltern ohne Einwendung zu, Dora mit geheimen Absichten, Rostan mit dem Gedanken, daß ein vorübergehendes Zurücktreten in die langgewohnten Verhältnisse jetzt als Probe des Neuerlebten sehr am Platze sei, Sophie mit der stillen Hoffnung, eine Zukunft, die ihren Erwartungen nicht entsprach, den glänzenden Aussichten wieder weichen zu sehen, von denen sie für all die Ihrigen so viel erträumt hatte.

Graf Hugo verbarg die Befriedigung nicht, womit er seine Pflegetochter wiedersah. In der That hatte sich Thea’s Schönheit während dieses letzten Jahres glänzend entwickelt.

Schon während der kurzen Zeit seiner Anwesenheit und der gemeinschaftlichen Reise bot Thea allen Reichthum ihres Wesens auf, um dem Grafen innerlich nahe zu rücken; all ihr Hoffen und Denken bewegte sich nur Einem Ziele entgegen. Den Ansichten ihrer Eltern zum Trotze, dem eigenen Urtheile über Mattern entgegen, das aus ihren Erinnerungen aufstieg, wollte sie seinem Gemüthe abgewinnen, was seine Weltanschauung allerdings nicht zu gewähren versprach. Es bedurfte der Zeit, bis ihre Jugend begreifen lernte, daß Phantasie über leere Klüfte wohl Brücken schlagen, den Abgrund aber nicht ausfüllen kann. Als sie das Haus ihres Pflegevaters betrat, sah sie in ihm noch die Züge des selbstgeschaffenen Bildes und bedurfte solcher Illusion um so mehr, als Gräfin Wanda ihr vom ersten Moment an tief unsympathisch war und blieb.

Die Gattin, welche Mattern sich erwählt, gehörte einer der vornehmsten magyarischen Familien an. Eine aristokratische Erscheinung, aber keine aristokratische Natur. Ganz und gar fehlte ihr der vornehme Zug, die Dinge im Einzelnen gehen zu lassen. Ein rastloses Sichbekümmern um Alles und Jedes, was in ihren Bereich kam, wurde durch beste Formen zwar im Ausdrucke, aber nicht in der Wesenheit beschränkt. Das junge Mädchen, dessen Stellung zu ihrem Gatten sie in ihrer Weise aufgefaßt und angenommen hatte, mißfiel ihr von Anfang an durch die Selbstständigkeit, womit sie sich bewegte, womit sie den Ton des Protegirens, der ihr entgegenklang, ganz und gar zu ignoriren verstand. Noch mehr! Thea, vom Grafen in jeder Weise gehalten und gehoben, erregte Aufsehen und wurde zur bewundertsten Persönlichkeit, so oft sie erschien. Zwar begleitete sie Mattern selten oder nie in Gesellschaft außer dem Hause, der vielbesuchte Salon der Gräfin bot jedoch ein Terrain, auf welchem Raum genug war, eine außergewöhnliche Erscheinung zur vollen Geltung zu bringen. Während Graf Hugo eine persönliche Eitelkeit darein setzte, die Erfolge seines Pflegekindes so bemerklich zu machen wie möglich, wurde seiner Frau die Rolle, welche das bürgerliche Mädchen in ihrem Kreise spielte, geradezu unerträglich. Zu hochmüthig, dies auch nur anzudeuten, befriedigte sie ihren Mißmuth durch hundert kleine Nadelstiche, welche Thea’s stolzen Charakter jedoch nur zu stummer Opposition reizten, die sich in völliger Nichtbeachtung der versteckten Angriffe äußerte.

Von Tag zu Tag gewann das junge Mädchen mehr an Sicherheit und freier Beherrschung der gesellschaftlichen Formen; [774] von Tag zu Tag verlor sie dabei an jener Lauterkeit des innersten Wesens, die in der Heimath so duftend emporgestiegen war. Thea selbst empfand dies nur zu oft. Dann überfiel sie ein Heimweh, eine Verlassenheit, die sie in trostlose Stimmungen stürzte; dann flüchtete sie zu den Briefen, die, ihrem Bruder geschrieben, ihr zugedacht, regelmäßig den Weg zu ihr fanden, und badete darin ihre Seele wieder rein. Ernst lebte in ihrem Gemüth als Urbild alles Edeln und Hohen. Er stand ihr an der Stelle der Gottheit, zu der sie längst verlernt hatte den Weg zu finden. Diesem schwärmerisch geliebten Bilde gegenüber erschrak sie dann vor sich selbst. Eine Ahnung überkam sie, als wäre sie seiner nicht werth; sein unbeugsam reiner Sinn, der Alles verschmähte, was ihm zu klein und niedrig für sein wahres Sein erschien, zeigte ihr das eigene Spielen mit der bunten Welt, in der sie lebte, oft in vernichtender Beleuchtung. Noch hatte sie nicht mit dem Grafen gesprochen – anfangs warnte sie davor nur ein banges Befürchten des Mißerfolges; später zögerte sie freiwillig hin, was ihr im Wirbel der vielbewegten Tage nicht am Platze schien, und sagte sich, im Sommer, auf dem Lande würde sie bei ihrem Pflegevater bessere Stimmung für solche Mittheilung finden. Ein äußerer Anlaß sollte gelegentlich zur Sprache bringen, was Thea vor Monaten so stürmisch zu erzwingen gedacht.

Einer der jungen Männer, welche im gräflichen Hause verkehrten, ein wohlhabender Officier von angesehener bürgerlicher Familie, hielt um ihre Hand an, und Graf Hugo machte seinen Freiwerber. Wie sehr sie ihrer Sache geschadet, indem sie nicht dem ersten Herzensinstinct gefolgt und ihrem Pflegevater gleich nach dem Wiedersehen den geschlossenen Bund anvertraut, hatte Thea nun zu empfinden. All’ ihren Worten zum Trotz behandelte Graf Hugo das Geständniß, welches sie ihm ablegte, ganz obenhin als bloße Kinderei, die von ihren eigenen Eltern richtig taxirt worden sei, und als Thea ihm mit leidenschaftlichem Nachdrucke erklärte, sie betrachte sich als Braut und würde nie einem andern Manne die Hand reichen, erwiderte er ihr scharf und trocken, daß er seinerseits zu einer so unpassenden Partie weder seine Zustimmung geben, noch je dazu beitragen würde, solche Heirath möglich zu machen.

Diese Unterredung, dieses Beanspruchen von Rechten, welche Thea dem Grafen keineswegs zugestand, regte ihr Selbstgefühl zugleich mit ihrer Liebe leidenschaftlich auf. Alles, was sie äußerlich umsponnen hatte, wich vor den Forderungen ihrer innersten, groß angelegten Natur zurück. Sich unabhängig zu stellen, um ihre Liebe mutig zu kämpfen, sei es auch in der Gestalt, die ihrem Naturell am schwersten zu erfassen war – des Wartens und Schweigens, erschien ihr allein möglich. Sie schrieb ihrem Vater und öffnete ihm ihr ganzes Herz mit all’ seinen Schwächen, in all’ seiner Kraft. Schonungslos klagte sie sich selbst des Einflusses an, den der Cultus der Eitelkeit auf ihr Sein und Wesen geübt, und bat, sie heimzurufen, damit sie wieder gesunde.

Die Antwort auf diesen Brief blieb lange aus. Als sie endlich kam, war sie ein Donnerschlag. Der Vater, an dessen liebevolles Herz sie sich geflüchtet, hatte die Worte seines Kindes nicht mehr vernommen. Auf einer Dienstreise schwer erkrankt, hatte der Rath sein Haus nur erreicht, um dort die Augen für immer zu schließen.

Thea stand wie erstarrt vor dem ungeahnten Geschicke. Daß sie begehrte, sofort zu den Ihrigen zu reisen, fand keine Widerrede; die Gräfin selbst zeigte sich theilnehmend und bestand darauf, ihre eigene Kammerfrau als Begleiterin bis zur letzten Tagesstation mitzugeben. Thea widersprach in nichts. Sie verlangte nur nach Hause, mit dem dumpfen Gefühl, daß ihr starres Empfinden dort allein sich in Thränen lösen könnte.

Ja, Thränen flossen ohne Ende in dem Hause der Trostlosigkeit. Sophiens stets so frische Kraft schien gebrochen. Es war, als sei mit dem Hausvater der bindende Reif gefallen, der alles Leben der Seinen gehalten, als stürze nun Alles und Jedes zusammen. Nicht der männliche liebevolle Geist allein, auch die nährende Hand war dahin, und rathlos erschien die Zukunft. An der völligen Vernichtung, welche die Mutter gleichsam lähmte, stärkte sich Kraft und Wille der beiden ältesten Geschwister. Dora fand hier den Schwerpunkt wieder, der ihr während des letzten Jahres abhanden gekommen war. Sie übersah klar, was geschehen mußte, und daß es an ihr sei, Das, was vor Kurzem noch Gefahr und Versuchung gewesen, nun zum Opfer zu heiligen.

Sie schrieb zum erstenmale an Ernst – keinen Liebesbrief, wie das bräutliche Herz ihn in Gedanken tausendmal geschrieben. Mit voller Offenheit bekannte sie dem Geliebten Alles, was in ihr, was um sie her vorgegangen, legte ihm die gegenwärtigen Verhältnisse und was sie selbst zu tun gesonnen, dar und forderte seine Entscheidung.

Er brachte die Antwort selbst und brachte damit Trost in’s Haus, in all die leidvollen Herzen. Erst jetzt empfand Dora ganz, was er ihr war. Selbst wenn er nicht in ihrer Nähe, wenn sie aus dem anstoßenden Raume seine Stimme vernahm, einen Schimmer seiner Gestalt sah, erschauerte in ihr ein süßes Gefühl, das Trauer und Thränen in unbewußtes Lächeln verwandelte – wie Nebelbilder glitten dann vielfache Gestalten, die ihr begegnet, die sich ihr zu nähern versucht, an dem träumenden Sinn vorüber – wesenlos! Er war der Eine, der Einzige. Alles, was echt, was gut in ihr war, hob sich wie auf Schwingen, gehörte ihm allein. Ihr ganzes Innere blühte, duftete, strömte dem Geliebten entgegen – ihr war, als habe sie nicht nur ihn, als habe sie sich selbst wiedergefunden nach langer Entbehrung, langer Verbannung. An seiner Seite sitzen oder schreiten, in das tiefe, stille Auge blicken, ihren Namen mit dem Klang nennen hören, der nur der Liebe eigen, war Seligkeit.

Ernst betrachtete sich von dem einst dem Hingeschiedenen gegebenen Worte frei; wie die Verhältnisse heute lagen, durfte er den Verlassenen eine moralische Stütze für die Gegenwart, ein Halt für die Zukunft sein. Er besprach mit Dora und Robert, was zu thun möglich, und sie legten der armen, noch immer stumpf hinbrütenden Mutter bestimmt gefaßte Vorschläge zur Erwägung und Entscheidung vor, denen sie nicht nur ihre Zustimmung gab, sondern woran sogar ein Funke ihrer alten Energie wieder aufzuleben schien. Der Gedanke, daß sie mit den Kindern in ihre Vaterstadt übersiedeln und dort mit Beistand ihrer Verwandten eine Arbeitsschule für Mädchen gründen möchte, erschien ihr ausführbar. Die Summe, welche vom Grafen Mattern alljährlich als Zins des niedergelegten Capitals zu Dora’s Gunsten an Rostans gesandt wurde, sollte verwandt werden, um Robert’s bevorstehende Universitätsjahre zu ermöglichen, für welche Ernst ein Zusammenleben mit ihm anbot. Dessen eigenes Doctorexamen war bereits abgelegt; in drei, längstens vier Jahren hoffte er sein nächstes Ziel zu erreichen, als Privatdocent habilitirt zu sein und eine auskömmliche Existenz erreicht zu haben. Bis dahin mußte Dora im Hause des Grafen ausharren. Ernst gelobte der Mutter, daß er die Stellung seiner Braut zu ihrem Pflegevater durch keine Unvorsichtigkeit gefährden und das Geheimniß wahren würde, bis er in der Lage sei, als selbstständiger Mann ihre Hand zu begehren.

Die Liebenden tauschten Ring und Gelübde.

(Fortsetzung folgt.)



Eine wunderbare Werkstätte der Naturforschung.

„In das Innere der Natur dringt kein erschaffener Geist,“ so lautet das bekannte, vielcitirte und für Viele so bequeme und so tröstliche geflügelte Wort – und doch wie weit ist dieser Geist schon eingedrungen in das Zauberreich der Alles belebenden Naturkräfte, wie hoch hat er sich rechnend und messend aufgeschwungen zu den leuchtenden und kreisenden Welten über uns, und wie tief ist er zugleich mit der Schärfe des Gedankens hinabgedrungen in die dunklen Tiefen und bis in das feurige Innere des Erdballes!

Mit Recht ergreift stets Bewunderung und Ehrfurcht die staunende Menge angesichts der an’s Zauberhafte grenzenden Resultate der Wissenschaft, wenn der Astronom mit wahrhaft peinlicher Genauigkeit auf Decennien und Jahrhunderte hinaus Minute und Secunde des Eintrittes einer Mond- oder Sonnenfinsterniß

[775]

Schlundgang im Mittelpunkt des Berges.               Observatorium Palmieri’s               Der sogenannte kleine Krater.
Der Vesuv an der Mündung vor dem großen Ausbruch am 24. April 1872. Nach der Natur aufgenommen von Rob. Heck.

[776] daraus berechnet; in ganz ähnlicher Weise versucht nun heute auch der Geolog und Physiker die gewaltigen unterirdischen Ereignisse vorauszuverkünden, welche den Erdkörper in seinem innersten Marke erzittern machen. Um dies aber mit möglichster Sicherheit thun zu können, ist es nothwendig, ausdauernd und genau zu beobachten, und zwar an für diesen Zweck günstigen Punkten. In Europa bietet der Vesuv vortreffliche Gelegenheit. Der unermüdliche und gelehrte Wächter dieser nimmerruhenden Cyclopenesse ist der in neuerer Zeit so vielgenannte neapolitanische Professor Palmieri, der sich die sorgfältige wissenschaftliche Beobachtung des alten, höllischen Feuerspeiers sozusagen zur Lebensaufgabe gemacht. Bei dem letzten so verheerenden Vesuvausbruche hatte derselbe mit Bestimmtheit den Eintritt der Katastrophe zum Voraus angekündigt und verharrte während derselben, von den größten Gefahren bedroht und von glühenden Lavaströmen umfluthet, mit wahrem Heldenmuthe in seinem Observatorium, um ruhig den Gang des gewaltigen Naturereignisses zu verfolgen.

Wie es aber möglich ist, auf diese Weise als wissenschaftlicher Augur die geheimsten Launen Vulcan’s in den Eingeweiden des unheimlichen Feuerberges zu lesen, läßt sich nur begreifen, wenn man einen tieferen Blick in die innere Anlage und Ausstattung des genannten berühmt gewordenen Observatoriums näher in’s Auge faßt, wo, wie bereits erwähnt, Palmieri seine Beobachtungsstation aufgeschlagen hat, und hier mit Hülfe der ausgezeichnetsten Instrumente gewissermaßen in derselben Weise jede Regung und Zuckung des feuerspeienden Ungethüms registrirt, in welcher der Arzt am Krankenbette mit gespannter Aufmerksamkeit die Athemzüge und Pulsschläge des in Fieberhitze liegenden Patienten verfolgt. In der That umfassen die Räume dieser in ihrer Art einzigen Werkstätte der Wissenschaft eine Zusammenstellung von Apparaten, welche alles bisher auf diesem Gebiete Geleistete übertrifft und ein förmliches physikalisches Cabinet von höchstem und allgemeinstem Interesse bildet.

Das Gebäude selbst, welches schon 1844 von der neapolitanischen Regierung zur Beobachtung der mit den Eruptionen des Vesuvs zusammenhängenden Erscheinungen errichtet wurde, liegt unweit der in Schilderungen des Vesuvs oftgenannten Eremitage, zweitausendundachtzig Fuß über der Meeresfläche, auf dem Rücken eines Hügels, an dessen Abhängen schon so manches Mal der Strom der Lava sich gebrochen, ohne denselben bis jetzt überfluthet zu haben, und dessen Gipfel daher stets ein sicheres Asyl für die Pioniere der Wissenschaft blieb.[1] Das Gebäude ruht zunächst auf einem Unterbau aus soliden Gewölben; über diesen befindet sich eine Halle mit interessanten Sammlungen von Lava und sonstigen vulcanischen Mineralien, und von dort aus gelangt man sodann auf Stufen zu dem eigentlichen Observatorium. Der interessanteste Theil des letzteren ist die reiche Rüstkammer der seismographischen Apparate, das heißt derjenigen Instrumente, welche zur Markirung der vielartigen Erderschütterungen, insbesondere hinsichtlich des Zeitpunktes, der Dauer, Stärke und Richtung derselben dienen. Hier tritt uns in der That eine wahre Fülle des Neuen und Bewunderungswürdigen entgegen.

Die bisher gewöhnlich angewendeten Seismographen oder Erderschütterungsanzeiger bestanden meist einfach aus einer senkrecht stehenden, oben offenen und bis zum obersten Rande mit Quecksilber gefüllten Glasröhre. Trat nun ein Erdbeben ein, so wurde das Quecksilber, ganz ebenso wie bei einem vollkommen gefüllten und plötzlich angestoßenen Gefäße, in um so größerer Menge aus der Glasröhre herausgeschleudert, je heftiger der Erdstoß war, während zugleich die Richtung des letzteren deutlich durch die Seite angezeigt wurde, nach welcher sich das ausgeworfene Quecksilber ergossen hatte.

In wesentlich vervollkommneter Gestalt findet sich dieses mehr primitive Instrument auch in dem Palmieri’schen Observatorium und zwar in Form eines hölzernen Troges, welcher zu drei Viertheilen mit Quecksilber angefüllt und rings an seinem innern Umfange unmittelbar über dem Quecksilberspiegel mit acht gleich weit von einander abstehenden Löchern (den acht Haupt- und Zwischenhimmelsgegenden entsprechend) versehen ist, welche jedoch nach außen nicht offen, sondern mit einer Schraube verschlossen sind. Im Falle einer Erderschütterung gerät nun das Quecksilber, wie man sich dies an einem mit Wasser gefüllten Zuber vergegenwärtigen kann, in Schwankung, indem es an der betreffenden Wand des Troges emporsteigt und dabei zugleich in eines oder mehrere der bezeichneten, etwas nach außen geneigten Löcher einfließt, aus denen man dasselbe alsdann mittelst der erwähnten Schrauben, wie durch einen Hahn, außen ablassen und dessen Quantität bestimmen kann. Je mehr Quecksilber unter diesen Umständen in ein oder mehrere Löcher trat, desto heftiger waren offenbar die Erderschütterungen, und ebenso läßt sich auch aus der Lage der betreffenden, mit Quecksilber gefüllt gewesenen Löcher mit Sicherheit auf die Richtung der stattgehabten Stöße schließen.

Ungleich complicirter und umfangreicher, aber zugleich auch bedeutend vollkommener ist ein anderer höchst sinnreicher Apparat, bei welchem gleichfalls das Quecksilber die Hauptrolle spielt, daneben aber auch die Elektricität ihr wunderbares Spiel entfaltet. Man denke sich eine U-förmig gebogene, an beiden Enden offene Glasröhre, deren einer Schenkel beträchtlich länger als der andere ist, während dagegen der kürzere Schenkel in seinem Querschnitte die doppelte Weite vom ersteren besitzt. Bis zu einem gewissen Punkte ist die Glasröhre mit Quecksilber angefüllt, welches daher, wie bei allen communicirenden Röhren, in beiden Schenkeln gleich hoch steht. Von oben reicht sodann ferner in jeden der beiden Schenkel ein feiner Platindraht hinein, welcher in dem kürzeren und weiteren Schenkel in das Quecksilber eintaucht, wogegen er in dem längeren nur bis nahe an die Oberfläche desselben reicht: Jeder der beiden Platindrähte ist durch einen besonderen Leitungsdraht mit einem Pole einer keinen Daniell’schen Batterie verbunden, so daß demnach die hierdurch gebildete galvanische Kette nur an einer Stelle, nämlich in dem längeren und engeren Schenkel der Glasröhre unterbrochen ist, wo der Platindraht, wie erwähnt, nicht in das Quecksilber eintaucht.

Wird nun aber Letzteres durch eine Erderschütterung plötzlich in Schwankung versetzt, so äußert sich die Wirkung hiervon in diesem engeren Schenkel naturgemäß weit stärker als in dem weiteren und kürzeren Schenkel, und steigt daher auch das Quecksilber in dem ersteren am weitesten in die Höhe, wobei es zugleich nothwendiger Weise mit der Spitze des Platindrahtes in Berührung kommt. Hierdurch wird aber in demselben Momente die Kette geschlossen und der galvanische Strom in Circulation gesetzt, welcher nun durch ein in die Drahtleitung eingeschaltetes Läutewerk, sowie durch andere, sogleich noch näher zu beschreibende, mehr telegraphische Vorrichtungen die Erdstöße signalisirt.

Jedermann hat wohl heutzutage schon Gelegenheit gehabt, in einem Telegraphenbureau die sogenannten, das Hauptorgan aller Telegraphenapparate bildenden Elektro-Magnete (in Form aufrechtstehender mit übersponnenem Drahte bedeckter Rollen) zu sehen, welche bekanntlich beim Durchgange des elektrischen Stromes magnetisch werden und dadurch den sogenannten Anker, das heißt den bei der Zeichengebung thätigen eisernen Hebel anziehen. Zwei solche Elekro-Magnete sind nun auf dem Wege der beschriebenen Drahtleitung in einiger Entfernung von einander derart angebracht, daß der durch eine Erderschütterung in Gang gesetzte elektrische Strom durch sie hindurchgehen und sie somit in Thätigkeit setzen muß. Der eine derselben zieht dabei, ähnlich wie eben geschildert, einen eisernen Hebel an, dessen anderer Arm hierdurch hemmend in das Räderwerk einer ständig gehenden Uhr eingreift und Letztere stille stehen macht, womit demnach der Moment des Eintrittes eines Erdstoßes auf’s Genaueste durch den Zeitpunkt angegeben wird, in welchem die Zeiger der Uhr stehen geblieben sind.

Eine gerade umgekehrte Aufgabe fällt dagegen dem zweiten Elektromagneten zu. In demselben Augenblicke nämlich, in welchem der erste den Gang der Uhr hemmt, setzt der andere ein zweites Uhrwerk dadurch in Bewegung, daß er das bis dahin außerhalb der verticalen Lage festgehaltene Pendel durch die Bewegung der mechanischen Hebelvorrichtung plötzlich losläßt und so in Schwingungen versetzt. Von einer durch diese Uhr bewegten Walze beginnt nun gleichzeitig ganz ebenso, wie bei den gewöhnlichen Schreibetelegraphenapparaten, ein schmaler Papierstreifen sich mit der Geschwindigkeit von drei Metern in der [777] Stunde abzurollen, während zugleich ein durch den nämlichen Elekro-Magneten angezogener Hebel einen Bleistift so lange gegen den unter ihm hinweggehenden Papierstreifen drückt, als der galvanische Strom circulirt, das heißt so lange das Quecksilber in dem engeren Schenkel der U-förmigen Glasröhre durch die Wirkung einer Erderschütterung mit dem Platindrahte in Berührung bleibt und hierdurch die Kette geschlossen hält.

Sobald dagegen die Erschütterung aufhört und in Folge dessen das Quecksilber, wieder auf sein gewöhnliches Niveau zurücksinkend, außer Berührung mit dem Platindrahte gesetzt wird, hört auch der galvanische Strom durch die so bewirkte Unterbrechung der Kette zu circuliren auf, die hierdurch entmagnetisirten Elekro-Magnete lassen machtlos ihre Anker los, und sofort zieht sich damit zugleich auch der Bleistift von dem Papierstreifen zurück, bis ein neuer Erdstoß dasselbe Spiel des Apparates erneuert und den Stift wieder gegen das Papier drückt.

Auf letzterem müssen daher, je nach der Dauer der Erdstöße, Punkte oder Striche, von leeren Stellen unterbrochen, entstehen, und da man die Geschwindigkeit (drei Meter in der Stunde), mit welcher sich der Papierstreifen abwindet und auch während der Pausen und Stromunterbrechungen fortrückt, kennt, so liefert, wie leicht einzusehen, die Länge der entstandenen Striche und Zwischenräume ein genaues Maß für die Dauer sowohl der Erderschütterungen selbst, als auch der zwischen den einzelnen Stößen verstrichenen Zeit. Jede Schwankung des Quecksilbers in der Glasröhre spiegelt sich somit augenblicklich in treuem Bilde auf dem rollenden Papierstreifen ab, der so gleichsam mit seinen Punkten und Strichen als eine telegraphische Depesche aus dem dunkeln Reiche Vulcan’s zu betrachten ist.

Um aber dem Instrumente noch eine erhöhte Empfindlichkeit zu verleihen, ist nicht blos eine solche U-förmige Röhre, sondern es sind vier derselben in Verbindung mit der gleichen galvanischen Leitung aufgestellt, von welchen die eine von Norden nach Süden, die zweite von Westen nach Osten, die dritte von Nordwesten nach Südosten und die vierte von Nordosten nach Südwesten gerichtet ist. Ein Erdstoß, mag er in der einen oder anderen horizontalen Richtung erfolgen, muß daher jedenfalls in einer dieser Röhren zum Ausdruck gelangen.

Außerdem ist, behufs weiterer Controle und Messung der Bewegungen, über jedem längeren Schenkel dieser U-förmigen Röhren ein sehr leicht um seine Achse sich drehendes Elfenbeinröllchen angebracht, über welches ein feiner Coconfaden läuft, der mit seinem einen Ende in die Röhre hineinreicht und hier einen leichten, auf der Oberfläche des Quecksilbers ruhenden eisernen Schwimmer trägt, während an seinem andern, außerhalb der Röhre freihängenden Ende ein entsprechendes Gegengewicht befestigt ist. Ferner findet sich an dem Röllchen ein feiner Zeiger angebracht, welcher bei der Drehung des ersteren einen graduirten Kreisbogen durchläuft.

Beim Eintritt einer Erderschütterung wird nun der eiserne Schwimmer in dem längeren Röhrenschenkel beim Steigen des Quecksilbers mit letzterem in die Höhe gehoben, während das Gegengewicht vermöge seiner Schwere auf der andern Seite den Coconfaden um ebensoviel nach abwärts zieht und denselben hierdurch über das Elfenbeinröllchen hinbewegt, welches in Folge dessen in Drehung versetzt wird. Zugleich wird der erwähnte Zeiger vorwärts gerückt. Der letztere bleibt, auch nach dem Aufhören der Erschütterung, in der Lage, bis zu welcher er sich bewegt hat, stehen, weil das Gegengewicht das Herabsinken des Schwimmers mit dem Quecksilberniveau verhindert, und bildet so der von dem Zeiger durchlaufene und in Graden ausdrückbare Bogen ein Maß für die Größe des betreffenden Stoßes.

Ein weiteres, gleichfalls zur Controlirung horizontaler Erdstöße dienendes Instrument von befriedigender Empfindlichkeit ist das im Folgenden beschriebene, bei welchem kein Quecksilber, sondern lediglich feste Körper zur Anwendung gebracht sind. Das Princip desselben besteht einfach darin, daß eine mittelst eines feinen Drahtes frei aufgehängte Metallkugel, das heißt also ein Pendel, nothwendiger Weise in der Richtung schwingen wird, in welcher ein Erdstoß erfolgt. Ein solches Pendel ist nun an einem feststehenden Arme derart angebracht, daß die Kugel desselben gerade im Mittelpunkte eines horizontalen hölzernen Ringes oder Kreises hängt, welcher rings an seinem ganzen Umfange von wagerechten, gleichweit voneinander abstehenden Löchern durchbohrt ist, in welchen runde Stäbchen oder Glasröhren, leicht verschiebbar, stecken, welche somit vom Mittelpunkte des Ringes, das heißt von der Kugel aus nach allen Seiten hin strahlenförmig auseinander laufen. Erfolgt nun eine Erschütterung, so muß die in der entsprechenden Richtung schwingende Kugel an eines oder mehrere dieser Stäbchen anschlagen, und sie um so weiter nach außen verschieben, je heftiger die Erschütterung war. Der Grad dieser Verschiebung giebt daher einen Maßstab für die Stärke der Erdstöße ab, sowie man andererseits aus der Lage der verschobenen Stäbchen einen sichern Schluß auf die Richtung derselben ziehen kann.

Allein auch zur Beobachtung verticaler Erderschütterungen hat Palmieri Apparate von einer Feinheit und Empfindlichkeit construirt, wie dieselben kaum vollkommener gedacht werden können. Auch hier machen sich Magnetismus und Elektricität den Zwecken der Wissenschaft in einer Weise dienstbar, daß dieselben so zu sagen als die eigentlichen Beobachter zu betrachten sind und dem Forscher fast nichts zu thun übrig bleibt, als die durch die Apparate registrirten und telegraphierten Thatsachen abzulesen, wie wir dies bereits bei dem oben geschilderten galvanischen Apparate gesehen haben, und kann daher in dieser Beziehung das nachstehend geschilderte Instrument gewissermaßen blos als eine Modification jenes Apparates bezeichnet werden, indem es in der Hauptsache ganz auf demselben Principe beruht.

Dasselbe besteht zunächst aus einer ziemlich langen, äußerst leichten Spirale von feinstem Messingdrahte (den gewundenen Springfedern in Matratzen vergleichbar), welche, circa dreizehn bis vierzehn Windungen umfassend, einen hohen Grad von Beweglichkeit und Elasticität besitzt und mit ihrem oberen Ende an einem eisernen Arme frei aufgehängt ist. An ihrem untern, freischwebenden Ende ist dagegen eine feine verticale Platinspitze angebracht, welche von oben in ein mit Quecksilber gefülltes eisernes Becken hinein und bis dicht an die Oberfläche des Quecksilbers reicht.

Vermöge ihrer Elasticität geräth aber die Spirale bei jeder äußeren, auch noch so leisen Erschütterung in lebhaft auf- und abwärtsgehende Schwankungen, wobei die Platinspitze regelmäßig mit dem Quecksilber in Berührung kommen und in dasselbe eintauchen muß. Fügen wir nun noch hinzu, daß der eiserne Arm, an welchem die Spirale aufgehängt ist, in derselben Weise, wie wir dies bereits oben beschrieben haben, durch einen Leitungsdraht mit dem einen Pole einer galvanischen Batterie und in gleicher Weise auch das eiserne, mit Quecksilber gefüllte Becken mit dem andern Pole der Batterie verbunden ist, und daß ferner dieselben Elektromagnete, wie oben, nebst den dazu gehörigen Uhren und bereits beschriebenen telegraphischen Vorrichtungen mit dieser Leitung in Verbindung gesetzt sind, so ist das Spiel des Apparates von selbst klar.

So oft nämlich ein verticaler Erdstoß die Spirale in Schwingung versetzt und hierdurch die Platinspitze in das Quecksilber eindringt, wird die bis dahin allein an dieser Stelle unterbrochene Kette geschlossen, das heißt der galvanische Strom beginnt mittelst der Leitungsdrähte von der Batterie aus durch den eisernen Arm, die Spirale und das Quecksilberbecken hindurch zu circuliren, womit zugleich die Elektromagnete in Function treten und zunächst durch ein elektrisches Läutewerke dem Beobachter den Eintritt des Phänomens signalisiren, während gleichzeitig der durch den einen Elektromagneten bewegte Bleistift die Dauer und die Unterbrechungen der Stöße genau auf dem sich abwindenden Papierstreifen in Strichen und Punkten registriert. Sobald dagegen die Erschütterung nachläßt, kehrt die Spirale mit ihrer Platinspitze wieder in ihre gewöhnliche Lage zurück, das heißt es tritt letztere aus dem Quecksilber heraus, wodurch somit in demselben Augenblicke die Kette und der Strom unterbrochen und folglich die Thätigkeit des Apparates so lange eingestellt wird, bis eine neue Erderschütterung die Platinspitze wieder in das Quecksilber eintauchen macht, und so die Brücke wieder herstellt.

Aehnlich, aber ungleich einfacher und darum natürlich auch weniger exact ist eine andere Anordnung, bei welcher gleichfalls eine Spirale, wie die oben beschriebene, frei an einem Arme herabhängt und an ihrem untern Ende statt der Platinspitze in verticaler Richtung ein Magnetstäbchen trägt, unter welchem ein kleines Gefäß mit Eisenfeilspähnen steht, welche letztere der Magnet jedoch nicht berührt, sondern blos bis dicht an deren Oberfläche [778] heranreicht. Wird nun die Spirale durch einen vertikalen Erdstoß in Schwingung versetzt, so kommt das Magnetstäbchen hierdurch nothwendiger Weise mit den Eisenfeilstäubchen in Berührung, von welchen letzteren alsdann um so mehr daran hängen bleiben, je tiefer dasselbe durch eine mehr oder weniger kräftige Erschütterung in dieselben eingetaucht wurde. Allerdings vermag dies nur annähernd einen Maßstab abzugeben; allein es liegt darin immerhin eine nicht zu unterschätzende Controle der Angaben der übrigen Instrumente, worauf es zur Vermeidung von Irrthümern hier in hohem Grade ankommt.

Einen bemerkenswerthen Gegenstand der in Rede stehenden Beobachtungen bilden außerdem die regelmäßig durch Erderschütterungen bedingten Störungen und Abweichungen in den täglichen Variationen der Magnetnadel oder mit anderen Worten der Einfluß vulcanischer Vorgänge auf den Erdmagnetismus, und ist deshalb für diesen Zweck neben den eigentlichen seismographischen Apparaten in einer besonderen Abtheilung des Observatoriums auch eine Reihe magnetischer Instrumente aufgestellt.

Professor Palmieri inspicirt sämmtliche Apparate selbst regelmäßig dreimal am Tage, und außerdem ist neben ihm stets noch ein Assistent zur Ueberwachung der Apparate anwesend, um sofort beim Schalle der Glocke des elektrischen Läutewerks nachzusehen, die gemachten Wahrnehmungen zu registriren und die Instrumente für neue Beobachtungen wieder auf ihren normalen Stand zurückzuführen.

Was nun die Leistungen der letzteren anbetrifft, so sind dieselben wirklich erstaunlich. Nicht wenig trägt hierzu allerdings die vorzügliche Lage des Observatoriums auf dem Rücken des alten, ewig kochenden und qualmenden Feuerberges bei, in dessen unterwühlten Flanken jede Bewegung, jedes Aufwallen des glühendflüssigen Erdinnern noch aus ganz enormen Entfernungen, wenn auch oft nur in leisen, kaum fühlbaren Schwingungen, nachzittert. So war zum Beispiel Palmieri bei Gelegenheit der letzten großen Eruption auf Santorin im griechischen Archipel auf Grund seiner Beobachtungen im Stande, lange bevor die Nachricht von jenem Naturereignisse nach Italien gelangt war, öffentlich zu verkünden, daß irgendwo eine unterirdische Störung stattgefunden haben müsse, und ebenso documentiren sich auch die vom Aetna auf Sicilien ausgehenden Erscheinungen und Erschütterungen regelmäßig durch die entsprechenden Veränderungen an den Instrumenten der gelehrten Warte des Vesuvs. Ueberhaupt finden erfahrungsgemäß alle vulcanischen Bewegungen in dem ganzen Bereich des mittelländischen Beckens mehr oder weniger hier ihren seismographischen Ausdruck und ergiebt sich schon hieraus zur Genüge auch die hohe praktische Bedeutung dieser ganz eigenartigen vulcanischen Beobachtungsstation.

Zu wünschen wäre dabei nur, daß dieselbe möglichst selten diesen ihren praktischen Nutzen zu betätigen und vor ernsten Katastrophen zu warnen haben möge.

Emil Sommer.





Ein Wasserbad in der Grotte von Monsummano.[2]
Von Heinrich Noé.

Einen unerquicklicheren Aufenthalt, wenn es winterlich fröstelt und nässelt, als Florenz mag es nicht geben. Im hohen Saale des Gasthauses geht die Wärme des Kaminfeuers verloren. Wenn man nicht vor den Flammen sitzt, friert es einen, vor dem Kamin aber kann man nicht arbeiten. Das graue Gespenst der Langweile droht vor den hohen Fenstern, vom löschpapierfarbenen Himmel in den ungemüthlichen Albergo herein. Und wie schaut’s draußen, in den engen, finsteren Straßen des „himmlischen Firenze“ aus? Decken wir für heute den Mantel christlicher Liebe darüber, bis ich später vielleicht einmal auf die viel gepriesene Blumenstadt zurückkomme.

Während ich mich im unheimlich kalten und finsteren Café über die Kunstwuth ärgerte, die eine Stadt mit zahllosen Palästen und Bildwerken, aber nur mit einer Jauche von Trinkwasser auszustatten weiß, fiel mein Blick auf den gegenüberliegenden Laden eines Büchertrödlers. Das war eine Erleuchtung! Ich ging hinüber und stöberte, wie Bücherwürmer zu thun pflegen, in alten und neuen Bänden herum.

Da gerieth mir ein einzelnes Blatt in die Hände. Es war ein Prospect, dessen Titel auf Deutsch lautete: „Grotte von Monsummano. Anstalt natürlicher Dampfbäder im Eigenthum der Ehegatten Nencini-Giusti.“ Bei diesen Worten erinnerte ich mich, vor einiger Zeit von einer tiefen Höhle im Apennin von Pistoja gelesen zu haben. In diesen unterirdischen Räumen sollten brühheiße Luftströme wehen und grüne Tümpel warmen Wassers stehen. Ich hatte auch von der Sängerin La Grua gehört, welche in der Höhle ihre Stimme wieder erhalten haben sollte. Was war natürlicher, als sofort an eine Flucht aus der grauen, eisigen Oberwelt zu den warmen Herzkammern des Erdinnern zu denken! Wäre ich der ersten Regung gefolgt, ich hätte dort unten meinen Winteraufenthalt genommen, statt in der Trübung hier oben, in welcher die graugrünen Oelbäume aussahen, als ob es sie fröre.

Eine Stunde später saß ich auf der Eisenbahn nach Pistoja. Ohne mich in dieser langweiligsten aller Städte aufzuhalten und abermals einen Versuch zu machen, die vielgerühmte „Grazie der Pistojesen“ zu entdecken, fuhr ich sofort nach Pieve a Nievole, der Bahnstation für die Grotte. Die Haupthöhenzüge des Apennins, die Berge der Garfagnana und die erst vor wenigen Jahren entdeckten Schönheiten der Alpi Appnane bleiben dort hinter ölbewachsenen Hügeln versteckt.

Dagegen erscheint in der Ferne der sumpfige See von Vientina – den toscanischen Jägern, die auf Enten und anderes wildes Geflügel ausgehen, ein gelobtes Gestade. Doch davon soll jetzt nicht die Rede sein. Aus den Gründen, die später beim Eintauchen in die Unterwelt angegeben werden sollen, hat sich in dieser Gegend bereits das Pensions- und Curhôtelwesen aufgethan. Aber fragt nur nicht wie! Zum Thränenlachen ist’s, wenn man im Orte Pieve wie im größeren Orte Monsummano eine solche Anstalt nur von außen betrachtet und sich dabei die Einbildungskraft der Italiener vorstellt, welche meinen, für solche Quartiere werde das herbeigeeilte Europa seine Goldfüchse da lassen.

Ich begab mich also von Pieve a Nievole nach Monsummano und hörte daselbst über die wunderbare Grotte Folgendes. Vor ungefähr fünfzehn Jahren trafen Hirten, welche auf dem Hügel, den die Trümmer des Castells von Hoch-Monsummano krönen, unter den Oelbäumen im Gestrüpp ihre Schafe hüteten, unter Lavendelstauden auf ein Loch im Boden, in welchem die hineingesteckten Stäbe keinen Grund fanden. Es wurde dem Eigenthümer des Bodens hiervon Mittheilung gemacht, das Loch durch Sprengung erweitert, und zum Erstaunen der Arbeiter schlug eine Backofenhitze aus der Tiefe herauf. Jener Eigenthümer aber war kein anderer als der auch in Deutschland bekannte Dichter Giusti. Die Entdeckung wurde in Zeitungen verbreitet. Französische und italienische Aerzte geriethen auf den Einfall, die heißen Luftströmungen, die unablässig aus dem Innern der gewundenen Gänge hervorbrechen, zu Heilzwecken zu benutzen. Rheumatische und Gichtbrüchige sollten entkleidet in den Gängen umherwandeln und im Hauch der Mutter Erde gesunden. Die Verdunstung, welche von diesem Samum der Tiefe hervorgebracht wird, wurde als heilkräftig betrachtet und hierbei wurden auch verschiedene elektrische und magnetische Wirkungen in Betracht gezogen, die man sich mit dem Brühdunste verbunden dachte. Kossuth war einer der Ersten, welche herbeieilten, und fand in diesen Räumen Heilung. Er verfehlte nicht, das in öffentlichen Blättern zu verbreiten, und der Ruf des Kossuth Lájos genügte, um mehr Leute anzulocken, als es ein Dutzend wissenschaftlicher Abhandlungen vermocht hätte. [779] Es fehlte nur noch Garibaldi, der bald darauf kam und sich als nicht minder zugkräftig bewährte. Jetzt haben schon ferne Völker ihre Beiträge zum Zusammenfluß von Menschen gestellt, die hier vor der Grotte wie vor einem Teiche Bethesda sich sammeln und den Engel erwarten, der das Wasser bewege. Hier ist der Engel der heiße Sturm, der in den Erdgängen tobt. Schon haben auf diese Grotte pommerische Pastoren Festgrüße geschmiedet, niederösterreichische Bauern über ihre heilsame Wirkung Zeugnisse ausgestellt, ungarische, dänische, schwedische Poeten Hymnen auf sie gedichtet. Daß die Engländer nicht fehlen, braucht nicht erwähnt zu werden.

Die Schwester des Besitzers der Grotte, des Dichters Giusti, hat den Hauptmann Nencini geheirathet und haust mit ihrem Gemahl und einer sehr anmuthigen jugendlichen Tochter in einem Schlosse zu Monsummano. Da es Winter war, mußte ich den Herrn Hauptmann aufsuchen. Denn im Winter ist der Zugang zu der alsdann geschlossenen Grotte nur durch diesen Herrn zu erreichen. Ich fand die Familie theils über der Fremdenliste der abgelaufenen Saison studirend, theils in Berathung mit Geschäftsleuten über die Erweiterung der Anstalt, die so angelegt ist, daß man durch sie hindurchgehen muß, um in die heiße Höhle zu gelangen.

Der Capitano Nencini also, der sich von seiner Frau noch den Namen Giusti beigelegt hat, setzte sich in einen von mir aus dem schmutzigen Gewühl des Wochenmarktes geholten Wagen und fuhr mit mir auf einem bodenlosen Wege bis in die Nähe der Grotte und seines Curhôtels. Dieses wurde aufgesperrt und einem Diener bedeutet, Kerzen anzuzünden, damit ich die Vorhallen der heißen Gänge sehen könne. Denn weiter als einige Schritte in diese einzudringen, behauptete der Capitano, sei während des Winters unmöglich. Denn es sammelt sich Wasser darin an und überfluthet die Senkungen des Bodens, Wasser, welches vielleicht nach Regengüssen durch die Bergadern eingesickert ist, vielleicht aber auch mit der Hebung des Spiegels der umliegenden Flüsse und Sumpfseen zusammenhängt. Ich erklärte aber dem Capitano, daß mich dieses Wasser, falls es nicht bis zur Decke hinaufreiche, nicht hindern würde, die unterirdischen Hallen zu besuchen. Denn es mußte offenbar von dem heißen Winde, der darüber hinweht, gewärmt sein und konnte so ein warmes Schwimmbad abgeben, wie man es nirgends mehr antrifft. Der Capitano war über diesen Vorschlag verblüfft, denn wie allen Italienern geht auch ihm der Sinn für Reize der Natur ab, besonders wenn sie mit seltsam scheinender Thätigkeit errungen und genossen werden sollen.

Ich stieg mit einem Knechte die Treppen hinab, die zum Eingang der Grotte führen, auf welchen das Haus hinauf gesetzt worden ist. Als wir die von Menschen gemachte Wölbung verließen und in die Nähe des ersten von der Natur im Felsen geschaffenen Bogens kamen, däuchte uns eine Anwandlung von Schlaganfall zu überkommen. Ich und mein Reisegenosse, der bekannte philosophische Schriftsteller Karl von Duprel (der sich unterwegs mir angeschlossen hatte) erkannten die Unmöglichkeit, hier einen Schritt in Kleidern weiter zu gehen, wenn wir uns nicht, statt in der unterirdischen Fluth, im eigenen Schweiße baden wollten.

Wir entkleideten uns also vor dem dunkeln Schlund und zogen nur eine Art von Leinwandmantel, wie ihn die Friseure beim Haarschneiden umhängen, an, welchen der Diener mitgebracht hatte. Dieser Mantel ist unerläßlich für die Curgäste, und mehrere Bestimmungen des Reglements deuten energisch auf die Decenz hin, die unter dem Schutze dieses Mantels bewahrt werden müsse.

Der Diener hatte uns darauf hingewiesen, daß die Hitze, die wir hier vor dem Gewölbe verspürt, noch nichts sei in Vergleich mit der, welche wir antreffen würden, wenn wir die Grotte selbst beträten. Und er hatte Recht. Denn nach den ersten Schritten in dem Felsengange, auf dessen Decke und Wände die Kerzen ein mattes Licht warfen, wurden wir sprachlos vor Erstaunen. Nicht etwa als ob uns die Wärme in unserer luftigen Gewandung unangenehm geworden wäre, wie etwa, wenn man in den Schlund hineinschaut, welchem beim alten Bad zu Bormio die heiße Quelle entspringt, oder in irgend eine der Spalten, aus welchen die Gasteiner Wasser zum Vorschein kommen. Es war das Gefühl unendlichen Behagens, eine Empfindung, wie sie für uns Beide noch nie dagewesen war. Die Luft ist heiß, aber sie ist ein Strom. Schweiß muß verdunsten und dadurch sofort im Körper ein Bewußtsein von Lust erzeugt werden, wie es annähernd schließlich die langwierige Quälerei der irisch-römischen Dampfbäder hervorbringt. Der Unterschied ist nur der, daß man hier, in diese Empfindung eingetaucht, stundenlang herumgehen und Gänge in’s Erdinnere hinein unternehmen kann, während sie dort nur als Gegenwirkung gegen die vorausgegangenen Torturen eintritt und sich beim Hinausgehen auf die Gasse bald wieder abschwächt.

Es ist wirklich etwas an dem Glauben, der die Wärme des Erdinnern für ein Agens hält, das anders wirkt, als andere auf der Oberfläche künstlich erzeugte Wärme. Wir liegen am Busen der Mutter. Es weht uns titanisch an aus diesen Dunkelheiten. Der leichte Mantel hindert nicht, daß die ganze Oberfläche des Körpers den Einwirkungen dieser unsichtbaren Fluth des Urlebens anheimgegeben sei. Wie die Erdwärme des Gasteiner Wassers nicht durch Abkochen ersetzt werden kann, so mögen auch in diesem Luftstrom unwägbare Dinge zittern und wirken, welche kein Ofen in dieser Vereinigung nachbildet. Kurz gesagt, das Luftbad in diesen Schlünden ist Wonne.

Nach wenigen Schritten sahen wir indessen die Vorhersage des Capitano erfüllt. Der für die Kranken angelegte und mit einem Geländer versehene Planken-Weg in den Gängen, welche etwa zwölf bis fünfzehn Fuß hoch sind, endigte jetzt urplötzlich in einem Wasserbecken. Obgleich nun dieses nur von Kerzen erhellt wurde, erkannte man die grünliche Farbe der glashellen Fluth, die durchaus nicht anders aussah, als irgend ein Tümpel, in welchem sich der nächste beste Alpenbach sammelt. Dieser Wasserspiegel setzte sich so weit fort, daß wir in der Dämmerung der Höhlengänge bei unserer unzureichenden Beleuchtung sein Ende nicht absehen konnten. Indessen hatten wir immerhin noch Glück gehabt, denn wären wir etwa zwei Wochen früher gekommen, so würde uns schon der Eingang, die Höhlung, in welcher wir unsere Kleidung zurückgelassen hatten, von der angestauten Fluth verschlossen gewesen sein. Sie war seit dieser Zeit um etwa zehn Fuß gefallen.

Die Grotte von Monsummano ist ein Luftbad unter der Erde. Wir aber benutzten sie als Wasserbad, was nach den Aussagen des Besitzers und des Dieners noch niemals vorgekommen war. Nachdem wir diesem die Lichter abgenommen und ihn fortgeschickt hatten, stürzten wir uns in die laue Fluth und trugen sie zunächst auf ein von weißen Tropfsteinen gebildetes Vorgebirge in Miniatur, welches in den flaschengrünen, von unseren Lichtern bernsteinfarbig hier und dort durchhellten See hineinragte.

Nunmehr überließen wir uns dem namenlosen Vergnügen des Schwimmens in dieser Unterwelt. Bis an’s Kinn in das wohlige Wasser getaucht athmeten wir die Luft der heißen Erdtiefen, in der sicherlich so manches Salz, so mancher von den Kammern der Abgründe ausgehender Metallhauch aufgelöst schwamm. Von der Decke hingen zahllose Tropfsteine herab. Diese und die zitternde Wasserfläche, die gähnenden schwarzen Hintergründe, die halbsichtbaren Bogengänge, die Eingänge zu unbekannten Gewölben und Tiefen, vom schwachen Lichte der Kerzen angeschienen, brachten uns den Eindruck hervor, als seien wir in eine magische Welt versetzt, und der heutige Morgen, an welchem ich fröstelnd durch das schmutzige Florenz gegangen war, der langweilige Regenhimmel und das wintergraue Land draußen däuchten mir ein widerwärtiger Traum.

Nachdem wir so uns in diesem winzigen See eine Weile ergötzt hatten, nahmen wir die Leuchtthürme vom Vorgebirge herunter und schwammen weiter, der nächsten schwarzen Höhlung zu. Als wir wieder Grund gefunden hatten, holten wir die Kerzen.

Da sahen wir uns wieder vor einem langen Tunnel. In gleicher Herrlichkeit flimmerte das Wasser um unsere Leiber und trotz des schwachen Lichtes vermochten wir jeden Stein auf dem Boden zu erkennen. Das Geländer, welches den Sommercurgast auf seinem dunkeln Pfade vor dem Hinabstürzen in die Senkungen bewahrt, stand unter Wasser. Die im Sommer trockenen Abgründe waren alle von der lauen Fluth überwallt.

Unserem Vordringen war jedoch hier bald ein Ziel gesetzt. Immer niedriger wurde die Decke über unseren Köpfen; immer [780] weniger Raum blieb zwischen dem heißen Wasser und den von oben herablangenden Stalaktiten. Zugleich schien uns der Hauch, der uns entgegenwehte, an Wärme zuzunehmen. Schon begann eine erstickende Schwüle uns zu belästigen. Doch hofften wir, jenseits des niedrigen Passes wieder in eine geräumige Wölbung zu gelangen. Es ist dies allerdings, wie ich aus der Darstellung der Verzweigungen der Grotte wußte, auch der Fall. Wir sollten aber jene inneren Kammern nicht sehen; denn wir gelangten nunmehr an eine Stelle, an welcher sich die Felsendecke bis auf den Wasserspiegel herabsenkt. Hier durchzutauchen hatte Keiner den Muth, weil wir nicht wußten, wie lange wir unter Wasser hätten bleiben müssen.

So traten wir also den Rückweg an, ohne die „Hölle“, das innerste und, wie es heißt, heißeste Gemach, bis zu welchem die Curgäste ihre alltägliche Wanderung ausdehnen, gesehen zu haben. Auch ein tiefer Wassertümpel, der „See“, liegt dort hinten, der den Sommergästen ein Bild von unseren winterlichen Wasser-Veduten bieten kann, weil er niemals verschwindet. Doch ist es im Reglement streng verboten, darin zu baden – sei es, weil man nur die Luftcur für zuträglich hält, oder weil man fürchtet, das schöne Wasserbecken möchte beschmutzt werden. Auf letztere Annahme deuten einige andere Verbote desselben Reglements hin – Verbote, die sich bei uns ein Badebesitzer drucken zu lassen schämen würde, die aber in Anbetracht dessen, daß ein großer Theil der Curgäste aus Italienern besteht, immerhin nicht ohne guten Grund werden erlassen worden sein.

Als wir in die Vorhalle kamen, in welcher unsere Kleider lagen und in welcher es uns vorhin vorgekommen war, als sollte uns der Schlag treffen, schien sie uns eine Eisgrube. Rasch schlüpften wir in die Gewänder und traten an den Tag heraus, dessen erster Eindruck uns der war, daß wir sofort wieder in das Kerzenlicht unserer wohligen Unterwelt zurückgekehrt wären, wenn es die Umstände erlaubt hätten.

Die Oleanderstauden und die Cypressen neben dem Eingange des Badehôtels schienen vor Kälte zu zittern, und auch die späte Rose (die rosa sera, von der Horatius spricht) am entblätterten Strauche wollte nicht in diese naßkalte Welt passen. Die flüchtigen Nixen der Fluthen dort unten hatten es uns angethan.

Man wird nun fragen, ob das Spazierengehen in den heißen, trockenen Luftströmen dieser Grotte Kranken in der That etwas nütze. Darüber habe ich freilich kein Urtheil. Wohl aber kann ich bestätigen, daß im Fremdenbuche eine Menge Lobeserhebungen und Danksagungen stehen, insgesammt von Menschen, welche an hartnäckigen Katarrhen, Kehlkopfleiden, Rheumen und Gicht gelitten haben wollen. Allerdings fehlt es auch nicht an mündlichen Berichten der Einwohner von Monsummano, welche uns die um gewisse Heilungen sich ansammelnde Mythenbildung darthun und nicht weniger Leichtgläubigkeit voraussetzen, als die ähnlichen Mirakelgeschichten von Wallfahrtsorten. Wirthe und Kutscher wetteifern, Historien zu erzählen, in welchen die Lahmen gehend, ja die Tauben wieder hörend werden. Etwas Humbug wird auch wohl hier mit unterlaufen.

Es giebt Wirthshäuser in Pieve a Nievole, zum Beispiel die Pension Ciampi, in Monsummano das Haus Bini u. a., das sind aber alles wälsche Schandkneipen. In der Nähe der Grotte steht die Anstalt Parlanti, am allerbesten aber ist es, man wohnt im Hôtel selbst, das über den Eingang der Grotte gebaut ist, weil man da aus seinem Zimmer unmittelbar in dieselbe hinabsteigen kann. Das Reglement sagt auch in komischer Naivetät, daß man zwar Curgästen aus anderen Häusern ebenso die Betheiligung gewähre, daß aber die Badewirkung sich am besten bei den Gästen des Badehôtels einstelle. Der Verfasser des Reglements ist der Besitzer des Hôtels.

Mein Zweck war, ein Wunder der Natur zu schildern. Für Solche, die andere Auskunft wollen, füge ich bei, daß man im Badehôtel für die gesammte Verpflegung täglich zwölf und vierzehn Franken in Papier zahlt und daß dieses Haus mit seinen reinlichen Zimmern, eisernen Bettstellen und seinem Speisesaale keinen ungünstigen Eindruck macht.

Leute, die den sogenannten apoplektischen Habitus haben, sollen sich wohl hüten, in diese Hölle zu steigen. Ueberhaupt wird man gut thun, sich nur auf einen vaterländischen Arzt zu verlassen und jeden wälschen Rathschlag zu vermeiden; denn der eingeborene Aeskulap dieser Lufttherme, der im Fremdenbuche oft geschilderte Eduardo, der außer Italienisch nur Küchenlatein spricht, erinnert an die ärztlichen Figuren im Gil Blas.

Den Fall angenommen, daß in den Strömungen dieser Unterwelt dem Menschen wirklich Heil geboten wäre, ist doch in der Hauptsache an einen großen Aufschwung und an die Herstellung eines Weltcurortes, von welchem die speculativen Insassen träumen, nicht zu denken, so lange nicht mit der italienischen Wirthschaft Kehraus gemacht und eine schweizerische, deutsche, französische oder irgend welche andere Verwaltung eines nordischen Culturvolkes an deren Stelle gesetzt wird. Bis dahin wird sich vielleicht mancher Kranke vor der Heilgrotte im Myrthen- und Lorbeerlande scheuen, und nicht völlig mit Unrecht. Mir aber würde es zur Genugthuung gereichen, wenn ich durch diese Schilderung die Aufmerksamkeit der deutschen Aerzte auf die Höhle gelenkt hätte; denn sei sie für Heilzwecke werthvoll oder werthlos – jedenfalls ist es bei dem großen Rufe der Grotte wünschenswerth, daß eine wissenschaftliche Untersuchung das Dunkel aufhelle, das für den Laien noch immer die Geheimnisse der Höhle einhüllt.




Meine erste Luftreise.


Die Luftschifffahrt, namentlich ihre Entwickelung und Vervollkommnung, hatte schon seit langer Zeit mein ganzes Interesse in Anspruch genommen, und eine Ballonreise, mochte sie ausfallen, wie sie wollte, war und blieb für mich immer das Ziel aller Wünsche. Mit Freuden begrüßte ich daher die Nachricht der bremischen Tagesblätter, daß der Aeronaut Sivel aus Paris vom Garten von „Ludwigslust“ bei Bremen aus eine Reihe von Luftfahrten ausführen und bei entsprechender Tragfähigkeit seines Ballons „Etoile polaire“ einige Passagiere mitnehmen werde. Gleich nach Sivel’s Ankunft verschaffte ich mir einen Platz für die erste Aufsteigung und traf in aller Eile – denn schon am folgenden Tage sollte die „Luftexcursion“ vor sich gehen – die nothwendigsten Vorkehrungen, während der Vorstand des „Naturwissenschaftlichen Vereins“ zu Bremen mir zur Anstellung meteorologischer Versuche und Beobachtungen, insoweit die kurze Fahrzeit von wenigen Stunden es gestatten werde, die vorzüglichsten Instrumente zur Verfügung stellte.

Bei der ersten und zweiten Auffahrt war indeß die Füllung des Ballons in Folge des geringen Gasdruckes eine so unvollständige, daß die Mitnahme von Passagieren nothgedrungen unterbleiben mußte und Sivel nur allein zum Aufsteigen gelangte. Für die dritte Auffahrt am 27. August 1873 wurde von der Gasanstalt Alles aufgeboten, und während des Füllungsactes die größte Vorsicht beobachtet, um die Auffahrt mit wenigstens zwei Personen zu bewerkstelligen. Ich ließ daher zum dritten Male, wenn auch mit wenig Hoffnung, Instrumente und Brieftauben nach dem Ort der Aufsteigung schaffen, fand aber den Ballon zu meinem Erstaunen ebenso mangelhaft gefüllt und anscheinend von derselben geringen Tragfähigkeit, wie an den Tagen zuvor. Sivel versprach jedoch, mich auf alle Fälle mitnehmen zu wollen, selbst wenn es mit Zurücklassung jeglichen Ballastes geschehen müßte. Die Gondel wurde unter dem Ballon befestigt; unsere Plaids und Mäntel wurden an der Außenseite des Korbes in Riemen geschnallt, und der „Capitain“ nöthigte mich zum Einsteigen. Kaum hatte ich Platz genommen und meine Instrumente oberflächlich geordnet, als das Commandowort „Los!“ ertönte. Aber wir lagen wie Blei an der Erde, und der Ballon hob sich nicht einen Zoll weit. Der letzte Sandsack wurde über Bord geworfen; die Gondel schwankte – aber hob sich nicht. Unsere Plaids und Mäntel wurden abgelöst, die beiden Sessel und die letzte Flasche Wein hinausgeworfen, aber die geringe Entlastung war kaum bemerkbar. Verlegen sah mich Sivel an: „Voulez vous monter sans ancre?“ [781] (Wollen Sie ohne Anker aufsteigen?) – „Sans ancre!“ – Ein Schnitt, der Anker stürzte, und unter allgemeinem Jubel der versammelten Zuschauer fuhren wir empor.

Ich gestehe, es beschlich mich anfangs ein ganz neues und eigenthümliches Gefühl. Die Bewegung, welche uns aufwärts trug, war indeß für uns vollständig unmerklich; nicht wir, sondern die Erde schien sich fortzubewegen, indem sie in immer weiter greifenden Kreisen ihre Oberfläche vor uns ausbreitete, und bald umfaßte unser Blick das benachbarte Bremen und seine ganze Umgebung. Immer tiefer sank die Erde unter uns hinab, die Gegenstände wurden kleiner und kleiner, und die Gruppe der zahlreichen Zuschauer schrumpfte in dem Maße zusammen, in welchem ihr Abschiedsruf nach und nach verhallte. Dieser Augenblick der Auffahrt hatte in der That etwas unbeschreiblich Feierliches. Wir winkten unsern Freunden zum letzten Male mit dem Hute, und suchten uns dann selbst von den Empfindungen Rechenschaft zu geben, die uns so ungewohnt bewegten. – Die urplötzliche Erhebung von der Erde und die rapide Erweiterung des Gesichtskreises hatten anfänglich ein unverkennbares Gefühl der Beklommenheit erzeugt; nachdem ich es aber über mich gewonnen hatte, die Augen senkrecht nach unten zu richten, war auf einmal alle Besorgniß entschwunden. Ich empfand nunmehr ein wunderbares Wohlbefinden und war entzückt über das unvergleichliche Schauspiel, welches sich inzwischen zu unsern Füßen entfaltet hatte. Der Ballon strich in fast östlicher Richtung und hatte nach Verlauf von zehn Minuten eine Höhe von dreitausend Fuß erreicht. Wir traten in eine Windstille, die uns Zeit ließ, das prächtige landschaftliche Bild unter uns mit Muße zu bewundern.

Vor uns lag Bremen; klein, wie aus Figuren eines Nürnberger Spielkästchens zusammengesetzt, reihte sich Straße an Straße. Auf den freien Plätzen bemerkten wir ein Gewimmel mikroskopisch kleiner Punkte; es waren Zuschauer unserer Fahrt, die dort zusammenliefen. Gleich einer sauber ausgeführten Reliefkarte, auf der selbst die kleinsten Gegenstände mit überraschender Genauigkeit hervortreten, lag die Stadt mit den angrenzenden Ortschaften vor uns ausgebreitet, während die zahlreichen Chausseen und Eisenbahnen wie die Radien eines großen Spinngewebes im Weichbild Bremens zusammenliefen. Mitten durch das ganze Bild zog sich gleich einem schmalen Silberbande in vielfachen Krümmungen die Weser; scharf und deutlich hoben sich die zahlreichen Schiffe und weiterhin die kleinen Inseln und Sandbänke vom Wasser ab, während wir vor und hinter uns ein zweites und drittes graues Bändchen als Aller und Hunte erkannten. Westlich erstreckte sich der Blick weit über Oldenburg hinaus, südlich bis Nienburg, ja ich glaubte fern am Horizont, in Nebel gehüllt, die Höhen des Deisters und Wesergebirges zu erblicken. Unter uns schimmerten Aecker und Weiden in mannigfaltiger Färbung; wie die Felder eines Schachbrettes abgetheilt und gegliedert erschien das Terrain, und weißen Schnüren gleich zogen sich Wege und Gräben netzförmig verschlungen darüber hinweg.

Wir öffneten den Käfig und ließen die erste Taube fliegen, die nach Art der Raubvögel in großen Bogen unter uns hinabschoß und erst ganz nahe der Erde ihren Flug in horizontaler Richtung auf Bremen nahm.

Mein kecker Begleiter schwang sich auf den Rand der Gondel und kletterte in den Reifen; dadurch aus dem Gleichgewicht gebracht, gerieth der Korb in starkes Schwanken, und wenn auch keine ernste Gefahr zu fürchten war, so konnte ich mich doch des Gedankens an die Möglichkeit eines Unfalles nicht erwehren. Ich bat ihn deshalb, wieder herab zu steigen. Inzwischen war der Ballon in eine gegenläufige Luftströmung gelangt, und wir trieben nach Norden. Die ruhige Luftschicht, welche wir soeben durchschnitten, bildete demnach die Grenze zwischen der unteren beinahe nordwestlichen und der oberen südlichen Strömung, und hatte eine nach dem Stand der Instrumente berechnete Höhe von wenigstens sechshundert Fuß. Eine derartige Windstille muß sich an den Berührungsflächen der sich kreuzenden Luftströmungen immer von selbst einstellen, und sie ist nach meiner Ansicht diejenige Region, welche bei der Lösung des Problems der Lenkung des Luftschiffes mehr Beachtung verdient, als die verschiedenen Windströmungen selbst, da diese, in Richtung und Geschwindigkeit oft wechselnd, nur in den seltensten Fällen mit Vortheil zu benutzen sind, während die neutralen Luftschichten, wenn auch von geringerer Ausdehnung, als die von uns durchstrichene, den etwaigen mechanischen Fortbewegungsmitteln ein stets ruhiges und gleichmäßiges Medium bieten.

Es war dreißig Minuten nach der Auffahrt. Das Aneroïdbarometer war von 28.2 auf 24.3, das nasse Thermometer des Psychrometers von 17.7 auf 10.0, das trockene von 20.0 auf 12.5 gefallen; wir hatten demnach die Höhe von viertausenddreihundertsiebenundsiebzig Fuß erreicht, während der Feuchtigkeitgrad um etwas geringer geworden war. Nunmehr eröffnete sich uns der Blick bis Bremerhafen und weiter zur Wesermündung; deutlich sahen wir das befestigte „Langlütjensand“, die „Weserplaten“, und als einen kleinen grauen Punkt mitten im Wasser den Leuchtthurm; links, von der goldenen Abendsonne beleuchtet, den Jahdebusen mit Wilhelmshafen, und einen eben bemerkbaren hellen Streifen, der nach Süden verlief, die Jahde. Auffallend nahe gerückt erschienen uns die Gegenstände, und nur mit Hülfe einer Specialkarte vermochten wir uns mit Sicherheit zu orientiren. Wir passirten eine von doppelten Baumreihen eingefaßte Chaussee; sie erschien uns wie eine weiße Linie mit dunkler Randung, während wir eine Anzahl unförmlicher schwarzer Punkte in derselben als Gefährte oder Gruppen von Spaziergängern zu erkennen glaubten. Mein wackerer Pilot war fortwährend beschäftigt, die Sandreste, welche beim Umschütten eines Sackes Ballast in der Gondel liegen geblieben, zu sammeln und über Bord zu werfen, und das unausgesetzte Steigen der Aneroïdnadel ließ die Wirkung dieser geringen Entlastung deutlich erkennen.

In der Höhe von fünftausend Fuß traten wir in eine Schicht feiner Dunstbläschen, die feuchtend auf Gesicht und Hände niederfielen und sich in Form kleiner Perlchen auf unsere Kleider setzten. Ruhig und majestätisch schwebte der Ballon über die grünen Gefilde des Blocklandes[3], die von den zahllosen Canälen und Gräben wie von silbernen Fädchen durchwirkt erschienen. Ueber Bremen breitete sich allmählich ein leichter Nebelschleier, aus welchem die Thürme gleich unscheinbaren Stäbchen nur eben hervorragten. Unter uns glänzten im Abendsonnenschein die spiegelglatten Flächen der Wumme und Hamme; sich links vor uns vereinigend, führten sie unsern Blick nach den reizend gelegenen Ortschaften Lesum und Vegesack mit den zahlreichen Villen und Parkanlagen der bremischen Kaufmannswelt. Vor uns dehnten sich weite Moor- und Haideflächen[4] aus, die in ihrer unheimlich dunklen Färbung, welche nur hier und da von einzelnen Gehöften und Ortschaften unterbrochen wurde, dem Auge einen wenig erquicklichen Anblick darboten, während dasselbe mit Lust auf den buntbelebten Gänse- und Viehweiden zu unserer Rechten weilte. Trotz der bedeutenden Höhe vermochten wir die einzelnen Thiere als unendlich feine weiße Pünktchen von dem dunkelgrünen Wiesengrunde zu unterscheiden. Sie geriethen in sichtliche Aufregung, namentlich die Gänse liefen wild durcheinander; ohne Zweifel witterten sie in dem herannahenden Ballon einen drohenden Feind.

In der Höhe von siebentausend Fuß passieren wir die Wumme. Das Thermometer fiel auf acht Grad, und wir fühlten hin und wieder eine naßkalte Strömung aus Westen, die uns die zurückgelassenen Mäntel sehr unangenehm vermissen ließ. Die zweite Taube wurde entlassen; sie setzte sich auf den Rand der Gondel und blickte um sich; ich berührte sie mit der Hand; sie nahm ihren Flug nach Norden und war bald im Nebel verschwunden.[5]

Das ausgeworfene Log (Papierschnitzel) fuhr immer noch mit großer Geschwindigkeit vor uns hinab; der Ballon war also noch in fortwährendem Steigen begriffen. Die Luft wurde reiner; die Sonne war soeben hinter eine Wolke getreten, und unter uns trieben, vom Winde gejagt, graue Nebelschwaden. Kaum hatten wir diese Nebelregion hinter uns, als sich das großartigste Schauspiel der ganzen Fahrt vor uns entrollte, indem plötzlich ein Strahlenmeer über die angehende Dämmerung sich ergoß [782] und nun die Sonne selbst noch einmal wie zum Abschiede in ihrer vollen Schönheit hervortrat. Der Horizont hob sich zusehends. Die Erde erschien tief ausgehöhlt, und wir schwebten inmitten einer großen Hohlkugel, deren gewaltige Wölbung halb in der Erde, halb durch den Himmel ihren erhabenen Abschluß fand. Die untergehende Sonne warf reiche Goldströme auf die unter uns laufenden Nebelmassen und ließ ihre letzten Strahlen mit röthlichem Schimmer auf den zarten Wolkenbildungen zu unseren Häuptern weilen, so daß der ganze Himmel wie von einem Purpurschleier umflossen schien. Aber weihevoller und erhebender noch wurde der Anblick dieser majestätischen Natur durch ihr erhabenes Schweigen. Kein Laut mehr drang von der Erde zu uns herauf, und eine feierliche Stille umgab uns inmitten des blauen Aethers. Gleich jenem Schäfer in Uhland’s „Sonntagsliede“ ward unsere Seele unwillkürlich von dem Gefühle der Andacht erfüllt. Es war der schönste und erhabenste Augenblick meines Lebens.

Allein bereits erinnerte uns das Sinken des Ballons, daß die Erde ihre entflohenen Söhne wieder anzog; das Gesetz der Schwere übte seine Herrschaft wieder aus und zwang uns, die Region der Träume zu verlassen und zum alten Gehorsam zurückzukehren. Der Ballon stand senkrecht über den „Blänken“, einem etwa zweihundert Morgen großen flachen Gewässer. „Nous descendons“ (Wir sinken) sagte Sivel und wies mit verlegener Miene auf die unter uns befindliche Wasserfläche. Er hatte Recht. Ein Blick auf das Barometer überzeugte mich, daß wir schon in starkem Sinken begriffen waren. Die Instrumente wurden in Sicherheit gebracht. Plötzlich vernahmen wir über uns ein seltsames Krachen, das in der Höhlung des Ballons einen starken und eigenthümlichen Wiederhall fand. Unsere Augen richteten sich nach oben, ohne jedoch die Ursache jener merkwürdigen Erscheinung zu entdecken; aber bald verkündete uns die schnelle Niederfahrt, daß der Ballon einen Riß bekommen hatte und das Gas mit großer Heftigkeit ausströmte.

Unsere Lage begann eine bedenkliche zu werden, denn ohne Anker und Ballast aufgestiegen, besaßen wir kein Mittel, um den verhängnißvollen Sturz nach unten zu hemmen. Wir waren machtlos dem Gesetze der Schwere verfallen. Ich fühlte den gewaltigen Luftdruck auf Augen und Ohren und warf mich auf den Boden der Gondel nieder. „Levez-vous! Levez-vous!“ (Richten Sie sich auf!) rief Sivel und ergriff mich beim Arme. Schnell sprang ich auf, denn auch mir war jetzt klar, daß unter diesen Umständen nichts gefährlicher und unsicherer sein konnte, als sich im Augenblicke der Landung niederzulegen; vielmehr galt es, die ganze Elasticität des Körpers und Geistes aufrecht zu erhalten, um auf alle Vorkommnisse gerüstet zu sein.

In weniger Zeit, als ich brauche, um es niederzuschreiben, hatten wir in fast senkrechter Richtung eine Wegstrecke von dreitausend Fuß durcheilt, und als der Ballon bis auf viertausend Fuß herabgekommen war, trieb ihn die untere Luftströmung über die „Blänken“ hinweg in die Richtung auf eine Wiese. Mit Windeseile schien dieselbe uns entgegen zu fliegen, und reißend schnell nahmen die Gegenstände an Größe und Ausdehnung zu. Um die Gewalt des Sturzes zu mäßigen, warfen wir den Taubenkäfig über Bord. Die Wirkung war augenblicklich bemerkbar; aber dennoch schlugen wir mit einer Wucht zu Boden, daß wir Beide niedergeworfen wurden. Eben hatten wir uns erhoben und am Rande der heftig schwankenden Gondel festgeklammert, als wir uns wieder fünfzig bis sechszig Fuß hoch in der Luft sahen. Durch das Aufschlagen der Gondel plötzlich um vierhundert Pfund erleichtert, hatte nämlich der Ballon gleichsam frischen Athem geschöpft und war, ehe wir es uns versahen, nochmals emporgeschossen. Aber bald zog ihn die Erde wieder an sich, und wir schlugen zum zweiten Male, jedoch weit weniger heftig, auf. Dies wiederholte sich etwa vier- bis fünfmal, immer schwächer werdend in Höhe und Heftigkeit. Endlich schleifte die Gondel noch einige Schritte nach, und – wir standen. Wie aus Einem Munde fragte Jeder den Andern: „Sind Sie beschädigt?“ Aber merkwürdig, trotz des furchtbaren Falles waren wir Beide unverletzt. Allerdings fühlte ich später beim Gehen einige Schmerzen in der Seite und im rechten Fuße, die sich aber schon am nächsten Tage wieder legten.

Sivel zog mit aller Kraft das Ventil, und ich hörte einen Laut, wie wenn aus einer Maschine der überschüssige Dampf ausströmt. Er bat, mich ja nicht von der Stelle zu rühren, da wir sonst noch einmal vom Winde gefaßt und emporgeschleudert werden könnten.

Schon bei dem Tanzen des Ballons hatte ich in einiger Entfernung einen größern Knaben bemerkt, dem ich nun heranzukommen winkte. Zaghaft und zögernd nahte er sich, als ich ihn aber aufforderte, die Gondel zu fassen und festzuhalten, lief er scheu davon. Auf meine wiederholten Zurufe schien er Vertrauen zu gewinnen und faßte, wenn auch vorsichtig, den Korb an.

Noch schwebte der Ballon hin und her; aber er war gebändigt. Das Gas entströmte mit voller Kraft; noch einige Minuten ohnmächtigen Zuckens, und unser Polarstern sank machtlos zu Boden. Wir verließen die Gondel. Das Erste war, nach der Ursache unseres jähen Falles zu suchen. Sie war bald gefunden. Dicht am Ventil klaffte der Ballon weit auseinander; es war ein Riß von wenigstens acht Fuß Länge, wie mit einem Messer hineingeschnitten. Wie gnädig waren wir noch davon gekommen! Hätte nicht das Netz von außen und der Druck des Gases von innen die gesprengte Hülle zusammengehalten, wir wären unrettbar verloren gewesen.

Rings um uns in weitem Umkreise vernahmen wir jetzt ein immer näher kommendes Rufen von Menschen. In weniger als fünf Minuten waren gegen vierhundert Menschen auf dem Platze, Männer und Frauen, Kinder und Greise; selbst die Behörde war in Gestalt einiger Gensd’armen und Grenzwächter vertreten, welche letztere mit anerkennenswerther Dienstbeflissenheit unsere Gondel nach zollpflichtigen Waaren durchsuchten. Hinter mir entstand plötzlich ein homerisches Gelächter. Ich sah mich um und bemerkte einen Mann, der, von oben bis unten durchnäßt, in Einem Holzschuhe zu uns heranhumpelte.

„Na,“ sagte er, „man still! Ick will mi de Franzosen un ähr Luftmaschin ook mal ansäh’n.“

In seiner Neugierde hatte er sich nicht die Zeit genommen, einen Umweg zu machen, war mitten durch Moorgräben und Sümpfe watend zu uns geeilt und hatte dabei Havarie mit seinen Holzschuhen erlitten.

Inzwischen hatte Sivel unter Beihülfe einiger dienstfertiger Landleute den Ballon vollends entleert, zusammengerollt und in die Gondel verpackt. Bald kam auch der bereits bestellte Wagen herangefahren; ein Dutzend kräftiger Arme hob die sechs Centner schwere Last hinauf, und nunmehr wanderten wir, begleitet von unseren biederen Moorcolonisten, über Haide und Sand nach dem nächsten Orte. Es war ein bescheidenes altniedersächsisches Dorf und hieß Moorhausen. In dem freundlichen Wirthshause warteten unser bereits einige Bekannte; bald fanden sie noch mehrere ein, und in vertraulicher Gesellschaft bei einem Glase Wein wurde der Abend dieses unvergeßlichen Tages beschlossen.
Fr. Ohlendorf.




Verarmt.


Nun hab’ ich Dir, mein liebes Kind,
Dein Sonntagskleidchen angezogen –
Zum letzten Mal! – – Wir Armen sind
Um jedes Glück der Welt betrogen.
Sonst hatt’ ich Salz im Haus und Brod;
Nun sitzt an unserm Tisch die Noth,
Denn ach! der treu für uns geschafft,
Der Vater ist, der gute, todt,
Und schwach ist eines Weibes Kraft.

Kind, meines Lebens süße Lust,
Sie wollen Dich von meiner Brust.
Sie wollen aus der Mutter Hut
Dich reißen – o wie weh das thut!
Ich hab’ gekämpft, so oft sie kamen,
Allein ich weiß, sie meinen’s gut – –
Und so gescheh’s in Gottes Namen!

Nun wird die fremde Frau, die reiche,
Die jüngst begrub ihr einzig Kind,
Dir Mutter sein und freundlich lind
Auf’s Haupt Dir legen ihre weiche,
Vornehme, arbeitfremde Hand.
Die Mutter, die Du einst gekannt,
Du wirst vergessen sie, die bleiche –
Wie leicht reißt doch der Liebe Band!

– – – – – – – – – – – – – –

[783]

Schwerer Abschied.
Nach dem Oelgemälde von A. Ludwig in Düsseldorf.

[784]

Vorbei nunmehr – vorbei Dein Jammer!
Geh’, geh’, mein Kind! An meine Kammer
Pocht Elend, Ungemach und Harm
Und nimmt mir selbst das Kind vom Arm.

– – Horch! Hufschlag auf des Dorfes Gassen -
Und Wagenrollen – ach! Dich lassen – –
– – – – – – – – – – – – – –
Nur eine einzige Minute,
Und fremd ist mir mein liebes Kind!


– – Es klopft! Wie schnell die Pferde sind!
Da ist sie schon, die Böse, Gute,
Die Dir nun Mutter ist – –
– – – – – – – Ade,
Du holde, frische Lebensblüthe!
O, daß Dich Gott, mein Kind, behüte! –
Viel ärmer bin ich nun denn je.

Ernst Ziel.

Thüringer Industrie.
Von Reinhold Sigismund.
Der Medicinhandel.

Die Thüringer Medicinhändler dürften wohl den meisten unserer Leser unter dem Namen „Balsamträger“, „Olitätenträger“, oder „Königseer“ (nach dem von dem Schwarzburgischen Amte Königsee ausgestellten Reisepasse) bekannt sein, da dieselben mit ihren Arzneiwaaren früher ganz Deutschland und die angrenzenden Länder durchwanderten. Es gab wohl einen ähnlichen Industriezweig auf dem Erz- und Riesengebirge; besonders wurden Schneeberger Wurzelmänner im vorigen Jahrhundert als Concurrenten der Thüringer Balsamträger genannt. Nirgends aber hat das Verfertigen von Arzneimitteln und deren Vertrieb eine solche Ausbildung erlangt wie in Thüringen und hier ganz besonders wieder in der Oberherrschaft des Fürstenthums Schwarzburg-Rudolstadt. Wir haben uns nun die Aufgabe gestellt, auf die Geschichte dieses merkwürdigen Industriezweiges näher einzugehen.

Zu welcher Zeit unsere Balsamträger vom Thüringer Walde zuerst in die Welt gezogen sind, ist uns unmöglich zu bestimmen gewesen. Berthold Sigismund in seiner Landeskunde des Fürstenthums Schwarzburg-Rudolstadt nimmt an, daß der Handel der Balsamträger im siebenzehnten Jahrhundert, bald nach dem dreißigjährigen Kriege entstanden sei und nennt einen aus Oberweißbach stammenden Apotheker in Breitenbach, J. M. Mylius, als den Ersten, der Arzneien durch Herumträger habe verkaufen lassen.

Indessen glauben wir einen älteren Ursprung annehmen zu dürfen. Sollte nicht der Apotheker Mylius als Oberweißbacher den hier schon herrschenden Medicinhandel erst nach Breitenbach verpflanzt haben? Auffällig ist jedenfalls, daß er in Oberweißbach in Zeiten, so weit man zurückgehen kann, in der Blüthe stand und noch steht, während er in Breitenbach nie zur Ausdehnung gelangte. Zuzugeben ist allerdings, daß der Aufschwung dieses Industriezweiges erst in die Zeit nach dem dreißigjährigen Kriege fällt. Daß es schon im sechzehnten Jahrhundert Ruß-Hütten, Pottaschesiedereien, Oefen zur Darstellung von Theer und Bergöl in diesem Districte des Thüringer Waldes gab, ist aus alten Urkunden ersichtlich. Schon frühzeitig wurde auch Wachholderbeersaft verfertigt und als nützliches Mittel weithin verkauft. Räucherungen mit Wachholderbeeren galten im Mittelalter als Schutzmittel gegen die Pest. Aus dem Samen der Tanne wurde Oel destillirt, das sogenannte Gustelöl, und als Bergöl verkauft, ebenso aus Fichtenharz. Daher wohl der Name Olitätenhändler. Da diese Stoffe in die Apotheke geliefert wurden, liegt es sehr nahe, anzunehmen, daß die Thüringer dafür Arzneiwaaren eintauschten, die sie weiter verkauften und zuletzt als anstellige Leute selbst zu verfertigen lernten.

In der ersten Zeit bestand der Haupthandel der Balsamträger in destillirten oder gebrannten Wassern aus unzähligen Pflanzen, denen man herzstärkende Kraft beilegte, und aus Branntwein, der im Mittelalter nur als Arznei gebraucht wurde. In Schweden wurden erst 1579 geistige Wasser als Heilmittel in der Pestzeit durch königliche Verordnung eingeführt. Mit der Zeit lernte man dann den Branntwein oder Spiritus über aromatische Pflanzentheile destilliren, gab ihm allerhand Zusätze und den so erzeugten bitteren oder aromatischen Liqueuren die verschiedensten Namen, wie Essentia amara, (gewöhnlich nur Senzamare), Mutterwasser, Kaiser Caroli Hauptwasser, Herz-Carfunkelwasser, Lungenwasser, Schlagwasser etc.

Der Name „Balsamträger“ wurde den Thüringer Arzneihändlern beigelegt, als die sogenannten Balsame die Hauptrolle in ihrem Medicinschatze zu spielen anfingen. Dieser Name, ursprünglich nur dem Erzeugniß einer orientalischen Pflanze, der Balsamstaude, eigen, wurde mit der Zeit auch künstlich zusammengesetzten Arzneimitteln beigelegt, anfänglich nur solchen, welche zum äußerlichen Gebrauche gegen Wunden und sonstige Schäden gebraucht wurden, nachdem Paracelsus in seiner mystischen Weise von einem Balsam gesprochen hatte, der aus den Kräften des Körpers in jeder Wunde und jedem Geschwüre abgesetzt werde und die Wunde allein heile. Solcher Balsam komme oft auch von äußeren Dingen, von Pflanzen und Bäumen her. Bringe man diesen nun auf die Wunde, so verwandle ihn die Natur in thierische Materie und veranlasse dadurch die Vernarbung. Nach dem Paracelsus hatten dann auch spätere Aerzte viel von solchen Balsamen gesprochen und dergleichen künstlich zusammengesetzt, welche die verschiedensten Namen erhielten, wie zum Beispiel Lebensbalsam, Universalbalsam, Wunderbalsam und dergleichen mehr.

Die ersten actenmäßigen Nachrichten, welche uns über diesen Gegenstand zu Gebote gestanden haben und nach denen wir dem Leser ein geschichtliches Bild dieses eigenthümlichen Geschäftes zu geben versuchen werden, stammen aus dem Jahre 1710. In diesem Jahre verlangte die schwarzburgische Regierung zu Rudolstadt wegen besserer Einrichtung des Laborantenwesens, da Unordnungen eingerissen seien, Bericht und Gutachten von dem Amte zu Königsee. Es sollen alle Laboranten genannt und ferner angegeben werden, wie eines Jeden Laboratorium eingerichtet sei, mit Aufzählung der im Gange befindlichen Fiolen, Kolben und Retorten. Es sollten Erkundigungen über eines Jeden Geschicklichkeit eingezogen werden, weil man die Geschicktesten mit einer Concession begnadigen wolle. Auch sollten Vorschläge gemacht werden, auf welche Art mehr Ordnung in das Geschäft gebracht werden könne. Aus dem Berichte des Amtes zu Königsee ersehen wir, daß schon damals in den Orten Oberweißbach, Lichtenhain, Cursdorf, Deesbach, Meura, Böhlen, Möllenbach, Rohrbach, Wittgendorf, Meuselbach, Schwarzburg, Unterhain und Burkersdorf einunddreißig Laboranten mit hundertsechsundvierzig Retorten, acht Destillatoren und dreihundertdreiundvierzig Olitätenhändler und Balsamträger sich befanden, welche durch ganz Deutschland und die angrenzenden Länder ihre Arzneiwaaren vertrieben. Wie die Laboratorien eingerichtet waren, wird uns nicht weiter bekannt gemacht. Die Laboranten werden aufgefordert, ihre Meinung über eine bessere Einrichtung des Medicinhandels abzugeben, und lassen sich folgendermaßen vernehmen:

„Es müsse ein Unterschied gemacht werden zwischen einem Laboranten, einem Destillator und einem Balsamträger, der vor sich nur einige Wasser und andere gemeine Dinge präparire und hinaustrage. Es solle nun einem Laboranten, der eine gute Experienz und Erfahrung habe, freistehen, Retorten, Kolben, Fiolen, viel oder wenig zu führen und darinnen Spiritus, Tincturen, Essenzen, Olitäten, Elixire und andere Simplicien zu machen, wie er auch eine Beschreibung, vor was es gut sei und wie zu gebrauchen, mit untergedrücktem richtigem Siegel von sich zu geben habe. Einem Destillator, der nicht mehr verstehe und zu machen wisse, als blos einige Wasser zu brennen und geringe Tincturen und Essenzen zu präpariren, dürfe nicht zugelassen sein, in Retorten, Kolben und Fiolen zu laboriren, ehe er seine Wissenschaft und Erfahrung erlangt habe.

Da nun bei Verfertigung der oleorum viel Betrug von Denen, die ohne genügsame Wissenschaft dergleichen zu machen sich unterstehen, vorkomme, so soll dies nur den Laboranten, [785] die doch nothwendig mehr Verstand davor haben, allein überlassen sein.“

Die schwarzburgische Regierung geht auf die Vorschläge der Laboranten ein und verfügt, daß aus ihnen eine Societät gemacht werde, damit eine gewisse Ordnung eintrete und Mißbräuche abgestellt würden. Als dies aber ausgeführt werden soll, ziehen sich die Laboranten zurück, weil ihre Vorschläge bei den Destillatoren und Balsamträgern Feindschaft und Erbitterung verursacht haben und sie sich als Schelme und Diebe, die den Anderen ihre Nahrung abstehlen wollten, müßten hinstellen lassen. Man solle es daher gehen lassen, wie es wolle, denn sie befürchteten Gefahr und Feindschaft. Die schwarzburgische Regierung aber befiehlt Durchführung ihrer Anordnung, und hierauf werden alle Laboranten und Balsamträger geladen, um zu schwören, daß sie sowohl beim Laboriren und Destilliren, als auch beim Hinaustragen der Waaren ehrlich und treulich sich aufführen, nicht verfälschen, noch Jemand betrügen wollen, was Alle ohne Weigerung thun. Die Balsamträger bitten darauf nur, daß nicht jeder Junge oder Knecht, der vorher die Ochsen gehütet, die Erlaubniß erhalte, mit solchen Waaren auszuziehen, wodurch der Handel in Mißkredit komme. Auch müsse den Laboranten verboten werden, an Ausländer Waaren zu geben, wogegen die Laboranten sich beschweren, daß Hans Balthasar Walther, gewesener Schullehrer zu Döschnitz, jetzt in Lichtenhain, die Geheimnisse des Laborirens um einige Kannen Bier zum Besten gebe, weshalb man denselben wieder unter die Miliz stecken möge. Es wurde hierauf verfügt, daß Keiner unter achtzehn Jahren und Keiner, der nicht schreiben und lesen könne, als Balsamträger verpflichtet werden dürfe. Die Laboranten aber dürfen an Keinen, der nicht im Amte Königsee verpflichtet ist, Waaren abgeben. Das Amt hat auch künftig Jedem, der mit Medicinwaaren Handel in das Ausland treiben will, besondere Pässe auszustellen. Von dieser Zeit an nennen sich die Medicinhändler in der Fremde „wohlgeprüfte Olitätenhändler“, doch blieb ihnen der Name „Balsamträger“. In den Nachbarorten ihrer Heimath aber, in denen dieser Industriezweig nicht betrieben wurde, nannte man sie spottweise „Ränzer“ (von dem Ranzen, in welchem sie ihre Waare trugen).

Schon um diese Zeit begann man in einigen Ländern den Medicinhandel zu erschweren, ja wohl ganz zu verbieten, so zum Beispiel im Brandenburgischen, und im Jahre 1711 schreibt man von Dresden nach Freiburg auf eine von Hans Jahn und Consorten gesuchte Concession ihrer im gräflichen Amte Königsee verfertigten Olitäten und gebrannten Wasser: daß wegen der Privilegien der Apotheker und wegen des durch die Arzneikrämer unterlaufenden vielen Betrugs an Orten, wo sich privilegirte Apotheken befinden, außer an offenen Jahrmärkten, der freie Verkauf keineswegs zu gestatten sei.

In anderen Ländern aber war der Verkauf der Medicinwaaren erlaubt und wurde so frei und öffentlich getrieben, daß Heinrich Limprecht von Cursdorf die Stadt Hof gegen Erlegung von sechs Gulden überhaupt und einem Kreuzer von jedem Gulden Einnahme förmlich pachten konnte, wogegen keinem Andern gestattet sein sollte, mit gebrannten Wassern, Olitäten und anderen dergleichen in der Stadt Hof zu hausiren. Ebenso haben Hans Camlort und Michael Ehle zu Cursdorf das Markgräfliche gepachtet und lassen keinen andern Balsamträger dorthin hausiren, wobei der Erstere gegen einen Concurrenten die Worte brauchte: „Wo willst Du hin, Du Lumpenhund? Culmbach habe ich gepachtet.“ Ebenso haben Heinrich Gutheil, sein Sohn und Eidam das ganze Amt Jena gepachtet, so daß kein Anderer dort nur ausbieten darf.

Trotz der im Jahre 1710 versuchten Reformation des Laborantenwesens und des Medicinhandels erwiesen sich doch die getroffenen Einrichtungen als unzulänglich, um weitere Verbote in den übrigen deutschen Staaten zu verhindern, denn bei einem neuen 1751 angestellten Versuche der schwarzburgischen Regierung zu Rudolstadt, die Sache zu verbessern, erfahren wir, daß im Preußischen, Hannoverschen, Holsteinischen, Kursächsischen der Handel verboten sei. Das Amt zu Königsee schiebt in einem Berichte die Hauptschuld darauf, daß die Laboranten die Sache nicht kunstgemäß zu tractiren gelernt haben, die Waaren auch noch dazu von den Olitätenhändlern gefälscht worden seien, wodurch viele Leute betrogen, ja wohl viele Menschen gar gestorben seien. Die Hauptfehler sei Ignoranz und Betrug. Die Chemie, worauf Alles ankomme, verständen viele Mediciner und Apotheker selber nicht, und Einer, der noch kein chemisches Buch gesehen, wolle einen Chemicus abgeben. Man solle Keinem das Laboriren gestatten, der nicht ordentlich gelernt und sein Examen ausgestanden habe. Die, welche laboriren wollen, sollen erst bei alten Praktikern in die Lehre gehen. Von Seiten der Balsamträger begegnen wir wieder denselben Klagen von früher. Sie schieben die Schuld des Verbotes, mit Medicinwaaren zu handeln, auf die Laboranten, welche Jungen von sechszehn bis siebenzehn Jahren Waaren geben. Diese fingen dann auch selbst an, dergleichen zu fertigen, und verkauften solche nichtswürdige Waare um lüderliches Geld.

Die Regierung erläßt hier wieder die frühere Verfügung, daß nur gewissenhafte Leute zum Austragen verpflichtet werden sollen. Die Gläser sollen von den Laboranten gleich selbst gefüllt und mit Zeichen verwahrt werden, damit kein Betrug stattfinden könne. Auch sollen Solche, welche Laboranten werden wollen, künftig vor dem Amt durch den Physicus geprüft werden und nicht eher die Erlaubniß zur Verfertigung von Medicinwaaren erhalten, bis sie die Prüfung bestanden haben. Auch eine Visitation durch den Physicus wird angeordnet, worauf jedoch der Physicus Dr. Frobenius erklärt, die von den Laboranten verfertigte Medicin sei gut und echt, weshalb es keiner Visitation bedürfe. Er führt dabei mehrere von den Laboranten verfertigte Arzneien an, aus denen man erkennen kann, daß man damals noch ziemlich unschuldige Stoffe verwendete.

Für die damaligen Verhältnisse des Laborantenthums den Apotheken und Aerzten gegenüber sind noch folgende Verhandlungen lehrreich.

Im Jahre 1758 meldet der Laborant Nikolai zu Lichtenhain in einem Gesuche an die schwarzburgische Regierung zu Rudolstadt, daß er als ein dreißig Jahre her in Pflichten stehender Laborant bei seiner chemischen Praxi durch Gottes Gnade und Segen einen dem bekannten Schauer’schen (aus Augsburg) gleichkommenden und diesen noch übertreffenden Universalbalsam herausgebracht und erfunden habe, den er nach Danzig, Niedersachsen und anderen Orten verschicke. Aus den Gläsern des Schauer’schen Balsams stehen kaiserliche, königliche und andere hohe reichsständische Wappen zur Recommandation. Nun würde in Ermangelung desgleichen der Abgang seines Balsams Anstand finden. Er stelle nun das Gesuch, daß er seinen Balsam durch landesfürstliches Wappen autorisiren dürfe, und daß ihm ein Privilegium für denselben gegeben werde, weil er ihn dann häufiger vertreiben könne und dadurch mehr Geld aus fremden Landen herbeigezogen würde.

Das fürstliche Amt zu Königsee berichtet hierauf, daß dem Nikolai als einem geschickten Laboranten eine solche Vergünstigung wohl zu gönnen sei. Da aber noch mehrere Laboranten einen Balsam nach Art des Schauer’schen anfertigten, auch der Handel allgemein bleiben müsse, möchte ihm kein Privilegium mit verbindender Kraft ertheilt werden. Nikolai erhält hierauf zur Aufmunterung seines Fleißes und zur Aufnahme des Erwerbes angeborener Unterthanen die Erlaubniß, für seinen Balsam das fürstliche Wappen sowie die Worte „Privilegirter schwarzburger Balsam“ zu führen. Später beklagt sich Nikolai über den Laborant Joh. Peter Himmelreich zu Lichtenhain, der eigentlich das Tischlerhandwerk erlernt, nachher aber das Laboriren angefangen habe, weil derselbe den Universalbalsam dem Geruche nach nachahme und um ein geringes Geld verkaufe, wodurch die Kunden nur stutzig gemacht würden.

Nach der Untersuchung des Physicus Dr. Eckner ist der gerühmte Schauer’sche Balsam weiter nichts, als ein Destillat von aromatischen Species mit Spiritus.

Wir führen als lehrreich für die damaligen Zustände noch die Klage des Apothekers Geudtner zu Königsee an. Dieser sagt, daß seine Apotheke jährlich sechszehn Thaler Steuer erlegen müsse, was er aber schwerlich für Medikamente lösen könne, da man auf dem Lande die Arzneien von den Laboranten ohnehin erhalten könne, der hiesige Physicus aber um deswillen wenig zu verschreiben nöthig habe, da er von seinem Stiefvater Dr. Worm zu Oberweißbach hiermit gratis versehen werde. Also neben den Laboranten dispensiren auch noch die Aerzte selbst.

(Schluß folgt.)
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Blätter und Blüthen.


Ein Besuch in der königlichen Münze in London. Nachdem ich mich wegen einer Einlaßkarte an den Münzmeister gewandt und dieselbe erhalten hatte, fand ich mich Nachmittags auf der Münze ein. Es wurde mir ein Beamter als Führer zugetheilt, und die Wanderung nahm ihren Anfang. Der Weg führte zunächst einen langen Korridor entlang, über einen großen Hofraum, nach einem Seitenflügel des Gebäudes, wo sich der Schmelzraum befindet. Der Führer ersuchte mich, ihm schnell zu folgen, da der letzte Guß soeben beginnen sollte. Die Thür ward geöffnet, und wir traten in einen Raum ein, der einer Schmiede ganz gleich sah. An jedem Ende war ein großer Herd angebracht, doch war heute nur einer in Gebrauch gesetzt. Vor diesem Herde stand ein eisernes Gestell, welches die Formen, die sogleich mit flüssigem Golde gefüllt werden sollten, enthielt. Unter der Decke war ein eiserner Heber mit Ketten befestigt, mittelst dessen der Schmelztiegel vom Feuer entfernt und über die Form gehalten wird, worauf zwei handfeste Männer denselben langsam seines Inhalts entleeren. Diese Tiegel bestehen aus Reißblei oder Graphit, da sich dieses Mineral seiner glatten Oberfläche halber zum Schmelzen edler Metalle besonders eignet. Nach kurzem Warten ward der Tiegel abgehoben. Derselbe war glühend, ebenso wie der Inhalt, nur daß dieser flüssig war. Die ausgeworfene Hitze war fast versengend und machte mich einige Schritte zurücktreten. Das flüssige, rothglühende Gold bot, während es langsam in die Form gegossen wurde, einen prächtigen Anblick. Der Guß dauerte etwa eine Minute; der Tiegel wanderte zum Herde zurück, um dort langsam zu erkalten, während die gefüllten Formen vorläufig ihrem Schicksal überlassen blieben. Mein Begleiter machte mich auf einen kleinen Rollwagen aufmerksam; er stieß denselben verächtlich mit dem Fuße an und sagte: „Da liegen etwa vierhunderttausend Pfund Sterling, die morgen geprägt werden.“ Dieser Wagen enthielt eine Anzahl viereckiger Stangen Goldes, deren jede etwa sechsunddreißig Zoll lang, dritthalb Zoll breit und drei Viertel Zoll dick war, und die zunächst im anliegenden Zimmer in Arbeit genommen wurden. Diese Stangen nämlich werden vermittelst mächtiger Walzen in große Platten ausgerollt und dann mit einer Maschine in Streifen geschnitten, welche an dreißig Zoll Länge, drei Zoll Breite und etwa ein Achtel Zoll Dicke besitzen. Die Walzen können beliebig gestellt werden, um so jeder Platte denselben Durchmesser zu geben.

Nachdem die Platten in Streifen zerschnitten worden sind, wird jeder dieser Streifen durch zwei kleine Stahlwalzen getrieben, die dazu dienen, etwaige Unebenheiten zu entfernen. Alle diese Walzen, Heber etc. werden von einer Dampfmaschine von hundert Pferdekraft in Bewegung gesetzt. Hierauf bringt man die Goldstreifen in ein anderes Zimmer, wo dieselben in drei Theile zerschnitten und in eine andere Maschine gelegt werden, die vermittelst einer Stange runde, natürlich noch ungeprägte Goldstücke hervorbringt. Das Gold hat jetzt begreiflicher Weise seine frühere Härte schon längst wieder erlangt, und um die nächste Maschine, welche der Münze den Rand beibringt, nicht zu sehr anzugreifen, erfolgt vorher ein abermaliges Glühen der Platten. Nach allen diesen Vorbereitungen erst beginnt das Prägen der Münzplatten, die kurz vor diesem Verfahren zum dritten Mal in den Glühofen wandern, um der Bearbeitung zwischen den Stempeln genügend nachzugeben.

Wir begaben uns in das Prägezimmer und wurden von einem so betäubenden Lärm und Getöse empfangen, daß an ein Sprechen mit dem Führer gar nicht zu denken war. In diesem Raume befinden sich vier Prägemaschinen, deren Stoßwerke das ganze Zimmer erschüttern. Hinter der Maschine sitzt ein Mann, der dieselbe mit den bisher ungeprägten Goldplatten speist. Das Prägen der Münzen erfolgt mittelst zweier vertieft gravirter Stempel, zwischen denen eine Münzplatte nach der andern einem augenblicklichen Stoße ausgesetzt wird. Nach dem Stoße geht der Oberstempel hinauf, die geprägte Münze wird durch eine Hebung des Unterstempels fortgeschleudert und zwischen die zwei Stempel fällt eine neue Münzplatte, die demselben Verfahren unterworfen wird. Die geprägten Münzen fallen in große Behälter hinein, und diese werden alle Stunden geleert. Man prägt hier dreiundvierzig, neunundvierzig, ja sogar vierundfünfzig Goldstücke in der Minute.

Man sollte denken, daß damit die Münze fertig sei und nun in Umlauf gesetzt werden könne. Das ist aber nicht der Fall. Obgleich beim Walzen die größte Sorgfalt angewendet wird, so ist es doch unvermeidlich, daß ein Goldstück mehr oder weniger als das andere wiegt, und deshalb bringt man die Münzen endlich in den Wiegeraum. Hier befinden sich vierundzwanzig Maschinen; unter jeder derselben sind drei Behälter angebracht, von denen einer vollwichtige, ein zweiter zu leichte und der letzte zu schwere Münzen in Empfang nimmt. Diese Maschine wurde von dem berühmten Mathematiker Babbage erfunden und ist das vollendetste Werk dieser Art. Die Maschine wird mit Dampfkraft bewegt, wiegt die Münzen und wirft jede einzelne in den richtigen Behälter ohne den Beistand eines Menschen. Alle zwei Stunden werden die Röhren, die sich an der Maschine befinden, mit Goldstücken angefüllt und die Behälter geleert. Die zu schweren oder zu leichten Münzen wandern in den Schmelzofen zurück und haben die Procedur des Prägens etc. noch einmal durchzumachen. – Die Prägung der Silber- und Kupfermünzen ist natürlich der obenerklärten gleich.

Das englische Pfund Sterling enthalt 22karätiges Gold. Zur Verständigung füge ich bei, daß in England Gold zu 24 Karat à 4 Grains à 4 Quarts berechnet wird. Mehrkarätiges Gold als das der Pfunde darf nicht verarbeitet werden."

Von der Münze wird das Gold nach der Bank befördert, in deren Kellern es auf weitere Verfügung wartet. Der Besucher darf sich nur zwanzig Minuten aufhalten und hat deshalb leider nicht die Zeit, sich Alles so genau anzusehen, wie er wohl wünschte – aber auch die kurze Zeit ist höchst interessant.
Emil Woltmann.





Hermann Kletke. Die „Tante Voß“ ist weit über ihre Heimath hinaus bekannt als eine stahlgepanzerte Amazone, die muthig in den vordersten Reihen für Recht und Freiheit kämpft, am Arme ihres geistigen Herrn und Gemahls, des wackern Hermann Kletke. Eine politische Zeitung zu leiten, zumal in Berlin, dem wirbelnden Mittelpunkte der heutigen Welt, ist ein aufreibender Beruf und der ein geborener Dichter, wer inmitten solcher Thätigkeit noch Weihe und Sammlung findet, dem innern Drange Ausdruck zu verleihen. Mag die Partei den Lorbeer des Führers flechten, der Dichter Hermann Kletke, dessen Gedichte jetzt in vermehrter Gesammtausgabe (Berlin, Verlag von E. H. Schröder, 1873) vorliegen, hat auf die allgemeinste Anerkennung wohlbegründeten Anspruch. Der lärmende Streit des Tages, aus dem der Sänger selbst sich geflüchtet, hallt nicht in diesen Strophen wieder: es sind Blüthen edelster Lyrik, deren Duft unwiderstehlich das Gemüth gefangen nimmt. „Lose Blätter“ sind mit wechselnden Stimmungen beschrieben, die überall aus Verständniß und Nachhall zählen dürfen. „Jung und froh“ stürmen wir mit dem Dichter in’s Leben hinaus, und bei „Liebes-Leid und Lust“ werden wir gleich ihm verweilen, sei es in Erinnerung, sei es ahnungsvoll. „Natur und Herz“ erfaßt er in ihren geheimnißvollsten Tiefen, und über „Ein Grab“, das Grab eines geliebten Kindes, hinweg führt er uns zum „Frieden“, und die „Bilder“ entrollen noch einmal des Lebens ganzen Wechsel. Neu und eigenartig sind die „Gedenktafeln“, kurz und glücklich zusammengefaßte Charakterschilderungen großer Menschen – lauter Deutsche, ein einziger Fremder unter ihnen: Napoleon der Erste, die Sphinx des Jahrhunderts, die nunmehr und hoffentlich für immer in den Abgrund sich gestürzt hat.

Unser deutsches Volk ist im Laufe der letzten Jahre ein hervorragend politisches und praktisches geworden: aber die Liebe zu seinen Dichtern hat es sich bewahrt, und unsere Frauen und Jungfrauen halten noch immer jene schön ausgestatteten, goldgeränderten Bände für eine besonders werthvolle Zierde ihres Weihnachtstisches. Und darum wollen wir gerade in dieser Zeit auf den Dichter Hermann Kletke aufmerksam machen, während der Politiker alle Tage selbst sich Beachtung verschafft. Das Buch ist mit seinem Bilde geschmückt, und auch die anspruchsvollste, vielleicht schon öfter enttäuschte Schwärmerin wird zugestehen, daß dies der Kopf eines echten und wahren Dichters, eines Dichters, der das Wort hat, von dem er selbst singt.

„Und wer es hat, das eine Wort,
Dem springt der Felsen auf sofort
Und zeigt ihm aus vergangner Zeit
Die Schätze gold’ner Herrlichkeit.“

A. Traeger.






Vier Kinder suchen ihren Vater. Wenn Johann Wilhelm Taurit noch lebt, welcher noch 1854 Haushofmeister bei dem Grafen Wolochow in Sewastopol war und seine vier Kinder, Dorothea, Charlotte, Alexander und Johann Gustav 1848 in Riga zurückgelassen hatte, wo deren Mutter an der Cholera starb und die Waisen der Barmherzigkeit der Menschen überlassen mußte, so erfahre er hiermit, daß der zuletztgenannte Sohn, derzeit Telegraphen-Revisor in der Gouvernementsstadt Plock in Polen, die Sehnsucht der Geschwister nach ihrem Vater ausspricht.




Kleiner Briefkasten.



M. L. in E. Fassen Sie sich noch einige Wochen in Geduld! Wie versprochen, beginnt der neue Jahrgang mit der auch von Ihnen längst erwarteten Erzählung von E. Marlitt: Die zweite Frau, der später eine zweite von E. Werner: Gesprengte Fesseln folgen wird. Als dritte im Bunde erscheint dann noch eine Novelle von L. Schücking.

Dr. A. M. in Sch. Warum die Gartenlaube nicht wieder auf die Wiener Weltausstellung zurückkommt? Im Hinblick auf die übergroße Fülle des vorliegenden Materials und den sehr beschränkten Raum unseres Blattes glaubten wir dieses Thema mit den vier zum Abdruck gebrachten Artikeln abschließen und eine eingehendere Würdigung desselben in fortlaufenden Artikeln den größeren illustrirten Blättern, wie der Leipziger „Illustrirten Zeitung“ und den Stuttgarter Journalen überlassen zu müssen.

E. Sch. in L. Ihre Mittheilung in Betreff der Erzählung „Die Kirche von Argenteuil“ war uns sehr willkommen, da sie uns bestätigt, daß die in der genannten Erzählung geschilderte Begebenheit auf Wahrheit beruht. Außer Ihnen berichten uns auch noch andere Augenzeugen dieser Episode aus dem letzten Kriege, daß der Verfasser der „Kirche von Argenteuil“ nur Thatsachen mittheile.

M. v. A. in T. Ausnahmsweise – denn die Gartenlaube darf es kaum wagen, zur Zeit einer andrängenden Bücherfluth Einzelnes zu empfehlen, wenn sie nicht von Allem überfluthet werden will – können wir Ihnen als neu und beachtenswert das „Märchenbuch“ eines Schriftstellers nennen, der Ihnen durch die Gartenlaube bereits bekannt ist. Fr. Hofmann’s „Wundergarten der Kindheit“, soeben bei E. J. Günther hier erschienen. Das Buch ist angenehm ausgestattet und mit Holzschnitt- und Buntdruck-Bildern nach Zeichnungen bekannter Künstler geschmückt. An die Stelle einer Einleitung mit irgend welcher trocknen literarischen Belehrung hat der selbst kinderfrohe Herausgeber eine lebensvolle Schilderung der Entstehung der Märchen und des Weihnachtsfestes im Paradiese in einem großen „Märchenbrief'“ an die deutschen Kinder gesetzt. Auch hat er sein Buch nicht blos mit den altbekannten Märchen angefüllt, sondern auch mit neuen noch ungedruckten bedacht, an welchen die jungen und alten Deutschen sich erfreuen können.





Berichtigung. Bei dem dreimaligen Schriftsatze unseres Blattes hat sich in einem derselben ein störender Druckfehler eingeschlichen, und zwar in Nr. 45, wo in dem Artikel „Die Perle der NordseeSeite 736, zweite Spalte, in der fünfzehnten Zeile von unten statt Fitz-Morse zu lesen ist: Fitz-Maxe, was wir hiermit bezüglich der betreffenden fehlerhaften Exemplare jener Nummer berichtigen.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Um unseren Lesern ein Bild von der Lage des Observatoriums zu geben, fügen wir diesem Artikel eine Abbildung des brodelnden Berges nach einer Skizze des Malers Heck bei, welche derselbe vor dem großen Ausbruche am 24. April in unmittelbarer Nähe der Kratermündungen aufgenommen hat.
    D. Red.
  2. Es freut uns, unseren Lesern eine Schilderung dieser durch Kossuth und Garibaldi empfohlenen Grotte mittheilen zu können. Wenn auch der Artikel nicht gerade die sanitätliche Seite der Grotte hervorhebt, so glauben wir doch, daß viele an uns gerichtete Anfragen dadurch beantwortet werden.
    D. Red.
  3. „Blockland“ nennt man den nördlichen Theil des bremischen Gebietes, der, unter dem Spiegel der benachbarten Wumme liegend, im Winter unter Wasser steht, aber gegen den Sommer durch große Pumpwerke trockengelegt und als Weide benutzt wird.
  4. Die großen Moor- und Haidedistricte von Stade und Lüneburg.
  5. Beide Tauben haben ihren Schlag wieder aufgefunden, die erste noch an demselben Abende, die zweite am folgenden Tage.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Pflegetocher