Die Gartenlaube (1874)/Heft 42

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1874
Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 42.   1874.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Die Geschichte vom Spötterl.
Nachdruck verboten und
Uebersetzungsrecht vorbehalten.
Aus den bairischen Bergen. Von Herman Schmid.


(Fortsetzung.)


Clarl ließ den Löffel sinken und sah Corona mit einem Blicke an, in welchem so viel Ernst lag, daß man ihr denselben trotz der Falten ihres immer heiteren Gesichtes gar nicht zugetraut hätte. „Das hat keine G’fahr bei Dir,“ sagte sie dann. „Du bist so viel sauber, daß schon noch ein Anderer kommt, als ein solcher Steinklopfer, der nix ist und nix hat, und mit dem Du Dich nur in die Noth hinein setzen thät’st. Wenn’s aber so wär’ und wenn’s Dir bestimmt wär’, auch unter das alte Eisen zu kommen, dann wirst Dich halt auch d’reingeben müssen. Es ist nit so schwer, als Du meinst, und wenn man nur will, kann man Alles überwinden.“

Sie hielt inne und sah vor sich hin; ihren Gedanken drängten sich die Gestalten vergangener Zeiten in den Weg. Auch Corona verstummte und sann; sie mochte die Richtigkeit des Gesagten überlegen, als der Spötter im Käfig zu singen anhob, gleich einem Finken schmetternd, als wolle er nichts wissen von der trübseligen Lebensweisheit der Alten.

„Schrei’ nur, dummer Vogel!“ sagte diese. „Deswegen wird’s doch nit anders. Du kannst leicht lustig sein; Dir stellt man alle Tag’ das gefüllte Nürscherl in’s Haus. Aber so müssen’s die Leut’ auch machen. Zuerst muß man schauen, daß man zu leben hat, und lang’ darnach erst, wie und mit wem man leben will. Es haben sich schon gar Manche zusammengefunden, die im Anfange Hott und Wist gezogen haben; wenn sich aber Zwei miteinander in’s leere Nest setzen, kriecht gar oft aus dem ersten Ei die Noth mit aus; die zankt und streit’t, und was zuerst g’wesen ist, als wenn’s zusamm’g’schmied’t wär’, das bringt und frißt der Unfrieden aus einander, wie der Rost das Eisen.“

„Du bist ein trauriger Vogel,“ sagte Corona mit schwachem Lächeln. „Wenn’s Dir nachging’, dann müßt’ man beim Heirathen an Alles eher denken, als an die Lieb’. Ich hab’ aber g’hört, daß die das Erst’ und Nothwendigst’ ist. Ich hab’s an mir selber noch nit erfahren, wie’s damit ist, und Dir wird’s auch so ’gangen sein, und d’rum willst jetzt, weil Du alt bist, nix mehr wissen davon und red’st daher wie der Blinde von der Farb’.“

Das Gesicht der Alten war noch ernster geworden. „Es wird bald Zeit, daß wir zum Butterausrühren herrichten,“ sagte sie. „Aber wenn Du’s hören willst, will ich Dir erzählen, wie’s mir ’gangen ist, als ich in Deinen Schuhen g’standen bin – kannst nachher selber unterscheiden, ob ich die Blind’ bin oder Farben auseinanderkenn’! … Ich bin ein arm’s Dirndl g’wesen,“ begann sie nach einigem Besinnen, „wie Du, grad so lebfrisch und schneidig wie Du, und gar Mancher hätt’ vielleicht einen weiten Weg nit gescheut, wenn er gewußt hätt’, daß ich ihm Gehör geben thät; ich aber hab gemeint, die ganze Welt gehört ohnedem mein; was brauch’ ich mich um die Mannsleut’ zu kümmern! Hat aber nit lang’ angehalten, der Hochmuth, und wie ich meinen Balthes gesehen hab’, da ist’s mit ein’ Mal gewesen wie umgewend’t – ich hab’ keinen andern Gedanken mehr gehabt als den Buben, und wenn er zu mir g’sagt hätt’: ‚Geh’, Clarl, geh’n wir auf und davon und in die Welt!‘ ich hätt’ mich keinen Augenblick besonnen und wär’ mit’gangen. … Das hat’s aber bei ihm nit nothwendig gehabt; er ist ein reicher Bauernsohn gewesen über’m See und der Einzige noch dazu und hat gesagt, er hat schon genug, er braucht kein reiches, aber ein richtiges Weib, das ihm hausen und erhalten hilft. So haben wir gemeint, könnt es uns nit fehlen, und die ganze Welt ist grün gewesen und rosenroth, wie wenn im Lanks (Lenz) die Aepfelbäum’ blüh’n. Es hat aber doch g’fehlt – an seiner Mutter hat’s g’fehlt. Die hat ihm eine Andere vermeint und hat gesagt, sie thät’ niemals nit leiden, daß eine arme Dirn’ in ihren schönen Hof einheirath’t; das soll er sich nur aus’m Sinn schlagen, so lang sie ein offenes Aug’ hat, und auch nachher, weil sie dann im Grab’ keine Ruh’ hätt’ und nix mehr von ihm wissen wollt’ in der Ewigkeit. Da ist’s wohl ein Bissel grau ’worden um uns her, wie wenn sich der Himmel zum Regnen einricht’t auf ein paar Wochen. Es hat auch geregn’t genug, daß man’s gar nit glauben sollt’, daß aus ein paar Augen so viel Wasser kommen könnt’. Eine Weil’ haben wir’s probirt, ob wir’s nit doch durchsetzen. – Dann hat sich aber der Pfarrer dreingemischt und hat ihm vorgestellt, was er seiner Mutter schuldig wär’, und bei mir haben s’ gedacht, daß mir’s nur um die reiche Heirath zu thun wär’, und haben mich hart gered’t und heruntergesetzt, als wenn ich ihn nur desweg’n nit losließ. … Da haben wir uns zusammengered’t, daß es aus sein sollt’ mit uns Zwei auf der Welt und daß wir nix mehr von einander wissen und einander vergessen wollten – wenn’s möglich wär’.“

Die Erzählerin schwieg einen Augenblick, um aufzuathmen. Corona saß regungslos und mit gesenktem Blicke; der Vogel aber flötete in langgezogenen Tönen, wie das Amselmännchen sie hören läßt, wenn es Abends dem Weibchen vorsingt, das brütend im Neste sitzt.

[672] „Wir haben’s auch gehalten,“ begann Clarl wieder. „Er ist auf’m Hof bei seiner Mutter ’blieb’n; ich hab’ mich über’n See hinüber verdingt, und wir haben einander nimmer geseh’n. Ich hab’ meine Arbeit gethan als wie zertrellt, vom ersten Sonnenstrahl bis in die sinkende Nacht, und wenn’s so recht schwarz gewesen ist, das war mir’s Liebste, und hat mich g’wundert, wie’s nur wieder Tag werden kann. … Und wie der Auswärts wieder ’kommen ist, da hat’s geheißen, der Balthes hätt’ endlich seiner Mutter nach’geben und thät Hochzeit machen am nächsten Sonntag. Es ist aber anders ’kommen. … Am selbigen Sonntag bin ich im Grasgarten am See draußen gestanden und hab’ die Leinwand begossen, die zum Bleichen ausgespannt war. Die Bäum’ haben ’blüht über mir und die Blümeln unter mir. – Die Luft war weich und der Himmel so blau, als sollt’s gleich hinaufgeh’n in die ewige Glückseligkeit, in der Kirche aber haben’s g’läut’t, so feierlich, als wenn man schon von Weitem die Engel singen höret’. … Da ist von drüben ein Schiff ’rübergefahren; in dem ist eine Truhen gestanden, und in der ist der Balthes gelegen. … So gut er den Willen g’habt und sich vorg’nommen hat, er hat’s nit zwingen können. … Er ist auch ’rum’gangen, wie vor’n Kopf geschlagen, und am Abend vor der Hochzeit hat er sich hingelegt und ist nimmer aufgestanden – das Grämen hat ihm’s Herz ab’druckt. Jetzt haben s’ ihn, statt zu der Copulation, zu der Begräbniß ’rübergeführt über’n See, und ich hab’ das Schiff kommen seh’n und hab’ gewiß kein Wasser zu meiner Bleich’ ’braucht. Ich hab’ die Händ’ aufgehoben in die blühenden Bäum’ und den blauen Himmel hinein und hab’ hinaufgefragt, wie’s denn möglich ist, daß die Welt so schön und in der schönen Welt ein Mensch so unglücklich sein kann. …“

Wieder trat augenblickliche Stille ein. Corona reichte der Alten beide Hände, gleichsam als wolle sie widerrufen und ihr abbitten, was sie ihr durch ihre Scherzworte angethan. „Sei nit harb, Clarl,“ sagte sie. „Das hab’ ich nit wissen können, daß Du so was Traurig’s erlebt hast. Bist ja alleweil so vergnügt und lachst, als wenn Du Deiner Lebtag keinen betrübten Augenblick gehabt hätt’st.“

„Ja, Mein Herz ist härter g’wesen als dem guten Buben seins,“ antwortete Clarl. „Das hat’s ausg’halten und durchg’macht, und wie ich wieder Oberwasser gehabt hab’, da ist mir Alles in der Welt ganz klein vor’kommen. ‚Wie Du das überstanden hast,‘ hab’ ich zu mir selber g’sagt, ‚da ist nix der Müh’ werth, daß Du drum eine Zähre vergieß’st. … Es ist gescheidter, Du nimmst Alles auf die leicht’ Achsel und lachst drüber.‘ So hab’ ich’s gemacht bis heut’, und so will ich’s machen, bis sie mir die Hobelspähn’ unter’n Kopf legen.“

„Und ist Dir nie in den Sinn ’kommen, einen Andern z’ nehmen?“ fragte Corona nach einer Pause des Nachdenkens.

„Nie,“ sagte Clarl fest. „Ich hätt’s meinem Bub’n nit anthun mögen in der Ewigkeit. Es sind wohl noch ein Paar ’kommen, die nit ’glaubt haben, daß mir’s Ernst sei mit ’m Ledigbleiben; aber es waren lauter kleine Leut’: Tagwerker und Wegmacher, wo man mit ’m Mann auch die Noth g’heirath’t hätt’. Da hätt’ ich, wenn mir auch anders um’s Herz g’wesen wär’, den Leuten die Freud’ nit vergonnt, daß sie hätten sagen können: ‚Da schaut’s her – erst hat sie so hoch ’nausg’wollt, hat eine reiche Bäurin werden wollen, und jetzt ist sie doch zufrieden, weil sie nur wo unterkriechen kann.‘“

Sie stand auf, wendete sich kurz ab und ging hinweg, damit Corona nicht sehen sollte, wie die Augen naß geworden, in denen sonst nur die Funken der Freude geglitzert.

Die Sennerin versuchte nicht, sie zu halten; nachdenklich sah sie vor sich zu Boden, wie Jemand, der in dem Rücklasse eines theuren Todten ein demselben werth gewesenes Buch gefunden, der darin geblättert und nun zwischen den Seiten eine vertrocknete Blume ober ein welkes Kleeblatt entdeckt. Von der vergilbten Blume weht ein kaum spürbarer Athem wie ein Echo des Duftes, den sie zur Zeit ihrer Blüthe verhauchte, und durch die Seele des Beschauers geht die Ahnung dessen, was in dem Herzen gepulst, als die Hand die noch frische Pflanze gebrochen und vielleicht mit Zuversicht das Glück erwartete, das ihre fünf Blätter bedeuten sollen.

Geraume Zeit war es still in der Sennhütte und um diese herum. Die Sonne, schon höher heraufgekommen, legte sich warm auf die Matte, als wenn auch ihr das grüne Plätzchen zwischen Felsen und Wald gefiele, und sie gern da verweilen möchte. Die weidenden Thiere suchten gesättigt die kühleren Stellen am Waldesrande und streckten sich in das Gras nieder, so daß auch ihre Glöcklein wie einschlafend verstummten. Plötzlich fuhr die Sennerin aus ihrem Brüten empor. Es war nicht der Gedanke an die ihrer wartende Arbeit, was sie aufsuchte; denn sie eilte nicht zu der Hütte, sondern stand wie unwillkürlich fest auf der Stelle; draußen vom Freien aber, vom Waldwege her, schallte deutlich mehrmals wiederholter lauter, gellender Wachtelschlag. Was sollte das bedeuten? Um diese Zeit sind die Saaten längst gefallen und mit ihnen die Wachteln verstummt, die darin gehaust. … Ueberdies ist die Wachtel ein Vogel, der die Ebene liebt und nur selten, wie verloren und verscheucht, die Berghöhen aufsucht. … Sollte das nicht natürlicher Gesang, sondern die nachgeahmte Lockung eines Vogelstellers sein, der sein Garn aufgestellt, um streichende Schnepfen zu fangen, oder sollte gar – – Das Mädchen dachte die ganze Gedankenreihe nicht aus; denn die Lösung aller Vermuthungen und Zweifel stand bereits fest und deutlich unter den Tannen, aus denen der Waldweg heraufführte.

Es war der Wachtelschläger vom jüngsten Tegernseer Festabend.

Der Bursche sah einen Augenblick mit dem gewohnten und geübten Auge des Jägers über die ganze Alm; eine Secunde lang ruhte sein Blick besonders auf dem Steine mit den Blumenbüscheln; dann eilte er schnurgerade und raschen Schrittes der Sennhütte zu.

Corona stand noch immer auf der Schwelle, unentschlossen, ob sie entfliehen oder die Annäherung des kecken Burschen abwarten sollte. Für das Erste sprachen die Gefühle der Abneigung und einer gewissen unbestimmten Scheu, die sich in ihr gleich beim ersten Begegnen geregt, ohne daß sie vermocht hätte, sich über deren Grund Rechenschaft zu geben. Geschieht es doch öfter im Leben, daß beim ersten Begegnen einer fremden Person die Seele in uns zusammenschauert wie von einer Ahnung, daß dieses Wesen bestimmt sei, auf unser Leben Einfluß und Macht über uns zu gewinnen – ist es doch keine seltene Erscheinung, daß die Liebe, welche ein Paar beim ersten Anblicke, ihm selbst unbekannt, ergriff, die Gestalt der Abneigung, ja selbst des Hasses erwählt. Es ist der Widerstand der freien Seele, die sich unwissentlich aufbäumt gegen die von außen kommende Gewalt, die ihren mahnenden Schatten vor sich her wirft. Für das Bleiben dagegen sprach der Gedanke, daß das Entweichen leicht wie Feigheit aussehen und den Nahenden zu Voraussetzungen veranlassen könnte, deren keine auch nur im Entferntesten begründet war. Auch war es wohl jedenfalls das Beste, der ungesuchten Annäherung des Burschen ein für alle Mal dadurch ein Ende zu machen, daß man ihm Rede stand und in Wort und Benehmen keinen Zweifel darüber ließ, daß man nichts von ihm zu wissen begehre.

Schließlich mochte für das Bleiben auch der Anblick des Kommenden entscheiden, der gar nicht so aussah, als habe er Uebles im Sinne, und der offenbar darauf ausging, sich in so günstiger Erscheinung wie möglich zu zeigen. Sein Anzug war allerdings nichts weniger als kostbar. Man sah es der grauen Joppe wie dem grünen Spitzhute an, daß sie ihrem Herrn schon lang treue Dienste geleistet hatten; aber sie waren rein und sogar von gewisser Zierlichkeit, und was ihnen an Neuheit abging, ersetzte das zwar grobe, aber schneeblanke Hemd, von welchem der rothe Wollgurt des Hosenträgers sich ebenso gefällig abhob wie die schwarze Florbinde, die unter dem schmalen Hemdkragen durch einen bleiernen Ring zusammengehalten war. Die gestrickten Beinlinge, den Fuß von der Wade bis zum Knöchel deckend, waren dafür unverkennbar von der Nadel her; auch die Schuhe mit ihren schweren, benagelten Sohlen und den Lederschnüren daran zeigten, daß sie geschont und nur an Festtagen getragen worden, und als entgegengesetztes, aber entsprechendes Ende prangte auf dem verschossenen Hütlein ein Spielhahnstoß mit Adlerflaum, wie wohl ein zweiter im ganzen Gebirge nicht mehr zu finden war.

„Grüß Gott, Spötterl!“ rief er, als er in die Nähe gekommen. „Ich hab’ Dein Nest ausgegangen, wie Du siehst; jetzt wär’ ich halt da und klopf’ an. Wie wird’s jetzt werden mit uns Zwei?“

[673] „Da brauchst nit lang’ fragen,“ erwiderte sie, halb abgewendet. „Ich hab’ Dir nit geschrieben; also hast Du halt den Hinweg für’n Herweg. Mußt Dir schon viel einbilden, weil Du glaubst, es braucht weiter nix, als kommen und anklopfen. Kannst alle Stund’ ’s Wachtelschlagen aufgeben und dafür dem Pfau seinen G’sang nachmachen.“

„No, da seh’ ich wohl, daß Du Dein’ Namen nit umsonst hast,“ sagte der Bursche, indem er beide Hände über den Bergstock legte und das Kinn darauf stützte. „Aber wenn Du noch so spotthaft thust, Du kannst doch nit leugnen, daß Du eingewilligt hast, daß ich zu Dir komm’.“

„Ich? Eingewilligt?“ rief Corona entrüstet. „Ist mir im Schlaf nit eingefall’n.“

„So? Warum hast dann meine Botschaft angenommen? Im Anfang hast Dich gespreizt; ich hab’s wohl geseh’n, daß Du die Almrosen weggelegt hast – aber heut’ Nacht das Spötterl, das ich Dir vor’s Fenster gehängt hab’, das hast nit weggestoßen, sondern behalten.“ …

„Du lebst stark in der Einbildung,“ rief Corona mit spöttischem Lachen. „Ich hab den Vogel nit behalten, sondern nur so steh’n lassen, weil ich nit gewußt hab’, was ich damit anfangen soll. Aber wenn’s auch so wär’,“ fuhr sie, einen Schritt näher tretend, fort, „so hätt’ ich Dich nur erwart’t, damit ich Dir sagen kann, daß Du mir aus ’m Weg geh’n sollst; ich will nix von Dir wissen.“

„Das kann schon sein,“ sagte der Bursche kaltblütig. „Aber ich möcht’ etwas wissen von Dir, Spötterl.“

„So heiß’ ich nit,“ rief sie erzürnt. „Wir sind nit so gut bekannt, daß ich mich von Dir bei meinem Spitznamen nennen lassen sollt’.“

„Sei nit harb deswegen!“ sagte er. „Aber der Name ist so übel nit. – Das Spötterl ist gar ein lieber Vogel, und wenn Du das Göschl so aufwirfst und so trutzig d’reinschaust, so siehst ihm völlig gleich mit Deinen Haselnußaugen. Aber wenn’s Dir nit recht ist und wenn Du’s erlaubst, nenn’ ich Dich bei Deinem rechten Namen und frag’ ob die Rohnberger Corona mir Red’ und Anwort geben will auf das, was ich gern wissen möcht’.“

Das Mädchen erröthete wie verwirrt; sie wußte nicht, wie sie dem gutmüthigen Tone ihres Widersachers gegenüber die frühere Schärfe des ihrigen aufrecht halten sollte. „Und was sollt’ denn das sein?“ fragte sie merklich milder und mit abgewandtem Blicke, während der Bursche ohne weitere Anfrage näher trat, Rucksack und Bergstock in das Gras warf und sich auf der Bank vor der Hütte niederließ.

„Das kannst gleich hören,“ sagte er. „Aber da gehört eine ganze G’schicht’ dazu, die ich Dir voraus erzählen muß. Wie wär’s, wenn Du mir vorher eine Schüssel Milch auftragen thät’st? Es ist sonst der Brauch so auf den Almen … wird doch auf der Gindelalm keine Ausnahm’ sein?“

Abermals betreten, eilte Corona der Milchkammer zu und erschien bald mit einer Schüssel, die sie neben den Burschen auf die Bank stellte. Wollte sie auch für die Zukunft jeden Verkehr mit ihm abbrechen – jetzt war er einmal durch eigenthümliche Verhältnisse ihr Gast geworden, und sie ärgerte sich über sich selber, wie sie vergessen konnte, ihm die Gastfreundschaft mindestens anzutragen. Halb unwillkürlich ließ sie sich ebenfalls auf die Bank nieder, so daß die Schüssel zwischen ihnen stand. Sie schaute vor sich nieder und vermochte nicht, ihre sonstige Schärfe wiederzufinden; die ungewohnte und unerwartete Weise, wie der Bursche sich benahm, verwirrte sie, und sie erwartete mit Neugier, was er ihr zu sagen vorhabe. Ihm aber schien es damit gar nicht zu eilen, wenn ihm auch mit dem Verlangen eines Frühstücks kein besonderer Ernst gewesen sein mochte, denn er genoß nur einige Löffel voll. Während dessen blickte er in das Innere der Hütte, stand dann auf und ging, als ob er da zu Hause wäre, hinein und kam mit der Cither zurück, die er auf dem Richtbrette über dem Herde liegen gesehen. Ohne die verwunderte Miene seiner Wirthin zu beachten, legte er sie auf das Knie und begann zu spielen, daß seine ungewohnte Fertigkeit bald ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihn lenkte.

In den Seitenblicken, mit denen sie ihn betrachtete, lag nichts mehr von jener Feindseligkeit, mit der sie sein Kommen gesehen; aus denselben sprach eher Verwunderung, daß sie ihn beim ersten Begegnen so abschreckend gefunden. Sie hatte ihn damals für einen alten Taugenichts gehalten, aber daran mußte die Entfernung und die Abenddämmerung schuld gewesen sein; denn jetzt fand sie von dem Allen nichts mehr vor. Zu den jungen Burschen, die sich sonst um sie bemühten, war er allerdings nicht mehr zu zählen; aber er machte den Eindruck eines tüchtigen Mannes, der auch, was Wohlgestalt betraf, nicht zu den Letzten gehörte, die halb kahle Stirn, über die sie am Tegernseer Festabende sich so lustig gemacht, gab ihm sogar etwas Keckes und Trotziges, und die furchtbare Narbe, die wie ein rothes Band über dieselbe lief, war keineswegs geeignet, diesen Eindruck zu verringern.

Allmählich leitete der Citherspieler von den bäuerischen Tänzen, die er zuerst angeschlagen, zu Gesangsweisen über und begann nach jener von Tegernsee zu singen. Es war, als wollte er seine siegreiche Gegnerin zu einem neuen Wettkampfe herausfordern – sie fühlte das durch und war keinen Augenblick verlegen, in denselben einzutreten. Die launigen Vierzeilen flogen bald wie neckende Bienen hin und wieder, und in dem Jodler am Schlusse vereinten sich ihre Stimmen so sicher und wohltönend, als wären sie jahrelang zusammengewöhnt. Die Lust am Gesange hatte bei Corona allmählich die letzten Bedenklichkeiten überwunden, so daß sie ihrer Stimme und Laune vollen freien Lauf ließ.

„Sacra!“ sagte der Bursche nach einer Weile. „Wir singen ja zusamm’, als wenn wir zusamm’ gehöreten. Deine Stimm’ ist schon gerad’ wie ein Glöckerl – oder nein, wie ein ganzes Glockengespiel; das klingt durcheinander, daß man nit weiß, wo man Ohren genug hernehmen soll zum Zuhören. Darüber hätt’ ich bald ganz drauf vergessen, was ich von Dir wissen will.“

Corona erröthete; auch sie hatte es vergessen.

„Es ist nur eine Frag’,“ begann er wieder, „auf die Du mir Antwort geben sollst oder einen guten Rath. Du bist so ein gewitztes Leut, daß ich vor keine bessere Schmiede gehen kann. … Du mußt wissen, mein’ liebe Rohnbergerin,“ fuhr er ernsthaft fort, „daß ich ein armer Kerl bin, und wenn ich, wie ich jetzt dasitz’, auf einen Baum hinaufsteig’, so hätt’ ich unten auf der Erden nicht viel mehr zu suchen. Ich bin noch ärmer als gar viele andere arme Leut’; denn ich hab’ niemals keine Heimath gehabt, hab’ von Vater und Mutter nix gewußt. Wie ich auf die Welt ’kommen bin, da ist der große Krieg gewesen; die Franzosen haben ihren König geköpft gehabt und sind zu uns ’rüber ’kommen. Da ist’s arg im Land zu’gangen, daß Alles, was können hat, sich in die Wälder und in die Berg’ geflücht’t hat. Da muß ich von einem Wagen herunterg’fallen und verloren gegangen sein; denn ich bin im Straßengraben gefunden worden, und nach dem Tage, an dem sie mich g’funden, haben s’ mich Quirinus geheißen und nach dem Orte, an dem ich gelegen bin, Grabner. Es hat auch nie ein Mensch nach mir gefragt – so hat mich die Gemeind’, in der ich gelegen bin, aufnehmen müssen, und ich bin im Huthaus bei der alten Hutfrau aufgewachsen. Nachher bin ich in der Kost herum’gangen, alle Tag’ bei einem andern Bauern, die oft selber nit genug g’habt haben – aber mir hat das Alles nix g’macht; ich bin doch aufg’wachsen und g’sund und stark ’worden wie ein Waldbaum. Da war’s grad um dieselbige Zeit, wo der Bonapartl nach Rußland hinein ist; man hat nicht genug Soldaten auftreiben können und nit lang’ gefragt, ob Einer schon die Jahr’ hat – da haben s’ mich auch zum Soldaten g’nommen, und ich hab’ nichts dawider gehabt; hab’ ja sonst auch nix vor mir gesehen und gewußt …“

Corona hatte schon bei Beginn der Erzählung mit Theilnahme zugehört. Diese wuchs mit jedem Worte; sie sah den Sprechenden nicht mehr blos von der Seite an, sondern wandte ihm das ganze Antlitz zu.

„Wie’s uns in Rußland gegangen ist,“ begann der Bursche wieder, „brauch’ ich Dir nit zu erzählen; Du wirst schon davon gehört haben. Wir sind dem Winter entgegengegangen, und wenn wir auch gerauft und dreingeschlagen haben wie die Bären, gegen die Kälten haben wir doch nichts ausrichten können und gegen den Hunger. Bei Polozk, wo die Franzosen uns im Stich gelassen und uns die Brucken vor den Augen abgebrochen haben, da haben die Meisten müssen in’s Gras beißen – mich hat ein Kosak mit der Lanze niedergerennt, daß mir das Kasket vom [674] Kopf gefallen ist, und wie ich mich hab’ wieder aufrichten wollen, ist ein Kürassier vorbeigesprengt und hat mir mit dem Säbel Eine über den Kopf gegeben, daß mir Hören und Seh’n vergangen ist.“ Er schwieg; aber wie lebhaft die Erinnerung in ihm war, zeigte die Narbe, welche dunkelroth glühte. „Wie ich wieder zu mir ’kommen bin,“ fuhr er fort, „bin ich mit vielen anderen Verwundeten auf einem Wagen gelegen und schon weit weggeführt gewesen. Um uns her sind Kosaken geritten; die haben uns in’s Rußland hineintransportirt als Gefangene, und weit und breit, so weit man hat sehen können, ist nichts gewesen als Schnee, und nur manchmal hat das Dach einer Hütten d’runter mit dem Rauchfang herausg’schaut.

Manchmal, wenn’s Einer von uns ausgemacht hat, hat man ihn über den Wagen ’runtergeworfen und liegen lassen, und die Geier sind zehn Schritt hinter uns darauf ’runtergestoßen. Nachher hat man uns noch einen weiten Weg zu Fuß geh’n lassen und mit den Lanzen fortgetrieben, und wer zusammengefallen ist vor Müdigkeit und Hunger, der ist im Schnee gleich gestorben und auch begraben gewesen. Ich hab’s lang’ ausgehalten, daß ich’s heut’ noch nit begreif’ – für den Durst hab’ ich manchmal Schnee in den Mund genommen; das Schrecklichste aber ist der Hunger gewesen, wenn wir oft ein Paar Tage lang nichts Ander’s gekriegt haben als ein Stück hartes Brod. … So sind wir einmal in ein Dorf gekommen, wo ein großes Schloß gestanden ist. Wir sind in den Hof hineingetrieben worden, wie eine Heerde Vieh; nachher ist der Verwalter gekommen – ich seh’ ihn heut’ noch vor mir mit seinem großen schwarzen Bart. – Der hat Mitleid mit uns gehabt und hat Jedem ein Krügel voll warmer Milch geben lassen. …. Schon hab’ ich das Krügel an den Mund gehoben, da ist der Sohn vom Schloßherrn herausgekommen, ein junges Bürsch’l in einem prächtigen Rock, mit Pelz gefüttert und rundum besetzt mit Pelz, und die Reitpeitsche in der Hand, weil er eben hat ausreiten wollen. … Der hat mir lachend das Krügel vom Mund gerissen und hat verlangt, daß ich vor’m Trinken erst niederknieen und mit aufgehobenen Händen d’rum bitten sollt’. In meinem Elend hätt’ ich das vielleicht auch gern gethan; aber ich habe ihn nicht verstanden, weil er russisch gered’t hat. Darüber ist der junge Herr ganz wüthend geworden; ‚Chatshesh sluchat tui ssawaka?‘ – das heißt auf Deutsch: ‚Willst Du gehorchen, Hund?‘ – hat er geschri’en und mich mit der Reitgerte über die Hand gehaut; der Krug mit Milch ist auf den Boden gefallen und das gehoffte Labsal vergeblich im Schnee zerronnen. Da hab’ ich nimmer gewußt, was ich thu; trotz meiner Armseligkeit hab’ ich auf ihn losstürzen wollen – aber ich bin gleich zu Boden gerissen und mit der Knute geschlagen worden, bis ich für todt liegen geblieben bin.“

Corona schauderte.

„Ich hab’ auch das ausgestanden,“ begann Quirin wieder. „Wie ich wieder hab’ gehen können, hab’ ich arbeiten müssen als Bauernknecht, und so sind die Paar Jahr’ vorbeigegangen, bis die Gefangenen ausgewechselt worden sind, und mir ist just nichts abgegangen in Rußland. Der Muschik, der Verwalter, hat zwar gemeint, ich sollt’ ganz bei ihm bleiben, und es wär’ vielleicht nicht mein Unglück gewesen; aber wenn ich auch keinen Menschen, keinen Freund, kein Haus und Hof daheim gewußt hab’ – ich dummer Teufel hab’ doch das Heimweh nicht verwinden können. Ich hab’ mir eingebild’t, es wird doch wer eine Freud’ haben, wenn ich wieder heimkomm’ – aber die Gemeind’ hat nichts mehr von mir wissen wollen und das alte Weibl im Hüthaus ist auch lange gestorben gewesen. … So arbeite ich seitdem so fort und bring’s zu nichts. Ich bin Bauernknecht gewesen und Fuhrmann, und jetzt bin ich Steinhauer im Kreuther Marmorbruch – aber ich hab’ keine Freud’ und kein Leid und weiß eigentlich gar nicht, wegen was ich auf der Welt bin. Da ist mir zunächst in der Nacht einmal eingefallen, wie’s denn wär’, wenn ich auch einmal daran denken thät’, mir ein Heimathl zu schaffen. … Am Hirschberg hab’ ich einen Platz geseh’n, mitten im Walde, mit einem frischen Bach und einem kleinen Angerl, wo eine Schneidsäg’ gar gut stehen thät’. …. Ich hab’ mir ausgerechnet, daß, wenn ich mich drei Jahre als Flößer verdingen thät’, nach Oesterreich und Ungarn hinunter, ich mir so viel erhausen könnt’, das Platzl zu kaufen und mir eine Säg’ und ein Häusl zu bauen und dann ein Weib heirathen zu können. – Aber ich bin ein wilder Kerl. Wenn ich nicht was hab’, was mich dazu zwingt, da ist’s nichts mit dem Hausen und Sparen, da geht das Geld, das ich verdien’, allemal wieder dahin, wie Wasser zwischen den Fingern. Ich muß zuerst wissen, daß mich Eine nimmt; ich muß wissen, für wen ich mich schind’ und haus’ – wie ist’s, Rohnberger Corona, weißt mir keine Heirath? Könntest Dich auf einen schönen Kuppelpelz freuen – weißt mir Keine, die drei Jahre auf mich warten und nachher Säg’müllerin werden möcht’?“

Er hielt inne, der Antwort gewärtig, aber Corona kam nicht dazu, sie zu geben, denn Clarl, die im Stalle vergeblich nach der Sennerin gesucht, stand auf der Schwelle, schlug verwundert die Hände zusammen und rief: „So ist’s recht. Jetzt freut mich mein Leben. Also auf die Weis’ bist Du nit versponnen! Ich hab’ gemeint, Du willst geschwind fertig werden mit dem Burschen da, und jetzt sitzt Ihr nebeneinander, als wenn Ihr Euch schon zwanzig Jahr’ kennen thätet.“

Corona war wie mit Blut übergossen; Quirin lachte vergnügt vor sich hin – aber jede weitere Erörterung ward durch das Erscheinen zweier neuer Gäste unterbrochen, welche auf die Sennhütte zukamen. Es waren der Münchener Pianist (der Perzel heißen soll, wenn er auch anders hieß) und der junge Russe, der schon im Concerte zu Tegensee so besondern Antheil an der Sennerin und an ihrem kunstfertigen Gesange genommen hatte. Erstaunt sahen ihnen die Anwesenden entgegen. Es war kein Wunder, wenn Corona und Clarl die Kommenden, die sie nur einmal flüchtig gesehen, nicht erkannten; Beide sahen jammervoll aus und kamen sehr gelegen, um der Stimmung, die schon unangenehm zu werden drohte, durch ihre Erscheinung wieder eine heitere Wendung zu geben.

Der Städter sowie der Fremdling hatte die Bergfahrt auf eigene Gefahr unternommen und, unkundig des Weges wie der Art solcher Wanderung, mit Mühseligkeiten aller Art zu kämpfen gehabt. Ihr Anzug war dem entsprechend. Dem Russen waren die an solche Zumuthungen nicht gewöhnten feinen Stiefel gesprungen, der feine Rock war vielfach von Gesträuch und Gestein zerfetzt und zerrissen, das durchkrochen oder überstiegen werden mußte; die Form des aus weißem Glanzfilz verfertigten hohen Hutes aber war kaum mehr zu erkennen, seit sein Besitzer beim Ausgleiten auf einer steinigen Berghalde ihn vom Kopfe verloren und unter sich gebracht hatte. Der Pianist sah äußerlich etwas weniger schadhaft aus, war aber dafür innerlich desto mehr erlegt; er war klein und beleibt, während dem jungen Russen seine Schlankheit die körperlichen Mühen minder fühlbar gemacht hatte. Erschöpft sanken Beide auf die Bank, von welcher Quirin, dessen Angelegenheit sie gerade im entscheidenden Augenblicke unterbrachen, sie nicht mit den freundlichsten Blicken betrachtete, während die mitleidige Sennerin eilte, aus der Vorrathskammer Erfrischungen herbeizutragen. Der Clavierspieler war denn auch bald in die Milchschüssel vertieft und schmauste das schwarze Brod mit gleichem Behagen, als wäre es das feinste Backwerk gewesen; auch der Russe, dem diese Kost nicht munden wollte, fand sich in sein Schicksal, als Clarl mit der Kirschgeistflasche angerückt kam und ihm den kräftigen Trank credenzte. Die Erzählung ihrer Mühen und Gefahren wurde mit lachender Theilnahme angehört, und so schroff Corona im Königszelte die Annäherung des Russen von sich gewiesen, konnte sie sich doch des Lachens nicht erwehren, als er in seinem Kauderwelsch erzählte, daß er nur ihretwegen auf den Berg heraufgestiegen, um sich bei ihr wegen seiner Zudringlichkeit zu entschuldigen und sie nicht auf dem Glauben zu lassen, als wüßte ein Russe nicht, was einem schönen Mädchen gegenüber die Sitte erforderte. Ob ihn nicht noch andere Gründe bewogen, ob er sich nicht schmeichelte, den ersten Eindruck verwischen und die vor Zeugen erlittene Niederlage durch einen Sieg in der Bergeinsamkeit wettmachen zu können, ließ er nicht errathen. Corona dachte an nichts Solches; aber der klügeren Clarl entgingen die feurigen Seitenblicke nicht, mit denen er, kaum etwas erfrischt, sich an Gestalt und Antlitz des Mädchens weidete.

Auch Quirin entging das nicht; wenigstens wurde seine Miene stets finsterer, und die Narbe auf seiner Stirn schwoll immer mehr an, gleich einer sich bäumenden Natter; dabei haftete sein Auge immer durchdringender auf dem zutraulichen Russen, als habe er denselben nicht zum ersten Male erblickt. Immer

[675]

Verhängnißvolle Offenheit.
Nach dem Oelgemälde von G. Igler.



schärfer lauschte er den einzelnen russischen Worten, die sich in das verstümmelte Deutsch mischten – war es doch seit Jahren zum ersten Male wieder, daß er solche Laute vernahm. Er hatte um so mehr Muße zu seinen Beobachtungen, als sich Niemand um ihn kümmerte. Mit einem Male brach jedoch der Russe das Gespräch ab, indem er aufsprang und die Taschen seines verunstalteten Rockes abfühlte und durchsuchte. Er vermißte sein Taschenbuch und in diesem seine ansehnliche Reisecasse, besann sich aber sogleich, daß er dasselbe bei der letzten Rast unter einer großen Tanne am Wege noch gehabt und erst von da an verloren haben müsse; es galt daher, da er selber zu müde war, sogleich Jemand auf den Weg zurückzuschicken. „Ha! da ist ein Mann,“ rief er, indem sein Blick auf Quirin fiel, „Der kann suchen. He da, Bauer!“ rief er ihn an, „gehe den Berg hinunter und suche meine Brieftasche! Ich gebe Dir zehn Rubel, wenn ich sie wieder habe.“

Quirin maß ihn, sich erhebend, vom Kopfe bis zum Fuße, nahm seinen Bergstock an sich und murrte: „Ich mag nicht.“

Dem Russen stieg bei der unerwarteten Weigerung das Blut in’s Gesicht; er stieß einen Fluch aus und knirschte mit den Zähnen. „Verdammter Bursche!“ schrie er, „wenn Du nicht willst nehmen Rubel, sollst haben Knute.“

Quirin’s Antwort bestand darin, daß er den Bergstock enger faßte wie zur Abwehr des Hiebes, zu welchem der Russe seinen Gehstock erheben zu wollen schien.

„Chatshesh sluchat tui ssawaka?“ schrie dieser. „Ich spalte Dir den Schädel, wenn Du Dich rührst! …“

Diese wenigen Worte brachten Quirin’s mühsam verhaltenen Grimm zum Ausbruch. „Chatshesh sluchat tui ssawaka –“ rief er mit bebenden Lippen. „Sagst Du mir das? Jetzt weiß ich auf einmal, wo ich das hochmüthige Gesicht schon gesehen und den Spruch gehört hab’. … O, ich hab’ ihn mir gut gemerkt. Du bist es also g’wesen, der schon als Bub’ einem halb verhungerten, halb erfrorenen Gefangenen das Milchkrügl vom Mund geschlagen, der verlangt hat, daß ich vor Dir niederknien und mit aufgehob’nen Händen bitten sollt’ wie zu unserm Herrgott. Du hast mich einen Hund geheißen; jetzt mach’ Reu’ und Leid, Kosak! Ich hab’s g’schworen: Wenn Du mir nochmal im Leben unter die Händ’ kommst, schlag ich Dich nieder, wie einen Hund.“


(Fortsetzung folgt.)
[676]
Epische Briefe.


Von Wilhelm Jordan.
III.


Sie erheben Einspruch, verehrter Freund, gegen meine Andeutungen über das Wesen des Epos. Ich zöge dessen Grenzen so enge, sagen Sie, daß innerhalb derselben nur etwa fünf oder sechs Dichtungen aus der Literatur aller Völker und Zeiten übrig bleiben würden. Sie fragen, ob es mein Ernst sei, das Recht auf den Titel „Epos“ einer Menge von Werken abzusprechen, denen er doch allgemein zugesprochen werde?

Ja, ich befinde mich wirklich in diesem Gegensatze zu einer lange herrschend gewesenen Meinung.

Obgleich man echte Epen besaß und mit zweien, den homerischen, recht vertraut war, hatte man dennoch die Wissenschaft, was ein Epos sei, so gut wie gänzlich verloren.

Aus dieser Unkunde sind zwei einander widersprechende Irrthümer hervorgegangen.

Der eine war das Dogma, daß das Epos einer unwiederbringlich verschwundenen Epoche angehöre und durchaus unmöglich geworden sei. Es giebt kaum einen zweiten Satz, über den sämmtliche neuere Aesthetiker und Geschichtsschreiber der Literatur so zweifellos einstimmig gewesen wären – bis zu seiner thatsächlichen Widerlegung durch meine Nibelunge und ihren Erfolg bei den Deutschen zweier Hemisphären.

Aber auch dieser Irrthum hatte seine Entschuldigung, sogar seine Wahrheit. Zu Grunde lag ihm eine Ahnung davon, daß das Epos nur entstehen könne unter dem Zusammentreffen ebenso großer wie seltener Weltbegebenheiten. Auch ist es verzeihlich, daß wenige von jenen Aesthetikern die Nähe dieser Begebenheiten gespürt, keiner von ihnen die für uns schon begonnene Erfüllung jener Bedingungen, deren Eintritt das Epos unausbleiblich macht, erkannt hatte. Wie jedes Dogma der Art, war auch dieses nur der voreilige Schluß aus einer richtigen Erfahrung. Man hielt das Epos für unmöglich in alle Zukunft, weil es viele Jahrhunderte hindurch wirklich unmöglich gewesen war.

Und dies zu behaupten hatte man ganz recht gegenüber dem zweiten, umgekehrten Irrthum: Dichtungen, wie z. B. Voltaire’s „Henriade“, Klopstock’s „Messias“, Pyrker’s „Tunisias“ und „Rudolfias“ und ähnliche, für Epen auszugeben und als solche anzuerkennen. Ohne Einsicht in das Wesen des Epos fühlte man doch, daß diese sogenannten keine rechten Epen seien.

Gleichwohl war auch für diese Dichtungen die gewählte und bewilligte Titulatur nicht durchaus nur rechtlose Anmaßung. Sie befolgten einige dem echten Epos abgesehene Regeln, wenn auch ohne Verständniß ihres Zweckes. Mindestens aber gebührt ihnen unzweifelhaft die zum Unterschiede von der lyrischen und dramatischen Poesie üblich gewordene Gattungsbezeichnung als epische Dichtungen.

Auf der Verkennung des Unterschiedes zwischen epischer Dichtung und Epos beruhen die von Ihnen, lieber Freund, erhobenen, mir nicht unerwarteten Einwendungen.

Goethe’s „Hermann und Dorothea“, Torquato Tasso’s „Befreites Jerusalem“, selbst der romantische Novellenkranz, für welchen Ariost einige Abenteuer des rasenden Roland zum Rahmen verwendet hat, sind unzweifelhaft epische Dichtungen, aber ebenso unzweifelhaft keine Epen. Eine epische Dichtung kann jedem Dichter von Talent gelingen; ein wahres Epos niemals einem Individuum als solchem. Es schaffbar zu machen vermögen nur Culturvölker, indem sie es im Laufe der Jahrhunderte thatenvollbringend erleben.

Auch dieser Satz unterliegt noch einer Beschränkung. Nur innerhalb einer Völkerfamilie begegnen wir der echten epischen Zeugungskraft. Und wiederum nicht alle Völker dieser Familie, sondern nur vier derselben kennen wir im Besitze wahrer Epen: die Indier, die Perser, die Griechen und die Germanen.

Die Römer haben keinen Anspruch, ihnen als fünftes zugezählt zu werden. Der „Aeneïs“ fehlt es nicht an großen Schönheiten. In der Feinheit des musikalischen Ohres namentlich ist Vergilius noch selten erreicht worden. Der bestechende Wohllaut, den seine Verse namentlich durch meisterhafte Vocalisation erzielen, vergütet einigermaßen die nur allzu oft widersinnige Wortstellung. Auch sieht die Gestalt seines Werkes im Großen derjenigen des Epos täuschend ähnlich. Aber der Dichter hat in ihr die „Odyssee“ rein äußerlich nachgeformt und nicht die geringste Ahnung gehabt von der Bestimmung des Epos für die Rhapsodie, von den technischen Mitteln sie zu erfüllen, von der Bedingtheit des Aufbaus durch ein inneres Kunstgesetz. Ferner genügt zwar die „Aeneïs“ insofern einer Hauptforderung des Epos, als ihr eine national bedeutsame Sage zu Grunde liegt; überall aber merkt man es, daß diese Sage keine Vorbearbeitung in der Volkspoesie, das heißt in populär gewordenen, durch mündliche Ueberlieferung mehr und mehr volksmäßig gemodelten älteren Liedern durchgemacht hatte. Deutlicher noch verräth es der akademisch gekünstelte Text, daß ihm keine schlichtende, stilklärende, das Verständniß von einmaligem Hören sichernde Mitarbeit lauschender Zeitgenossen zu gute gekommen ist.

Ein Beispiel höchst mißlungener Nachahmung dieser vergilischen Nachahmung des Epos, wenn auch in Einzelnem von poetischem Werthe und namentlich ausgezeichnet durch farbenglühende Schilderungen der Tropennatur, sind die Lusiaden des Camoëns mit ihrer barocken Vermischung der olympischen Götterwelt und des Christenhimmels.

Einen Ansatz zum Epos besitzen die nichtarischen Finnen. Ihr Kalewala ist aufgebaut aus echter, mündlich überlieferter Volkspoesie in methodisch breiter Darstellung, aber von oft hinreißender Schönheit. Den Inhalt bildet die schon halb aufgelöste Göttersage, vorgetragen in Runen, das ist Naturmythen in Räthselform. Fast dasselbe gilt vom Kalewipoëg der ihnen verwandten Esthen. Die bisher bekannt gewordenen Stücke dieser Dichtung in sehr wohllautenden Stabreimversen legen ein überraschend vortheilhaftes Zeugniß ab für die consonantische Kraft, welche die esthnische Sprache mit fast italienischer Weichheit und Fülle der Vocale verbindet. In der Umbildung der Natur- und Göttermythe zu Abenteuern der menschlichen Hauptfigur zeigt sie sogar einigen Fortschritt gegen Kalewala. Erreicht aber sind die Eigenschaften des Epos erst dann, wenn auf dem Hintergrunde solcher Göttersage ein geschlossenes Drama der Heldensage die Schicksale und die Weltanschauung eines Culturvolkes spiegelt.

Nach dieser hoffentlich ausreichenden Verständigung über Ihre Einwürfe lassen Sie uns nun den Ursprung des Epos in’s Auge fassen.

Auch für die Geschichte ist ein Fernrohr gewonnen worden, welches ihr einige zuverlässige Wahrnehmungen erlaubt in einer Zeitenferne, weit jenseits der frühesten Ueberlieferungen durch Denkmale, Sagen und Schriften. Dies Fernrohr ist die vergleichende Sprachkunde. Sie kann uns Völker zeigen, von deren einstigem Dasein wir ohne sie nichts wissen würden.

Gesetzt, alle historischen Zeugnisse, daß es einst ein römisches Volk gegeben, wären verloren gegangen: die Vergleichung des Spanischen, Italienischen, Französischen, Ladinischen und Rumänischen würde es nicht nur unzweifelhaft machen, daß diese Sprachen auseinandergehend verwandelte Dialekte einer und derselben früheren Sprache sind, sondern auch erlauben, diese gemeinsame Sprachmutter theilweise herzustellen und aus ihr sogar die Hauptthaten und Leistungen des römischen Volkes, seine weltgeschichtliche Stellung, seine Bildungsstufe zu erkennen.

Für ein der geschichtlichen Wahrnehmung wirklich schon entrückt gewesenes Volk hat eben dies die vergleichende Sprachkunde in der That geleistet. Aus der Vergleichung sämmtlicher indogermanischer Sprachen – wie dieselben vor Vollendung dieser Leistung genannt wurden – ist die einstige Existenz eines Stammvolkes aller Indogermanen, der Arier, erkannt und nachgewiesen worden, daß dieselben Götter verehrten, der Viehzucht, des Ackerbaues, vieler Gewerbe, der Baukunst, der Schifffahrt kundig, kurz, im Besitze fester Niederlassungen und einer schon hohen Cultur gewesen sind.

Wenn nämlich in allen Sprachen arischen Stammes die Wortgruppen für Himmel, Gott und Götter, die sogenannten vier Elemente, die auffallendsten Gebilde und Erscheinungen der Natur, für Haus und Theile des Hauses, die meisten gezähmten und einige der wilden Thiere, für Ackergeräthe, Werkzeuge, Schiff, [677] Ruder etc. vielfach dieselben Wurzeln wiederkehrend zeigen: so ist es undenkbar, daß die Zweigvölker alle diese Worte für die gleichen Dinge erst nach ihrer Trennung und dennoch gleichlautend sollten gebildet haben; so ist damit vielmehr bewiesen, daß diese Wesen und Dinge mit den zugehörigen Thätigkeiten schon jenem Stammvolke bekannt und von ihm so genannt waren.

Alle Cultur aber beruht auf einem langsam aufgesammelten Erbvermögen von Erinnerungen, Fertigkeiten, Kenntnissen und Künsten und kann nur erhalten werden durch eine Aufbewahrung, welche diesen Schatz des Wissenswerthen sicherstellt vor dem Untergange durch den Tod seiner zeitweiligen Inhaber.

So lange die Schrift noch nicht erfunden, so lange man auf mündliche Ueberlieferung beschränkt war, mußte allein das Gedächtniß dies Bewahramt versehen.

Für die unmittelbar lebensnothwendigen Fertigkeiten, Handwerke und Berufsarten entwickelte die Natur der Dinge Stände von so zahlreicher Besetzung, daß ihre Ueberlieferung durch fortdauernden praktischen Unterricht des zahlreichen Nachwuchses keine besondere Gedächtnißkunst erforderte; obwohl es noch jetzt kaum ein Gewerbe giebt, welches nicht diese zu anderm Zweck ausgebildete Kunst ebenfalls benutzt hätte, um durch ihre Mittel wichtige Regeln und Geheimnisse des Berufs in festen Sprüchen zu überliefern.

Aber zu jenem Erbschatz gehörten auch Kenntnisse, zu deren Erwerbung und Bewahrung keine Lebensnothdurft die Menge hinzwang und von deren Erhaltung man gleichwohl das Gedeihen und die Fortdauer des Volkes abhängig wußte oder glaubte. Man hatte auch eine Religion mit verwickelten Gebräuchen und Festordnungen, mit zahlreichen Gebeten, deren Wirksamkeit bedingt galt durch die genaue Richtigkeit ihres Wortlauts, mit heiligen Geschichten von den Thaten der Götter und der Vorfahren, deren Vortrag bei Opfern und Festen einen Theil des Cultus ausmachte; man hatte Regeln der Sitte und ein geltendes Recht in fest formulirten Gesetzen. Ein wissenswerthes Erbgut von so großem Umfang war im Gedächtniß zunächst nur durch eine Theilung der Arbeit des Behaltens zu bewahren. Es war für künftige Geschlechter nur zu sichern durch eine große Zahl von Inhabern und ihre gleichmäßige Ergänzung aus der Jugend. So erwuchs für diesen nicht unmittelbar praktischen, aber heiligen Theil der Arbeit ein hoch angesehener, meist erblicher Stand.

Wie dann die gewerbliche Uebung dieses Standes zur Entdeckung künstlicher Unterstützungsmittel des Gedächtnisses geführt hat und wie auf diese Weise die poetische Form der Rede, der Vers, als Gedächtnißmittel die Vertreterin der noch fehlenden Schrift geworden ist, das will ich hier nicht wiederholen. Denn Sie finden es, in den Hauptzügen wenigstens, schon angedeutet in meiner Schrift: „Der epische Vers der Germanen und sein Stabreim“.

Jener Gesammtschatz geistigen Eigenthums, der durch die poetische Form im Gedächtniß befestigt war und durch einen Stand von Sänger-Priestern verwaltet wurde, ist das Epos im weitesten Sinne des Worts, so genannt, weil die Griechen ihre Literatur eintheilten in ἐπεα und γραμματα, das heißt Werke, die ursprünglich nur als gesprochene Worte vorhanden waren, und solche, die sogleich niedergeschrieben wurden, also in Sagen und Schriften.

Frühzeitig und schon bei den Ariern scheinen sich von den eigentlichen Priestern dieses Standes die Inhaber der an die Göttersage anknüpfenden Heldenlieder als eigener Sängerstand abgezweigt zu haben, jedoch ohne daß deshalb ihre Vorträge aufgehört hätten, für einen Theil des Cultus zu gelten.

Die Gesammtheit dieser Lieder der Götter- und Heldensage im erblichen Besitze gewisser Sängergeschlechter ist das Epos im engeren Sinne. Es hatte zunächst keine andere Einheit, als die, von den Schicksalen des einen Volkes eine Art Liederchronik zu sein.

Diese Stufe des Epos, auf welcher es zur Einheit durch künstlerische Anordnung noch nicht gediehen ist, aber doch schon als ein zusammenhängender Besitz seines Inhalts in der Erinnerung des Volkes vorausgesetzt wird, ist für die Griechen die vorhomerische. Wir erkennen sie sehr deutlich noch aus der Odyssee selbst. Es werden in ihr eine Menge Nebensagen berührt, die mit der Sage vom Troerkriege nichts zu schaffen haben. Das geschieht aber in der Regel so kurz und knapp, daß wir ohne die wissenschaftlichen Hülfsmittel der Mythologie den Zusammenhang oft gar nicht verstehen würden und ihn in einzelnen Fällen wirklich nicht mehr mit Sicherheit herzustellen vermögen. Es geht daraus hervor, daß der Dichter der vollen Vertrautheit seiner Zuhörer mit dem Gesammtschatze unzweifelhaft sicher sein durfte. Vollends deutlich aber zeigt es sich in den Stellen, in welchen die Odyssee Sänger der Vorzeit, wie Phemios und Demodokos, vortragend auf die Scene führt.

So heißt es (nach meiner noch unveröffentlichten Uebersetzung) von Demodokos (VIII, 72): Als man gegessen und getrunken, da

Trieb die Muse den Sänger, vom Ruhme der Helden zu singen
Aus dem himmelhoch zur Zeit gefeierten Liede,
Jenen Streit des Odyß mit Achill, dem Sohne des Peleus,
Wie sie beim köstlichen Mahle der Götter mit heftigen Worten
Einst sich bekämpft, Agamemnon indeß, der Männergebieter,
Heimliche Freude beim Zank der besten der Helden empfunden,
Weil’s ihm Phöbos Apoll im gottbegnadeten Pytho,
Als er fragend daselbst überschritten die steinerne Schwelle,
So prophezeit; denn schon rollte heran der Anfang des Unheils,
Das der gewaltige Zeus den Troern und Danaern zuwog.

Von diesem Liede wissen wir eben nur aus dieser Anführung; aber sie bezeugt doch auf das Bestimmteste, daß es allverbreitet gewesen ist.

Nicht minder deutlich vorausgesetzt sehen wir das Vorhandensein einer zusammenhängenden Sagengeschichte in Liedern und verbreitete Kenntniß derselben, wenn Odysseus, nachdem Demodokos inzwischen ein anderes, den Helden nicht durch persönliche Erinnerung zu Thränen bewegendes Lied, das lustige von der Züchtigung des Ares und der Aphrodite durch den lahmen Hephästos, vorgetragen, ihn folgendermaßen auffordert, jenes erste fortzusetzen:

Loben, Demodokos, muß ich Dich vor den Sterblichen allen.
Dich hat entweder die Muse, die Tochter des Zeus, unterwiesen,
Oder Apoll; so genau besingst Du das Loos der Achäer,
Was sie gelitten, gethan, wie viel und wie schwer sie gerungen,
Gleich als hättest Du selbst es erlebt und von Zeugen vernommen.
Das Lied setze nun fort und singe des hölzernen Rosses
Zimmerung, welches Epeios mit Hülfe Athenens verfertigt,
Dann empor in die Burg durch List Odysseus’ befördert,
Als es die Helden barg, die Ilion endlich zerstörten.
Kannst Du mir jetzt auch das in richtiger Ordnung erzählen,
Dann werd’ ich es hinfort vor allen Menschen bezeugen,
Daß Dir ein gnädiger Gott im Gesang Offenbarungen eingiebt.
     Eifrig gehorchte dem Ruf der Muse der Sänger und knüpfte
Dort wieder an den Gesang, wo die Griechen, nachdem sie die Zelte
Niedergebrannt, an Bord ihrer Schiffe von dannen gesegelt.

Besonders der Ausdruck „dort wieder anknüpfend“ beweist, daß eine solche Sammlung von Liedern als vorhanden und allbekannt bezeichnet werden soll.

Vom Volke selbst ist die Sichtung dieses Haufenwerkes epischer Bausteine ausgegangen. Es bevorzugte denjenigen Sagenkreis, welcher sich um eines seiner zu oberster Wichtigkeit gelangten Erlebnisse gruppirte. Es mußte so die Sänger veranlassen, möglichst ihren ganzen Liederbesitz in Beziehung und Verbindung zu setzen zu diesem beliebtesten Thema, hingegen sich des Vortrages derjenigen Stücke, die es nicht erlaubten, allmählich zu entwöhnen. In diesem Sinne ist also auch die Vorbildung des Epos zu der Einheit, ohne welche dasselbe seine letzte und höchste, die Kunstgestalt, nicht erreichen kann, eine Leistung des Volkes.

Für Alles dies finden wir an einer andern Stelle der Odyssee die Belege, und schließlich sogar ein unumwundenes Bekenntniß des Dichters, was ihn selbst bewogen, die Troerstadt, den Kampf um dieselbe und die Heimfahrt der Sieger zum Mittelpunkte seiner Epen zu wählen.

Als Phemios den Freiern vorsingt „von der traurigen Heimkehr aus dem Troerlande, welche Pallas Athene über die Achäer verhängte“, ruft ihm Penelope (Odyssee I, 337 u. f.) weinend zu:

Manches ergötzliche Lied von den Werken der Menschen und Götter,
Welche der Sänger preist, o Phemios, kannst Du ja singen.
Trag’ ihnen denn von denen eins vor und mögen sie schweigend
Trinken den Wein. Doch höre mir auf mit dem traurigen Liede,
Weil es das Herz mir zerreißt.“

Mit den Liedern von den „Werken der Menschen und Götter“ sind offenbar vorhomerische, jenen uns erhaltenen hesiodischen ähnliche, gemeint. Ihre Verdrängung durch die neueren, einem veränderten Geschmack mehr zusagenden des homerischen [678] Zeitalters und durch die homerischen selbst wird alsbald angedeutet. Denn Telemach erwidert seiner Mutter:

Tadle den Phemios nicht, daß er singt von der Danaer Unheil,
Weil als vorzüglichstes Lied stets das bei den Leuten in Ruf steht,
Welches dem Hörer erzählt, was aus jüngster Zeit ihm vertraut ist.

Ganz auf derselben Stufe der im Bewußtsein der Hörer schon vorhandenen, aber noch von keiner ordnenden Kunst vollzogenen Einheit und Gruppirung um eine Hauptsage, die in jenem Liede als allbekannt vorausgesetzt wird, werden wir später auch die echten Reste des altgermanischen Epos vorfinden.

Mitschaffend auch am Zustandekommen der letzten Gestalt des Epos, nachdem es den Stoff ererbt, erlebt und erthatet, ist das Volk nur als von Sängern empfangend, annehmend und ablehnend, dadurch Sichtung und Auswahl gebietend, auch wohl als modelnd in märchenartigem Nacherzählen. Nur in diesem Sinne ist das Epos Volkspoesie – wie es denn überhaupt keine andere Volkspoesie jemals gegeben hat. Die lange geläufig gewesenen nebelhaften Vorstellungen von dieser sind durchaus nur mystischer Widersinn. Ein Volk als solches hat niemals gedichtet, immer nur Einzelne. Was auch der Menge dauernd gefällt und sich deshalb ganz oder stückweise ihrem Gedächtniß einprägt, das wird dadurch zum Volkslied gestempelt. Alles was man sonst Volkspoesie zu nennen pflegt, ist niemals etwas anderes gewesen, als entweder unvollkommener Anlauf zur Kunstpoesie oder heruntergekommene, durch Vergessen, durch Hinzuflicken von Stümperhand, durch Effecthascherei der Bänkelsänger vor geschmacklosem und gruselsüchtigem Pöbel verhunzte Kunstpoesie. So verhält sich beispielsweise die angebliche Volkspoesie unseres Mittelalters zu den wenigen echten Resten der Volkspoesie verwandten Stoffes aus unserem Heidenthum wie etwa zu einem aus Blumen und Aehren geflochtenen Erntekranz das Stroh eines Misthaufens.

Ein mit Recht hochangesehener Literarhistoriker hat sich gleichwohl die Mühe gegeben, mit bedeutendem Aufwande von Gründen den so unschweren als überflüssigen Beweis zu führen, daß meine Nibelunge ein Kunstepos seien. Was will er damit widerlegen? Machen sie etwa Anspruch, in jenem mystischen Sinne ein Volksepos zu sein? Wo giebt es ein solches? Sind Mahabarata und Ramajana, nach Abzug des später hinzugefälschten ascetischen Bramanenschwulstes, sind die Ilias, nach Abzug der wieder hineingestopften vorhomerischen und hinzugeflickten späteren Stücke, die Odyssee fast ganz, und Firdusi’s Schahnameh etwa keine Kunstepen? Nur gänzliche Unkunde könnte das behaupten. Ihre Volksthümlichkeit muß die letzte, auch nur zum Theil individuelle Poetenarbeit natürlich erst bewähren, und das kann für das Epos auf keinem andern Wege geschehen als dem, auf welchem es in meinem Falle geschehen ist. Aber nicht ohne die ganze große Geschichte der Germanen und ihre Götter- und Heldensage, ja zugleich die Großthaten des deutschen Stammes bis auf den heutigen Tag wie nicht vorhanden zu betrachten, könnte Jemand leugnen, daß gleichermaßen wie die genannten fünf bisher vorhandenen Epen auch meine Nibelunge die Frucht sind vieltausendjähriger Volksarbeit. Nicht als gegen eine Schmälerung meines Verdienstes müßte ich dagegen Einspruch erheben, sondern umgekehrt als gegen eine Ueberlastung mit einer wahren Atlasbürde unverdienter Ehre.

Von der letzten Arbeit, welche das Epos von jener Stufe der vorgebildeten Einheit im Bewußtsein des Volkes zum Kunstepos vollendet, hat schon mein voriger Brief einiges berührt und namentlich gezeigt, daß auch sie keineswegs nur Einzelarbeit sein darf, und wir werden noch mehrmals Veranlassung finden, näher darauf einzugehen.

Schon im nächsten Briefe aber will ich ausführen, was in diesem nur vorbereitend angedeutet wurde: daß der Stoff, der diese Gestaltungen durchzumachen hat, um Epos zu werden, nur ein einziger, uralter ist und schon von unserem Ahnenvolke, den Ariern, vorgebildet wurde; daß es mehr ist als ein spitzfindiger Einfall, wenn ich schon oft auf die Frage: welches Alter man wohl der Nibelungensage zuschreiben dürfe? geantwortet habe: sie sei bei weitem älter als die gesonderte Existenz des deutschen Volkes, ja der Germanen überhaupt.




Aus den letzten Lebenstagen des Fürsten Pückler-Muskau.
Von Dr. Liersch in Cottbus.

Gelegentlich der Erörterung der Leichenverbrennungsfrage ist in jüngster Zeit auch mehrfach der Zerstörung des Leichnams des Fürsten Pückler-Muskau gedacht worden. Aber sowohl in dem klaren und anregenden Vortrage, welchen Herr Professor Dr. Reclam aus Leipzig in der zweiten Sitzung der siebenundvierzigsten Versammlung der Naturforscher und Aerzte zu Breslau hielt, wie auch in der „Biographie des Fürsten Hermann von Pückler-Muskau“ von Ludmilla Assing, sowie endlich in der in Nr. 34. dieses Blattes enthaltenen Mittheilung sind die Vorgänge bei der Zerstörung des Leichnams des Fürsten nicht genau geschildert. Nachdem ich nun schon im Jahre 1871 anderswo einen kurzen Bericht über die Bestattung des Fürsten Pückler-Muskau veröffentlicht habe, gestatte ich mir, den nachfolgenden Erinnerungen an die letzten Lebenstage des Fürsten eine wahrheitsgetreue Schilderung der Vorgänge bei der Zerstörung des Leichnams desselben hinzuzufügen. –

Raphael’s „Papst Julius der Zweite“, jenes hochberühmte Gemälde im Palazzo Pitti zu Florenz, welches uns einen der schönsten und ehrwürdigsten Greise vorführt, stieg mir immer lebhaft in der Erinnerung auf, wenn ich Morgens gegen elf Uhr in das Schlafzimmer und an das Lager des greisen Fürsten Pückler trat. Die rothseidene Mütze an Stelle des sonst die Haustoilette vollendenden Fez, der über die Schultern graciös geschlungene lila Shawl, die seidenen Handschuhe über den langen, schmalen, feinen Händen, der schöne wohlgepflegte weiße Bart und das markirte Gesicht mit der hohen Stirn und der starken Nase, besonders aber die milden blauen Augen hätten in dem im Bette aufrecht sitzenden und von seiner Morgenlectüre aufblickenden Patienten vielmehr einen ehrwürdigen Kirchenfürsten vermuthen lassen, als den durch die Strudel des Lebens so vielfach hin und her geworfenen Semilasso. Die ganze Decoration des Zimmers jedoch, die türkischen krummen Säbel, die indischen Waffen, die Straußenfedern und das mit buntbeblümter Portière halb verhüllte Feldbett ließen bald jeden Zweifel schwinden, daß der ehrwürdige Herr doch der einstige Freund Mehemed Ali’s und der Retter der schönen unglücklichen Machbuba sei. In überaus liebenswürdiger Weise lud er mich zum Niedersetzen ein, und nach kurzer Besprechung seiner physischen Erlebnisse und Zustände ging die Unterhaltung bald auf Tagesereignisse und Literatur über.

Fürst Pückler pflegte als Halbpatient in seinen letzten Lebenstagen, wie schon früher, die Nacht zum Tage zu machen. Er brachte oft den ganzen Tag im Bette zu, las, schrieb, empfing selbst intime Bekannte in seinem durch Vorhänge halbverdunkelten Boudoir, stand erst gegen Abend auf, um seine übliche sorgsame Toilette zu machen und ein Bad zu nehmen, und begrüßte dann in seinem bekannten türkischen Costüme die zum Abenddiner geladenen Gäste, um sich ihnen bis nach Mitternacht als der liebenswürdigste Wirth zu zeigen. Zuweilen blieb er tagelang allein in seinen Gemächern, um dann mit einem Male mit der Elasticität eines Jünglings, sei es bei Tage oder bei Nacht unter Fackelbeleuchtung, einen weiten, stundenlangen Spaziergang durch seinen so sehr gepflegten und doch immer umgeänderten Park zu machen. Sein bis in’s hohe Alter sich vortrefflich haltendes Auge gestattete ihm selbst ohne Brille die langen Nächte hindurch bei Oellampenlicht die feinste Druckschrift zu lesen, und so war Lectüre oft seine einzige Unterhaltung außer den alltäglichen Geschäften, welche sein Besitzthum und die nimmer endenden Parkanlagen mit sich führten. Mit Vorliebe las er in der letzten Zeit Bodenstedt, Schopenhauer und russische Dichter; Gespräche über transscendentale Dinge, über Unsterblichkeit, über psychologische Fragen regten ihn stets an, wie er aber auch gern von den neuesten Errungenschaften der Naturwissenschaften sich Bericht erstatten ließ.

Den leiblichen Schmerz, den er in seinem reichen Leben im Ganzen wenig auszuhalten nöthig gehabt hatte, dem [679] er aber auch mit peinlichster Sorgfalt auszuweichen suchte, erklärte er sich als ein Zeichen unserer irdischen Unvollkommenheit, wie er auch eine allgemeine, aber nicht eine individuelle Unsterblichkeit dem entwickelteren menschlichen Geiste zuschrieb und eine Versetzung auf einen schöneren und vollkommeneren Weltkörper nach dem Tode sich wünschte. Todesfurcht kannte er nicht; er fühlte sich am Ende des irdischen Lebens angelangt und wünschte wohl zuweilen, noch zehn Jahre zu leben, aber ebenso wenig verlangte er, sein Leben künstlich verlängert zu sehen; nur den Schmerz wünschte er beseitigt. Er hatte ein lebhaftes Gedächtniß für seine physischen Wandlungen und Störungen und wendete auch hier wie in seinen trotz der zunehmenden körperlichen Schwäche immer geistreichen und anziehenden Unterhaltungen sich immer gern seiner Jugendzeit zu.

Wie bei den meisten Menschen, waren auch bei ihm die Erinnerungen an die Zeit seiner Kindheit und vollen Lebensjugend in seinem hohen Alter die lebendigsten geblieben; doch vermochte er mittelst seiner reichen Phantasie auch die Ereignisse des späteren Lebens oft genug äußerst lebhaft, drastisch und hinreißend zu schildern. Unvergeßlich bleibt mir ein Abend, wo er seine Begegnung mit Lady Esther Stanhope und seine nächtlichen Zusammenkünfte mit der rosenumdufteten Sibylle in seiner pikanten scherzhaften Weise uns schilderte. Selbst in seiner letzten Lebenszeit bewegte er sich in der Unterhaltung immer noch so frei, daß er stets der Mittelpunkt derselben blieb und gewandt auf alle Eigenthümlichkeiten seiner Gäste und Freunde einzugehen wußte; er konnte sich dem starren Orthodoxen gegenüber ebenso nachgiebig und tolerant zeigen, wie er alle ihm zu weit gehenden materialistischen Anschauungen geschickt bei Seite zu schieben wußte.

Pückler war, wie man zu sagen pflegt, eine weibliche Natur, so männlich und kräftig er im Leben aufzutreten wußte. Sein vorzüglich angelegter und stets sehr gepflegter Körper war im Ganzen fein und zart, seine Haut weich, fast durchsichtig; seine Züge waren regelmäßig, edel und geistvoll, seine Augen blaugrau, bald milde, einschmeichelnd und heiter, bald funkelnd und strahlend, ein schöner Spiegel seiner geistigen Beweglichkeit und Lebhaftigkeit. Er war physisch für Reize sehr empfänglich; Medicamente wirkten bei ihm schnell, deutlich und energisch, zumal er ihre Wirkungen, wenn er sich einmal zum Gebrauche von Arzneien entschlossen hatte, so wenig wie möglich zu stören suchte. Sein ganzer Organismus bewahrte bis in’s hohe Alter eine merkwürdige Zähigkeit; Krankheiten nahmen bei ihm meist einen mehr schleppenden, als acuten heftigen Charakter an. Er gab sich im Leben oft großen Unregelmäßigkeiten hin, hielt dann aber auch Rast und Ruhe, übte tagelang die größte Strenge an sich und nahm das kleinste Leiden, wenn es irgend anging, sehr ernsthaft. In seinen letzten Jahren bewachte er seine Reconvalescenz stets sehr peinlich und blieb seinen Gewohnheiten sehr getreu. Mit Aerzten besprach er sich sehr gern, und so viele sich seiner Gunst zu erfreuen gehabt hatten, so bewahrte er doch den meisten eine große und dankbare Anhänglichkeit. Seine Weichheit und sein tiefes Gemüth, gepaart mit Leidenschaftlichkeit und Feuer, andererseits seine körperliche Zähigkeit, die oft schnell eintretende Abspannung, aus der er sich aber urplötzlich wie ein Phönix erhob, sein bewunderungswürdiges Simulationstalent, das ihn bei seinem unendlichen Wechsel in Berücksichtigung und Geringschätzung der Welt wesentlich unterstützte, seine wohl zu verzeihende Eitelkeit, die ihm bis in’s hohe Alter verblieb, vor Allem seine Eigenthümlichkeit, dem augenblicklichen Eindrucke schnell zu folgen, woraus oft die reizendste Gutmüthigkeit, aber zuweilen auch eine ungerechtfertigte Strenge und ein fast unerklärbares Uebelwollen erwuchs – alles dieses war begründet in der seiner ganzen Natur aufgedrückten Weiblichkeit. Er konnte so launig, aber auch so liebenswürdig wie eine Frau sein, leichtsinnig in der Jugend, wohlwollend im Alter, leidenschaftlich bis zum Exceß und wieder apathisch und fast schüchtern zurückhaltend.

Ein großer Theil dieser Eigenthümlichkeit fand seine Begründung in dem französischen Blute, das in seinen Adern rollte. Es ist bekannt, daß seine Mutter, Gräfin Clementine Callenberg, eine Tochter der französischen Gräfin Olympia de la Tour du Pin war. Interessant ist, daß er als erstes Kind einer kaum fünfzehnjährigen Frau so starke Lebensfähigkeit erhalten hatte und wirklich über fünfundachtzig Jahre alt wurde; er wurde den 30. October 1785 an einem Sonntage geboren und starb am Sonnabend, den 4. Februar 1871, wenige Minuten vor Mitternacht.

Im Juli 1867 trat ich dem Fürsten Pückler zum ersten Male als Arzt gegenüber. Er litt schon seit einiger Zeit an einem Magenkatarrh, welcher, ohne daß Fieber hinzutrat und andere Organe wesentlich in Mitleidenschaft gezogen wurden, sich trotz vielfacher Curbestrebungen ungemein lang hinzog. Natürlich sanken die Kräfte sehr bedeutend, und die Schwäche nahm so zu, daß ernste Besorgnisse auftreten mußten. Jedoch hatten die Enthaltung jeder festen Nahrung, die Aufnahme von einfachen Flüssigkeiten und der sehr eingeschränkte Gebrauch von Medicamenten den guten Erfolg, daß das Schleimhautleiden sich wieder löste und der Patient sich gegen den Herbst soweit erholte, daß er mit allem Eifer sich wieder seinem Parke widmen konnte. Er hatte schon im Winter die feste Absicht, nach Oberitalien oder Tirol zu reisen, da ihm der Aufenthalt in Bozen schon einmal nach langer Krankheit gute Dienste geleistet hatte; er entschied sich aber endlich auf ärztlichen Rath für Wildungen, das er im August 1868 besuchte, nachdem schon Monate vorher Vorbereitungen zur Reise getroffen worden waren. Freilich erholte sich der Körper nicht mehr vollständig, vielmehr erhielt sich der Fürst nur durch äußerst vorsichtige und einfache Lebensweise, ohne daß besondere Krankheiten auftraten; kleine Unpäßlichkeiten wurden gewöhnlich durch tagelanges Zurückziehen und stillen Aufenthalt im Bette beseitigt. Aber trotz der allmählichen Abnahme der körperlichen Kräfte blieb Pückler’s Geist immer noch sehr rege und thätig, namentlich sein Sinn für die Natur und seine Neigung für Gartenkunst. Aber auch der Literatur blieb er getreu; nur die Politik und die Tagesereignisse bewegten ihn weniger. Lebhaftes Interesse gewann ihm ein in der Bibliothek des Schlosses Branitz befindliches Buch ab, das „Journal de la santé du roi Louis XIV“, niedergeschrieben von den Leibärzten desselben; auf seinen Wunsch gab ich eine Besprechung dieses Buches in Druck (Bremen 1869), bei welcher ich gleichzeitig den Zustand kurz schilderte, in welchem sich die medicinische Wissenschaft in der zweiten Hälfte des siebenzehnten und im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts in Frankreich befand. Fürst Pückler hatte in der That Vieles mit Ludwig dem Vierzehnten gemein; auch Ludwig der Vierzehnte war weniger eine männlich starke, als weiblich zähe Natur und erreichte trotz der vielen Krankheiten von den Pocken bis zur Gicht, zum Steingries und dem Brande der Alten ein ziemlich hohes Alter.

Nach Weihnachten 1870 wurde ich plötzlich zum Fürsten gerufen. Eine einfache Grippe hatte ihn befallen, störte aber diesmal die Ernährung des so ausgezeichneten Körpers bald so bedeutend, daß Ende Januar 1871 vollständiger Nachlaß der Kräfte eintrat. Am Mittwoch den 1. Februar, sah der Fürst zum letzten Male seine Nichte und spätere Universalerbin Frau von Pachelbl-Gehag, geborene Gräfin von Seydewitz, bei sich; sein Nachfolger im Majorate und in der Ausführung der vielbewunderten Anlagen des Branitzer Parkes, der Herr Reichsgraf Heinrich von Pückler, weilte damals als Rittmeister mit den deutschen Truppen im Vaterlandskriege in Frankreich.

Die Nacht des 4. Februar werde ich nie vergessen. Es war ein finsterer, stürmischer Abend, als ich das letzte Mal zu dem Schwerkranken hinausfuhr; die aufgeregte Natur stimmte zu meinem Innern, das auch unruhig und tief bewegt war. Voraussichtlich mußte in dieser Nacht die Katastrophe eintreten. Das hohe Schloß, das oft so glänzend und brillant erleuchtet war, stand starr, finster und schaurig da; nur ein matter Lichtschein drang von den oberen Eckfenstern durch die Nacht. Wo sonst die Bedienten so lebendig und geschäftig durch die hellerleuchteten Corridore stürzten, war Alles still, und Jeder ging schweigend und beklommen an dem Andern vorüber. In dem schwacherleuchteten Schlafgemache lag der Fürst wie von einem sanften Schlafe umfangen[WS 1]; nur hin und wieder murmelte er leise einige kaum verständliche Worte, die an seinen Park und seine treuen Rosse erinnerten.

Mit seinem kleinen wohlbekannten[WS 2] Geheimsecretair Billy Masser saß ich bis elf Uhr still beobachtend an diesem friedlichen Sterbelager eines so bedeutenden und Tausenden wohlbekannt gewordenen Mannes. Welche Gedanken gingen da durch unsere Seele, so tief bekümmert sie war durch den drohenden Verlust! Endlich, gegen Mitternacht, wurde der Athem immer [680] langsamer und äußerst sanft. Ohne jeglichen Todeskampf hauchte der Fürst seinen letzten Athem aus. Es war fünf Minuten vor zwölf Uhr, am 4. Februar 1871. In stiller Wehmuth drückte ich ihm die Augen zu. – Fast drei Jahre später, am 26. December 1873, wurde in denselben Gemächern, welche der Fürst zuletzt bewohnt und in denen er sein Leben beschlossen hatte, dem jetzigen Besitzer von Branitz, dem Herrn Reichsgrafen von Pückler, ein tüchtiger Sproß geboren, der Vierte dieses Geschlechts, der den Namen Hermann in der Taufe erhielt.

Das Testament des Fürsten Pückler sagte im sechsten Paragraphen: „Mein Leichnam soll, zur Ermittelung der Todesursache, von den drei Aerzten: Sanitätsrath Dr. Malin, Dr. med. Liersch und dem Kreis-Chirurgus Dr. Richter, alle Drei zu Cottbus wohnhaft, secirt, dann aber chemisch oder auf andere Weise verbrannt und die übrigbleibende Asche in eine kupferne, demnächst zu verlöthende Urne gethan und diese in den Tumulus des Branitzer Parkes eingesetzt werden.“

Da sich bei der Berathung der Herren Testamentsvollstrecker mit den Aerzten Bedenken gegen eine Verbrennung des Leichnams durch trockenes Feuer erhoben, so reiste Herr Kreisgerichtsdirector Sturm nach Berlin und befragte den Herrn Präsidenten des Consistoriums der Provinz Brandenburg (nicht den Cultusminister Mühler) und einen Chemiker, Herrn Dr. Müller. Ersterer hatte gegen eine Verbrennung der Leiche Nichts einzuwenden; Herr Dr. Müller empfahl die Auflösung der Leiche in concentrirter Schwefelsäure.

Da die mittlerweile eingetroffenen fürstlichen Verwandten baten, von der Verbrennung des Leichnams auf einem Scheiterhaufen abzustehen, da ferner diese Verbrennung überhaupt, abgesehen von der Menge des dazu nöthigen Holzes, doch eine sehr schwierige und kaum vollständig zu bewerkstelligende wäre, da außerdem zu derselben ein besonderer Apparat zur Sammlung der Körperasche angefertigt werden mußte, der in so kurzer Zeit, wie sie bis zur Bestattung gegeben wurde, sich nicht beschaffen ließ, und da endlich im Testamente die chemische Verbrennung vorangestellt war, so wurde von einer Zerstörung des Leichnams durch Feuer abgesehen. Nach den Ansichten, welche der Fürst uns Aerzten gegenüber wiederholt ausgesprochen hatte, würde er die jüngste Bewegung für Leichenverbrennung mit Enthusiasmus begrüßt und sicher sich einem Siemens’schen Ofen überliefert haben. Aber auch die chemische Zerstörung des Leichnams war zu damaliger Zeit nicht leicht zu bewerkstelligen. Die Auflösung desselben in Schwefelsäure, welche bezüglich der Weichtheile sicher in wenigen Stunden erfolgt wäre, und bei welcher auch die Knochen, die vielleicht besser mit Salzsäure aufzulösen gewesen wären, in kurzer Zeit zerfallen sein würden, hätte, zumal bei der großen Menge Wasser, welche ein menschlicher Körper enthält, sehr große Gefäße, namentlich einen großen Bleitrog oder Glasgefäße, erfordert. Auch ließ sich die Eindickung der entstandenen breiigen Masse sicher nicht unter vierzehn Tagen bewerkstelligen, abgesehen von der Schwierigkeit der Operation überhaupt unter den hier gegebenen Verhältnissen. So entschlossen wir drei Aerzte uns endlich, unter Beirath des Herrn Apothekers Rabenhorst, die chemische Zerstörung des Leichnams mit kaustischen Alkalien vorzunehmen. Wir hatten zuvor Versuche angestellt, aus welchen sich ergab, daß Muskelfleisch, mit solchen kaustischen Alkalien behandelt, sich in kurzer Zeit in eine gallertartige rothe Masse auflöst, daß die Knochen selbst weich und mürbe werden und daß die Fettsubstanzen sich in eine seifenartige Substanz umwandeln. Es wird also durch die Behandlung eines thierischen Körpers mit kaustischen Alkalien eine Art Verseifung eingeleitet.

Dem Testament entsprechend wurde zunächst am 7. Februar der Leichnam von uns drei Aerzten geöffnet, und konnten wir unser Gutachten dahin zu Protocoll geben, daß Se. Durchlaucht der Fürst Pückler-Muskau nicht durch eine locale Erkrankung, sondern durch allgemeine Alterserschöpfung – Marasmus senilis – verstorben sei. Das Herz wurde demnächst in eine Glasphiole gelegt und mit sieben Pfund concentrirter Schwefelsäure übergossen, wodurch es sehr bald in eine dunkelschwarze, formlose Masse umgewandelt wurde. Die Glasphiole wurde in eine kupferne Urne gestellt und diese dann verlöthet. Der geöffnete Leichnam hingegen wurde nach leichter Umhüllung mit einem feinen Laken in einen Metallsarg gelegt und mit einer Mengung von Aetznatron, Aetzkali und Aetzkalk durch und durch durchtränkt. Es wurden hierzu zehn Pfund Aetznatron, zwanzig Pfund Aetzkali und fünfundzwanzig Pfund Kalkhydrat gebraucht.

Es war nicht etwa eine gewisse Eitelkeit des Fürsten, seine irdischen Ueberreste auf nicht gewöhnlichem Wege der Erde übergeben zu lassen; es war ihm nur ein Gräuel, einst den Würmern anheimzufallen und befürchten zu müssen, daß seine Gebeine zerstreut und verworfen werden könnten. Und dies ist verhindert worden, da sein Leichnam schneller und sicherer dem Verfall und dem Zerstörungsproceß entgegengeführt worden ist, als dies bei anderen todten Körpern der Fall zu sein pflegt.

Am 9. Februar 1871, an einem sehr kalten Tage bei zehn Grad Kälte, bei Sturm und Schneegestöber fand die Einsetzung der irdischen Ueberreste des Fürsten in die von ihm selbst zu diesem Zwecke errichtete und mit einem See umgebene Erdpyramide statt, nachdem zuvor im Schlosse eine erhebende Trauerfeierlichkeit stattgehabt hatte. Der verschlossene reichverzierte Sarg von Eichenholz wurde in den in den Tumulus gegrabenen Stollen gestellt und die Urne mit dem aufgelösten Herzen auf dem Hauptende des Sarges befestigt. –

Jetzt ist der Stollen geschlossen; kaum eine Spur des Einganges ist äußerlich zu bemerken. Das freundliche Grün des Tumulus kehrt mit jedem Frühjahre wieder; der liebliche Park schmückt sich unter der besondern Fürsorge des jetzigen Besitzers mit jedem Jahre schöner und schöner; denn dieser hält Alles, was zur Erinnerung an seinen hochberühmten Onkel gehört, in Ehren. Die buntgefiederten Sänger, namentlich der Pirol, den der alte Herr so sehr liebte, kehren Jahr für Jahr in den gastlichen Hain zurück – aber der Schöpfer der freundlichsten Oase der einförmigem Mark ruht still in seinem Tumulus, umgeben von klarem, stillem Gewässer.




In und um Tirols Oberammergau.
2. „Auf den Bergen die Burgen“ und Notburga’s Ruhm und Preis.


Das Passionsspiel in Brixlegg hatte ich durch- und ausgenossen (– als letzter Vorstellungstag überhaupt war der letzte Montag des September bestimmt gewesen –), und nun konnte ich mich mit derselben Ausschließlichkeit dem Genusse der Natur in der nächsten Umgebung des theaterlustigen Tirolerdorfs überlassen.

Es wäre leichtsinnig, ein Stückchen Tirol, wo wir den Ludwig Steub herumlaufen sehen, allein zu durchwandeln, ohne ihn bei der Hand zu nehmen und zu sagen: „Grüß’ Gott, nimm mich mit!“ – Und wenn gerade er Einen nicht selber mitnehmen kann, so nimmt man ihn mit, sammt seinen „Drei Sommern“, gedruckt und gebunden und überall zu haben. Und so gehen wir also jedenfalls miteinander und betrachten vor Allem den Ort selbst, wo wir eben sind.

Früher war es viel stiller in Brixlegg, als die vielen Güterwagen noch über den Brenner gingen und die Tausende von Fuhrleuten ihr Millionendonnerwetter vor den Wirthshäusern im nahen Städtchen Rattenberg abluden. Wenn sich damals hier und da ein kecker Maler bis Brixlegg verirrte, so konnte er Aufsehen und Aergerniß mit seiner Erscheinung erregen. Jetzt dreht sich wegen solcher Herren dort Niemand mehr um, seitdem der Dampfteufel die Eisenbahn in’s Ländel geführt und just bei Brixlegg eine Station hingestellt hat. Jetzt geht auch da das Gewimmel los, und vorsichtige Reisende miethen angenehme „Logis“ gleich auf den nächsten Sommer voraus. Sie sagen, die Gegend thät’s hier, das breite Innthal mit den beiden großen und nahen Einmündungen des Ziller- und des Alpachthales und dies- und jenseits des stattlichen Thales die prächtigen Berge. Dagegen ist allerdings nichts einzuwenden; unsere Abbildung von Brixlegg (S. 502) verräth dies schon, und doch kann der Künstler nur abbilden, was er mit dem Blick nach einer Richtung sieht; was wirbelt noch Herrliches an diesem vorüber, wenn er sich auf dem Absatze herumdreht!

[681] Auf unserm Bilde sehen wir vor der Kirche ein helles Haus mit einem platten Dache; das ist das sogenannte „Herrenhaus“, das ehemalige Schlößchen Graseck, das Steub sehr verwogen „ein altes Gefäß“ nennt. Es rührt vom Ende des Mittelalters her, wo die alten geharnischten Ritter ausgestorben waren und ihre Nachkommen von den Felsennestern herab in die bequemeren Thäler stiegen, in welchen zugleich ein neuer, von den Tirolerfürsten aus ansehnlichen Gewerks- und Kaufherren, gewichtigen Gelehrten und großen Künstlern erkorener Adel seine „Gefäße“ baute.

Dazumal lebte Caspar Graseck, des Erzherzogs Leopold Kammerhofbossirer, von dem (1628) die Reiterstatue seines Herrn auf dem Rennplatze zu Innsbruck herrührt. Caspar’s Sohn, Johannes Graseck, wurde Hüttenverwalter zu Brixlegg, „Herr von“ und Besitzer von Graseck, so daß er nach Steub’s gediegener Ansicht von da an ein gemachter Mann war. Schon er wäre demnach vollauf in der Lage gewesen, Das auszusprechen, was zweihundert Jahre später erst von einem Ritter der Gegenwart in die schönen Worte gefaßt ward: „Sie glauben nicht, welch’ schönes Gefühl es ist, von Adel zu sein.“

Nicht so weit brachte es ein anderer Brixlegger, Urban Mayr, obgleich er als ein „fröhlicher Hoftiroler“ mit dem Baiernkönig Max Joseph auf Du und Du stand. „Schon so oft bin ich bei Dir in Deinem Hause gewesen, wie wär’s, Herr König, wenn Du auch einmal zu mir kämest?“ sprach der Urban, und der Max sagte zu und bestellte sich Speckknödel. Und als der König kam, hatte Urban sein ganzes Haus so baierisch (Tirol war damals baierisch geworden) ausgeputzt, „daß die Nachbarn ihn für verrückt hielten“. Beim Essen fragte ihn der König, ob man im Ländel mit ihm zufrieden sei. „Mit Dir schon, aber nit mit Deinen Schreibern,“ antwortete Urban, und Max versprach, ihnen auf die Finger zu sehen. – Seinen Sohn Georg Mayr, einen seiner Zeit angesehenen Kupferstecher und Kartographen, haben unsere Leser im Jahrgang 1870, S. 60, auch als patriotischen Schriftsteller, als Biographen Speckbacher’s, des „Mannes von Rinn“, kennen gelernt. Brixlegg ist also reich an allerlei alten Ehren und läßt es auch an neuen nicht fehlen.

Ehe wir uns durch die Aussicht nach der Zillerthalseite hin verführen lassen, wollen wir erst mit unserer nächsten Nachbarschaft in’s Reine kommen: mit Rattenberg, dessen hohe Schloßtrümmer vor uns thronen und das man von Brixlegg aus in einer guten Viertelstunde erreicht.

Unsere Abbildungen (S. 503) zeigen, daß das Städtchen zwischen Inn und Schloßberg stark eingeengt wird; hinter dem Schloßberge steigt der Stadtberg so steil und hoch auf, daß er mehrere Winterwochen hindurch dem Städtchen den Sonnenschein verdeckt. Dem malerischen Straßenbilde schadet dies nicht, aber die arge Finsterniß im Innern der Häuser, für deren Herstellung die alten Rattenberger Baumeister das Aeußerste geleistet haben, findet dennoch dadurch noch einige Förderung. Viele dieser Häuser ragen mit ihrer Vorderwand weit über das durch sie versteckte Dach hinaus, was den Straßen ganz gut steht. Aber im Innern hört Alles, was Baukunst heißt, auf: da haben Lineal und Winkelmaß nirgends den geringsten Antheil an der Herrichtung der Hausfluren und Zimmer, Gänge und Treppen; kein Stockwerk gemeint’s gut mit den andern, Willkür, Bedürfniß und Thorheit haben in der Bauführung abgewechselt. Wen also derlei Bauwunderlichkeiten interessiren, für den ist Rattenberg der rechte Ort, wie es zugleich ein Bild vergangener Tage und auch einer sogenannten „guten alten Zeit“ ist. Wie oben bemerkt, brachte ehedem außer dem Bergbau das Fuhrwerk der alten Handelsstraßen und dann auch das sogenannte „Treibwerk“, das Ziehen der Schiffe auf dem Inn durch Pferde, Leben und Wohlstand in den Ort; Beides ist mit der Eisenbahn in alle Winde gefahren, und die Schachten sind längst verfallen.

Der Wanderer wird bald mit den Sehenswürdigkeiten fertig sein; vergesse er nur nicht, sich in der Hauptstraße das Geburtshaus der obersten Heiligen von ganz Tirol, der heiligen Notburga, zu betrachten, bei welcher wir auf der letzten unserer Burgen, Rottenburg, länger zu verweilen haben. Das Haus ist an den Abbildungen der von dieser Heiligen geleisteten Wunder leicht zu erkennen.

Ein wohlgebahnter und müheloser Pfad führt rasch hinauf zu dem Schloß oder der Veste Rattenberg, die ehedem aus zwei Burgen, einer oberen am Stadtberge und der unteren auf dem Schloßberge zusammengesetzt war. Von letzterer ragt zwischen mächtigen Basteien- und sonstigen niederen Mauertrümmern nur noch der Thurm empor, den unsere Abbildung zeigt. Hier ist die Stätte eines schweren Verbrechens: Wilhelm Biener, der „Kanzler von Tirol“, wurde hier auf Antrieb seiner Feinde fälschlich angeklagt und verurtheilt und am 17. Juli 1651 eiligst enthauptet, während der Bote mit seiner Begnadigung schon unterwegs war. Er war ein edler und wackerer, gelehrter und geistreicher Mann gewesen, der am Hofe der Claudia von Medici, Wittwe des Erzherzogs Leopold, die ungerathenen Mitglieder des Adels und Clerus nicht sanft behandelte. Um so wilder tobte sich ihre Rache aus, als mit dem jungen leichtsinnigen Nachfolger, Erzherzog Ferdinand Karl, das Schranzen- und Pfaffenthum zur Herrschaft gelangte. Bekannt ist die meisterhafte Bearbeitung dieses reichen Stoffes durch unsern Herman Schmid. Seinen geschichtlichen Roman „Der Kanzler von Tirol“ nennt L. Steub ein lebendiges, anziehendes Bild damaliger Zeiten, damaliger Männer und Frauen, das in Tirol so viel Beifall gefunden, daß es – und damit scheint er viel sagen zu wollen – sogar in Rattenberg eingedrungen sei.

Die Eisenbahn nach Brixlegg geht unter dem Schloßberge weg; auf der Brücke, auf welcher sie dann wieder an das linke Ufer des Inn übersetzt, hat man den schönsten Blick auf das Kaisergebirg und besonders auf die malerischen Hügel mit den Burgen Matzen, Lichtwer und Kropfsberg. Dahin machen wir uns nun auf den Weg und nehmen auch wieder den unterhaltendlichen Steub mit.

Derselbe versichert uns, daß Schloß Matzen, welches wir gleich hinter dem Dorfe auf einem gefällig ansteigenden Wiesenpfad erreichen, eigentlich der archäologische Angelpunkt der ganzen Gegend sei. So freundlich und malerisch das äußere Bild dieser Burg den Lebenden entgegengrüßt, so entschieden spricht im Innern „uns Alles vorzeitlich und längstvergangen“ an. Das Schloß wird nämlich von seinen jetzigen Besitzern noch erhalten, nur um um so sicherer zu verfallen: Dach und Fenster bewahrt man in schützendem Zustande, aber keine Seele bewohnt die weiten Räume; kein Ohr hört’s, wenn das vermorschende Gebälk ächzt und das Mauergebröckel niederrieselt. Das Unheimliche solcher Nachtgeräusche hat wohl den letzten „Matzenritter“, wie er gleich seinen Vorfahren vom Volke genannt wurde, aus dem ehrwürdigen Gemäuer vertrieben; er bewohnte es in seinen jungen Jahren und baute später am Fuße der Burg ein wohnlicheres Landhaus für sich und die Seinen. Im Mittelalter saßen hier die „Frundsberge“ als Herren, deren berühmtester Karl’s des Fünften Feldoberster war.

Vom waldigen Matzenbühel aus sieht man die Burgen Lichtwer und Kropfsberg vor sich liegen. Lichtwer soll vor alten Zeiten „Liechtenwerder“ (helles Eiland oder lichte Insel) geheißen, also dazumal mitten im Wasser gestanden haben. Jetzt erhebt sich der Burghügel aus breiten Wiesen und der Inn hat sich einen Büchsenschuß davon entfernt sein Strombett gewühlt. Seit dem 12. October 1766 verdient die Burg den Namen einer rechten „Wehr des Lichts“, denn in Lichtwer ist jener Ferdinand von Sterzinger[WS 3] geboren, welcher am genannten Tage, dem Namenstage des Kurfürsten Max des Dritten, als Theatiner zu München eine Predigt hielt über „das gemeine Vorurtheil der Hexerei“. Wie haben da die alten Weiber und frommen Männer Zeter geschrieen und heulend der Welt verkündet, daß Staat und Kirche zu Grunde gehen müßten, nun der ehrwürdige Glaube an Hexen so grausam erschüttert sei! Das war die That eines Ritters vom Geiste, der sein Jahrhundert ehrt.

Gar malerisch hebt Kropfsberg die grauen Trümmer seiner Mauern und Thürme über sein frisches Hügelgrün empor. Innen aber ist’s fürchterlich; in den öden Fensterhöhlen wohnt das Grauen, seitdem die Brandenberger Bauern im Jahre 1703 das einst so stattliche Schloß, in welchem die Herzöge Friedrich mit der leeren Tasche und Ernst einmal eine Versöhnung gefeiert hatten, mit Sturm und Brand vernichteten. – Unser nächster Gang führt uns nach Schloß Thurneck. Mitten durch den wunderschön gelegenen Burg- oder Schloßbau leitet die stets belebte Straße von der Eisenbahnstation Jenbach in das Zillerthal, [682] und das Schloß selbst, das nirgends etwas Ruinliches zeigt, stellt sich uns jetzt als ein Stift frommer Schwestern vor, und wer’s Glück hat, kann sie im Schloßgarten lustwandeln sehen.

Wir folgen der Zillerthaler Straße und wenden uns dann rechts, um

Schloß Lichtwer.
Nach der Natur aufgenommen von R. Püttner.

endlich zu unserer letzten Burg zu gelangen, zur Rottenburg, wo wir der heiligen Notburga zu Lieb’ längere Einkehr halten. Herr Püttner hat sein Bildchen von der von Brixlegg herführenden und im Thale unter der Burg dahinziehenden Landstraße aus aufgenommen; die Feldcapelle im Vordergrunde steht wirklich dort am Wege, und wer’s kennt, weiß es, daß selbst die ärgsten Ketzer unter unseren Malern ein solch heiliges Bauwerk nicht unbenutzt stehen lassen. Und dahinter, jenseits des goldenen Aehrensegens, ragt’s über dem Buchenwalde des Bühels wie zwei Thürme heraus. Steub fand in dem Getrümmer noch ein von einem sogenannten Baumann mit seiner Familie bewohntes Gelaß; von Notburga’s Kämmerlein wußte Niemand etwas. Und doch wäre die Burg mit ihrem Rittergeschlechte längst

Kropfsberg.
Nach der Natur aufgenommen von R. Püttner.

vergessen, wenn die arme Magd nicht beiden zu legendenhafter Unsterblichkeit verholfen hätte. Darum ist’s gewiß nicht mehr wie billig, daß wir ihre sehr kurzweilige und doch noch so Vielen unbekannte Geschichte an dieser Stelle nicht unerzählt lassen.

In Rattenberg haben wir auf das Haus aufmerksam gemacht, in welchem 1267 Notburga als die Tochter eines Hutmachers geboren wurde, also keineswegs bei Schloß Rottenburg und als Kind gemeiner Eltern, wie Beda Weder zu Steub’s gerechter Entrüstung in seinem „Land Tirol“ auszusprechen sich unterstanden. Mit achtzehn Jahren trat Notburga als Köchin in den Dienst der Ritter von der Rottenburg. Das waren gar hochmögende Herren, die alle Heinrich hießen und viele Menschenalter lang sogenannte „Hofmeister von Tirol“ gewesen sind, bis der letzte derselben, genannt „der große Hauptmann von Kaltern“, welcher Herr von 99 Burgen war, an Stelle des Herzogs Friedrich mit der leeren Tasche Graf von Tirol zu werden gedachte. Da starb er eines unbestimmten, aber raschen und gewaltsamen Todes, 1411, und alle Herrlichkeit der Rottenburg hatte ein Ende – ehe noch die Glorie der Notburga recht angefangen hatte. Denn wenn das fromme Mädel auch arg unter der Hartherzigkeit ihrer Ritterfrau litt, so blühte doch ihr Heiligenruhm außerordentlich langsam im Verborgenen auf. Zunächst war es jedenfalls sehr verdienstvoll, daß sie wegen ihrer Wohlthätigkeit gegen die Armen, und weil sie diesen und nicht den herrschaftlichen Schweinen die Brosamen vom Herrentische vergönnte, aus der Rottenburg schimpflich entlassen wurde. Sie trat nun in Dienst bei einem Bauern in Eben auf einer Hochebene beim Achenthale; das Haus soll noch stehen und auch die Wiese, wo das erste große Wunder der Notburga sich zugetragen. Denn als einst ihr Bauer an einen Sonnabend Abend nach dem Gebetläuten auf’s Feld kam, Notburga beten sah und deshalb zornig ward und ihr Faulheit vorwarf, da schleuderte die fromme Maid ihre Sichel in die Höhe und ein Gotteswunder fügte es, daß sie in der Luft hängen blieb. Steub, der auch in ernsten Dingen manchmal keine unebenen Gedanken hegt, beklagt es mit Recht, daß diese Sichel nicht für immer in der Luft hängen geblieben sei, weil das doch für alle Schwergläubige die einfachste Ueberzeugung von dem Wunder wäre.

Seit Notburga die Rottenburg verlassen hatte, war dort das Unglück ein- und ausgegangen; als daher die böse Ritterfrau gestorben war, nahm der Ritter die ebenso fromme als schöne Notburga wieder zu sich, und sie verbreitete Glück und Segen um sich, bis sie 1313 starb. Da [683] hatte sie nun wegen ihrer Begräbnißstätte verordnet, daß sie da sein solle, wo ein Paar Ochsen, die den Wagen mit ihrer Leiche frei, wohin sie wollten, ziehen sollten, von selber stehen bleiben würden. Die Ochsen zogen den Leichenwagen der Notburga den Schloßberg hinab,

Schloß Thurneck.
Nach der Natur aufgenommen von R. Püttner.

durch den Inn, der ihm, wie das Rothe Meer den Juden, zum Durchzug Platz gemacht haben soll, und zuletzt hinauf nach Eben, und hier ward sie begraben. Hier stand damals eine Capelle des heiligen Ruprecht, und jetzt steht die Sanct Notburgen-Kirche da.

Unsere Leser werden unsere Ansicht theilen, daß die Lebensgeschichte der Notburga eigentlich sehr einfach und kurz sei. Es kann daher kaum ohne ein Wunder möglich geworden sein, daß der Leibmedicus Guarinoni drei Jahre über dem Studium dieses kurzen Lebens zubrachte und der Jesuit Johannes Perierus einen starken Quartband darüber schrieb, der 1753 zu Antwerpen gedruckt wurde. Daraus ersehen wir, daß wir erst zweihundert Jahre nach ihrem Tode die erste schriftliche Aufzeichnung über sie finden, wobei aber

Reste der Rottenburg.
Nach der Natur aufgenommen von R. Püttner.

natürlich die vielen in ihrer Kirche geschehenen Wunder nicht vergessen sind. Auch sollen dort vormals zahlreiche und kostbare Weihgeschenke vorhanden gewesen sein, von denen Niemand weiß, wo sie jetzt sind. Wohlgeborgen waren nur die Gebeine der seligen Notburga geblieben, denn sie lagen noch da, wo sie begraben worden waren. Nun legen aber, wie Steub mit seinem erprobten Scharfsinne erforscht hat, „die Gläubigen der katholischen Kirche vielen Werth auf heilige Knochen und verehren sie mit Inbrunst“ – und so flehten denn im Jahre 1718 auch die Ebener Bauern ihren Herrn Bischof von Brixen an, die Gebeine ihrer Notburga ausgraben zu dürfen. Und dies geschah. Unter der Aufsicht einer bischöflichen Commission gruben die Ebener Männer sieben Tage lang, bis die Commission ein Gerippe fand, das sie als das der seligen Notburga erkannte. Da ward der unschätzbare Fund mit Jubel begrüßt und unter Böllerschüssen in einen Kasten gelegt und in die Kirche getragen. Bald darauf ließ nun der Gerichtsherr von Eben, der Graf J. A. von Tannenberg, den Kasten in seinen Palast zu Schwaz bringen, allwo zwei Gräfinnen von Tannenberg, des Herrn Grafen Frau Mutter und Schwester, die Knochen kunstreich zum Skelet zusammensetzten und es mit Gold, Edelsteinen und Stickereien nach Verdienst und Würdigkeit verzierten. Darauf ward es in einen Glaskasten gelegt, in feierlicher Procession unter Begleitung des Herrn Bischofs und vieler sehr vornehmer Herrschaften in die Ebener Notburga-Kirche zurückgeführt und dort auf dem Hochaltare zur Verehrung und zum Wunderthun aufgestellt.

Ein selbst von Steub noch nicht aufgeklärtes, gewiß ganz außerordentliches Wunder ist nun aber dies: daß der wissenschaftliche Fachmann auf den ersten Blick erkennt, daß das hier ausgeschmückte und verehrte Gerippe niemals einem Weibe angehörte, sondern ein männliches ist, und daß trotz alledem die Wunderkraft des Heiligthums deshalb nicht den allergeringsten Schaden erlitten hat. Ich habe viel über die Sache nachgedacht, bis ich zu dem Satze kam: „Der Hauptwerth der Reliquien besteht ohne Zweifel darin, daß es ganz einerlei ist, ob sie echt oder unecht sind, denn dafür ist der Glaube da.“ Und diesen Satz fand ich auf’s Glänzendste bestätigt, als am siebenundzwanzigsten März 1862 der freilich damals noch nicht unfehlbare Papst Pio Nono auf das inständige Bitten des Fürstbischofs von Brixen die selige Notburga mit ihrem männlichen Gerippe in die Gesellschaft der Heiligen aufnahm. Darüber war ganz Tirol glücklich, denn ich möchte den Tiroler Ort kennen, der gar kein Bild, keine Statue, kein Bildstöckl von der allbeliebtesten Landesheiligen [684] Notburga hätte! – Noch Eines! Steub ist ärgerlich darüber, daß in Tirol überall neben Notburga als männlicher Beistand der spanische Heilige Isidor abgebildet und verehrt werde, und kein Einheimischer. Da kommt mir die Frage: Sollte das männliche Gerippe der heiligen Notburga nicht einem verkannten Heiligen, der durch dieses Wunder zu seiner Verehrung gelangte, angehören, und könnte der nunmehr unfehlbar gewordene heilige Vater in Rom nicht diesen, wie ja so manchen anderen Heiligen geschehen, die, wie Sanct Nepomuk, die elftausend Jungfrauen etc., gar nicht existirt haben, für Geld und gute Worte etwa als heiligen Notburgus canonisiren? Damit würde Steub’s Sorge, „ob sich mit den geeigneten Mitteln nicht ein bairisch-tirolischer Knecht, Bauer oder Wirth zum Heiligen heranziehen ließe“, am kürzesten gehoben.

Eine lange Verzögerung duldet dieser Schritt jedoch nicht, denn die Welt wird, nach dem Zeugniß des heiligen Vaters, alle Tage schlechter, und wie leicht droht sogar der heiligen Notburga der Tiroler das Schicksal, das den Volkshelden der Schweiz, den Wilhelm Tell, erreicht hat, das schreckliche Schicksal, daß Niemand mehr an sie glaubt! Denn es wird kommen der Tag, wo sogar die einheimischen Naturforscher beweisen müssen, daß eine Sichel nicht in der Luft hängen bleibt, der Inn einem Ochsenpaar nicht ausweicht und noch nie ein männliches Gerippe in einem weiblichen Körper gesteckt hat. Dann bleibt nur die freundliche Schnitterin von Eben und die liebenswürdige Köchin von der Rottenburg übrig, und sie kann Gott danken, wenn ein germanistischer Mytholog sie nicht wegen ihrer Sichel in eine heidnische Mondgöttin verwandelt. Jetzt schützt sie noch das „Notburgibüchel“ gegen solche Gefahr, und ihr einsichtigster Verehrer, der fromme Ludwig Steub, von dem wir bei dieser schönen Gelegenheit, mit dem besten Dank für die angenehme Begleitung, hiermit Abschied nehmen.
H. v. C.




Aus dem Familienleben des Löwen.


Im October 1870 erwarb der Breslauer Zoologische Garten ein Löwenpaar mit zwei säugenden sieben Monate alten Jungen. Um Mitte December wurden letztere entwöhnt und die Alten wieder vereinigt. Drei und ein halber Monat verflossen, da begrüßte uns eines Morgens das Miauen neugebackener Wüstenprinzen. Bei uns leben nach solchem Ereigniß die Gatten voneinander getrennt. Nöthig scheint das nicht zu sein. In Dresden machte man den Versuch, sie beisammen zu lassen, doch fand man nachträglich gerathen, sie zu trennen. Beide Thiere aber waren mißvergnügt darüber, und so wurden sie andern Tags wieder vereinigt. Anfangs zwar wehrte die Mutter den alten Löwen ab, wenn er den Kindern zu nahe kam. Nach und nach erwarb er sich ihr volles Zutrauen und erkühnte sich sogar, eines der Jungen nach Katzenart am Kragen zu fassen und triumphirend im Käfig einherzutragen. Die Mutter, doch nicht ganz frei von Angst, stürzte auf ihn los und schlug nach ihm. Er packte das Thierchen unwillkürlich fester und ließ es erst dann los, als man ihm ein Kaninchen vorhielt. Jetzt wurden die Alten getrennt. Drei Tage später starb das Junge. Sein ganzer Leib war blauscheckig mit Blut unterlaufen. Auch kommt vor, daß die Mutter ohne erkennbare Ursache das eine oder das andere ihrer Kinder, auch wohl die ganze Brut vernachlässigt. Vielfach scheint mangelndes Gedeihen Ursache zu sein, daß die Mutter die Hoffnung auf Erhaltung des Kindes und damit auch die Sorgfalt dafür aufgiebt. Schließlich wird es einfach beseitigt und begraben, das heißt mit Haut und Haar verschluckt. Zuweilen freilich sprechen andere Gründe mit, und auch unnatürliche Mütter giebt es, wie nicht zu verwundern, zumal in unnatürlichen Verhältnissen. Zuweilen haben die Mütter die Untugend, sich selbst oder ihren Jungen an der Schweifspitze herumzukauen. Weiter werden wohl auch die Jungen so zärtlich geleckt, daß kahle, selbst wunde Stellen entstehen, die, immer mit der widerhakigen Zunge abgeraspelt, nicht leicht zur Heilung kommen und schließlich nackte, häßliche Narbenflecke bedingen.

Die Mutter ist in der Sorge um ihre Brut nicht besonders gut zu sprechen und selbst für ihre vertrautesten Wärter ziemlich unnahbar. Deshalb und um allzu grell einfallendes Licht, welches verderblich auf die Sehkraft wirken könnte, zu vermeiden, sucht die Mutter gern ihre Jungen in Stroh zu bergen, oder wir weisen ihr einen Dunkelraum zur Stätte an. Es ist das um so nothwendiger, als die Löwin ausnahmsweise unter den Katzen, die bekanntlich blind, das heißt mit geschlossenen Augenlidern geboren werden, ihre Jungen mit geöffneten Lidern, zumeist wenigstens, zur Welt bringt, soweit Beobachtungen hier und anderwärts vorliegen. Ob aber Löwen bei der Geburt schon ihre Augen zum Sehen gebrauchen können, ist darum immer noch zweifelhaft, weil sie durch ein die Pupille verschließendes Häutchen auch bei offenen Lidern daran verhindert werden dürften. Nach wenigen Tagen mag auch dieses Hinderniß weichen und mögen die Augen frei sein; natürlich bleiben sie aber noch immer sehr empfindlich gegen Tageslicht.

Die jungen Löwen gediehen vortrefflich. Einer davon zeigte freilich, wenige Monate alt, eine Kropfgeschwulst, wie sie bei Löwen eine Art Entwicklungskrankheit zu sein scheint. Dabei war aber des Thieres Befinden nicht gestört, doch nahm die Anschwellung sichtlich zu. Die ärztliche Untersuchung ergab Ansammlung von Flüssigkeit innerhalb des Gewebes der Schilddrüse. Es wurde zur Operation geschritten. Wie diese Aufgabe gelöst worden, wurde von mir schon anderwärts mitgetheilt und kann hier umsomehr davon abgesehen werden, da die Sache ihrer Zeit die Runde durch verschiedene Blätter gemacht hat. Das nicht ganz unbedenkliche Unternehmen gelang zwar vorzüglich, doch kehrte das Uebel nach mehrmonatlicher Frist wieder, wenn auch nicht in so bedenklicher Höhe, daß man nicht die Hoffnung hätte hegen können, die Anschwellung werde sich allgemach, wie sie gekommen, zurückbilden. Gar bald aber wurden wir aus unseren Genesungsträumen aufgeschreckt. Eben noch hatte das Thier mit ungewohntem Appetit seine Nahrung verzehrt, als sich plötzlich Erstickungsanfälle einstellten. Der nächstliegende Gedanke war, ob nicht etwa ein Theil der Mahlzeit im Schlunde sitzen geblieben sein könnte. Bald aber besserte sich der Zustand, leider nur vorübergehend; neue Anfälle stellten sich ein, und auch schleunigst versuchte Oeffnung der mit Flüssigkeit gefüllten Drüsenanschwellung ergab keine Hülfe. Das Thier erlag rettungslos. Die Section erst klärte uns über den bis dahin räthselhaften Zustand auf. Kurz nach der Mahlzeit und vielleicht durch die Anstrengung dabei war in einem der Hohlräume der entarteten Drüse ein Blutgefäß geplatzt, und dessen Inhalt, urplötzlich ergossen, übte einen jähen Druck auf die Luftröhre aus. Ohne Zweifel würde sich das wieder ausgeglichen haben, und waren schon alle Aussichten dazu vorhanden, als ein ebenso urplötzlicher erneuerter Bluterguß erfolgte, gleichzeitig aber das krankhaft veränderte und darum wenig widerstandsfähige Drüsengewebe, nach hinten durchbrechend, sich in den Raum rings um die Luftröhre ergoß und so einen gewaltsamen Erstickungstod herbeiführte.

Gegen Ende Januar 1872 wurde die Löwin von ihren Jungen getrennt. Eine wie ausgezeichnete Mutter sie auch ist, fügte sie sich doch ohne sonderliches Murren und war bestrebt, der Vergangenheit vergessend, lediglich der Zukunft zu leben, die einer neuen, womöglich verbesserten Auflage ihrer Familie galt. Dennoch währte es einige Zeit, ehe das Mutterherz gegen die sehnsüchtigen Blicke der Kinder und deren jammerndes Verlangen sich verhärtete. Andererseits ward es, um den Trennungsschmerz nicht tagtäglich zu erneuern, nothwendig, zwischen Mutter und Kindern eine Holzblende zu errichten. Jede Luke aber wurde lüstern benutzt, um wenigstens verstohlen einen Blick zu wechseln, ja die für Löwen nicht ganz leichte Kunst zu klettern geübt, um sich, wenn auch noch so flüchtig, über den Blendschirm hinweg zu erspähen. Allgemach erst trösteten sich die Kinder mit Kuhmilch.

Unserer Fanny, so heißt die Löwin, freilich harrte eine ungleich schwerere Aufgabe, sich mit dem Löwen Jack nach fast elfmonatlicher Abgeschlossenheit in’s Einvernehmen zu setzen. Das war diesmal wirklich kein leichtes Werk. Höchst wahrscheinlich waltete dabei ein Mißverständniß ob; Regel ist, daß selbst nach langer Trennung die erste Begegnung eine recht freundliche ist. Als [685] aber der beide Gatten trennende Schieber gelüftet worden, erschien unser Jack, strafender Patriarch mehr als zärtlicher Gatte, gesträubter Mähne, funkelnden Blickes, wüthenden Ansprungs, wie um die Treulose zu züchtigen dafür, daß sie ihn fast ein ganzes Jahr in Einsamkeit vertrauern ließ. Fanny, des Besten sich bewußt, war nicht wenig überrascht, ihren Gestrengen in solcher Mißlaune zu finden. Schleunigst warf sie sich, nicht auf die Kniee etwa, sondern auf den Rücken und schob sich, von ihren scharfbewehrten Pranken vierfach gedeckt und obendrein zähnefletschend, dem wüthigen Leu entgegen. Hoch aufgerichtet, unverwandten Blickes, in jeder Fiber gespannt, die Tatze wie zum Schlage erhoben, stutzt unser Jack – das grandioseste Bild der Vollkraft, die sich selbst beherrscht. Freilich, und das hatte er nicht erwartet, die schmächtige Fanny war unnahbar, ja sie schritt oder rutschte vielmehr zum Angriffe vor. Jack wich zaudernd zwar, aber wohlbedacht zurück. Bei jedem Versuche, sich seiner Fanny zu nähern, fiel ein Prankenhieb, glücklich, wenn nur fegend durch die Luft oder zausend durch die Mähne. Ein einziger Schlag, der gesessen, und wie leicht würde ein Kampf auf Leben und Tod entbrannt sein! Mit eisernen Hebeln fuhren wir dazwischen, die Streitenden zu trennen, bis die Scheidewand den Frieden herstellte.

Wenigen nur war es außer uns vergönnt, diesem wirklich erhabenen Schauspiele beizuwohnen, und vielleicht haben diese, weil unbetheiligt, sich ungleich ungestörter in diese wildromantische Scenerie vertiefen können als wir, denen ganz naturgemäß die Verantwortung für den Zufall eines unglücklichen Ausgangs zugeschoben worden wäre. Jedem der Anwesenden pochte das Herz, und wir athmeten erst auf, als die Trennung sicher und dem Grollen der hadernden Thiere, untermischt mit dem gebieterischen Zurufe unsererseits, ein Ende geworden war. In gleicher Beklommenheit lauschten die übrigen Bewohner des Hauses dem ungewohnten Zwischenfalle, um so gespannter, als sie deren Verlauf nicht mit eigenen Augen verfolgen konnten. Zumal die jungen Löwen, aus dem donnernden Grollen des Elternpaares heraus den Angstruf der Mutter vernehmend, horchten hoch auf, und möglichst langgereckt, fest an’s Eisenwerk geklaut, schauten sie über die Blende hin, vom besten Willen beseelt, der guten Mutter Beistand zu leisten oder wenigstens Beileid zu bezeigen.

Es schien geboten, den erhitzten Gemüthern einige Tage Spielraum zur Abkühlung zu gönnen. Und auch dann glaubten wir besondere Vorsicht nöthig. In beiden Käfigen jederseits der beweglichen Zwischenwandung wurden Brechstangen eingeschoben, um nach Entfernung dieses beide Thiere trennenden Schiebers erneuerten Wuthausbrüchen etwa ein eisernes Halt! entgegenzustrecken. Die hölzerne Gardine lüftete sich freilich unseres Meister Jack’s Begriffen nach lange nicht eilig genug. Ein Griff mit wuchtiger Pranke und – hätte ihn nicht kaltes Eisen von unserer Macht rechtzeitig und heilsam belehrt – die zolldicke Platte würde in Splitter gegangen sein. Diesem Halt wich er wohl einen Schritt, aber nur, um, sowie der Fuß frei, Anlauf gegen seine Fanny zu nehmen. Als gerechte Strafe für sein unwirsches Gebahren wurde ihm auferlegt, eine halbe Stunde lang nur über unsere drohenden Eisenstangen hin seine Fanny zu schauen, und bei jedem versuchten Anlaufe zurückgewiesen zu werden. Die Löwin, in echt weiblichem Schmollen zusammengekauert, raffte sich zeitweilig zur Angriffsstellung auf. Ein mahnendes „Fanny“, ein Wink mit dem ehernen Griffel, und grollend warf sie sich wieder in dem Schmollwinkel zu Boden. Auch Jack beugte sich endlich dem Muß; er streckte sich nieder, aufmerksam spähend aber, eine Lücke unserer Wacht zu erlauern, des Weges an’s Ziel seiner Wünsche zu stürmen. Für diesmal gelang es ihm nicht. Die hölzerne Gardine wurde wieder eingeschoben, und der alte Griesgram hatte Muße, über Nacht weidlich darüber zu grübeln, warum wohl wir so unbeugsam ihm den Weg zu seinem Gegenüber versperrt haben mochten. Diese Bedenkzeit schien er zu seiner Bekehrung erfolgreich ausgenutzt zu haben. Anderen Tages, kaum war der Paß frei, begegneten sie sich in Liebe. Somit war kein Grund mehr vorhanden, unsererseits Einspruch zu thun. Wir ließen sie gewähren.

Und nunmehr fühlte Jack sich so vollständig Meister in seinem Bereiche, daß er keinerlei Liebkosungen seiner Fanny, des Gegenstandes seiner Zärtlichkeit, am wenigsten aber seitens dessen, der ihm am vertrautesten, seines Wärters, duldete. Es dürfte wohl unzweifelhaft dieses anderswie ganz unerklärliche Gebahren lediglich als Ausdruck von Eifersucht seinerseits zu deuten sein. Uebrigens hat man dieselbe Erscheinung auch anderwärts beobachtet. Nachts über wurden die Thiere getrennt, ebenso bei der Fütterung. Nach acht Tagen etwa verschloß sich Fanny allen weiteren Liebkosungen, ohne aber deswegen die Gesellschaft ihres Jack geradehin zu verschmähen.

Die Naturforscher, übler Gewohnheit gemäß hinter den Gardinen lugend, rechneten uns vor, daß binnen hundertacht Tagen Nachwuchs erfolgen würde. Die Zeit rückte näher und näher. Außer Stand unserer Löwin eine standesgemäße Felsengrotte zu ihrem gewichtigen Vorhaben zu beschaffen, begnügten wir uns, oder begnügte sie sich mit Verdunkelung ihrer Wohnzelle mittelst eines Vorsatzladens. Kaum waren die nöthigsten Vorkehrungen getroffen, so schien es höchste Zeit, das Lager herzurichten. Schon wurde Fanny unruhig; bald streckte sie sich hin; bald ging sie auf und nieder; immer aber war sie noch zu Scherzen aufgelegt und spielte beim Ausfegen des Raumes, wie vordem, so lebhaft mit dem Besen, daß sie zur Ruhe verwiesen werden mußte. Gehacktes Stroh als Lager nahm sie dankbar an, streckte sich sofort darüber hin und grollte bereits nicht unbedenklich, als noch weitere Vorbereitungen getroffen werden sollten. Schnell wurden die Läden geschlossen. Bald darauf hörte man einen eigenthümlichen durchdringenden Ton; alle Thiere des Hauses horchten hoch auf, vor Allem aber was zur Familie Leo gehörte. Jedenfalls war das ein bedeutungsvolles Zeichen. Eine kleine Weile nur, und schon verkündete mehrerer Zeugen Mund, was hinter der Gardine vorgegangen. Die Zahl der Jungen war uns ein Räthsel. Hinter Schloß und Riegel, im behaglichen Halbdunkel verträumten die jungen Wüstenprinzen ihre ersten Lebenstage.

Andern Morgens wollte der Zufall, daß wir so glücklich waren, in dem Moment, als der Mutter Milch gereicht wurde, das reizende Familienbild einer säugenden Löwin zu sehen, mit einem einzigen Blick aber nur; denn sie grollte ob unserer Neugierde gar sehr. Sofort wurde die Gardine geschlossen. Wir hatten genug gesehen, gesehen, daß Mutter und Kinder wohlauf waren, und im Fluge sie überzählt, eins, zwei, drei. Das scheint bei unserer Löwin die ständige Zahl zu sein. Andere thun es nicht unter vier und versteigen sich zuweilen noch über diese Zahl hinaus.

Seitdem ist es in unserm Garten wiederholt gelungen, junge Löwen zu züchten. Unterdessen ist auch eine der Töchter jener Löwinmutter großjährig geworden und hat eben jetzt drei herrlich gedeihende Junge. Sie ist gleich ausgezeichnete Mutter, scheint sogar noch Manches vor Fanny vorauszuhaben. Während nämlich jene Löwin, sowie ihre Kinder Geschmack an Fleisch zu finden anfingen, zuweilen ziemlich derb in Abwehr gegen ihre Brut werden konnte und deshalb bei der Fütterung in die Nachbarzelle gebracht werden mußte, nimmt die vor einigen Monaten Mutter gewordene Löwin keine Nahrung an, wenn sie von ihren Jungen getrennt ist, und weidet sich bei jeder Mahlzeit daran, ihre Kinder das Fleisch einige Zeit benagen zu sehen. Alsdann erst macht sie Anstalt, sich selbst zu sättigen, und auch da noch gestattet sie ihrer Brut, nach Herzenslust zuzulangen.

Neugeborene Löwen gleichen an Größe schon derben, halbwüchsigen Hauskatzen. Mähne und Schwanzquaste fehlen noch. Ihr Haarkleid ist wollig, gelblichgrau, oberseits und den Beinen entlang schwarzgefleckt; der Schwanz ist leicht quergebändert. Sie sind ziemlich unbeholfen; statt zu gehen, kugeln sie sich, und ihre Stimme klingt wie katzenhaftes Miauen; später erst erstarkt es soweit, daß man etwas Gewaltiges zu ahnen anfängt.
Schlegel.



[686]
Blätter und Blüthen.


Folgenschwere Fahrlässigkeit. „Eisenbahnunfälle“ sind eine so häufig wiederkehrende Rubrik unserer Zeitungen, daß ein derartiges Ereigniß schon einen ungewöhnlichen Umfang angenommen haben muß, um den Inhaber eines Jahresbillets aus der vornehmen Gleichgültigkeit aufzuschrecken, mit der er liest, daß wieder einmal ein paar Güterzüge aufeinandergestoßen, aber glücklicher Weise nur ein Locomotivführer und ein Heizer um’s Leben gekommen oder zu Krüppeln geworden sind, oder daß ein Wagenschieber zu Brei zerquetscht worden ist. Um ein solches ungewöhnliches Ereigniß hat dieser Monat die Geschichte der Eisenbahnunfälle in ausgiebigstem Maße bereichert.

Die „Große Osteisenbahn“ verbindet Yarmouth und Lowestoft mit London und hat für ihren großen Verkehr zum Theil, unter Anderm zwischen Brundall und Norwich, auf einer Strecke von sechs englischen Meilen, nur ein einziges Geleise. Der Abendpostzug nach London muß deshalb in Brundall den von London kommenden Schnellzug abwarten, es sei denn, daß er von Norwich speciell beordert wird; dies darf nach den bestehenden Vorschriften nur geschehen, wenn der Schnellzug sich um fünfundzwanzig Minuten verspätet.

Im Telegraphenamte auf der Station Norwich waren am Abende des 10. September, während es draußen in Strömen regnete, fünf junge Bursche von fünfzehn bis achtzehn Jahren gemüthlich beisammen, von denen nur einer, der achtzehnjährige Telegraphen-Assistent Robson, dort etwas zu suchen hatte. Er vertrat nämlich einen Beamten, der um diese Zeit den Dienst hatte, aber nicht da war.

Der Schnellzug von London ist in Norwich um neun Uhr zehn Minuten fällig, der Postzug von Yarmouth und Lowestoft in Brundall um neun Uhr fünfundzwanzig Minuten. Verspätet sich der Schnellzug um fünfzehn Minuten bis zu einer bestimmten zwischen London und Norwich belegenen Station, so telegraphirt diese nach Norwich. Keine solche Meldung war eingetroffen, als um neun Uhr dreiundzwanzig Minuten der Nacht-Inspector Cooper an den Schalter des Telegraphenamts klopfte und Robson anwies, den Postzug von Brundall heraufzubeordern. Nach der Dienstvorschrift durfte eine derartige Ordre vor Unterzeichnung durch den Inspector nicht abgeschickt werden; Robson begnügte sich mit dem Versprechen desselben, sofort zur Unterschrift wiederzukommen. Kaum hatte indeß Cooper den Schalter verlassen, als vor seinen Augen der Schnellzug in den Bahnhof einfuhr. Ueber das, was nun geschah, widersprechen die Aussagen einander. Cooper behauptet, sogleich umgekehrt zu sein und Robson beauftragt zu haben, die Ordre nach Brundall zu widerrufen. Robson weiß davon nichts; seine Freunde können sich merkwürdiger Weise auf nichts besinnen; möglich ist, daß einer von ihnen auf Robson’s Stuhl am Schalter gesessen hat und von Cooper für Robson gehalten worden ist. Durch das Fenster des Telegraphenamtes kann man den Bahnhof überblicken; Robson aber hat nicht nur keinen Widerruf des Inspectors gehört, sondern auch keinen Schnellzug gesehen. Er telegraphirt also nach Brundall: „Schickt den Postzug ab, ehe der Schnellzug hier abgeht!“ und fügt der Depesche Cooper’s Namen hinzu. Brundall antwortet: „Werde den Postzug abschicken, ehe der Schnellzug abgeht“. Der Vorschrift gemäß hätte Robson nun ohne Verzug nach dem Inspector klingeln und ihm die Antwort mittheilen müssen; er thut es nicht, angeblich aus Furcht, der Inspector werde ein Halloh machen. Cooper hat unterdeß dem Tag-Inspector Parkes bei der Abfertigung des Schnellzugs geholfen und dessen Frage, ob der Postzug erst herankomme, bestimmt verneint. Parkes läßt den Schnellzug abgehen, und um neun Uhr einunddreißig Minuten bringt der Polizei-Inspector der Station Robson eine Depesche mit der bezüglichen Meldung nach einer Verbindungsstation. „Wo ist der Schnellzug?“ fragt Robson. „Fort.“ Nun wird Cooper gerufen – wir lesen nicht, wir hören das markerschütternde „O mein Gott!“ des Mannes, dem in Einem Augenblicke zugleich das unabwendbar gräßliche Unglück und seine eigene unrettbar zerstörte Zukunft durch die Seele blitzen; – sogar Robson’s Freunde haben es gehört.

„Haltet den Postzug auf!“ wird nach Brundall telegraphirt, aber Jeder weiß, wie die Antwort lauten wird: „Postzug abgegangen“ – Jeder weiß, daß die beiden Züge mit der Collectivgeschwindigkeit von sechszig englischen Meilen in der Stunde aufeinander losrennen, weil jeder Zugführer glaubt, daß der andere auf ihn wartet; kein, absolut kein Mittel, sie zu warnen; fast könnten die Beamten mit der Uhr in der Hand berechnen: Jetzt stoßen sie zusammen, oder vielmehr sie sind schon zusammengestoßen, wenn kein Wunder geschehen ist. – Und es ist kein Wunder geschehen; mit Donnergetöse ist Maschine auf Maschine getroffen, eine auf die andere gesprungen, mit ihr, mit zerschmetterten Wagen, mit todten, sterbenden, verwundeten Menschen im Nu eine Pyramide aufthürmend. Ein Theil der Wagen des Postzuges ist auf einer Brücke stehen geblieben, die, im Bau begriffen, weite Lücken hat. Springen die Reisenden heraus, so springen sie unmittelbar in einen tiefen Fluß. Wenigstens dieses Unglück verhütet die Geistesgegenwart des Schaffners, der, obwohl beschädigt, an den Fußbrettern entlang kriecht und zum Sitzenbleiben mahnt. Aber achtzehn Menschen sind auf der Stelle todt geblieben, sieben seitdem gestorben, dreiundsechszig außerdem verwundet.

Wenn es zweifelhaft geblieben ist und auch wohl bleiben wird, wo – außer in der lockeren Disciplin und der dafür verantwortlichen Verwaltung – der Schwerpunkt der Verschuldung liegt, so kann man sich wenigstens nicht über den geringen Aufwand von Zeit und Mühe bei der Untersuchung beklagen, denn diese ist von drei verschiedenen Commissionen geführt worden. Ueber die sofort Umgekommenen wird ein Todtenschaugericht in Thorpe abgehalten; über die nachher in Norwich Gestorbenen ein solches in Norwich, und zum Dritten inquirirt ein Commissar des Handelsamts. Alle drei vernehmen dieselben Zeugen und erhalten so ziemlich dieselben Antworten. Bei der englischen Art der Zeugen-Vernehmung würde freilich weder König Salomo noch der Richter Daniel über den fraglichen Punkt die Wahrheit an den Tag gebracht haben. Ein orientalischer Kadi hätte zu allem Anfange jeden von den vier Freunden des Telegraphenassistenten in ein besonderes Loch gesperrt und einzeln mit Hülfe kräftiger Ueberredungsmittel verhört. Wunderlich genug hat auf Grund derselben Zeugen-Aussagen die eine Jury Cooper und Robson des Todtschlags angeklagt und Cooper wegen seiner größeren Erfahrung die Hauptschuld beigemessen, die andere, die ihren Spruch später fällte, Robson allein des Todtschlags bezichtigt und erklärt, Cooper’s nicht zu bestreitende Fahrlässigkeit sei doch nicht genügend, um ein Verdict gegen ihn zu rechtfertigen.

Merke sich übrigens der geneigte Leser, daß bei diesem Unglück die Reisenden erster Classe mit leichten Quetschungen und dem Schreck davongekommen sind, weil ihre Coupés die Mitte der Waggons einnahmen und durch die rechts und links zertrümmerten Coupés zweiter Classe vor eigener Zertrümmerung geschützt wurden. Vom Standpunkte der Eisenbahndirectoren wäre den zu Schaden Gekommenen am Ende ganz recht geschehen; warum fuhren sie nicht erster Classe! Aber die Directoren der großen Ostbahn werden jetzt nicht gerade zum Scherzen aufgelegt sein: dafür sorgt, wenn nicht das strenge Gericht, welches Punch im Namen der öffentlichen Meinung über sie hält, so doch jedenfalls die unbehagliche Gewißheit, daß die Gesellschaft auf Entschädigungen und Kosten viele Tausende von Pfunden Sterling zu bezahlen haben wird. –




Der Sprachenkampf in Deutsch-Lothringen. In Nr. 37 der Gartenlaube wird in der Notiz eines Elsässers hervorgehoben, daß trotz des passiven Widerstandes der protestantischen Geistlichen unter der napoleonischen Herrschaft die deutsche Sprache rücksichtslos zurückgedrängt worden sei; daß aber selbst die katholischen Geistlichen glaubten, gegen dieses rücksichtslose Vorgehen gegen die deutsche Sprache opponiren zu müssen, zeigt folgende Thatsache:

Kurze Zeit vor Ausbruch des Krieges im Jahre 1870 besuchte ich in Paris einen lothringischen Deputirten und fand dort einen katholischen Geistlichen aus dem westlichen Lothringen, der eigens zu dem Zwecke nach Paris gekommen war, um bei den Deputirten dahin zu wirken, daß den Geistlichen erlaubt werde, den Religionsunterricht in deutscher Sprache geben zu dürfen. Er setzte auseinander, daß die Muttersprache seiner Gemeindeglieder die deutsche sei, und daß es ihm unmöglich sei, auf das Gemüth der Kinder einzuwirken und diesen mit Erfolg Religionsunterricht zu geben, wenn er gezwungen werde, sich dabei der ihnen fremden französischen Sprache zu bedienen.




Berichtigung. In dem in Nr. 37 der „Gartenlaube“ abgedruckten Aufsatze „Die Augsburger Leineweber“ hat sich ein kleiner Irrthum eingeschlichen, den ich nachträglich, von mehreren Seiten hierauf aufmerksam gemacht, berichtigen muß. Das Denkmal Jakob Fugger’s in Augsburg ist nämlich nicht von dieser Stadt, sondern von König Ludwig dem Ersten von Baiern errichtet und der Stadtgemeinde geschenkt worden.

Augsburg, im October 1874.
Dr. Chr. Meyer, Stadtarchivar.




Für die Abgebrannten in Meiningen

gingen bis heute wieder ein: Ertrag eines von Kunstliebhabern veranstalteten Schauspielabends, durch Gerichtsrath Wellmann in Greifenberg in Pommern 40 Thlr.; ges. bei einer Hochzeit in Hof, durch Antonie Hiemisch 3 Thlr. 10 Ngr.; C. D. in Bruel 2 Thlr.; O. H. in Brandenburg 20 Ngr.; E. F. in Herlaßgrün 1 Thlr.; ein Kränzchen in Kirchberg 4 Thlr. 3 Ngr. 8 Pf.; G. H. in Seifhennersdorf 1 Thlr. ; aus der Philharmonia der Cösliner Primaner u. Secundaner, Ertrag eines musik. Kränzchens in Schivelbein 12 Thlr.; H. M. 5 Thlr.; Lotterieertrag eines Damenkränzchens 12 Thlr.; zwei Schwaben, P. u. A. H. in London 4 Thlr.; vom deutschen Kegelvereine „Pudelclub“ in Chaux de Fonds (Schweiz) 16 Thlr.; Betrag der bei dem Schulfeste in Wildbach ges. Liebesgaben 7 Thlr.; Halbrock in Hannover 2 Thlr.; Gereles u. Sohn in Altena 2 Thlr.; Pauline Meißner-Keil 2 Thlr.; Martha Meißner 2 Thlr.; ein Thüringer 1 Thlr.; Abendunterhaltung des Männergesangvereins „Arion“ in Sonnenburg (bei Küstrin) 31 Thlr. 3 Ngr.; K. in Hohburg 1 Thlr.; Heuber in Wüstewaltersdorf 2 Thlr.; Kegelverein in Sagan 1 Thlr. 2 Ngr. 7 Pf.; J. Blum in Vohl 2 Thlr.; Seifenvereln in Sagan 2 Thlr.; C. G. in Zerbst 2 Thlr.; G. L. in Amsterdam 10 Thlr.; G. K. in Magdeburg 1 Thlr.; Wittwe Sallandt in Burgsteinfurt 5 Thlr.; von Postbeamten in Köln am Rhein, ges. bei einer Festlichkeit 12 Thlr.; Grützmacher in Carnitz 8 Thlr.; ges. bei einer Bauhebe in Mittelfrohna 4 Thlr.; eine blinde achtzigjährige Frau in Geuz bei Köthen 3 Thlr.; R. B. 10 Thlr.; L. S. in Cosel 1 Thlr.; Graul auf dem Thonberge, in der Tischlerwerkstatt ges. 2 Thlr.; G. Rudhart, k. bair. Geschäftsträger in Paris 6 Dollars; N. N. in Prag 5 fl.; ges. in fröhlichem Kreise deutscher Zecher durch Blankmeister in Petersburg 15 Rubel; Wittwe Oravetz in Fokschan (Moldau) 6 fl. öst.; Wirthschafts-Inspector Braunsch in Rückers 1 Thlr. 15 Ngr.; ges. in einer muntern Backfischgesellschaft in Petersburg 8 Rubel; X. in Rappoltsweiler 1 Thlr.; durch Waisenhausdir. Kranz in Wüste-Giersdorf ges. 8 Thlr. 22½ Ngr.; v. W. in Wolfis 1 Thlr.; aus Kempen 6 Thlr.; Magazin-Verwalter Schmidt aus Neustadt a. R. 2 Thlr.; die Künstlergesellschaft im Observatorium in Höchst 6 Thlr.; Ella aus Lausanne 2 Thlr.

Die Redaction der Gartenlaube. (E. K.)


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: unfangen
  2. Vorlage: wohlbekannnten
  3. vergleiche Ferdinand Sterzinger