Die Gartenlaube (1878)/Heft 51

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1878
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[837]
Lumpenmüllers Lieschen.
Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


15.


Die alte Baronin saß in ihrem Zimmer am Kamin und wartete in erregter Ungeduld auf das Erscheinen ihres Enkelsohnes. Schon dreimal hatte Sanna bei den Damen in den untern Räumen des Schlosses nach ihm gefragt, und jedesmal war sie mit dem Bescheid zu ihrer Herrin zurückgekehrt, der Herr Lieutenant sei noch immer nicht von seinem Spaziergang zurückgekommen.

„Gott steh’ mir bei!“ sagte die alte Dame und schritt zum Fenster, „was soll aus ihm, was aus uns werden? Da geht er in aller Seelenruhe spazieren, ohne daran zu denken, wie er den Zusammensturz des Hauses der Derenberg verhindern kann; von mir hat er wahrhaftig kein Tröpfchen Blut in seinen Adern – orribile!

Vor ihren Blicken lag der weite Park in kalter, stummer Winterpracht; die Mittagssonne glitzerte auf dem Anhang der Bäume und beleuchtete blendend die weißen Plätze. Todtenstille und Einsamkeit ringsum. Kein lebendes Wesen weit und breit! Höchstens ein paar hungrige Vögel auf den kahlen Aesten! Und so einsam und verlassen war es nun schon seit Jahren um dieses alte Schloß. Unwillkürlich schauerte sie zusammen. „Warum eigentlich?“ fragte sie sich selbst; sie war es ja gewohnt, so vergessen zu leben. Aber sie hatte in den letzten Tagen längst vergangener lustdurchwehter Zeiten so oft gedacht; und nun sollte sie weiter existiren in derselben trostlosen Weise, vielleicht noch jammervoller, wenn der Herzog von R. ihren Wunsch nicht erfüllte! Nein, nein, das wäre ja unmöglich. „Herr Gott, wenn er nicht –“ Sie ballte die feinen Hände. „O diese Schlange, diese Blanka!“ flüsterte sie, und die großen Augen blitzten düster. Ihre Züge hellten sich auch nicht auf, als sich in diesem Moment die rothen Vorhänge theilten und Army in das Zimmer trat.

„Bist Du wirklich schon zurück von Deinem Spaziergang?“ fragte sie ironisch.

„Ich war nicht spazieren,“ entgegnete er scheinbar ruhig, aber die alte Dame hatte doch den tief aufgeregten Klang seiner Stimme vernommen, sie richtete forschend ihre Blicke auf ihn.

„Nicht? Wo warst Du denn? Ich habe bereits drei- oder viermal nach Dir fragen lassen. Jedenfalls wäre eine Unterredung zwischen uns nöthiger gewesen als das, was Du gerade vorhattest. Aber es ist einmal nicht anders: Du besitzt den Charakter Deiner Mutter. Du bist indolent bis zum Aeußersten.“

„Im Gegentheil, Großmama – ich habe eben versucht, einen Deiner Rathschläge zu befolgen; leider mißglückte das Experiment total.“ Er fuhr sich mit dem Taschentuch über das erhitzte Gesicht und warf die Mütze auf den nächsten Tisch.

„Wie?“ fragte sie, „ich verstehe nicht – einen meiner Rathschläge?“

„Gewiß, ich wollte – – ich habe soeben versucht, eine reiche Heirath zu machen, aber wie gesagt –“

Die Baronin trat einen Schritt zurück und starrte ihn an.

„Du bist erstaunt, Großmama, das ist natürlich – ich wunderte mich noch heute früh, daß Du nicht selbst auf den Gedanken gekommen warst, jetzt freilich ahnt mir, daß Dir nichts ferner liegen konnte, als eine Heirath zwischen mir und Lieschen Erving.“

„Ich glaube, Du bist wahnsinnig, Army.“

„Wieso denn? Mein Gott, Du hast mir selbst gerathen, mich durch eine reiche Heirath zu retten, und sie ist reich genug, die Kleine, weiter bedarf es ja nichts nach Deiner Meinung.“

„Nimmermehr gebe ich das zu,“ rief die alte Dame außer sich, „ist es möglich, eine solche Idee zu fassen! Dieses unausstehliche Ding – Deine Frau? Es ist ja geradezu himmelschreiend.“

„Ich sagte Dir ja schon, daß das Experiment nicht geglückt ist,“ beruhigte er; er warf den Kopf zurück und fuhr mit der Hand spielend über den schwarzen Schnurrbart. „Ich habe einen Korb bekommen, Großmama, einen recht deutlichen Korb; ich möchte Dich jetzt aber bitten, nicht wieder von Indolenz zu reden.“ Es bebte ein tief verletztes Selbstgefühl in diesen Worten.

„Einen Korb?“ fragte sie verwundert und ungläubig, „einen Korb, sagst Du, Army?“

„Jawohl, Herr Erving erklärte mir erstens, daß er für sein Kind einen Mann beanspruche, der es liebe; er wolle sie nicht als lästige Zugabe ihres Geldes betrachtet wissen – das war deutlich, nicht wahr? Ich kann es dem Manne nicht übel nehmen, ich kam mir, als ich so vor ihm stand, doch verteufelt erbärmlich vor, wie nie in meinem Leben.“

Die Großmutter wendete ihm achselzuckend den Rücken. „Ideale Phrasen!“ sagte sie. „Unter tausend Heirathen wird kaum eine aus anderen Rücksichten geschlossen; ich kann mich nur wundern, daß Dir der Herr – Herr Erving einen solchen Bescheid gab; diese Art Leute bezahlt gern noch dreimal mehr Schulden, wie Du sie hast, wird das Fräulein Tochter dafür Frau Baronin – jedenfalls steckt noch etwas Anderes dahinter.“ Sie setzte sich in ihren Lehnstuhl am Kamin und versuchte gleichgültig in die Flammen zu sehen.

„Du hast ganz recht, Großmama; es steckt noch etwas

[838] Anderes dahinter. Ich sagte dem Vater zwar, daß ich mich bemühe, ehrlich bemühen würde, Lieschen hoch zu halten, sie zu schützen und zu behüten, wie nur ein Mann es könne, und das war keine Lüge, sondern meine redliche Absicht.“

„Wirklich?“ fragte sie ironisch.

Er wurde dunkelroth. „Wirklich!“ erwiderte er. „Oder meinst Du vielleicht, ich würde das Mädchen, das mir vertrauensvoll ihre Hand reicht, fühlen lassen, daß mich nicht die Liebe zu ihr führte? Vor allen Dingen, wenn mir ein so volles, kindlich-reines Herz entgegengebracht wird, wie das ihre?“

„Ei sieh, wo hat man solche Studien über ihr Herz gemacht?“

„Du vergißt, Großmama, daß wir zusammen aufgewachsen sind und daß ich in letzter Zeit oft genug Gelegenheit hatte, sie zu sehen – sie hat im Herbst wochenlang Mama gepflegt –“

„Hast Du Dich vielleicht in die barmherzige Schwester verliebt? Freilich, die Deutschen finden ja eine Frau nie reizender, als am Krankenbett oder in der Kinderstube; jedenfalls war das Mädchen für Dich ein ganz pikanter Gegensatz zu Blanka.“

Der junge Mann runzelte finster die Stirn. „Ich bitte Dich, Großmama, laß das!“ sagte er, „es ist vollständig unnütz, hier Vergleiche zu ziehen, aber – wir sind ganz von dem Gange unseres Gespräches abgekommen. Du sagtest, es stecke etwas Besonderes dahinter, daß ich Lieschen’s Hand nicht bekam; nun wohl, dieses Besondere – Du entschuldigst wohl, daß ich es so unumwunden ausspreche – dieses Besondere sind Erfahrungen, die man einst dort unten in der Mühle bei einer ähnlichen Angelegenheit machen mußte, bittere, harte Erfahrungen, die lange Zeit die Trauer an das alte Haus bannten; ich werde mich übrigens bemühen, Klarheit in diese Angelegeheit zu bringen.“

Der junge Officier hatte die letzten Worte laut und deutlich gesprochen und seine Augen ruhten unverwandt auf dem stolzen Gesichte ihm gegenüber. Es war ihm, als erbleichte es um eine leise Schattirung, aber kein Zug desselben veränderte sich.

„Gleichviel, welche Gründe den Müller veranlaßt haben, Dich zurückzuweisen,“ tönte es rauh zurück, „seine Familienchronik kenne ich nicht, und mir ist jeder Grund willkommen, denn meine Einwilligung zu diesem hirnverrückten Project wäre nun und nimmermehr erfolgt.“

„Dann wäre ich gezwungen gewesen, ohne diese zu heirathen,“ sagte er gelassen. „Du begreifst, daß man mit solchen Dingen nicht spielt, ich habe dem Mädchen mein Wort gegeben, sie gab mir ihre Zusage, und das ist genug. Es wäre nur dann etwas Anderes, wenn sie selbst refüsirt hätte. Ich bin aber überzeugt, daß ich dennoch ihre Hand erhalten hätte, wenn nicht jene traurigen Begebenheiten dazwischen ständen; die Eltern wollen ihr Kind nicht in das Haus geben, in welchem ihre alte Feindin wohnt – Du, Großmama!“

„Ich!“ Die Baronin sprang heftig auf. „Lächerlich!“ sagte sie dann und ließ sich in den Sessel zurückfallen, „mir sind die Leute stets in eminentem Grade gleichgültig gewesen, bis heute –“ Eine Weile blieb es still in dem Zimmer, die alte Dame athmete erleichtert auf; der ängstliche Zug, der sich während der letzten Reden ihres Enkelsohnes um ihren Mund gelegt hatte, verschwand, und fast freundlich bittend sah sie zu ihm hinüber.

„Ich wollte mit Dir sprechen, Army,“ sagte sie endlich, „wir müssen zusammen überlegen; ich habe an den Herzog geschrieben und bin überzeugt, daß das Geld kommt, ich bin jedoch genöthigt, einen Theil desselben für mich zu behalten; der andere bleibt für Dich; hoffentlich reicht er aus, um die schlimmsten Gläubiger zu befriedigen. Aber was dann? Und vor allen Dingen was – wenn die Hülfe wider alles Erwarten ausbleiben sollte?“

„An die Bereitwilligkeit des Herzogs glaube ich nicht.“ sagte er finster, „und wenn auch, es ist ein Tropfen auf einen heißen Stein. Mir bleibt nichts, als – Amerika.“

Er fühlte sich plötzlich an der Schulter erfaßt, und das Gesicht seiner Mutter beugte sich über ihn. „Army,“ fragte sie athemlos, „was sagst Du? Du wolltest fort – fort?“

Er schrak zusammen und faßte ihre Hand; er wollte sie beruhigen, aber die entsetzten, verweinten Augen hingen so forschend an seinem Gesicht – er ließ die Hand fallen und wandte sich ab.

„Cornelie, Du weißt, ich kann dieses unhörbare plötzliche Eintreten nicht leiden,“ schalt die alte Dame, aber jene hörte nicht; ihr Herz stand beinahe still vor dem einen schrecklichen Worte –: Amerika.

„Allmächtiger Gott! giebt es den Niemanden, der uns helfen kann? Army, ich sterbe ja, wenn Du fortgehst!“ flehte sie und hielt ihm die gefalteten Hände entgegen. „Das ist das Letzte, das Schwerste.“

„Weine doch nicht, ängstige Dich nicht, Mama!“ sagte er, ohne sie anzusehen, „ich, ich bleibe ja –“

„Nein, nein, ich weiß, was Du thun willst.“ rief sie, „Du wirst fortgehen, heimlich, ohne Abschied; ich werde eines Morgens aufwachen und keinen Sohn mehr haben; Army, kannst Du das? Kannst Du fortgehen, wo Du weißt, daß Du mich nimmermehr wiedersiehst?“ Schneidend und herzzerreißend klang der Jammer aus diesen Worten.

„Es wäre ja nicht für immer,“ sagte er stockend, „ich käme ja einst wieder; wir schreiben uns; es –“

Der junge Mann fuhr sich plötzlich mit heftiger Geberde durch das Haar. „Mein Gott!“ rief er, „ich bitte Dich, Mama, mache mir durch Deine Klagen die Sache nicht noch schwerer, überlege doch: ich habe massenhafte Schulden – das ist ein Factum; bezahlen kann ich sie nicht – das ist das andere Factum. Ich habe das Mögliche versucht, um einen Ausweg zu finden – es war umsonst. Zum neuen Jahre kommt die Angelegenheit zum Klappen; es sind Wechselschulden dabei; die Festung ist mir gewiß – ich kann nicht weiter dienen – was bleibt mir da Anderes –? Denkst Du, mir ist wohl dabei zu Muthe?“ Er schritt hastig aus dem Zimmer und warf die Thür dröhnend hinter sich zu.

Einen Augenblick hielt er zögernd den Fuß an; es war ihm, als habe er einen Schrei seiner Mutter gehört, dann zog er weitergehend einen Brief aus seiner Uniform und erbrach ihn. „Es ist richtig; der Tanz geht los,“ flüsterte er, die Zeilen überfliegend; er trat düster in sein Zimmer und warf sich in den Sessel, der vor dem alten Kamine stand.

Heute früh hatte ihm noch einmal ein Hoffnungstrahl geleuchtet – Lieschen; die Worte, die gestern Abend so leise flüsternd sein Ohr trafen unter der alten verschneiten Linde, sie hatten wie eine Friedensbotschaft nach den letzten stürmischen Wochen geklungen; es waren so kinderreine einfache Worte gewesen, die aus einem seligen, jubelvollen Mädchenherzen kamen; wie Veilchenhauch hatte ihn das süße verschämte Wesen der alten Spielgefährtin angemuthet; das war echte, wahrhaftige Liebe, die ihm da entgegeblühte! Echte Liebe? Nein – die gab es wohl kaum noch. Sie fügte sich heute so willig dem Vater, als er ihr sagte: Du wirst unglücklich – laß von ihm! Aber er konnte ihr kaum einen Vorwurf machen; der Vater wird ihr gesagt haben: er liebt Dich nicht; er liebt nur Dein Geld. Das war schon genug, und dann? Was mochte das Andere sein mit der Großmama? Baron Fritz und Lisett! Herr Erving hatte sie genannt heute früh, als er von den hauptsächlichsten Gründen seiner Weigerung sprach; Gott weiß, was Alles da passirt sein mochte; er war so vorsichtig in seine Aeußerungen gewesen, aber bah – es ändert ja doch nichts mehr. Wie bald wird es in seiner Garnison heißen: „der Lieutenant von Derenberg ist alle geworden, um die Ecke gegangen – natürlich Schulden, tolle Schulden; es liegt so in der Familie; der Vater hat sich ebenfalls erschossen; das passirt ja alle Tage – kaum noch der Mühe werth, darüber zu sprechen.“

Lange saß er so und brütete. Seine Mutter! Er hätte ihr eine Stütze sein sollen; ja sie würde sterben, wenn er ginge – und Nelly, das arme kleine Ding – wenn sie dann gar allein bliebe? – Er sprang hastig empor und riß die Uniform auf; in der Mitte des Zimmers blieb er stehen und starrte nach der Wand; dort hatte das Bild der schöne Agnese Mechthilde gehangen, das er sich vom Ahnensaal geholt, weil es ihr so ähnlich sah; er hatte es herabgenommen damals, als sie ihm ihr Wort brach; es lehnte noch immer verkehrt dort an der Wand.

Er schritt hinüber, hob es empor und hing es an seinen Platz; das wundervolle Gesicht mit den tief traurigen Augen schaute ihn wieder so vertraut, so unwiderstehlich bezaubernd an – er stellte sich mit verschränkten Armen davor und betrachtete es lange. Sie waren schuld, diese röthlich goldenen üppigen Haare, daß er geworden, was er jetzt war, durch eine thörichte, unselige Leidenschaft. Einen Augenblick überkam es ihn wie heiße Sehnsucht; würde sie wohl einen Blick des Bedauerns haben, wenn sie erführe, wie weit es mit ihm gekommen? Er lachte fast laut. Nein, die kalten funkelnden Augen, sie konnten [839] nicht mild blicken, wie diesen das Bild war nicht ähnlich, gar nicht, nur die Haare. Ein bitterer hohnvoller Zug legte sich um seinen Mund! „Sind sie aber ohne Tück,“ murmelte er, „ohne Tück? – Keine Einzige, keine!“

Er hörte nicht, wie sich leise und zögernd die Thür seines Zimmers öffnete, wie ein blasses Mädchengesicht mit unsicheren Blicken hereinsah, wie eine schlanke Gestalt sich ihm leise und zögernd näherte. In der Mitte des Zimmers blieb sie stehen; ihre Augen hafteten starr auf dem goldhaarigen Frauenkopfe dort im Bilde, den der junge Mann noch immer unverwandt ansah; unwillkürlich machte sie eine Bewegung, als wollte sie fliehen – da wandte er sich.

„Lieschen!“ stammelte er, „Lieschen, Du –?“

Sie antwortete nicht; sie sah ihn nur schmerzlich an.

„Was willst Du, Lieschen?“ sagte er, „suchst Du Nelly? Sie – ich weiß nicht, ob – –“

„Nein,“ antwortete sie, „ich komme zu Dir.“

„Zu mir?“ fragte er leise.

„Ja, ich – mich trieb die Angst, Army. Deine Mutter war bei uns und sagte, Du wolltest – O, geh’ nicht fort, Army, geh’ nicht fort! Ich überleb’ es nicht.“ Das Letzte klang wie ein Aufschrei; sie schlug die Hände vor das erglühende Gesicht.

„Du bittest mich, Lieschen, und Du hast mich doch heute früh gehen lassen?“ fragte er bitter.

„O, es that mir so weh, als Du fortgingst, Army, so weh, aber noch viel mehr, noch tausend Mal mehr schmerzt es, daß Du mich nicht lieb hast, daß Du mich nur willst um – –“

„Das hat Dir Dein Vater gesagt, Lieschen!“

„Ja! Und ist es nicht wahr, Army? Und wenn ich noch gezweifelt hätte – als Deine Mutter vorhin in unser Haus trat, um Hülfe zu suchen bei dem Vater, damit Du nicht fort brauchtest in die weite Welt, da mußte es mir klar werden, mußte ich glauben, wogegen sich mein Herz sträubt mit aller Gewalt.“

„Sie hat bei Deinem Vater gebettelt für mich?“ fragte er laut und heftig und trat näher zu ihr. „Das ist stark.“

„Sie hat Dich so lieb, Army, und sie wußte ja nicht, daß Du mich – daß der Vater –“ sie sah angstvoll flehend zu ihm auf. „Geh’ nicht fort, Army, geh’ nicht fort – –“

Da stand sie vor ihm, so reizend und einfach in dem kornblumenblauen Wollkleide, die Wimper tief gesenkt in mädchenhafter Verwirrung, die Brust stürmisch wogend vor Angst um ihn, vor Aufregung über den Schritt, den sie gethan; die eine der langen Flechten hatte sich von dem eiligen Laufe gelöst und hing ihr über die Schulter; sie merkte es nicht; sie streckte die zitternden Hände, eng in einander gefaltet, ihm bittend entgegen, und er wagte nicht, diese zu ergreifen.

Das war sie ja, in holdester Gestalt verkörpert: die große, Alles überwindende Liebe eines Frauenherzens, an der er noch eben gezweifelt!

„Sei nicht stolz, Army,“ rang es sich endlich von ihren Lippen, „um Deiner Mutter und – – um meinetwillen. Ich wäre ja elend ein ganzes Leben lang mit dem Bewußtsein, Dich nicht gerettet zu haben. Wir wollen Cameraden sein, gute Cameraden, wie einst, Army – –“

Eine lange Pause trat ein; er hatte das Gesicht abgewandt und sah zu Boden, die Arme fest über einander geschlagen. Sie blickte fragend zu ihm hinüber, nach und nach aber überzog ein dunkles glühendes Roth ihr Gesicht, die verschlungenen Hände lösten sich, und ein paar große Tropfen quollen unter den Wimpern hervor. Ein brennendes Schamgefühl stieg siedend heiß, erstickend in ihrer Brust auf; sie wandte sich und ging zur Thür. Da hörte sie Schritte draußen, eilige, wohlbekannte Schritte. Angstvoll irrten ihre großen Augen im Zimmer umher und hafteten an den seinen; fassungslos blieb sie stehen. „Die Muhme,“ flüsterte sie, „sie kommt, mich zu suchen.“

Aber in demselben Moment stand Army neben ihr und zog sie schützend an sich; verwirrt und angstvoll senkte sich ihr Kopf auf seine Schulter; sie meinte, man müsse den lauten vollen Schlag ihres Herzens hören können; jetzt wurde die Thür geöffnet; unwillkürlich schmiegte sie sich fester an ihn, jeden Augenblick erwartend, eine wohlbekannte Stimme zürnend und vorwurfsvoll reden zu hören. Aber es blieb still; die alte Frauengestalt dort auf der Schwelle stand regungslos, und die Augen ruhten schmerzlich staunend auf dem Bilde vor ihr; dort in dem hohen halbdunklen Gemach gerade unter dem großen Kronleuchter aus Hirschgeweihen, dort stand ein junges Paar; er hatte den Arm um die schlanke Gestalt gelegt; er hielt sie an sich gepreßt und sah finster zu der alten Frau hinüber, als sei er böse auf die Störerin; so standen die Beiden, ein Bild des süßesten Glückes.

„Also doch! also doch! Gegen die Liebe und den Tod, da ist kein Kraut gewachsen.“ Sie hatte es geahnt, als Lieschen so eilig das Haus verließ; sie war ihr nachgeeilt, aber wer kann noch mit fünfundsechszig Jahren laufen wie ein junges leichtfüßiges Ding, und sie kam zu spät! zu spät! Das arme Kind war mit offenen Armen in sein Unglück gerannt.

„Lieschen!“ rief sie vorwurfsvoll.

Und da blickte sie auf und machte sich los aus seinen Armen.

„Ach, schilt nicht,“ bat sie leise, „ich konnte nicht anders, Muhme,“ und streckte ihr die Hände entgegen. Sie versuchte dabei zu lächeln, aber es ging nicht – die Thränen drängten sich ihr mit aller Gewalt in die Augen; fast leidenschaftlich schlang sie die Arme um den Hals der alten Frau, und unter Schluchzen rangen sich wieder die Worte von ihren Lippen: „Ich konnte ja nicht anders, Muhme – ich konnte ja nicht anders.“



16.

Der folgende Tag brachte schlechtes Wetter; es thaute, und die leuchtende Schneedecke war plötzlich verschwunden; die nassen braunen Aeste streckten sich kahl gegen den grauen Himmel, und dazu stürmte und toste es an der Luft; die Ellern am Mühlbach schwankten und bogen sich im Winde.

Auf der Mühle herrschte eine gedrückte Stimmung; die Mädchen in der Küche sprachen leise mit einander, und der Kutscher, der sich hinzu geschlichen, kratzte sich ein paar Mal mit vielsagender Miene hinter den Ohren. Aus der Wohnstube drang des Hausherrn Stimme bis hier herüber. Der junge Baron war da. Gestern war er schon einmal da gewesen, und Lieschen sah seit gestern so blaß aus wie der Kalk an der Wand. Da mußte Etwas nicht richtig sein; das war ja sonnenklar, und die Muhme machte auch ein Gesicht wie der pure Essig – und nun gar der Herr!

Jetzt klappte die Thür der Wohnstube, und die Muhme schritt über den Flur die Treppe hinauf, wie Dörte bemerkte, die an dem Thürspalt lugte.

„Paß auf, Mine, unser Fräulein hat’s durchgesetzt,“ flüsterte sie, „die Muhme holt sie herunter; na – im Grunde, warum denn nicht? Er ist ein hübscher Mann und ein Vornehmer, und gut waren sie sich ja schon, als er noch als Cadettentsoldat auf Urlaub kam.“

Peter fuhr wieder mit der Hand hinter die Ohren.

„Na, denn man zu!“ meinte er, „wenn ich der Herr wäre, ich sagte Nee! von wegen der Alten auf dem Schlosse.“

Pst!“ wisperte Dörte, „wahrhaftig, sie kommt die Treppe herunter; jetzt gehen sie in’s Wohnzimmer, Juchhe! ein Verlobungsschmaus – das wird eine Lust.“

Im nächsten Moment stand sie aber schon wieder am Küchentisch bei ihren Tellern und Tassen, denn die Muhme näherte sich der Küche, und gleich darauf trat sie ein. Das alte Gesicht hatte einen sorgenvollen Zug, und die Augen sahen aus, als hätten sie recht inbrünstig geweint; so dachten wenigstens die Mädchen. Sie stand wie in Gedanken verloren, dann hakte sie das Schlüsselbund von der Schürze und schritt zur Speisekammer.

„Gläser, Dörte!“ befahl sie, als sie mit einigen Flaschen Wein wieder heraustrat, „und binde Dir eine weiße Schürze vor, wenn Du sie hineinbringst!“

Sie stellte die Flaschen auf den Küchentisch und ging, sich über die Augen wischend, wieder hinaus.

„Mein Gott!“ rief das Mädchen, als sie aus der Wohnstube zurückkehrte und das leere Präsentirbrett heftig auf den Tisch setzte, „das soll eine Verlobung sein? Die ganze Gesellschaft macht ein Gesicht wie bei einem Leichenschmaus; der Herr beißt sich auf die Lippen, als wollt’ er sich das Weinen verjagen, die Frau weint, wie wenn das Liesel gestorben wär’, und die Muhme dazu; der Herr Baron steht neben unserm Fräulein wie ein Stock, richtig wie ein Stock; ich sah gerade, wie er ihr die Hand küßte, als ob nicht zu einer Verlobung ein richtiger ordentlicher [840] Kuß gehörte, und unser Liesel sieht aus – daß Gott erbarm, wenn das eine glückliche Braut sein soll!“

Nach ungefähr einer halben Stunde schritt ein junges Brautpaar über die Schwelle des alten Hauses; am Fenster stand die Muhme und schaute ihnen nach, und unter der Linde wandte sich ein blasses Gesichtchen noch einmal zurück zu den Fenstern; es lag nichts von einem strahlenden süßen Glück darin, nichts von der verschämten knospenhaften Wonne einer jungen kindlichen Braut; um den Mund spielte ein schmerzlicher herber Zug, und die Augen blickten unter den langen Wimpern hervor wie im tiefsten Weh. Der Bräutigam hatte ihren Arm genommen und in den seinen gelegt; so schritten sie vorwärts, und der Schleier des Pelzmützchens, das die Braut trug, wirbelte im Winde hoch auf. Keines von Beiden sprach ein Wort. Da waren sie wieder an der alten Linde; die Hand des jungen Mädchens zuckte leise, und eine dunkle Röthe flog einen Moment über ihr Gesicht.

„Du bist müde, Lieschen? Ich ging zu rasch.“

„O nein, aber ich – ich fürchte mich so vor Deiner Großmutter.“

Er biß sich auf die Lippen, aber blieb stumm; war er doch selbst in keineswegs angenehmer Spannung, und er kannte seine Großmutter genug, um zu wissen, daß sie zu einer rücksichtslosen Handlung fähig sei. Wieder schritten sie vorwärts, und nun bogen sie in die Lindenallee ein; der Wind heulte durch die lange Baumreihe und schlug die Aeste prasselnd zusammen; das hohe Portal mit seinen alten Sandsteinbären schaute feucht und dunkel drein. Unwillkürlich schweiften Lieschen’s Augen über das Thor.

„Was heißt das?“ fragte sie plötzlich und deutete auf den Wappenspruch.

Nunquam retrorsum! Niemals zurück!“ erwiderte er.

„Das ist gut,“ sagte sie, tief Athem schöpfend; dann beschleunigte sie ihren Schritt.

Und nun standen sie vor dem Thurmpförtchen; einen Augenblick kam es wie Schwäche über sie. „Werde ich es ertragen, wenn sie mich beleidigt?“ fragte sie sich, und eine namenlose Angst vor der stolzen Großmutter quoll erstickend in ihrer Brust auf; es war als müsse sich der Fuß wenden, als müsse sie noch fliehen, noch – ehe es zu spät war; sie kam sich so hülflos vor, so ohne Schutz; denn er, er liebte sie ja nicht.

„Lieschen!“ jubelte da eine helle Stimme, und in Thränen ausbrechend schlang Nelly die Arme um ihren Hals. „Lieschen! Schwester Lieschen!“

Sie duldete die Küsse; es flog wie ein flüchtiger Sonnenstrahl über ihr Gesicht, und dort oben, auf der Schwelle der alten traulichen Wohnstube breiteten sich ein Paar Arme nach ihr aus und umschlossen sie fest und fester, und einige Liebesworte tönten in ihr Wort.

„Meine liebe Mutter,“ flüsterte sie und beugte sich auf die schmale Hand, „ich will Dir gewiß immer eine gehorsame Tochter sein und – und dem Army eine treue Frau.“ Das Letzte klang stockend und leise.

„Du verzeihst einen Augenblick, Lieschen; ich will Großmama unseren Besuch anmelden lassen,“ sagte Army.

Sie neigte bejahend den Kopf, und er ging, um gleich darauf schweigend zurückzukehren. Das Herz pochte ihr stürmisch; unwillkürlich faltete sie die Hände, während sie in jähem Wechsel erröthete und bleich wurde, und mit einem Male stand Alles, was die stolze alte Frau ihr angethan, wie mit Flammenschrift vor ihrer Seele, und dann tauchte ein holdes Bild vor ihren Augen auf – Großtante Lisett und ein frühes Grab auf dem Kirchhof da drüben.

„Die Frau Baronin bedauern; sie haben Kopfschmerzen heute und können Niemand annehmen,“ schreckte Sanna’s Stimme das junge Mädchen aus ihren fieberhaften Gedankengängen.

„So lasse ich bitten, mir für morgen eine Stunde zu bestimmen, wann ich mit meiner Braut einen Besuch machen darf.“ Das klang scheinbar ruhig, und doch blitzten Army’s Augen drohend zu dem alten Mädchen hinüber, deren Blick beinahe gehässig auf der jungen Braut ruhte. Diese hatte sich unwillkürlich höher aufgerichtet; Nelly ergriff ihre Hand und streichelte leise ihre Wangen.

„Mama,“ begann Army und nahm in dem Sessel neben seiner Braut Platz, „mein Schwiegervater läßt Dich um eine Unterredung bitten, und es wäre sehr liebenswürdig von Dir, wenn Du heute Abend mit Nelly zur Mühle kämst, um gemeinschaftlich unsere –“

„Gewiß, Army, gewiß! Ich wäre so wie so heute noch mit Nelly gekommen, vorausgesetzt, daß das Wetter es erlaubt.“

„Die Frau Baronin können durchaus keine Zeit bestimmen, lassen aber den Herrn Lieutenant heute Abend auf einen Augenblick zu sich bitten,“ lautete der Bescheid, den die zurückkehrende alte Dienerin jetzt überbrachte.

„Es thut mir leid, Sanna, ich bin heute Abend begreiflicher Weise nicht disponibel, da wir unten in der Mühle unsere Verlobung feiern – hörst Du, Sanna, in der Mühle unten! Es thäte mir ferner leid, Sanna, daß die Frau Baronin Kopfschmerzen hat und wir somit ihrer Gegenwart bei der Feier entbehren müssen; im Uebrigen lassen wir – das Brautpaar – uns empfehlen und gute Besserung wünschen.“

Si, Signor!“ zischte die Alte und verschwand.

Es blieb still; Army schritt im Zimmer auf und ab; seine Mutter hatte das junge Mädchen neben sich auf’s Sopha gezogen und hielt ihre Hände fest in den ihren. Ach großer Gott! Es war doch furchtbar schwer – das Bewußtsein ihrer drückenden Stellung überkam sie plötzlich mit der ganzen Wucht; sie meinte erliegen zu müssen, wenn der Vater erführe, daß die Großmutter ihres Bräutigams sie nicht einmal hatte sehen wollen, und nun gar die Muhme! Doch sie hatte es nicht besser gewollt; sie würde nie klagen, hatte sie versprochen. Ja, wenn er sie wenigstens lieb hätte, dann – –

„Ich muß nach Hause,“ sagte sie aufstehend; es war ihr zum Ersticken schwül zu Muthe.

„Warum so eilig?“ fragte Army.

„Ich – ich möchte zu Hause Bescheid sagen, daß Mama und Nelly kommen,“ stammelte sie. Er nahm seine Mütze.

„Bleib’ doch noch hier!“ bat sie ängstlich, „ich kann ganz gut allein gehen; komm doch nachher mit Deiner Mutter!“

Er zuckte ungeduldig die Schultern. „Adieu Mama, auf Wiedersehen, adieu Nelly!“ rief er, während Lieschen, den Schleier vornehmend, mit abgewendetem Gesicht ihnen die Hand reichte.

Draußen toste noch immer das Wetter, und wieder gingen sie schweigend neben einander.

„Du bist zu leicht angezogen,“ sagte Army und nahm den Mantel ab, um ihn ihr über die Schultern zu hängen.

„Nein, mich friert gar nicht – ich danke wirklich.“ Er hing den Mantel über den Arm und schritt neben ihr weiter.

„Der Weg ist beinahe grundlos,“ begann er nach einer Weile, „wir müssen übrigens gleich an die Stelle kommen, wo der Mühlbach etwas übergetreten ist – warte! Da sind wir schon; ich möchte sehen, ob nicht ein Pfad dort drüben durch das Gebüsch führt.“

Sie sah in der graue Dämmerung seine schlanke Gestalt, die suchend jenseits des Weges ging; dann kam er zurück.

„Es geht nicht; das Wasser steht zu beiden Seiten beinahe schuhtief; ich trage Dich hinüber.“

„Nein,“ rief sie zurücktretend, „nimmermehr!“

„Warum nicht?“

„Weil ich nicht will, daß Du Dich um meinetwillen im Geringsten bemühst; mir schaden nasse Füße nichts, gewiß nicht; wir sind ja gleich zu Hause.“

Er antwortete nicht, und die Dunkelheit verbarg seine aufflammende Röthe, sie fühlte sich aber gleich darauf von starken Armen emporgehoben und hinübergetragen.

„Du mußt mir das schon zu Gute halten,“ klang es kühl und bitter in ihr Ohr, als sie wieder auf festem Boden stand. „Eine Dame kann unmöglich diese Stelle ohne Hülfe passiren.“

Der Rest des Weges wurde schweigend zurückgelegt. Als sie in den Hausflur traten, lugten die neugierigen Gesichter der Mädchen aus der Küche, und die Muhme kam ihnen entgegen. „Ist das ein Wetter!“ meinte sie freundlich und öffnete ihnen die Thür zur Wohnstube.

„Guten Abend, Muhme,“ sagte Army und faßte nach ihrer Hand, aber die alte Frau zog sie merkwürdig eilig zurück.

„Gehen Sie immer hinein, Herr Baron!“ bedeutete sie kühl. „Lieschen kommt schon nach; ich hab’ ihr erst noch etwas zu sagen, und Sie werden ja noch so mancherlei mit Ihrem Herrn Schwiegervater zu besprechen haben.“ Sie zog das junge Mädchen an der Hand fort in ihr Stübchen.

[841]

Ein Weihnachtsfest Fritz Reuter’s.
Scene aus: „Woans ick tau’ne Fru kamm“.
Dem Blatte C. Beckmann’s in der „Fritz-Reuter-Gallerie“ nachgeschnitten.

[842] „Wir bekommen Besuch, Muhme,“ sagte diese; „Peter soll Army’s Mutter und die Nelly mit dem Wagen abholen.“

„Schön werd’ es bestellen.“

Die alte Frau ging hinaus, und als sie wieder eintrat, fiel der flackernde Scheiu der Lampe, die sie trug, auf ein ganz verweintes Gesicht, das vorhin die Dämmerung verdeckt hatte.

„Du hast geweint, Muhme?“ fragte Lieschen und beugte sich zu ihr hinunter.

„Nun ja, Kind, das kommt so – laß’ nur! Ich wollte Dir heute Abend ein paar Worte sagen, weil doch Dein Verlobungstag ist.“ Sie stellte die Lampe auf den Tisch und trat zu dem jungen Mädchen. „Sieh, Lieschen, ich hab’ immer gemeint, er würde einmal fröhlicher werden, dieser Tag, und hab’ gemeint, Du würdest einmal eine weniger blasse Braut sein. Es ist Dein Wille, Kind, Du sagst ja auch, Du bist glücklich, und hast den Eltern die Einwilligung auf den Knieen abgebettelt, aber mich, Lieschen, mich konntest Du nicht täuschen; ich weiß es ganz genau, wie es in dem armen kleinen Herzen da aussieht, und das thut mir so jammervoll weh; ich könnte schier vergehen vor Herzeleid.“

Sie wandte sich um, ging zur Kommode, zupfte die Decke zurecht und schob die Kasten auf und zu, und dabei liefen ihr die Thränen aus den Augen und fielen auf die alten Hände; Lieschen stand noch schweigend mitten im Zimmer.

„Daß Du so still bist, Kind, und so starr,“ sagte die Alte und trocknete sich die Augen, „das kann mich so angst machen; sprich doch, mein Herzel! Es wird Dir leichter darnach.“

„Was soll ich denn reden, Muhme? Ich habe ja nichts, wovon ich gern sprechen möchte,“ erwiderte sie.

„Komm einmal her zu mir, Liesel!“ bat die alte Frau, „versprich mir eins! Wenn er jemals vergessen sollte, was Du für ihn gethan, wenn er jemals unfreundlich zu Dir ist und ich lebe noch, Kind, dann komme zu mir! Dann werde ich mit ihm reden, und zum zweiten Male versucht er es nicht.“

Sie lächelte nur. „Aengstige Dich doch nicht, Muhme!“

„Und die alte Baronin, Kind, hast Du sie gesprochen?“

„Nein, Muhme, ich glaube, sie will mich nicht sehen.“

Die alte Frau fuhr heftig auf, und ihr gutes Gesicht sah einen Augenblick unbeschreiblich bitter aus; sie hatte eine derbe Rede auf den Lippen, aber ein Blick auf das bleiche Mädchen vor ihr ließ sie verstummen. „Lieber Gott!“ murmelte sie nur, „und das Alles, ohne Liebe!“ Und wieder füllten sich ihr die Augen mit Thränen.

Draußen fuhr eben der Wagen dröhnend über die Brücke, der die Damen von dem Schlosse holen sollte, zu gleicher Zeit aber wurde auch die Hausthür geöffnet; lautes Sprechen erschallte, und dann Dörte’s bedauerlicher Ausruf:

„Ach du lieber Gott! Ach Jesses!“

„Das war doch der alte Thomas aus der Pfarre,“ sagte die Muhme und öffnete die Thür. Richtig, da stand der alte krumme Mann, und die Mütze, die er in der Hand hielt, triefte vom Regen, und Dörte rief der Muhme entgegen:

„Ach hören Sie doch nur, das Karlchen von Pastors ist gestorben, vorhin; ach Gott, wie mir das doch leid thut!“

„Der Karl?“ fragte Lieschen und stand plötzlich neben dem alten Boten, „der Karl?“

„Ja, Fräulein, um sechs Uhr ist er eingeschlafen; ach, Fräulein Liesel, die arme Mutter und der Vater! Es war so ein prächtiger Junge; Gott, ist das ein Jammer da unten! Sie glauben’s gar nicht.“

Das junge Mädchen war noch in Mantel und Hütchen. Ohne sich zu besinnen, schritt sie der Hausthür zu.

„Wo willst Du hin, Kind? Kind, bei diesem Wetter!“

„Ich gehe zu Onkel Pastor, Muhme, laß mich – bitte!“

Und schon stand sie wieder in dem tosenden Wetter und kämpfte gegen den Wind, um vorwärts zu kommen. Die Rufe der alten Frau verhallten im Sturme, und über ihr bogen sich die Zweige der Erlen am rauschenden Mühlbache in wildem Kampfe. Da kam ihr ein Wagen entgegen; sie trat zur Seite und ließ ihn vorüber, und dann setzte sie desto rascher den Weg fort. Ihr schien es eine Wohlthat, dieses tobende Wetter; es war ja eine Qual, im geschützten Zimmer zu sitzen neben ihm; es sah aus wie ein Bild des süßesten Glückes, und es war doch kein Schatten davon; er liebte sie nicht; er hatte sie nur ihres Geldes wegen begehrt. Das Gefühl freudiger Aufopferung, mit der sie ihm ihre Hand geboten, verschwand vor dem Demüthigenden, was sie erlitten, und er selbst, der das Opfer angenommen hatte, was that er, nur die Demüthigungen zu versüßen? War es denn so schwer, ihr guter Camerad zu sein?

Wie wild die alte Linde ihre Aeste schüttelte, und wie rasch die Wolken dahin jagten am dunklen Himmel! Und dort unten im Dorfe, im Pfarrhause, da wurden Thränen geweint, bittere, heiße Thränen – wer doch auch weinen könnte! Aber sie wollte nicht, sie wollte ja nicht, daß die Leute sie so mitleidig ansähen, Vater und Mutter und gar die Muhme, selbst Dörte und Mine – nein, das war schrecklich, das konnte sie nicht ertragen.

Tönten da nicht eilige Schritte hinter ihr? Ja, und jetzt der Ruf „Lieschen! Lieschen!“ Sie stand still, das war ja seine Stimme, wenn sie jetzt ihm entgegen gehen, sich an seinen Arm hängen könnte, wenn er sagte: „Ich habe mich um Dich geängstigt, deshalb komme ich,“ aber nein, gewiß hatte ihn der Vater nachgeschickt, oder er wäre vielleicht Jeder gefolgt, er würde in diesem Sturme keine Dame haben allein gehen lassen.

„Aber Lieschen, ich bitte Dich,“ klang jetzt seine Stimme, „wie kannst Du in solchem Wetter ausgehen! Die Eltern ängstigen sich halb todt um Dich; hier ist ein Tuch von der Muhme, und warte, der Wagen muß gleich kommen; ich habe gesagt, daß er unverzüglich nachgeschickt wird. Bist Du noch immer die kleine leichtsinnige Liesel, deren gutes Herz in lichtlohen Flammen steht bei fremdem Unglücke?“ fragte er, ihr das Tuch umwerfend.

Sie lächelte bitter. „Pastors sind keine Fremden für mich; sie gehören ja wie zu unserer Familie.“

Er erwiderte nichts auf den harten Ton, und jetzt kam auch schon der Wagen heran und hielt dicht vor ihnen.

„Darf ich Dich begleiten?“ fragte er, ihr beim Einsteigen helfend, „oder ziehst Du es vor allein zu fahren?“

Sie wollte das Letztere bejahen, aber dann fiel ihr Blick auf ihn; er war nur im Waffenrock ohne Paletot.

„Ich will nicht, daß Du Dich meinetwegen erkältest,“ sagte sie tonlos, „bitte, nimm Platz!“

Nach kurzer Fahrt hielt der Wagen; Lieschen stieg allein aus und trat in die Pfarre; es war dunkel im Flur und still rings umher; sie tappte sich zur Thür der Wohnstube und klopfte. Fast unheimlich laut hallte es wieder, aber kein freundliches Herein! ertönte. Ein unerklärliches Bangen überkam sie hier im Hause des Todes, aber muthig tastete sie sich vorwärts. Da war die Treppe und jetzt, hier oben rechts, das Studirstübchen; leise klopfte sie; wieder keine Antwort, aber durch den Spalt schimmerte Licht – sie öffnete die Thür und lugte hinein; da saß der Onkel Pastor am Tische, das Gesicht in den Händen geborgen, und vor ihm lag die aufgeschlagene Bibel.

„Onkel Pastor! Onkel Pastor!“ rief sie aufschluchzend und barg den Kopf an seiner Schulter.

„Liesel, Du gutes Kind! Ja, es ist schwer über uns gekommen,“ sagte er ernst und strich ihr über die feuchten braunen Flechten, „und Du bist in dem Wetter hergegangen? Wie gut das von Dir ist! Nicht wahr – unser Karl. Lieschen, unser hübscher wilder Junge – o, es ist schwer, nicht zu murren gegen Gott. Meine arme Rosine! Er war ja ihr ganzer Stolz.“

„Ach Onkel, Onkel!“ schluchzte sie in heißem Schmerz, „wie ist das Leben doch so traurig, so schwer!“

„Du hättest nicht kommen sollen, gutes Kind,“ flüsterte es an des Mädchens Ohr, und die kleine Frau mit den nassen, gerötheten Augen, die eingetreten war, hob ihr den Kopf auf und küßte sie. „Es regt Dich auf, und Du könntest krank werden.“

„Soll ich den Karl nicht noch einmal sehen? Bitte, Tante!“ sagte sie noch immer schluchzend.

Und nebenan in der Kammer, da lag ein blasses Knabengesicht in den schneeweißen Kissen; leise trat sie hinzu und sah in die lieben wohlbekannten Züge – wie oft hatte der Mund da „Tante Lieschen“ zu ihr gesagt, wie oft hatten die großen Augen sie lachend angeschaut, und nun so still, so stumm! Die kleine Frau preßte wieder das Gesicht in die Kissen des Bettchens, und der Vater stand auf der anderen Seite und schaute auf das, was ihm noch geblieben von seinen stolzesten Zukunftsträumen. Lieschens Thränen aber hörten auf zu fließen; es webte so ein wundervoller Friede um des Kindes Antlitz vor ihr – wie schön mußte es sein, so süß zu schlafen, mit solch glücklichem Lächeln, ohne das Weh des Lebens erfahren zu haben!

[843] „Weine nicht, Tante! Er schläft so ruhig; er sieht so glücklich aus.“ Dann wandte sie sich langsam zum Gehen.

Im Stübchen blieb sie stehen. „Onkel,“ sagte sie leise und legte die kleine Hand auf seinen Arm, „darf ich Dir wohl in dieser Stunde mit einer Frage kommen?“

„Zu jeder Zeit, auch jetzt, mein Lieschen! Ahne ich recht, wenn ich meine, es handelt sich um Dich und Army? Es ist mir heute etwas davon zu Ohren gekommen.“

„Ja, Onkel, und ich kann nicht so fortgehen, ohne daß Du mir gesagt hast, wie ich handeln muß.“ Sie setzte sich auf das kleine Sopha. „Der Vater verweigerte sein Jawort,“ fuhr sie fort, „und die Muhme sagte, die Verbindung mit Army sei mein Unglück, Onkel, weil er nicht an mich, weil er nur an mein Geld dabei denke, und der Vater rief meinen Mädchenstolz an. – Zuerst fügte ich mich ihm; es war ein so furchtbares Gefühl das zu erfahren, ich wollte auch stark sein, Onkel, aber dann – dann kam seine Mutter und jammerte, er wolle fort nach Amerika, und da, Onkel, da trieb es mich hin zu ihm, und ich bat ihn, nicht fortzugehen; ich war halb wahnsinnig vor Angst und Schmerz. Er sollte mich doch als guten Cameraden betrachten, habe ich ihm gesagt. Und dann hat der Vater eingewilligt, weil ich ihn so sehr bat; auf den Knieen habe ich gelegen, Onkel – ich wäre ja gestorben, hätte Army fortgemußt nach Amerika, und ich hätte nicht Alles versucht ihn zu retten; Army weiß nicht einmal, welche Kämpfe es gekostet hat. Und jetzt wird es mir so namenlos schwer, wenn ich neben ihm stehe; bei jedem Schritt an seiner Seite thut mir das Herz weh, und da regt sich der Stolz in mir, daß ich zwar seine Braut bin, aber die ungeliebte. Ach, Onkel, ich bin so unglücklich!“

Sie brach in Thränen aus und barg den Kopf in die Kissen des Sophas.

„Liebes Kind,“ sagte der geistliche Herr und streichelte ihr leise über das volle Haar, indem er sich neben sie setzte und ihre Hand ergriff, „mir fällt da ein Sprüchlein aus dem Stammbuch meiner Rosine ein; ihre alte Großmutter schrieb es ihr hinein, da sie, ein junges Mädchen, aus dem Vaterhause ging, um in der Fremde als Erzieherin ihren Lebensunterhalt zu erwerben. ‚Wenn Du einmal im Zwiespalt bist mit Deinen Gefühlen, mein geliebtes Kind, und Gekränktsein und verletzte Eitelkeit kämpfen mit der Neigung zum Verzeihen, zum Lieben, dann laß die Liebe triumphiren, selbst um den Preis gedemüthigt zu erscheinen! Das Herrlichste, das Schönste, was eine Frau zu thun vermag, ist zu lieben, immer zu lieben, ob ihr gleich weh geschah.‘ Habe Geduld, Kind!“ fügte er hinzu, als das Mädchen ihn mit thränenerfüllten Augen anblickte, „er hat erst eben eine bittere Enttäuschung erlebt, und das Bewußtsein einen Schritt zu thun, der von keiner Seite zu seinen Gunsten ausgelegt werden wird, mag Marterndes genug für ihn haben. Er wird das überwinden, Dir dankbar sein, daß Du ihn vor Schande und Noth gerettet hast, und eines Tages entdeckst Du ein Fünkchen von Liebe für Dich in seinem Herzen, das, mit Demuth und Schonung, mit nimmermüdem Freundlichsein gehegt und gepflegt, dereinst noch zur hellen Flamme auflodert. Aber hüte Dich, daß Du den schwachen Funken nicht erstickst durch Empfindlichkeit, gehe mit ihm um wie mit einem kranken Kinde!“

Lieschen war aufgestanden.

„Ich danke Dir, Onkel,“ sagte sie leise, „und nicht wahr, Du beruhigst auch die Eltern, daß ich noch glücklich werden kann, und die Muhme? Ich will freundlich zu Army sein und nachsichtig, und will meine Empfindlichkeit bekämpfen. Ach, wenn nur der Vater mir und dem Army nicht böse sein wollte! Er ist so finster und so trübe!“

„Es ist schwer für ihn, Kind, die Sorge fahren zu lassen; Du bist seine einzige Tochter, und Du trittst in so verwickelte Verhältnisse, in eine ganz andere Sphäre. Mach’ ihm keinen Vorwurf, wenn er die Stirn in Falten zieht, und ebenso wenig der Muhme! Die alte Frau hat Dich so lieb. Sie werden wieder heiter blicken, wenn sie Dich zufrieden sehen an Army’s Seite, und das liegt in Deiner Hand – Du liebst ihn, und Du weißt: die Liebe duldet Alles; sie erträgt Alles, und sie hoffet Alles –“

„Das ist das rechte Wort, Onkel,“ sagte sie mit aufleuchtendem Blick und reichte ihm die Hand; „ich will es wahr machen jetzt, Leb’ wohl, Onkel! Ich komme morgen wieder, und – – ach, lieber, lieber Onkel, dem Karl ist soviel Schmerz erspart geblieben!“

Draußen vor dem Wagenschlag stand Army; er half ihr einsteigen und nahm neben ihr Platz. Wieder fuhren sie schweigend in die Nacht hinaus.

„Army,“ sagte sie plötzlich und legte ihre Hand auf seine Schulter, „ich war wohl verstimmt und unfreundlich? Verzeihe mir – ich komme eben aus einem Sterbehause –“

Er nahm ihre Hand in die seine und wandte sich zu ihr.

„Ich habe eine Bitte an Dich,“ fuhr sie fort, ehe er antworten konnte, „Du weißt, mein Vater gab nur schweren Herzens die Einwilligung zu unserer Verbindung. Verzeih’ ihm, Army! Ich bin ja sein einziges Kind – hilf mir die Wolken von seiner Stirn verscheuchen! Thu’ ein wenig, als ob Du mich lieb hättest, und laß ihn glauben, daß Du glücklich wärst! Ich will es auch – ich bin es ja auch,“ setzte sie leise hinzu.

Er antwortete nicht.

„Willst Du, Army?“ fragte sie zögernd.

Schon rollte der Wagen über die Mühlenbrücke und an dem Geschäftshause vorbei; er fuhr um die kahlen Linden und hielt jetzt vor der Hausthür. Army hielt den Kopf abgewandt und blickte zum Fenster hinaus. Die Dörte mit der Laterne kam eben aus der Thür und riß den Wagenschlag auf; er sprang hinaus und bot Lieschen die Hand zum Aussteigen; es lag ein Zug tiefster Rührung auf seinem Gesichte. – So thun sollte er, als ob er sie liebte! Und wenn er ihr jetzt sagte: „Mein Herz schlägt Dir wirklich in warmer Neigung entgegen, Dir, Du Anmuthige mit dem reinen Gemüthe; ich fühle ein Wehen des Friedens in Deiner Nähe, das mir die Wunden einer unruhigen und unseligen Leidenschaft mit sanftem Hauche kühlt,“ – würde sie es glauben? Das war ja eben das Elend – er hatte ihr Vertrauen verloren –

Er sah zu ihr auf – er wollte ihr antworten: was? Ja, das wußte er im Augenblicke nicht zu sagen, und da bog sich schon in dem schaukelnden Lichte der Laterne ein reizender Kopf aus dem Wagen; die kleine Pelzmütze saß etwas schief gerückt auf den üppigen braunen Flechten, das feine Gesicht war noch geröthet vom Weinen, doch lag ein leises verschämtes Lächeln um den blühenden Mund, das zwei reizende Grübchen in den Wangen vertiefte; die Augen aber sahen, wie um Antwort bittend, in die seinen und ließen ihn fast betroffen zurückweichen. Wo hatte er doch solche Augen gesehen? So leidversunken schauten sie ihn an, als suchten sie ein verlorenes Glück. Beinahe stürmisch zog er sie an sich und blickte tief in die trüben Sterne, die immer strahlender wurden –

Der Wagen war fortgefahren, und Dörte lief aus dem Sturme in die schützende Hausflur; es war dunkel um die beiden jungen Menschen da draußen; wieder wollte er sprechen und wieder schlossen sich die Lippen. „Sie würde Dir doch nicht glauben,“ sagte er sich.

Und sie wagte nicht noch einmal zu fragen, als er ihre Hände langsam aus den seinen ließ. „Er will nicht lügen,“ dachte sie und trat über die alte Schwelle; „er will Nichts versprechen, was er nicht halten kann – er liebt mich ja nicht.“ Und das Licht in den strahlenden Augen erlosch wieder, und sie preßte beide Hände auf’s Herz. „Ach, er liebt mich ja nicht!“

(Schluß folgt.)




Weihnachtsfeier in Bethlehem.

Derjenige, welcher schon einmal ein Weihnachtsfest im Auslande, fern von den Seinigen, verlebt hat, wird ermessen können, welche Gedanken und Gefühle mich bewegten, als ich an einem 24. December die Straße zwischen Jerusalem und Bethlehem entlang ritt. Erinnerte doch so gar Nichts an die Heimath, als der unendliche Contrast: zu Hause Schnee und Eis – hier ein wolkenloser blauer Himmel, eine auch in dieser Jahreszeit sengende Sonne; zu Hause Tannenwälder, welche mit ihrem dunklen Grün im Winter erst recht zur Geltung kommen – hier die Höhen unbewaldet, nur einigermaßen von dünn stehenden Olivenbäumen [844] mit ihrem blassen Grün gemustert; zu Hause die Menschen bis an die Ohren in Paletots oder Mäntel gehüllt, eiligst an uns vorüberschießend, um daheim den wärmenden Ofen zu erreichen – hier der Araber mit bis über die Kniee entblößten Beinen, auf einem Esel oder Kameel gemächlich seine Straße ziehend; dort Gesichter voll freudiger Erwartung, voll Lust oder voll Trauer – hier die ewige unerschütterliche Ruhe, thronend auf der Stirn des Orientalen, welcher uns sein eintöniges Marhaba (Willkommen) entgegenruft. Stand ich wirklich vor Weihnachten, dem lieben Fest meiner Jugend? Aber Weihnachten war es doch; ich war ja auf dem Wege nach Bethlehem, um die Feierlichkeiten der Lateiner in der Geburtskirche mit anzusehen, und der Reiz, den dieser Gedanke hatte, entschädigte mich einigermaßen für das, was ich heute sonst vermißte. Freilich versprach ich mir nicht allzu viel von den Eindrücken, die mich erwarteten. Fast ein Jahr im heiligen Lande anwesend, hatte ich schon so manche Feier zur unerfreulichen Carricatur verzerrt gesehen und wußte schon aus den Beschreibungen, die man mir gemacht, daß auch dieses Fest keine Ausnahme bilden würde.

Allmählich war ich dem Ziel meiner Reise näher gekommen; das traditionelle Grab der Rachel, ein Heiligthum der Juden, lag hinter mir, und ich erblickte bereits das malerisch gelegene Bethlehem. Der Anblick der Stadt ist ein durchaus wohlthuender; der sorgfältige terrassenförmige Anbau verräth uns den Fleiß der Bewohner; die vielen Wein- und Baumgärten, die zahlreichen Fruchtfelder bezeugen, daß der Name „Haus des Brodes“, oder, wie es im Arabischen heißt, „Haus des Fleisches“ ein wohlberechtigter sei. Malerisch liegt die Stadt auf zwei Hügeln, einem westlichen und einem östlichen, welche durch eine sattelartige längliche Erhöhung verbunden sind. Auch das Innere ist keineswegs so ärmlich, wie man es, nachdem man bereits andere orientalische Städte kennen gelernt hat, wohl erwarten könnte. Dazu die malerischen engen Straßen, ebenso malerisch belebt von einem Menschenschlag, der durch große schöne Gestalten und durch edle Gesichtsbildung, leider aber auch durch Unsauberkeit sich auszeichnet.

Die Männer in Bethlehem unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Tracht kaum von den übrigen Arabern, desto mehr die Frauen. Das am meisten charakteristische Merkmal in der Kleidung der Letzteren bildet die helmartige Kopfbedeckung, behängt mit allerlei Gold- und Silbermünzen, welche nebst den silbernen Armspangen das ganze Vermögen, aber auch den ganzen Stolz des Bethlehem-Weibes ausmachen. Um diesen Preis ist die Frau ihres Mannes Sclavin und willenloses Werkzeug geworden für ihr ganzes Leben. Daher bewahrt sie auch diesen ihren Schmuck auf das Sorgfältigste; es wurde mir versichert, daß Viele denselben auch während der Nacht nicht ablegen. Die Bethlehemiten, an der Zahl etwa dreitausend, sind fast sämmtlich Christen, meist griechischen oder lateinischen Bekenntnisses, und stehen sehr unter dem Einflusse ihrer Priester. Ich konnte dies deutlich wahrnehmen, als ich den lateinischen Patriarchen von Beitgala, einem benachbarten, meist von Lateinern bewohnten Dorfe, anlangen sah. In Massen drängten sie sich um sein Pferd, um ihm die Hand zu küssen oder auf sonstige Weise ihm eine fast sclavische Verehrung zu bezeigen. Man sagte mir, daß sie sich sehr hüten müßten, es mit ihren Priestern zu verderben, weil sie zum Zwecke des flotteren Verkaufes ihrer Perlmutterwaaren die priesterliche Bescheinigung nöthig haben, daß dieselben wirklich in Bethlehem gefertigt seien.

Mit dem festlichen Einzuge des Patriarchen in die Helena-Kirche nahmen die Weihnachtsfeierlichkeiten ihren Anfang. Der Platz vor der Kirche war gedrängt voll von Geistlichen aller Nationen, von Mönchen, Seminaristen, Pilgern und türkischen Soldaten, welch Letztere bei jedem Fest in Anspruch genommen werden müssen. Die Rechtsverhältnisse zwischen den verschiedenen Confessionen, welche Antheil an den Heiligthümern haben, sind so eigenthümlicher Art, daß es, wie bekannt, schon oft zu Streitigkeiten, ja zu wahren Gräuelscenen an geweihter Stätte gekommen ist.

Nach dem Einzuge wurde eine große Procession zu den Sanctuarien gemacht, an welcher auch der Patriarch Theil nahm. Die eigentlich nächtliche Feier begann erst gegen zehn Uhr. Sie bestand aus drei Theilen, der Matutin, dem feierlichen Hochamte und einer Procession hinab in die Krypta. Die Matutin wie das Hochamt wurden in der den Lateinern gehörigen Katharinen-Kirche abgehalten. Das Hochamt mit dem von wirklich prächtigen Stimmen gesungenen Gloria in excelsis machte einen in der That feierlichen Eindruck. Nur dauerte es etwas zu lange und ermüdete auf die Dauer doch. Entfernen konnte man sich nicht gut, da es unmöglich war, sich aus der dicht gedrängten Menschenmenge einen Weg in’s Freie zu bahnen. Auf der einen Seite kauerten die Weiber am Boden in ihrer eigenthümlichen Tracht und lauschten unverwandt den Gesängen, von denen ihnen kein Wort verständlich war. Die Männer standen umher mit abgenommenem Turban, was mir auffiel, da sonst der Orientale das Gotteshaus mit bedecktem Haupte zu betreten pflegt. Ich selbst hatte mich bei dem häufigen Besuche orientalischer Kirchen so an diese Sitte gewöhnt, daß ich von einem Franziskaner aufgefordert werden mußte, meinen Hut abzunehmen. Dieser Theil der Feier, die fremdartige Umgebung, diese ganze Kirche voll Gestalten in echt biblischer Tracht – Alles das würde nicht verfehlen, einen tiefen Eindruck zu machen, wenn man nicht so viele Unannehmlichkeiten mit in den Kauf nehmen müßte. Der intensive Weihrauchgeruch, das Gedränge, die Hitze machten die Kirche wirklich zu einem Orte der Qual. Als dann endlich das Hochamt zu Ende ging, als auch das feierliche „Incarnatus est“ verklungen war, eilte man so schnell wie möglich hinaus in’s Freie, um vor dem folgenden Schauspiel noch ein wenig frische Luft zu schöpfen. Bald jedoch verkündete ein gedehnter Gesang, daß die Procession bereits ihren Anfang genommen hatte. Eiligst kehrte ich zurück, und zwar in das Querschiff der Helena-Kirche, wo der Haupteingang zur heiligen Grotte sich befindet. Ich kam noch zur rechten Zeit, um den ganzen Zug der Priester und Mönche an mir vorüber passiren zu sehen. Voran schritten, wie bei jeder Procession, die Kawassen der Consulate, die Bischöfe und türkisches Militär – gewiß ein merkwürdiger Gegensatz. Dann folgte der Patriarch von Jerusalem in reicher Kleidung, eine Wachspuppe auf dem Arm. Diese Wachspuppe, das Christuskind vorstellend, bildet nun den Mittelpunkt der ferneren Ceremonien. Der Patriarch, zwar ein Mann von hoher, gebietender Gestalt, verursacht in der etwas weibischen Tracht mit der Puppe auf dem Arm dem europäischen Beschauer ein lächerliches, wenn nicht widriges Gefühl. Und widrig ist auch der ganze fernere Verlauf der Ceremonien, nachdem die Procession in der Krypta angelangt. Ist doch der Raum selber ganz dazu angethan, unliebsame historische Erinnerungen hervorzurufen. Oder kann man bei dem Anblick der den verschiedensten Glaubensbekenntnissen angehörenden Lampen, welche die Grotte erhellen, vergessen, wie oft die früher an deren Stelle hängenden in wildem Fanatismus zerschlagen wurden? Rufen uns nicht die kostbaren Tapeten, welche die Wände bekleiden, in das Gedächtniß zurück, wie oft um das Recht, den heiligen Ort zu schmücken, blutig gestritten wurde, wie oft diese Tapeten selbst von türkischen Händen in Brand gesteckt wurden?

Es würde wenig erquicklich sein, die nun folgenden Ceremonien in ihren Einzelheiten zu beschreiben. An der traditionellen Stelle der Geburt Christi wurde jetzt zunächst das Evangelium, welches die Geburt behandelt, verlesen. Hiernach wurde die Puppe aus den Armen des Patriarchen genommen und unter allerlei Manipulationen an der Geburtsstätte niedergelegt. Nachdem der Diakon dann weiter verlesen, wie Christus in Windeln gewickelt und in die Krippe gelegt worden, wird auch unsere Puppe auf die Stelle der Krippe gelegt. Hier bleibt dieselbe liegen, bis sie am folgenden Tage durch eine ältere Alltagspuppe ersetzt wird. Dies bildet den Schluß der eigentlichen Weihnachtsfeierlichkeiten zu Bethlehem. Es folgen nur noch die endlosen Messen, welche in der Grotte celebrirt werden und sich oft bis zum Nachmittag des bereits angebrochenen Tages ausdehnen.

Auf die Araber schien das Ganze einen tiefen Eindruck zu machen, ich aber fühlte mich durch das bunte, farben- und gestaltenreiche Treiben dieser Weihnachtsfeier mehr beunruhigt und aufgeregt, als gehoben und innerlich befriedigt, und als ich mich auf’s Pferd warf, um nach Jerusalem zurückzukehren, und dem Thier kräftig die Sporen gab, da konnt’ ich die Bilder der Heimath nicht bannen, die sich mir, weihnachtlich und feierlich, mit ihrem ganzen Zauber deutscher Gemüthsinnigkeit aufdrängten: in Stuben und Stübchen flimmernde Tannenbäume und lustige, fröhliche Kindergesichter unter den schattenden Zweigen; draußen, auf schneebedeckten Gassen und Märkten, lautlose Stille und heiliger Friede, den kein Menschentritt stört; über Allem aber in den Lüften hallender Glockenklang und das heimliche Wehen der Winternacht.

A. H.
[845]
Ein bekehrter Poet.

Im Schiller-Hofe zu Meran lebt seit mehreren Jahren im ausschließlichen Verkehre mit seiner Muse ein deutscher Dichter. Es gebricht ihm weder an äußeren Glücksgütern noch an innerer Sammlung; nur bisweilen gemahnt ihn ein tückisches Körperleiden an menschliche Unzulänglichkeit. Bevor ich ihn persönlich kannte, lebte er in meiner Vorstellung als ein blasser, blonder, schmalschulteriger Mann mit verschwimmenden blauen Augen und weich modellirtem Gesichte. Da begegnete ich ihm eines Tages, und ich traute meinen Blicken kaum, als man mir sagte, es sei Oscar von Redwitz, der Dichter der „Amaranth“, der da vor mir stehe. Groß und breischulterig, mit dunkel gefärbtem Antlitze, auf dem eine Schmarre glänzte, schwarzen Haares und dunkeläugig – schier wie ein Südländer war er anzuschauen. Unwillkürlich fragte ich mich im Stillen, was diese männliche Gestalt mit dem Walther in der „Amaranth“, mit süßlich-frommem Versgeklingel, mit tausend unnatürlichen Gefühlszierereien und dogmatischen Visionen zu schaffen habe, und herb überkam mich die Erinnerung an Hamlet’s grausames Wort: „Gott gab euch ein Gesicht, und ihr macht euch ein anderes.“ Aber schnell siegte in mir die Zuversicht, daß hier noch nicht das letzte Wort gesprochen sein könne, ja daß einst zur freudigen Ueberraschung Aller, welche von der „Amaranth“ sich mit Recht abgewendet hatten, aus dieser Mannesseele ein Bekenntniß hervordringen werde, tapfer und wahrhaftig, wie etwa David Friedrich Strauß ein solches zuletzt in seinem „Alten und neuen Glauben“ abgelegt hat.

Und ich habe mich nicht getäuscht, denn das jüngste Gedicht Oscar von Redwitz’, „Odilo“ mit Namen, ist eine befreiende That, befreiend nicht blos für ihn, sondern für Alle, welche es lesen. Versunken und zerronnen ist der Nebel dogmatischer Gläubigkeit, der über der „Amaranth“ lagerte, und was schon in dem „Lied vom neuen Reich“ aufklang wie jubelnder Sieg der vaterländischen Gesinnung über unheimliches Gespinnst einer fremden feindseligen Ascese, das ist diesmal zu einem Hohenliede der Menschlichkeit, schlechthin zu einem Hymnus auf die welterlösende Liebe geworden, die mehr bedeutet, als aller Buchstabenwust und despotische Formelkram.

Wie er war, zu weiland „Amaranth’s“ Zeiten, das weiß Redwitz vielleicht selbst nicht mehr. Darum sei ihm die Selbsttäuschung nicht angerechnet, welche in Gestalt eines poetischen Vorwortes seinen „Odilo“ einleitet. Da heißt es:

Als Zwanziger ich einst die „Amaranth“,
Den „Odilo“ ich jetzt als Fünfz’ger schrieb.
Und hab’ ich auch zu diesem zweiten Lied
Mein Harfenspiel wohl vielfach neu bespannt,
Bleibt doch mein erstes mir noch gleichfalls lieb.
Denn trotz der beiden Lieder Unterschied
Sind innerlich sie dennoch tief verwandt,
Und auch ich selbst mir darin treu verblieb,
Der ich in beiden, wie mein Herz mich trieb,
Mein inn’res Leben gleich getreu bekannt.

Verwandt? Nun ja, verwandt in der Form, die auch in jenem Liede vom römischen Dogma feinhörige Ohren schon entzückte. Aber im Geiste? O nein, denn verworfen wird hier, was dort gepriesen; im „Odilo“ siegt die Liebe über den Wahn; in der „Amaranth“ herrschte der Wahn über die Liebe.

Es ist wohlfeil, rückwärtsschauend zu enthüllen, was war und nicht mehr ist. Es waren die finsteren Tage der Umkehr, als Oscar von Redwitz mit seiner „Amaranth“ unter die Leute kam, der Umkehr in Wissenschaft, in Glauben, in Politik und Poesie. Und wie die anderen sie in Leitartikeln und gelehrten Büchern predigten, so verkündigte er sie in Rhythmus und Reim. Das löscht kein Vorwort aus, und wäre es noch so wohlgemeint. Weshalb hätten sie ihn sonst auch stracks nach Wien berufen, den kaum zum Manne Erwachsenen, auf daß er als Professor lehre, was er als Poet gesungen? Nach Wien, wo auch so mancher Andere eingefangen worden in die Netze tödtlicher religiöser Mystik, der wilde Zacharias Werner ebenso wie der arme weichgefügte Hippolyt Schauffert! Daß er den argen Vogelfängern entschlüpft ist und den Weg zum reinen Aether emporgefunden hat, daß er sich loswand von der Irrung, Roms Glorie auf Kosten seines deutschen Vaterlandes zu besingen, das ist es ja eben, was sein Verdienst verdoppelt, und wenn er es dennoch leugnen wollte, daß nicht mehr Thomas a Kempis, sondern Homer und Kant auf seinem Tische liegen, so würde das Motto seines eigenen Gedichtes gegen ihn zeugen, welches lautet: „Der Menschheit Höchstes ist die Liebe.“

Warum er seinen Helden „Odilo“ getauft hat, das freilich ist mir unerfindlich, denn die Geschichte, die er erzählt, ist durch und durch modern. So nennt ein deutscher Arzt von heute doch schwerlich seinen einzigen Sohn, wenn er nicht etwa durch ein Testament oder Gelübde dazu gezwungen ist. Der Vater Odilo’s aber ist ein deutscher Arzt katholischen Bekenntnisses, der mit seinem Weibe Walburg, einer strengen Protestantin, in gemischter Ehe lebt. Er stirbt an der Schwindsucht, noch ehe sein Sohn zum Jüngling herangereift ist, und sein Mund flüstert, ehe er auf immer verstummt, gleichsam als Vermächtniß das schöne Wort: „Der Menschheit Höchstes ist die Liebe.“ Unweit von Odilo’s väterlichem Hause steht das Kloster Mariagnaden; dorthin wandelt täglich der Knabe, um sich für’s Leben seinen Schulsack zu füllen. Der Abt Johannes ist ein duldsamer, wohlgemuther Mann, einer von dem Schlage der Benedictiner, in denen allezeit der Geist menschlicher und nationaler Gesinnung sich aufgebäumt hat gegen die klirrende Kette düsteren Pfaffensinnes. In einem solchen Augenblicke inneren Zwiespaltes braust er auf:

Was, diese windigen Romanen,
Nur schlau in Formen und Chicanen,
Die von dem deutschen Geist soviel
Als wie der Hund vom Flötenspiel
In ihren seichten Köpfen ahnen,
Die uns Exempel sein? Ha, nie!
Doch dreimal eher umgekehrt!
In unsern Kirchen lernen sie,
Wie man voll Andacht Gott verehrt.
Und glaub’ ich auch ganz sicherlich,
Daß jeder deutsche Priester sich –
Sofern er noch ein Deutscher ist –
An innerlichem Christensinn
Mit Menschenlieb’ und Wahrheit drin,
Doch keiner Spur von Pfaffenlist,
Mit jedem dieser Wälschen mißt.
Dies ist einmal ein deutsches Kloster.
Und ist es auch römisch-katholisch,
Wie Petri Stuhl echt apostolisch,
Ich dennoch nicht begreifen kann,
Warum ich als ein deutscher Mann
Mich über Rom nicht ärgern darf,
Wo’s irgend unserm Volk nur Steine
In seines Wachsthums Wege warf.
Und denk’ ich nur an dieses Eine:
Wie’s unsern Mahnruf einst verlachte,
Im Glauben uns zerrissen machte,
Den dreißigjähr’gen Krieg uns brachte
Und all den spätern Glaubenshader –
Herrgott, wenn da mit deutscher Ader
Und nur ein bischen Menschenliebe
Das Herz davon ganz ruhig bliebe!

Der Verkehr mit einem solchen Priester mag unschwer in der Seele eines phantastischen Knaben den Wunsch rege machen, sich ebenfalls in den kühlen Klosterfrieden zu flüchten. Frau Walburg bebt, als sie ihr Kind auf diesem Wege sieht, aber sie läßt es gewähren. Nur leider sind die Tage des Abtes Johannes gezählt; der finstere Eiferer Innocenz tritt an dessen Stelle, und nun beginnt ein fürchterliches Bekehrungswerk, zuerst an dem Sohne, dem noch zu hell der Jugendmuth aus den Augen leuchtet, und dann durch ihn an der armen Mutter, der, als sie widerstrebt, ihr eigenes Kind die ewige Verdammniß ankündigt. Es ist eine grauenhafte Stunde, da Frau Walburg aus dem Kloster hinweggewiesen wird, als Ketzerin, deren Herz nicht schlagen dürfe in der Nähe dessen, den sie geboren hat. Aber es kommt auch eine erlösende Stunde, mit Feuer und Flammen im Gefolge. Da flackert es aus dem Dache des Klosters, und die Funken lecken an dem wunderthätigen Marienbilde, bis sie es verzehren, und Abt Innocenz schreit seinen Mönchen umsonst zu, daß sie es retten, indessen diese, von menschlicherem Gefühl getrieben, es vorziehen, die kranken Klostergenossen aus Rauch und Brand zu schleppen.

Das Kloster Mariagnaden ist zerstört; Abt Innocenz hat sich ein anderes tiefer im Walde gezimmert. Aber nicht Alle, die ihm sonst gehorchten, sind ihm in die neue Zufluchtsstätte gefolgt; auch Odilo ist fortgeblieben, um fortan in weltlicher Wissenschaft [846] sein Heil zu suchen. In wenigen Jahren ist er Arzt. Er erweitert seinen Gesichtskreis durch eine Reise und kehrt dann heim, um seine Kunst im Dienste der Kranken und Gebrechlichen zu erproben. Da steht an der Stelle des einstigen Klosters Mariagnaden ein stattliches Irrenhaus, dessen Leiter dem Vater Odilo’s ein getreuer Freund gewesen ist. Die Wahl ist schnell getroffen. Der junge Arzt widmet sich den armen Creaturen, welche der Wahnsinn gefangen hält. Und wie schmerzlich ihm auch die tägliche Begegnung sein mag mit diesen irren Seelen, welche Habgier, verschmähte Liebe, Größenwahn oder unbefriedigter Wissensdrang aus ihrer natürlichen Bahn gelenkt haben, es ist ein Lohn für ihn vorhanden: die Liebe zu Angelica, der Tochter seines Meisters, und ihre Gegenliebe.

Es wäre schön, wenn damit Odilo’s Leidensgeschichte endete, aber so gut wird es den Menschen nur selten. Neben jedem Glücke wandelt im Leben ein mißgünstiger Dämon. In einer Nacht wird Odilo von einem Blutsturz befallen, und nun ist sie da, die furchtbare Erinnerung an den Tod seines Vaters und an die Vererbung der Lungensucht. Ein innerer Kampf beginnt, so schwer und schwerer als Stillehalten im Kugelregen der Schlacht. Entsagung oder Vererbung eines frühzeitigen Todes – die Wahl ist tödtlich, aber sie muß getroffen sein, und die Entscheidung fällt gegen die Liebe. Was kann weiter folgen? Odilo stirbt, nachdem er in seinem Berufe noch erhebende Probe seines Opfermuthes abgelegt, unter den Klängen seines Lieblingsliedes, das Angelica singt.

Das ist der Roman eines edlen, aus dumpfer Verirrung zum Lichte emporsteigenden Lebens, welchen Oscar von Redwitz erzählt, – in Versen erzählt, ohne den Leser auch nur für einen Augenblick zu ermüden. Die Kunst wäre groß, wenn nichts weiter gesagt zu werden brauchte. Sie ist doppelt groß, weil die Erzählung nicht Selbstzweck, sondern blos das Mittel ist, um einer wahrhaft erlösenden Weltanschauung zum dichterischen Ausdrucke zu verhelfen. Und zu welchen Ergebnissen gelangt diese Weltanschauung? Das mag der Dichter mit seinen eigenen Worten sagen, wie sie bald hier, bald dort im Gange des Gedichtes sich zu knappem Bekenntnisse zusammenfassen. Eine dieser Stellen lautet:

„Was nützen strengste Glaubensnormen,
Was alle regelrechten Formen
Und aller Cultus tiefsymbolisch,
Wenn Liebe nicht echt apostolisch
Des Christenthums fruchtbarer Kern?
Nur sie bringt uns dem Himmel nah’,
Sonst bleibt uns ewig himmelfern
So Bethlehem wie Golgatha.“

Eine andere:

„Wenn nur der Einen Liebe Band
Die Herzen alle gleich umschlingt,
Wenn nur in gleichem Opferbrand
Jedweder nach Vollendung ringt,
Zu seines wie des Nächsten Frieden
Von jedem Glaubenshaß befreit,
Dann wird – trotz Glaubensunterschieden –
Im großen Dom der Menschlichkeit
Der Liebe Gottgemeinschaft sein,
Und siegreich kehrt auf Erden ein
Der Welterlösung neue Zeit.“

Ich gestehe, zur Mäkelei am Einzelnen keinen Muth zu finden angesichts der Wirkung, welche ich von dem Ganzen empfangen habe. Man nimmt ein Gedicht von Redwitz zur Hand mit dem stillen Argwohn, es werde da ein Klang und dort ein Ton an die halbvergessene „Amaranth“ erinnern, und geräth in ein tiefdurchdachtes, mit allem Wissen und Denken moderner Tage reichlich durchtränktes Kunstwerk hinein, in welchem von religiöser Befangenheit keine Spur, von mystischem Dämmerlichte keine Ahnung ist, wohl aber der helle Sonnenstrahl reinster Humanität über allen Blättern liegt. Da steife sich, wer mag, auf kleine Gebrechen in der Form, auf etliche falsche Reime, etliche übelgerathene Ausdrücke, etliche geschraubte Wendungen und künstliche Wortstellungen! Nein, dieser „Odilo“ will aus einem höheren Gesichtspunkte betrachtet sein; er ist eine Confession, an der Jeder von uns sich betheiligen kann. Die Zeit, in der wir leben, ist die Kanzel, von der hier gepredigt wird, und fürwahr, es ist nicht Alles so bestellt, daß wir keiner Predigt bedürften. Wenn David Friedrich Strauß zu dem Ergebnisse gelangte, daß unser Glauben wohlberechtigter Weise ein Nichtglauben sei, so hat er wenigstens Jenen damit nicht aus der Seele gesprochen, denen zum Leben die Vorstellung eines Fortlebens über das Grab hinaus nöthig ist. Diese finden in Redwitz ihren beredten Sprecher. Auch ihm ist es in diesen wirrsam forthastenden Tagen, in denen Theologie, Philosophie und Naturwissenschaft mit einander in heißem Kampfe liegen, recht schwül und unheimlich zu Muthe; auch er sieht nicht ab, wohin es kommen soll, wenn die Philosophie von der Theologie verketzert, die Theologie von der Philosophie verlacht und beide zusammen von der Naturwissenschaft roh bei Seite gestoßen werden, als wäre jedes winzigste Experiment die Schwelle zu einem neuen Evangelium. Man höre, wie er über den handfesten Materialismus der Gegenwart klagt:

„Ach, unsre Zeit, durch Schwertgeklirr
Und Zungenstreit so müd’ und wir,
So abgehetzt durch Dampfeshast,
Durch Neidesgroll und Goldesgier,
Wie schwerer Nothdurft Sorgenlast –
Wohl ist dein Geist so stark wie nie.
An Wissen reich, erfinderkühn,
Voll Freiheitsdrang und Thatentriebe,
Doch ach, dein Herz wird krank, denn sieh’,
Dir fehlt’s trotz all des Geistes Müh’n
An inn’rem Frieden und an Liebe.“

Aber ihm bleibt eine Hoffnung auf Lösung doch wieder nur im Sinne des nimmer ruhenden Fortschrittes; das Jenseits des Einzelnen ist die Fortdauer in der Cultur der Zukunft, in dem, was kommende Tage von den unseren übernehmen. Das Individuum entsagt; das Ganze siegt.

„Doch all der Geist im Völkerleben,
Nach der Vollendung all sein Streben
In Sitte, Wissen und in Kunst,
Der ganze Weltschatz der Cultur,
Das Werk solch ries’gen Menschensfleißes,
So werth allew’gen Seins und Preises –
Das Alles fiel’ ohn’ alle Spur
Anheim einst ewiger Vernichtung? –
Wie einst die Lösung sei? Wer weiß es,
Will er nicht blos mit Worten spielen
In noch so hoch erhab’ner Dichtung?
Doch einer höh’ren Welt Erscheinung
Mit immer höh’ren ew’gen Zielen –
Der Völker Trost seit allen Zeiten –
Wer in beweisender Verneinung,
Wer übernimmt’s, sie wegzustreiten?“

Eine Frage freilich liegt mir schwer auf dem Herzen. Es hat Redwitz gefallen, die Verirrungen unserer Zeit an den Krankheitsgeschichten der Insassen eines Irrenhauses zu symbolisiren. Dagegen mag an sich nichts einzuwenden sein, zumal diese Krankheitsgeschichten meisterhaft vorgetragen werden. Hier ein Beispiel. Ein Kranker hält sich für die „Urlichtsphantasie“ und baut ein Kartenhaus als Tempel für dieselbe; dann ruft er:

„So schauet her, ihr Zeitgeistkinder
Und doch des eignen Geists Regirer,
Sterngucker ihr und Hirnsecirer,
Steinklopfer und Karnickelschinder,
Ihr Knochen- und ihr Pilzefinder
Und pantschende Retortenschmierer!
Die nie ihr andern Geist erweckt,
Als den ihr seht und riecht und schmeckt,
Und ganz noch in der Urschleimwindel
Mit eurer Affenweisheit steckt!
Schau her, du Stoff- und Kraftgesindel,
Du Wechselbalg der Wissenschaft:
Durch diese vierfach mag’sche Spindel
Beweg’ ich alle Kosmoskraft!“

Aber wenn schon unter all dem Wahne die Welt sich schier wie ein Narrenhaus ausnimmt, muß dann auch denen noch, welche Herz und Geist dem Idealen offen gehalten haben, die Entsagung so bitter gemacht werden, daß sie von der Liebe in dem Augenblicke wegsterben, in dem sie dem Lohne ihres Ringens nahegekommen zu sein scheinen? Warum darf Odilo nicht weiterleben an der Seite eines geliebten Weibes? Ist die Selbstlosigkeit idealen Strebens so dornenvoll, daß sie sich noch am Tode zu erproben hat? Mich dünkt, hier könne man von Redwitz sagen: summum jus summa injuria. Die Liebe ist der Menschheit Höchstes - gewiß, und auch daß sie in der Kraft der Entsagung sich am leuchtendsten bewährt, ist unbestreitbar. Aber die Entsagung darf nicht Selbstzweck werden, wie bei Odilo, sonst geräth auch [847] sie unversehens unter die fixen Ideen. Das Gedicht tönt schrill aus, während es ohne Schaden für die Intentionen des Dichters wohlthuend und mild hätte verklingen können und dann erst recht ein Hoheslied der Humanität gewesen wäre.

Dieser Fehler, vielleicht durch die körperlichen Nöthe des Dichters verschuldet, wiegt mir schwerer, als alle formalen Ausstellungen, obgleich ich den letzteren keineswegs ihre Berechtigung abstreite. Er macht, daß eine Dissonanz entsteht, wo man einen harmonischen Abschluß erwartete. Der Dichter ist nicht gehalten, Systeme zu gründen, derer Daseinsbedingung die Folgerichtigkeit ist; auch scheint es nicht, daß die Vererbung der Schwindsucht hinreicht, um unverdientes Menschenschicksal zu motiviren und die Freiheit des Poeten zu schmälern.

Es ist ein reizendes Fleckchen Erde, auf dem Redwitz sein Heim hat. Milde Lüfte wehen aus Wälschland herüber, und schützend vor dem rauhen Hauche des Nordens stehen die Riesenhäupter der Alpen. Aber es ist auch ein trauriges Fleckchen Erde, denn jahraus jahrein dient es jenen hoffnungslosen Menschenkindern zum Aufenthalte, denen an ihren kranken Lungen der Todeswurm nagt. Meran ist die Zuflucht der Schwindsüchtigen aus aller Herren Ländern. Daraus erklärt sich vielleicht der triste Schluß in dem neuesten Gedichte Oscar von Redwitz’. Er beeinträchtigt die Thatsache, daß „Odilo“ ein Triumph zeitgenössischer Poesie, aber er hebt sie nicht auf. Und wenn es wahr ist, daß sich selbst zu besiegen der größte Sieg sei, so gebührt dem „bekehrten Poeten“ ein doppelter Lorbeerkranz, der eine für seinen endgültigen Bruch mit seiner dichterischen Vergangenheit, der andere für die siegreiche Probe, mit der er sich eingereiht hat in die Zahl derer, welche als wahre Humanitätsapostel von ihren Zeitgenossen verehrt werden.

Wilhelm Goldbaum.




Der Altvätertag der Union.

Es giebt Tage, welche durch Ereignisse ausgezeichnet sind, die ihnen für alle Zeit eine welthistorische Bedeutung sichern und sie niemals dem Gedächtnisse denkender Menschen entschwinden lassen. Zu diesen Tagen zählt auch der 22. December, der Tag, an welchem vor länger als zwei und einem halben Jahrhundert die sogenannten „Pilgrime“ oder „Pilgerväter“ mit Spaten und Handwerkzeug, mit Bibel und Schwert zugleich an der Küste von Massachusetts landeten und ein Gemeinwesen gründeten, aus dessen Weiterentwickelung dereinst die mächtige Republik der Vereinigten Staaten von Nordamerika hervorgehen sollte. Die Geschichte dieser puritanischen Pilgerväter, ihre gehässige Verfolgung in England, ihre Flucht nach Holland und ihre Verzweiflungsfahrt über den atlantischen Ocean wird in Verbindung mit den in der Neuen Welt von ihnen erlebten, an’s Sagenhafte grenzenden Abenteuern nicht nur für Dichter, namentlich amerikanische Dichter, die sich nach einem nationalen Hintergrunde umsehen, eine reiche Fundgrube bilden, sondern auch für Alle, welche tiefgreifende politisch-religiöse Begebenheiten zu würdigen verstehen, stets von dem höchsten Interesse sein. Die früheren englischen Niederlassungen in Amerika waren vorzugsweise von einzelnen Unternehmern oder Handelsgesellschaften zu keinem höheren Zwecke versucht worden, als dem der Erwerbung von Reichthümern; sie waren daher auch meistens mißlungen. Ein günstigerer Erfolg wurde erst erzielt, als bessere und edlere Männer aus uneigennützigeren und idealeren Beweggründen sich zu Ansiedelungen jenseit des Oceans entschlossen. Diese Männer kamen mit ihren Familien nach Neu-England und zwar zu einem dauernden Verbleiben daselbst, nicht sowohl um der Verbesserung ihrer zeitlichen Glücksumstände willen, als vielmehr wegen des ungestörten Genusses bürgerlicher und religiöser Freiheit, die ihnen in der alten Heimath verweigert wurde.

Schon die Königin Elisabeth hatte die Puritaner nicht geliebt, weil sie ahnte, daß die von jenen erstrebte religiöse Unabhängigkeit nicht wohl von der politischen Freiheit zu trennen sei; das hinderte indeß die Puritaner nicht, die „Queen Bess“, wie der Volksmund die Königin getauft hatte, hoch in Ehren zu halten, vorzugsweise, weil sie die Uebergriffe des römischen Papstthums bekämpfte und die nationale Macht Englands förderte. Selbst in Fesseln beteten die Puritaner in vollster Aufrichtigkeit, daß das Leben der sie mit den strengsten Strafen heimsuchenden Elisabeth bewahrt bleiben möge vor den Dolchen der papistischen Meuchelmörder. Ganz anders wurde dies unter der Regierung Jacob’s des Ersten. Das englische Volk und namentlich die puritanischen Secten bemerkten gar bald den Unterschied zwischen ihm und seiner Vorgängerin auf dem Throne. „Während diese,“ wie Leopold von Ranke sagt, „nur immer von der Liebe ihrer Unterthanen gesprochen hatte, redete Jacob unaufhörlich von dem Gehorsam, welchen man ihm nach göttlichem und menschlichem Rechte schuldig sei.“ Dazu kam noch, daß Elisabeth eine Vorliebe hatte für tapfere Männer und ausgezeichnete, kühne Charaktere, Jacob aber sich vor Männern von Geist und Thatkraft fürchtete und nur solchen sein Vertrauen schenkte, die er durch Begünstigungen aller Art, durch Geschenke und Wohlthaten an sich gefesselt wähnte. Seinem Grundsatz: „Kein Bischof, kein König!“ getreu, glaubte er in der bischöflichen Kirche Englands das einzige Bollwerk zu finden gegen die Jesuiten, die er fürchtete, und gegen die Puritaner, die er haßte. Im Vertrauen auf seine „Herrscherkunst“ betrachtete er, gleich den Fürsten des dreizehnten Jahrhunderts, sein Königthum als eine Anweisung auf Vorrechte und Vortheile und hielt es für sein gutes Recht, seine Günstlinge und Diener daran Antheil nehmen zu lassen.

Die Puritaner standen zur Zeit von Jacob’s des Ersten Regierung an Kopfzahl weit hinter ihren religiösen und politischen Gegnern zurück; sie überragten dieselben jedoch an jener sittlichen Kraft, die freiheitsliebenden und überzeugungstreuen Menschen eigen zu sein pflegt. Sie erklärten kühnlich das Recht des eigenen Urtheils in Glaubenssachen für unveräußerlich und behaupteten: jedes menschliche Wesen sei des natürlichen Vorrechtes theilhaftig, den Schöpfer aller Dinge im Einverständniß mit den Weisungen seines eigenen Gewissens zu verehren und anzubeten. In Uebereinstimmung mit diesen Grundsätzen machten sie auch, im Parlamente und im Privatleben, das Recht des Volkes auf den Genuß der bürgerlichen Freiheit geltend. Die Kanzeln der Puritaner waren die Rednerbühnen des Bürgerstandes und der gemeinen Leuten und ihre Prediger erkühnten sich bisweilen sogar, die dem königlichen Vorrechte so gefährliche Lehre zu verkündigen, daß der Souverain für seine Handlungen der Volksvertretung verantwortlich sei und der richtig und gesetzlich zum Ausdruck gelangten öffentlichen Meinung nachgeben müsse. So konnte es denn kaum anders kommen, als daß der stolze, auf seine in geistlichen und weltlichen Dingen absolute Machtvollkommenheit so eingebildete Jacob mit den Puritanern bald in den heftigsten Streit gerieth und ihnen endlich zurief: „Ich will Euch entweder zur Unterwürfigkeit zwingen oder zum Lande hinausjagen.“ Hunderte von puritanischen Geistlichen wurden zum Schweigen verurtheilt oder in das Gefängniß geworfen, und viele Tausende von calvinistischen Nonconformisten, das heißt solchen, die mit den aus der römisch-katholischen Kirche in die englische Episkopalkirche herübergenommenen Aeußerlichkeiten, Satzungen und Ceremonien nicht einverstanden waren, fühlten sich gedrungen, England zu verlassen und in fremden Ländern eine Zuflucht zu suchen.

Vor Allem war es Holland, wohin die um ihres Glaubens willen verfolgten Puritaner ihre Schritte lenkten. Zu ihnen gehörte auch die besonders radicale Secte der Brownisten oder Separatistea, die sich mit ihrem Prediger John Robinson um’s Jahr 1610 in Leyden niederließ; das angesehenste weltliche Mitglied war ein gewisser William Brewster, früher ein Schützling von Davidson, dem Geheimschreiber der Königin Elisabeth. Eine Zeit lang fühlten sich die Auswanderer in Holland glücklich und zufrieden und erwarben sich auch die Liebe und Hochachtung der Holländer. Auf die Dauer wollte ihnen jedoch das Leben unter dem fremden Volke nicht gefallen; sie mochten ihre englische Sprache und Nationalität nicht aufgeben und hingen überhaupt, trotz der erlittenen Verfolgungen, mit unwandelbarer Liebe an ihrem alten Vaterlande. Da indeß eine Rückkehr dorthin nicht rathsam war, so faßten sie eine Auswanderung nach Amerika in’s Auge, um sich dort unter englischem Schutze eine neue Heimath zu gründen. Nach reiflicher Erwägung der Licht- und Schattenseiten dieses

[848] Planes, und nachdem sie in England bei der Londoner Compagnie und der Plymouth-Gesellschaft die nöthigen Schritte zur Ueberlassung eines Landstriches in Nord-Virginien gethan hatten, rüsteten sich die jüngsten und kräftigsten Leute unter ihnen zur Reise über den Ocean. Von Gönnern und Freunden mit Geldmitteln unterstützt, kauften sie zwei Schiffe, ein kleines von 60 Tonnen, den „Speedwell“ (Ehrenpreis), und ein größeres von 180 Tonnen, die „Mayflower“ (Maiblume). Auf diesen Fahrzeugen sollten vorläufig 120 Gemeindemitglieder nach der Neuen Welt hinüber ziehen.

Am 22. Juli 1620 lief der „Speedwell“ vom Hafen von Delft aus. John Robinson und die Aeltesten der Leydener Gemeinde hatten es sich nicht nehmen lassen, die Auswanderer dorthin zu begleiten. Die Abschiedsstunde wurde in ernster religiöser Weise gefeiert. Der alte, treue Prediger kniete nieder zwischen seinen Freunden und Glaubensgenossen und richtete an die scheidenden Brüder eine letzte ergreifende Ansprache. „Wir werden uns nun bald trennen,“ sagte er, „und ob ich Euch jemals auf dieser Erde wiedersehe, weiß Gott allein. Mag dies aber geschehen oder nicht, ich verpflichte Euch, daß Ihr mir nicht weiter folgen sollt, als Ihr mich selber Christi Lehren befolgen gesehen habt. Wenn Gott durch irgend ein anderes Werkzeug Euch Wahrheiten offenbart, so nehmt sie auf wie die Wahrheiten die ich Euch lehrte; denn ich bin überzeugt, daß der Herr noch weitere Wahrheiten aus seinem heiligen Worte wird hervorbrechen lassen. Die gegenwärtigen Zustände in den reformirten Kirchen kann ich nur beklagen; es herrscht da kein Fortschritt. Die Lutheraner bleiben hartnäckig bei den Worten Luther’s stehen und wollen lieber sterben, als irgend etwas von dem annehmen, was Gott durch Calvin offenbarte; andererseits beharren auch die Calvinisten mit größter Zähigkeit bei Allem, was Calvin lehrte, obschon auch dieser große Mann nicht alle Dinge richtig erkannte. Sicherlich waren die beiden genannten Reformatoren zu ihrer Zeit hellglänzende Lichter, aber dennoch waren auch sie nicht im Stande, die ganze Wahrheit zu erfassen; wären sie jetzt noch am Leben, so würden sie Manches in einem klareren Lichte sehen als früher. Beherziget stets - ich bitte Euch inständigst darum - die Lehre unserer Kirche, die da sagt: Man soll bereit sein, jede Wahrheit anzuerkennen, welche aus dem geschriebenen Worte Gottes hervorgeht. Prüfet und vergleichet auch andere gute Schriften, die Wahres enthalten! Die vollkommene Wahrheit kann nicht plötzlich und auf einmal aus der antichristlichen Finsterniß hervorleuchten, sie bricht sich erst nach und nach Bahn.“ Mit diesen einer freien Forschung in religiösen Dingen huldigenden Worten entließ John Robinson die auswandernden Glaubensgenossen, und aus diesem Grunde ist, wenn auch unter harten Kämpfen, die unbedingte Gewissensfreiheit in den Vereinigten Staaten von Amerika emporgewachsen. Die Scheidenden aber brachten noch vom Schiffe aus den Zurückbleibenden als letzten Abschiedsgruß eine volle Musketensalve und drei Kanonenschüsse dar.

Am 6. August gingen der „Speedwell“ und die „Maiblume“ von Southampton aus nach Amerika unter Segel. Das erstere Schiff wurde jedoch bald als seeuntüchtig befunden, sodaß man zur Umkehr gezwungen war. Jetzt verloren indeß auch einige der Reisenden den Muth zur Auswanderung; allein die beherztere Mehrzahl begab sich an Bord der „Maiblume“ und segelte auf dieser am 6. September von Plymouth aus ab. Es befanden sich auf diesem Schiffe 41 Männer mit ihren Familien, sodaß sich die Gesammtzahl der Auswanderer auf 101 Köpfe belief; darunter waren William Brewster mit einer zahlreichen Familie, William Bradford aus Scrooby, John Carver, ein Diakonus der Leydener Kirche, der junge Eduard Winslow und dessen Braut, das reichste Paar in der ganzen Schaar, Capitain Miles Standify aus Lancashire, ein kühner, feuriger Soldat, und seine schöne Gattin Rosa, John Alden, der Freund von Standish, der Jüngste unter den Pilgern, John Allerton und Dr. Eduard Fuller. Alle diese Männer thaten sich in der späteren Geschichte der Colonnie rühmlichst hervor.

Nach einer stürmischen Fahrt von 63 Tagen langte die „Maiblume“ auf der Höhe des Cap Cod an. Ihr Bestimmungsort war „irgend ein Punkt in der Nähe des Hudsonflusses, allein innerhalb des Gebietes der Londoner Compagnie“, also irgendwo an den Küsten des heutigen New-Jersey oder Connecticut. Als das Schiff auf diesem Cours gen Süden fuhr, traf es auf einige gefährliche Untiefen, vielleicht diejenigen auf der Höhe von Nantucket; es mußte umkehren, die Landspitze umsegeln und in einer Bucht vor Anker gehen, welche von der etwa 12 deutsche Meilen langen Halbinsel des Cap Cod eingeschlossen wird, wo gegenwärtig die Rhede von Provincetown ist.

Zur Verhütung aller Gesetzlosigkeit und Anarchie wurde für den Fall einer Colonie-Gründung eine Urkunde aufgesetzt und auf einem Tische in der Kajüte der „Maiblume“ von der ganzen Schaar der einundvierzig erwachsenen männlichen Auswanderer unterzeichnet. Diese Urkunde lautet im Wesentlichen folgendermaßen:

„Im Namen Gottes, Amen. Wir, deren Namen unten verzeichnet stehen, die getreuen Unterthanen des Königs Jacob von Großbritannien, die wir zum Ruhme Gottes und zur Förderung des christlichen Glaubens, sowie unserm Könige und dem Vaterlande zu Ehren eine Reise unternommen haben, um in den nördlichen Theilen von Virginien (das Gebiet Virginiens war zu jener Zeit weit ausgedehnt) die erste Colonie anzulegen, verpflichten und verbinden uns durch Gegenwärtiges feierlich und gegenseitig, in Gegenwart Gottes, zu einem bürgerlichen Gemeinwesen, behufs besserer Ordnung und zur Förderung der vorerwähnten Zwecke. Wir geloben kraft dessen, solche gerechte und billige Gesetze, Verordnungen, Urkunden, Verfassungen und Amtshandlungen von Zeit zu Zeit zu beschließen und zu erlassen, wie sie für das allgemeine Wohl der Colonie passend und dienlich befunden werden mögen. Wir versprechen hiermit diesen Ordnungen allen schuldigen Gehorsam zu leisten. Zum Zeugniß desselben haben wir unsere Namen unterschrieben zu Cap Cod am 11. November, anno domini 1620.“

Nach Unterfertigung dieser Urkunde, die als der erste rohe Entwurf einer späteren demokratischen Verfassung angesehen werden darf, verfloß aber noch mehr als ein Monat, bevor die Pilgrime landeten. Zuerst stellten sie Fahrten zur Erforschung der Küsten einer großen Bucht, in die sie gelangt waren, an, um eine geeignete Stelle zur Niederlassung aufzusuchen; in einer kleinen Schaluppe und auch zu Fuß durchsuchten sie das Land und hatten bei dem früh eingetretenen strengen Winter viel von der schneidenden Kälte, dem tiefen Schneefall und den hindernden Schneewehen zu leiden. „Wir gelangten,“ so heißt es in dem Tagebuche der Pilger, „in ein tiefes mit allerlei Buschwerk und hohem Grase bewachsenes Thal, wo wir nur mühevoll hindurchdringen konnten. Ein Reh sprang auf, und Quellen frischen Wassers sprudelten hervor, was uns herzliche Freude bereitete. Wir setzten uns nieder und tranken unser erstes Wasser in Neu-England. Niemals zuvor hatten wir Wasser mit solcher Lust getrunken.“

Bei einer andern Landung stießen sie auf einige Indianer, die aber scheu und feindselig waren; von der starken Kälte fror das Wasser an ihren Kleidern, „daß sie fest und steif wurden, wie eiserne Panzer“. An einzelnen Küstenpunkten fanden sie Gräber, einige Ueberreste von menschlichen Wohnungen viele verlassene Wigwams, hier und da einen Haufen Mais und gelegentlich Spuren von Niederlassungen civilisirter Menschen, vielleicht der Normannen, die früher hier gehaust haben mochten. Endlich gelangten die Wanderer in einen hübschen Hafen, dessen Küste ihnen zur Ansiedelung tauglich erschien. Es war der letzte Tag der Woche. Die Pilger ordneten ihre Kleider, luden die Flinten, dankten Gott für die Errettung aus so mancherlei Mißgeschick und legten sich zur Ruhe nieder. Den folgenden Tag verbrachten sie nach Gottes Gebot in aller Stille und innigem Gebet - die erste puritanische Sonntagsfeier in der Neuen Welt. Am Montag landeten sie an einem Felsen auf der Stelle, wo heutzutage Plymouth liegt.

Ein junges Mädchen, Namens Marie Chilton, wird als diejenige genannt, die den Felsen von Plymouth, so nannten sie in dankbarer Erinnerung an die Stadt Plymouth in England den Ort, wo sie sich niederlassen wollten, zuerst betrat. Jener Montag aber war der 22. December 1620; er heißt jetzt der Vor- oder Altvätertag und wird allenthalben gefeiert, wo sich Söhne Neu-Englands zusammenfinden, am Atlantischen Meer wie am Stillen Ocean, am Mississippi wie am Ohio, an den canadischen Seen wie am Golf von Mexico. Der Boden, welchen die Pilgrime zuerst betraten, ist heiliges Land. Von der Habe, die sie an’s Land brachten, werden noch heute einige Ueberreste als Reliquie in der Pilgrimshalle zu Plymouth aufbewahrt; man

[849]

Weihnachten auf der Landstraße.
Nach einer Skizze von Ignaz Ellminger.

[850] findet dort unter Anderem Lehnstühle und Spinnräder, den großen eisernen Kessel des tapferen Miles Standish, das Stickmusterbuch der kleinen Laura Standish und die Wiege Peregrin White’s, des Kindes, welches während der Fahrt an Bord der „Maiblume“ geboren und zum Andenken an die Wanderung der Pilger Peregrin genannt wurde. Es war ein eigenthümliches Weihnachtsfest, welches die neuen Colonisten in Amerika feierten.

Schon am 25. December wurde der Grund gelegt zum ersten Hause in Plymouth, und das war das Gemeindehaus, welches zeitweilig Allen zur Wohnstätte dienen mußte. Zu ihrem ersten Gouverneur wählten sie John Carter, auch bildeten sie eine Compagnie Soldaten mit Capitain Miles Standish an der Spitze. Jeder Soldat hatte ein Panzerhemd, ein Schwert und eine Muskete mit Luntenschloß. Darauf begannen sie für die einzelnen Familien Häuser zu bauen, dieselben bestanden aus Baumstämmen und Mörtel, waren mit Stroh oder Schilf gedeckt und hatten Fenster von ölgetränktem Papier. Schließlich errichteten sie einen großen Schuppen für ihre gemeinsame Habe, ein kleines Hospital für die Kranken und eine ziemlich feste Kirche, auf deren Dache vier Kanonen aufgepflanzt wurden. Als Pfarrer fungirte William Brewster. Die Befestigung der Kirchen war in der ersten Colonialzeit eine allgemein als zweckmäßig erklärte Sitte, denn dorthin zogen sich die Ansiedler bei plötzlichen Angriffen der Indianer mit Allem, was ihnen lieb und theuer war, zurück und vertheidigten dann das Gotteshaus bis zum letzten Mann.

Was ihre Nahrung betraf, so lebten die Pilger, bis sie selbst Korn geerntet hatten, vorzugsweise von den Erträgnissen der Jagd und des Fischfangs. Zuweilen erlegten sie Hirsche und wilde Truthähne und fingen Stockfische, Seekrebse und Schalthiere. Von den Indianern lernten sie, Fische mit Pfeilen zu schießen und Aale mit Füßen aus dem Schlamme herauszutreten. Dennoch litten sie häufig Hunger und wußten am Abend oft nicht, woher sie am Morgen die nothdürftigste Nahrung nehmen sollten. „Ich habe Männer vor Schwäche wegen Mangels an gesunder Speise taumeln gesehen,“ so erzählt einer ihrer Chronisten. Auf diese Weise von Noth und Gefahren aller Art bedrängt, starb während des ersten Winters fast die Hälfte der Colonisten dahin. Eine Zeit lang waren nur noch sieben Personen kräftig genug, um die Kranken zu pflegen und die Gestorbenen zu begraben. In den ersten Tagen des April 1621 wurde auch Gouverneur Carver dahingerafft, und seine Gattin folgte ihm bald gebrochenen Herzens in das Grab; ihr Sohn war schon früher, bald nach der Landung gestorben. Allein alle diese Heimsuchungen waren nicht im Stande, die Ausdauer und Seelenstärke der Pilgrime zu erschüttern, und als im Frühling die Sonne wieder warm schien, die Vögel wiederkehrten und lustig sangen und die Krankheit aufhörte, da stimmten die Ueberlebenden Lob- und Danklieder an; keiner von den Colonisten wollte auf der nach England heimkehrenden „Maiblume“ zurückfahren, selbst die Frauen mit ihren Kindern zogen die Freiheit in dem unwirthlichen Lande der mit Knechtschaft verbundenen Bequemlichkeit in der alten Heimath vor. Auch erhielten die Pilger um diese Zeit erfreuliche Nachrichten von Seiten der Wilden. Der Häuptling Samoset, welcher im Umgange mit englischen Fischern die englische Sprache gelernt hatte, und Massasoit, der vornehmste Sachem oder König des Landes, fanden sich bei den Colonisten ein. Nach feierlichen Begrüßungen und gehörigen Schmausereien wurde zwischen Massasoit und den Pilgern ein Friedens- und Freundschaftsbündniß abgeschlossen, und der alte Häuptling sprach, indem er würdevoll mit ausgestreckter Hand auf das umliegende Land hinwies: „Engländer, ergreifet Besitz von dieser Gegend; den es ist Niemand vorhanden, um es zu behaupten; der Große Geist sandte in seinem Zorn eine Pest und fegte das rothe Volk von diesem Boden weg.“ Das Bündniß mit Massasoit und seinen Stammgenossen wurde nahezu fünfzig Jahre hindurch unverletzt erhalten.

Anders war es mit den Narragansett-Indianern; gegen sie wurden die Pilger wesentlich durch die Umsicht und Unerschrockenheit des kleinen, aber desto stärkeren und muthigeren Capitains Miles Standish geschützt. Von diesem braven Manne hat die Sage viele interessante Züge berichtet, die der amerikanische Dichter Henry Wadsworth Longfellow zu einem seiner reizendsten Gedichte, der „Brautwerbung des Miles Standish“, verarbeitet hat. Unter den Opfern der Hungersnoth und des Fiebers, welche die Colonisten in dem schrecklichen Winter heimgesucht hatten, war auch Rosa Standish gewesen. Tief betrübt bestattete der Gatte ihre Leiche zur Erde, aber nur zu bald fühlte er, „daß es nicht gut, wenn der Mann allein ist“. Er warf sein Auge auf Priscilla Mullins, „das liebliche Mädchen von Plymouth“.

Der Capitain Standish zählte damals siebenunddreißig Jahre, Priscilla aber war kaum zur Jungfrau erblüht. Dies hinderte ihn jedoch nicht, seinen Freund John Alden zu bitten, für ihn den Freiwerber bei Priscilla zu spielen; er, Standish, schrecke nicht vor den Pfeilen und Kugeln seiner Feinde zurück, aber das vernichtende „Nein“ einer lieblichen Jungfrau könne er nicht ertragen. Alden habe viele zarte Gedichte gelesen und wisse daher die Worte zu stellen. Nach einigem Zögern entschließt sich Alden zu dem schweren Gange. Er nähert sich langsam und bedächtig der Wohnung Priscilla’s, die er beim Spinnrade und ein religiöses Lied singend antrifft. Nachdem er seinen Antrag in nicht sehr gewandter Weise vorgebracht, blickt das Mädchen den jungen, frischen Burschen an und fragt, weshalb Miles Standish nicht selber komme.

„Er hat keine Zeit für solche Sachen,“ erwidert Alden. Priscilla kommt dies bei einer so ernsten Sache doch etwas merkwürdig vor; sie richtet ihre schelmischen Augen auf den Brautwerber und sagt:

„Meiner Treu, John, warum sprichst Du nicht in Deinem Namen?“ Erröthend stürmt dieser fort und läuft lange an der Küste umher. Endlich kehrte er, etwas beruhigt, zu Standish zurück und erzählte dem ehrenwerten Kriegsmanne treu und offenherzig den Hergang der Sache. Der Capitain braust nun auf, nennt den armen, unschuldigen John einen Verräther, mit dem er künftig nichts mehr zu thun haben wolle. Darauf eilt er in den Kriegsrath und läßt die mit Pfeilen gefüllte Klapperschlangenhaut, welche der Narragansett-Häuptling der Colonie als Kriegserklärung gebracht, mit Pulver und Blei füllen und dem Absender zurückschicken. Dann macht er sich kriegsbereit und zieht gegen den Feind. Nach einiger Zeit traf die Nachricht ein, daß Standish im Kampfe mit den Indianern sein Leben verloren habe, und als John Alden der Priscilla diese traurige Mähr mitgetheilt hatte, schloß er sie mit den Worten in seine Arme: „Was verbunden der Herr, das sollen die Menschen nicht scheiden.“ Bald wurde nun der Hochzeitstag anberaumt, und als die Trauung des Paares vollzogen war, erschien plötzlich ein wettergebräunter, bis an die Zähne bewaffneter Mann am Eingange der Kirche, schritt auf John Alden zu und bat ihn wegen seines früheren barschen Benehmens um Verzeihung. Miles Standish war nicht gefallen; er kehrte vielmehr als Sieger heim und segnete den eben geschlossenen Ehebund. Später verheiratete er sich mit der Schwester seiner ersten Frau, die ihn überlebt haben soll. Seine zahlreichen Nachkommen haben ihm zu Duxburg in Massachusetts, dem Staate der „blauen Hügel“, ein Monument errichtet, welches im August 1871 mit großer Festlichkeit eingeweiht wurde.

Rudolf Doehn.





Blätter und Blüthen.

Das Feierabendhaus deutscher Lehrerinnen und Erzieherinnen in Steglitz. Mit dem Gefühl inniger Freude können wir auf dem Gebiete der von der ganzen gebildeten Welt lebhaft ventilirten sogenannten „Frauenfrage“ ein Resultat verzeichnen, das eine treffliche Illustration zu dem unsere socialen Verhältnisse charakterisirenden Capitel „Selbsthülfe“ liefert und zugleich beweist, daß wirklich edle Bestrebungen immer Verständniß und bereitwillige Unterstützung finden.

Wir können hier nicht auf die vorzüglich von jenseits des Oceans angeregten Bestrebungen eingehen, dem weiblichen Geschlecht Berufsarten zugänglich zu machen, für die bis jetzt nur der „Herr der Schöpfung“ geeignet gehalten wurde. In der medicinischen Wissenschaft, der Kunst und Literatur haben sich viele Vertreterinnen jenes Geschlechts Ehrenplätze erworben; sie bewährten sich im kaufmännischen, im Eisenbahn, Telegraphie-, Postfache und vielen andern in der Neuzeit erschlossenen Zweigen der Frauenthätigkeit – einem Gebiete, das dem weiblichen Geschlecht gewissermaßen

[851] von der Natur angewiesen ist: auf dem des Unterrichts und der Erziehung. Tausende von Lehrerinnen unterrichten in Deutschland an öffentlichen Schulen; die Stadt Berlin hat deren allein dreihundert angestellt; an vielen Privatanstalten wirken fast ausschließlich weibliche Lehrkräfte. Wer kann die Zahl derjenigen nennen, die in Familien privatim Unterricht ertheilen oder die alljährlich hinaus in die Fremde ziehen um dort zu lehren oder zu lernen? Da ein großer Procentsatz aller weiblichen Lehrkräfte, sofern sie nicht den schönsten Frauenberuf als Gattin und Hausfrau vorziehen, sich die unterrichtliche Thätigkeit als wirkliche Lebensaufgabe gestellt hat, so knüpfte sich an die Frage der „Lehrerinnen“ der naheliegende Gedanke einer Altersversorgung derselben. Wenn größere Commmunen mit den Pensionsverhältnissen der Lehrer auch die der Lehrerinnen geregelt haben, so konnte doch die Mehrzahl der Letzteren auf Grund ihrer Privatstellungen nicht mit gleicher Ruhe in die Zukunft blicken. Da traten fast gleichzeitig, gewissermaßen aus der geschilderten Sachlage herausgewachsen zwei Ideen an die Oeffentlichkeit, die beide die Altersversorgung der Lehrerinnen und Erzieherinnen im Auge hatten: die „Allgemeine deutsche Pensionsanstalt“, ein unendlich segensreiches Unternehmen, welches seinen Mitgliedern eine sich nach den gezahlten Beiträgen normirende Pension sichert, und die „Feierabendhäuser“.

Dem überaus rührigen „Verein deutscher Lehrerinnen und Erzieherinnen in Berlin“ gebührt das Verdienst, die Idee zur Gründung eines Feierabendhauses zuerst öffentlich angeregt zu haben (ein entsprechender Paragraph wurde bereits im März 1875 in die Statuten aufgenommen), und es ist besonders der Energie und Aufopferung der langjährigen Lehrerin an der königlichen Augusta-Schule, Fräulein Jeanne Mithène, zu danken, daß die anfänglich für „abenteuerlich“ erklärte und viel bestrittene Idee Wurzel fassen und sich in so herrlicher Weise verwirklichen konnte. In Folge eines Aufrufes flossen dem Unternehmen von allen Seiten Gelder zu; zwei im Concertsaale des Opernhauses veranstaltete Matinéen brachten einen Reinertrag von 6000 Mark; ein Ehepaar schenkte zur Feier seiner silbernen Hochzeit dem Vereine 3000 Mark, ein in dem großen Festsaale des Rathhauses 1876 abgehaltener Bazar, an dessen Spitze ein Ehrencomité unter dem Vorsitze des Stadtverordnetenvorstehers Dr. Straßmann in aufopfernder Weise thätig war, ergab einen Ueberschuß von 38,000 Mark, sogar aus England kamen namhafte Spenden, darunter eine Summe von 17,000 Mark.

Nachdem der Verein durch allerhöchsten Erlaß vom 29. März 1876 die Rechte einer juristischen Person erhalten, konnte um so eher mit dem Bau des Feierabendhauses vorgegangen werden, als dem Curatorium von drei Seiten Grundstücke zum Geschenk angeboten worden waren, unter denen das von dem Stadtverordneten J. H. L. Schultze gebotene nach vielfachen Erwägungen gewählt wurde. Am dritten Osterfeiertag 1878 wurde der erste Spatenstich gethan und die Ausführung so schnell gefördert, daß im August dieses Jahres die Richtung vorgenommen werden konnte. Das Gebäude, welches am 1. Juni 1879 seiner Bestimmung übergeben werden soll, liegt auf einem fünfthalb Morgen großen Grundstück an der Victoria- und Brückenstraßenecke des Dorfes Steglitz, das von Berlin in wenig Minuten mit der Eisenbahn zu erreichen ist. Der Bauplan, welcher von dem Baumeister Fr. Koch herrührt, ist in der trefflichsten Weise dem Zwecke des Hauses gerecht geworden. Letzteres hat eine Frontlänge von 35,84 Meter, bei einer Tiefe von 12,54 Meter, und besteht aus Keller und Erdgeschoß (Parterre), zwei Etagen und Bodenräumen. Die feuersichere, aus Trägerwellblech construirte Treppe führt vom Keller bis zum Dache und ist dort von allen Seiten feuersicher eingeschlossen und eingedeckt. Jede der zukünftigen Bewohnerinnen erhält ein geräumiges freundliches Wohnzimmer nebst unmittelbar daran stoßendem Schlafzimmer.

Letzteres hat einen Ofen mit Kochvorrichtung, ersteres einen Heizofen. Zu gemeinschaftlicher Benutzung dienen ein Gesellschaftssaal, der sowohl von dem Corridor wie auch direct vom Garten durch einen Vorbau zugänglich ist, eine große Kochküche, Wasch- und Spülküche, Roll- und Plättstube, Badezimmer etc. Verschiedene Zimmer sind für Besuche etc. reservirt. Zwei Stuben nebst Küche im Kellergeschoß sind für den Portier respective Hausverwalter bestimmt. Das in allen seinen Theilen massive Gebäude (mit Verblendsteinen und Terracotta in den Façaden) ist mit Dampf-Wasserleitung versehen, durch welche ein vorzügliches Brunnenwasser nach den betreffenden Räumen, Sprenghähnen im Garten etc. geführt wird. Die Hinterfront des Gebäudes liegt nach dem schönen schattigen Garten, während die Vorderfront weit hinaus in das Land blickt und reizende Perspectiven nach Lichterfelde mit seinen dunkeln Parks und Prachtbauten eröffnet. Das „Feierabendhaus“ soll zunächst dreiunddreißig Damen eine gastliche Stätte und für den Lebensabend eine freundliche Heimath gewähren. Die herrliche, gesunde Lage des Hauses, das eine vortheilhafte Vereinigung des Land- und Stadtlebens ermöglicht, seine innere Einrichtung, die Fürsorge eines umsichtigen und uneigennützigen Curatoriums geben die sicherste Gewähr zur Erreichung des Zweckes.

Wir kommen schließlich zur Beantwortung der auch für weitere Kreise nicht unwichtigen Frage: Wer findet in dem Hause Aufnahme? Die Antwort lautet: Jede deutsche Lehrerin oder Erzieherin im In- oder Auslande (ohne Unterschied der Confession), die ein durch das Curatorium noch zu bestimmendes Eintrittsgeld zahlt. Mitglieder des „Vereins deutscher Lehrerinnen und Erzieherinnen“ erhalten naturgemäß den Vorzug. In wie weit das Feierabendhaus den Bewohnerinnen Verpflegung respective Unterstützungen zu bieten vermag, ist noch eine Frage der Zukunft und hängt von den Vermögensverhältnissen des Unternehmens ab; ebenso ist man im Princip noch nicht darüber einig, ob gemeinschaftlicher Tisch oder Einzelbeköstigung vorzuziehen sei. Zunächst bedarf jede Dame eines jährlichen, wohl nicht bedeutenden Zuschusses, und hier könnte die Eingangs erwähnte „deutsche Pensionsanstalt“ mit ihrer Rente eintreten, ja beide Unternehmungen sind überaus geeignet, sich gegenseitig zu unterstützen und zu ergänzen. Das Ideal ist jedenfalls die freie Aufnahme und Verpflegung möglichst vieler würdiger Lehrerinnen und Erzieherinnen, die nicht mehr fähig sind ihr Amt zu verwalten. Die Verwirklichung dieses Ideals erfordert natürlich entsprechende Geldmittel, und es bedarf gewiß nur des Hinweises auf diese Sachlage, um das Interesse für das Ganze in weiteren Kreisen zu wecken und zur Betheiligung zu veranlassen.

Tausende unserer deutschen Frauen und Mütter verdanken den wesentlichen Theil ihrer Bildung der hingebenden Thätigkeit einer Lehrerin; möchte sie diese Gelegenheit zur Ausübung der schönsten und seltensten Tugend, der Dankbarkeit gegen diejenigen, die einst „über ihre Seelen wachten“, nicht ungenützt vorbei gehen lassen!

Gustav Schubert.





Ein Unterrichtsmittel für Schule und Haus. Alljährlich in den jetzigen Tagen, wenn die Sonne einen immer kleineren und kürzeren Bogen am Himmel beschreibt, beschlich unsere Urahnen und andere Bewohner höherer Breiten das unheimliche und bange Gefühl, daß sie wohl eines Tages ganz ausbleiben könnte, wie in jenen dem Pole näheren Ländern, von denen man Kunde haben mochte. Aengstlich beobachtete man ihren Lauf in den kürzesten Tagen, und wenn man dann nach dem 22. December die ersten Spuren eines neuen Wachsthums des Lichtes wahrnahm, so feierte man weit und breit, vom Nilstrom bis Island, das Fest der neuverjüngten, neuerstarkenden Sonne, welche ihren Feind, den Geist der Finsternis, siegreich nach schwerem Kampfe niedergeworfen hat und sich allmählich neu erholt. Auch uns im der Erkenntniß der Natur weit Fortgeschrittenen, die wir wissen, daß kein böses Princip die Sonne bedroht und daß der Wechsel der Tageslängen von der Beständigkeit des Winkels herrührt, den die Erdachse gegen die Erdbahn bildet, ist wie ein altes Ahnenerbgut jenes beängstigende Gefühl in den November- und Decembertagen geblieben, und wie von einem drückenden Alp befreit athmen wir erst wieder auf, wenn der kürzeste Tag vorüber ist. Bemerken wir auch noch nichts von der Zunahme der Tage, so sind wir dessen doch gewiß, und für unser Gefühlsleben beginnt das neue Jahr schon mit der Geburt Christi, welches die alten Kirchenväter wohlweislich mit dem Julfeste der Nordeuropäer, mit den Geburtsfesten der Sonnengottheiten (Osiris und Mithras) der Aegypter und Perser auf dieselbe Zeit setzten. Darum kann ich mir für das Weihnachtsfest von Familien, in denen sich heranwachsende Kinder befinden, kaum ein sinnigeres Geschenk denken, als einen zweckmäßig eingerichteten Globus, mittelst dessen der Familienvater seinen Kindern unsere Beziehungen zu Sonne und Mond klar und anschaulich deutlich machen kann. Solche Experimente sind nicht allein in hohem Grade anziehend und geisterweckend, sondern auch wichtiger und nothwendiger, als man glauben möchte. So bequem sich nämlich die wichtigsten Ereignisse unseres Kalenderjahres an einem gut eingerichteten Globus zeigen lassen, so schwer wird es Jedermann, sie ohne denselben klar zu begreifen, und ich sage nicht zu viel, wenn ich behaupte, daß selbst die Mehrzahl unserer Gebildeten, aus Mangel eines solchen Lehrmittels, keine völlig klare Vorstellung von dem Wechsel der Jahreszeiten in den verschiedenen Zonen besitzt. Es ist das nur zu natürlich, denn früher war der Preis eines wohleingerichteten Globus für nicht sehr bemittelte Familien und kleinere Schulen ein oft unerschwinglicher. In neuerer Zeit ist das durch die Bemühungen des Geographischen Institutes in Weimar anders geworden, denn dieses stellt für den Preis von 23 bis 24 Mark Erdgloben mit Mond her[WS 1], welche die ebenso viele Hunderte kostenden Lunarien vollkommen ersetzen und fast Alles zu lehren gestatten, was man an den kostbarsten Instrumenten dieser Art deutlich machen kann. Diese Globen unterscheiden sich im Farben- und Schriftdruck kaum von den besten, die es giebt; die Billigkeit ist durch eine sehr zweckmäßige Vereinfachung der Aufstellung und Verbindung mit Sonne und Mond erreicht, welche der Chef des Instituts Herr Arnd erdacht hat. Die durch große Leichtigkeit sich auszeichnende Erdkugel ist nämlich einfach auf einen starken Draht befestigt, der ihre schräge, immer denselben Winkel bildende Achse darstellt, um den sie sich, gleichsam frei im Raume schwebend, dreht. Der in prächtigem Reliefdruck hergestellte Mond ist vermittelst eines äußerst sinnreich am Fuße des Globus angebrachten Drahthalters um die Erde drehbar, und die Sonne wird durch eine kleine, auf jeder Cylinderlampe zu befestigende Hohlspiegelkammer vorgestellt.

Mit diesem einfachen und billigen Apparate lassen sich nun, abgesehen von der bei den größeren Exemplaren sehr weitreichenden geographischen Benutzbarkeit des Globus, unter Anderem, folgende Naturvorgänge veranschaulichen, wozu eine vom Regierungsrath A. Steinhauser in Wien verfaßte, ausgezeichnet klar geschriebene Globuslehre genaue Anleitung giebt: 1) der Verlauf von Tag und Nacht auf der ganzen Erde, 2) die Entstehung der Jahreszeiten und der mit ihnen wechselnden Tag- und Nachtlänge, 3) die Lichtgestalten (Phasen) des Mondes, welche sich bei seiner Umdrehung sehr deutlich darstellen; 4) Auf- und Untergangszeiten des Mondes, 5) Sonnenfinsternisse, bei denen sich sehr schön Kern- und Halbschatten unterscheiden lassen, welche die Landstriche bezeichnen, in denen die Finsterniß total oder partial erscheint, 6) die Mondfinsternisse. – Wir erinnern uns kaum, jemals ein günstigeres Verhältniß zwischen zweckmäßiger Ausführung, Leistungsfähigkeit und Preis bei einem Unterrichtsmittel gesehen zu haben, als hier, und möchten Lehrern und Familienvätern die Anschaffung dieses so zeitgemäßen Weihnachtsgeschenkes angelegentlich empfehlen.

C. St.





Unsere Bilder. (Seite 841 und 849.) In diesen Tagen der fröhlichen, seligen Weihnachtszeit, wo Lichter strahlen und Herzen jubeln, bringt auch die „Gartenlaube“ der Festesstimmung ihren Tribut dar. Unsere Bilder zeigen uns „der Menschen zwiespältig Geschick“, wie der Christabend den Einen feiernd in der traulichen Enge beglückenden

[852] Familienlebens findet, den Andern im Dienste der Pflicht in öder Weite der Winternacht: Weihnachten im warmen Heim unterm leuchtenden, buntbehängten Baume, bei munterer Kinder herzerquickendem Jubel - Weihnachten da draußen auf der schneeverwehten Landstraße, unterm kalten Sternenhimmel, bei sausendem Winde.

Weil der lichterbesetzte Tannenbaum, wie überhaupt ein gut Stück unserer Weihnachtsbräuche, den Ueberlieferungen nordischen Natur- und Gemüthslebens seinen Ursprung verdankt, so dürfte der vollsthümlichste unter den nordischen Dichtern der Gegenwart, Fritz Reuter, als Weihnachtsgast bei schlichten Bürgersleuten des biederen Mecklenburg unsern Lesern für die Weihnachtsnummer der rechte Mann am rechten Fleck bedünken. Wir entnehmen das treffliche Bild der jüngst bei Bruckmann in München erschienenen Reuter-Gallerie von C. Beckmann, aus der wir schon in Nr. 49 eine Probe brachten. Fritz Reuter sucht in seiner Junggesellenunlust beim braven Schuster Linsener Weihnachtsfreude und Weihnachtstrost, und dort ist es, wo ihm die Ueberzeugung wird, daß es ein Ende haben muß mit dem leidigen Alleinsein, mit dem Unbeweibtsein. Wer da wissen will, wie das kam und wo das schließlich hinausging, der lese in des Dichters gesammelten Werten die Skizze nach „Woans ick tau ’ne Fru kamm“ („Wie ich zu einer Frau kam“) – es ist eine farbenreiche Schilderung voll realistischer Derbheit und weicher Herzensschönheit.

Und neben die traute Scene kleinbürgerlicher Weihnachtsfreude, wie unser Reuter-Bild sie zeigt, stellen wir als lebensvolles Gegenstück Ellminger’s „Weihnachten auf der Landstraße“. Wie sehnsüchtig mag der biedere Rosselenker auf der Fahrt durch Nacht und Schnee des festlich hellen Stübchens gedenken, wo er - daß auch gerade heute der Dienst ihn traf! - den Seinen fehlt! Die Braunen sind müde; der Weg ist lang, und nun muß ihm auch noch der Schlagbaum ein Halt gebieten und der schimmernde Baum in der Klause des Chausseewärters ihm sagen, was er entbehrt! „Den Schlagbaum auf!“ Endlich - und vorwärts geht’s mit Hussaruf und Peitschenknall, die Landstraße entlang, weiter und immer weiter, der fern winkenden Weihnachtsfreude entgegen.




Christabend.


Kindchen hat sich müd’ gewacht,
Hat den ganzen Tag
Ueber’s Christkind nachgedacht,
Wie’s wohl kommen mag:

Ob’s ein holder Engel wär’,
Trüg’ zwei Flügelein; -
„Heut’ entgeht’s mir nimmermehr!“
Denkt es - und schläft ein. -

Mutter bringt zu Tische schnell
Jetzt den Weihnachtsbaum,
Und die Kerzen flammen hell
In des Kindes Traum.

Und im Traume blendend bricht
Durch die Thür ein Schein;
Mit verklärtem Angesicht
Tritt ein Engel ein,

Schmückt ein Bäumchen wundernett,
Zündet’s an zum Schluß,
Und dann neigt er über’s Bett
Lächelnd sich zum Kuß.

Mutter, die am Bettchen sitzt,
Sieht ihr träumend Kind,
Sieht, wie sich das Mündchen spitzt,
Und sie küßt’s geschwind.

Und sie thut’s noch einmal drauf.
Kann nicht widerstehn –
Und zwei Aeuglein thun sich auf,
Wie zwei Sterne schön.

Ob auch erst das Kind erschrickt,
Als der Traum entflieht,
Still verständnißvoll es nickt,
Als den Baum es sieht.

Richtet sich empor in Hast:
„Ist kein Engel da?“
Und die Mutter es umfaßt:
„Sieh, ich halt’ ihn ja!“

Rudolf Sperling.





Bilder aus Elsaß-Lothringen. Originalzeichnungen von Robert Aßmus. Schilderungen von Karl Stieler. (Stuttgart, Paul Neff.) Wohl ist die Zeit vorüber, da die lange verhaltene Mutterliebe Deutschlands zu den einst so schnöde ihm vom Herzen gerissenen Kindern Elsaß und Lothringen in hellen Flammen aufschlug, die Zeit, da sie in heißem Ringen für den heimischen Kreis zurückgewonnen wurden. Aber ein ganz besonders warmes Interesse für jene beiden mit so viel Schönheit und Reiz gesegneten „Zuwider-Wurzen“ unter den deutschen Provinzen wird noch lange ungeschwächt dauern, jedenfalls so lange, wie die überlebenden Helden der Belagerung von Metz, Straßburg etc. noch unter uns wandeln. Wie sehr dieses Interesse sich durch das Verlangen bethätigt, die beiden Schwesterprovinzen genauer in Landschaft und Bevölkerung wie in ihrer geschichtlichen Vergangenheit kennen zu lernen, beweist ebenso der Zug von Reisenden welche alljährlich dorthin pilgern, wie die reiche Literatur, welche seit Anfang dieses Jahrzehnts Elsaß-Lothringen für das deutsche Publicum aufgeschlossen hat. Glänzender aber ist Letzteres nirgends geschehen als in dem Werke, welchem diese Zeilen gelten und zu dessen Herstellung sich ein gediegener Künstler und einer unserer besten Schilderer zusammengethan haben. Weder was den überreichen künstlerischen Bilderschmuck der Holzschnitte anlangt, noch hinsichtlich des Textes tritt das ebengenannte, auch äußerlich originell und reich ausgestattete Werk aus der Reihe der unsern Lesern jüngst zur Auswahl gestellten Prachtwerke heraus. Möge das stattliche Buch, in welchem jedes wie immer geartete Interesse an den neugewonnenen Provinzen seine Rechnung finden wird, auf das Wärmste empfohlen sein!





Kleiner Briefkasten.

Marie P. Was wir schon tausend Fragestellern vor Ihnen geantwortet, müssen wir leider auch Ihnen wiederholen: Zur Beurtheilung nicht druckfähiger Gedichte fehlt uns Beruf und Zeit. Ihre Verse wanderten als allzu unreif in den Papierkorb; denn - um dies noch einmal zu erklären - wir halten uns nicht für verpflichtet, unaufgefordert eingesandte Manuskripte kleinen Umfanges zu retourniren.

Abonnent in Wiesbaden. Man gewöhne sich, mit geschlossenem Munde einzuschlafen!

O. B. in B. Für unaufgefordert Eingesandtes übernehmen wir keine Garantie.

S. in Offenbach. Hat die „Gartenlaube“ nie publicirt.

O. in Th. Wagen Sie ein Jahr und 1500 Mark daran, ein Conservatorium (Weimar, Leipzig, Berlin) zu besuchen. Das Weitere wird sich finden - ob es nämlich des ferneren Studiums bedarf. Ein anderes Mittel kennen wir nicht.

Ch. D. in G. Adressiren Sie sich an die „Leipziger Theaterschule“ (Director Alfred Werner)!

E. F. in Huch. Unbrauchbar! Das Manuscript liegt für Sie bereit.

Alter Abonnent in Horn. Wenden Sie sich an die englische Gesandtschaft in Berlin.




Als schönstes Weihnachtsgeschenk

empfehlen wir ein Jahres-Abonnement auf den mit dem 1. Januar beginnenden Jahrgang 1879 der „Gartenlaube“. Wir sind in der angenehmen Lage, unseren Lesern sowohl auf dem Felde der Novelle wie auf allen anderen Gebieten Vorzügliches nach wie vor in Aussicht stellen zu können. Der Jahrgang wird den bereits früher angekündigten und wegen Krankheit der Dichterin leider bisher nicht zur Vollendung gediehenen Roman:

„Im Schillingshof“
von

nunmehr auf Grund ausdrücklicher Versicherung der Verfasserin mit Beginn des zweiten Quartals bringen. Außerdem:

„Irrend Sterne“ Das Haus in der Schlucht
von von
Georg Horn, Balduin Möllhausen,

welchen sich, so weit der Raum es erlaubt, „Der Hiob von Unterach“ von Karl Emil Franzos - „Felix“ von Karl Theodor Schultz - „Verheirathet“ von H. Wild und andere uns vorliegende fesselnde Erzählungen anreihen werden.

Die Verlagshandlung von Ernst Keil in Leipzig.




Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General-Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahres aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig).

Anmerkungen (Wikisource)