Die Gartenlaube (1878)/Heft 50

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1878
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[821]
Lumpenmüllers Lieschen.
Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


Lieschen hing in athemloser Spannung an den Lippen der Erzählenden.

„Einen Augenblick blieb Alles still,“ fuhr die Muhme nach kurzer Pause fort; „dann hättest Du hören sollen, mit welcher Seelenangst die Lisett wiederholte:

‚Woher hast Du das goldene Herz, Fränzel?‘ Sie schien der Fränzel die Worte von den Lippen lesen zu wollen, und diese hatte den Kopf weit zurückgebogen und sah mit funkelnden Augen zu ihr hinüber; sie stand mit übereinander geschlagenen Armen, und nach und nach legte sich ein höhnisches Lächeln um ihren Mund.

‚Was geht’s Dich an?‘ fragte sie und wollte sich los machen.

‚Was es mich angeht? Gütiger Jesus, sie fragt, was es mich angeht! Marie, so hilf mir doch!‘ rief die Lisett, ‚ich muß es wieder haben; es ist ja mein – nein, sein – Herr Gott, ich hab’ es ihm ja geschenkt.‘

Ich trat näher, ganz starr vor Schrecken. ‚Gieb das Ding her, Fränzel!‘ sagte ich. ‚Gelt, Du hast es gefunden?‘

‚Was meint Ihr denn?‘ rief diese und schüttelte die Hand Lisett’s ab, die schwer auf ihrer Schulter lag, mich wundert, daß Ihr nicht sagt, ich hätt’s gestohlen. Es ist mein Eigenthum, ich laß’ mir’s nur von dem nehmen, der mir’s geschenkt, und nun rührt mich nicht an! Ich sollte meinen, Ihr wißt noch von früher, daß ich kratzen kann.’ Sie trat zurück; ihre Hände hatten sich geballt; dann wandte sie sich rasch zum Gehen.

‚Halt!‘ rief Lisett und faßte sie wieder am Arm, ‚ich frage Dich im Namen Jesu: Wer gab Dir das Herz?‘ Sie stand hochaufgerichtet vor dem Mädchen und hielt wie beschwörend die Hand empor – ein Zittern ging durch ihre Gestalt. Den Augenblick werd’ ich nimmer vergessen, Lieschen. Ich wollt’ zu ihr hin, um sie zu stützen, aber ich mußte stehen bleiben und sie ansehen; so schön sah sie aus, durch die entlaubten Zweige der Linden fiel ein Strahl der Herbstsonne und spielte auf ihrem braunen Haar, daß es wirklich aussah wie ein Heiligenschein, und wie ein Heiligenbild stand sie auch da, wie ein Engel vor einer Verlorenen.

Fränzel war ganz blaß geworden, als sie den Augen der Lisett begegnete, dann aber riß sie sich los und sagte: ‚Warum willst Du das wissen? Hab’ ich Dich schon einmal danach gefragt, wer Dir das goldne Ringel gab, das Du neulich so heiß geküßt hast in der Laube? Ja, ja, das hab’ ich wohl gesehen,‘ lachte sie, und kann ich nicht auch heimlich ’nen Liebsten haben? Denkst Du, weil Du des reichen Lumpenmüllers schöne Lisett bist, die tolle Fränzel gefällt Keinem? Leb’ wohl Lisett, und thu’ nicht so verwundert! Weiter sag’ ich Nichts –‘ sie lachte spöttisch auf und rannte über den Mühlensteg, daß ihr rother Rock im Sonnenschein uns in die Augen leuchtete.

Die Lisett aber stand bleich und starr und sah ihr nach, und als ich hinging zu ihr und sie trösten wollte, da stieß sie mich hastig zurück, und dann ging sie hinauf in ihre Stube. – Ich wußte nicht, was ich machen sollte, Kind, ob ich ihr folgen sollte oder nicht; das Herz klopfte mir zum Zerspringen, und wie ich noch so dastand, kam der Lisett ihre Mutter und gab mir einen Auftrag und schalt, daß die Federn da alle so zerstreut lagen auf dem Platze. Ich besorgte, was sie mir befohlen, aber die Thränen drängten sich mir aus den Augen um der armen Lisett ihren schweren Kummer – Herr Gott, wer hätte das gedacht? Sollte es denn wirklich wahr sein, daß er das Andenken von seinem Schatz an die leichtfertige Dirne vertändelt? Aber freilich, woher sollte sie es haben? Und dann das Licht drei Abende hinter einander im Thurmstübchen! O du einziger Heiland, dachte ich, was soll nun werden? Und sobald ich konnte, lief ich hinauf zu der Lisett, und da stand sie am Fenster und sah hinüber zum Schloß, und als ich an sie heranging und wollt’ meinen Arm um sie legen, da sagte sie ganz leise:

‚Laß gut sein, Mariechen! Womit wolltest Du mich auch trösten? Geh’ nur hinunter, geh’ nur! Ich werde schon allein fertig.‘

Ich schüttelte den Kopf und ging; ich konnt’ ja vor Weinen kaum sprechen, aber als ich eben die Stubenthür wieder schließen wollt’, da schrie sie auf, so furchtbar, so gellend, und als ich erschreckt zurücklief, da schüttelte es sie wie im Krampf und dann sank sie zu Boden. – Ich wollte sie aufheben aber sie lag schwer in meinen Armen wie eine Todte, und da kam auch schon die Mutter die Treppe herauf, und –

Du lieber Gott, Kind, was soll ich Dir das ausmalen? Es ist mir selbst nur wie ein dumpfer unheimlicher Traum. Die Lisett war schwer krank geworden; der Doctor gab keine Hoffnung, ich saß Tag und Nacht dort an dem Bette und horchte auf die bangen Phantasien, und das plauderte so süß und erzählte sich Etwas mit dem Liebsten, daß mir das Herz beinah stillstand vor Schmerz und Wehmuth; die Mutter erfuhr erst durch die wilden Fieberreden von ihres Kindes Lust und Schmerz – ich mußt’ ihr Alles erzählen. Sie warf einen langen kummervollen Blick auf das liebliche Geschöpf, das so jäh aus seinem Himmel geschleudert war, der Vater aber tobte und fluchte über den Treulosen; nur Lisett’s Bruder sagte:

[822] ‚Da steckt eine bübische Teufelei dahinter; ich kenne den Fritz; es ist kein falsches Haar an ihm.‘

Ach, Kind, was ist damals hier gebetet und geweint worden in der kleinen Stube! Die Hände haben wir uns wund gerungen um das junge Leben, aber der liebe Gott läßt sich seine Uhr durch keinen Menschen stellen, und am neunten Tage, als gerad’ das Abendroth so recht golden verglühte, da fiel sein Schein auf ein bleiches Gesicht und die blauen Augen waren geschlossen für immer. – So friedlich lag sie da, so still, so fern von allem Herzeleid. Ich aber hab’ mich da drüben niedergeworfen und hab’ geschrieen vor übergroßem Schmerz und Weh –“

Die alte Frau hielt inne und wischte sich die Augen. Lieschen hatte den Kopf in den Schooß der Muhme geborgen, und es schien, daß auch sie leise vor sich hin schluchzte.

„Denselben Abend,“ fuhr jene endlich fort, wie die Lisett gestorben war, da lief ich in den Garten, gerad’ als man unten im Dorf die Todtenglocke für sie läutete; denn ich hatte nicht Ruh noch Rast auf einer Stelle, und wie ich da so steh’, da blitzt auf einmal drüben im Thurm ein Licht auf. Ich war erschrocken, und dann brachen meine Thränen von Neuem hervor, denn sie, die nun so still da lag, sie konnt’s ja nicht mehr sehen – und so lehnte ich mich denn an die Wand des Hauses und weinte so recht aus Herzensgrund. Von drinnen aus der Wohnstube da hört’ ich den Schritt des Müllers – der ging ruhelos auf und ab – und dann wieder der Mutter banges Schluchzen und des Sohnes tröstende Stimme; sonst war es still ringsum, todtenstill. Das Geläut war nun auch verstummt; die Räder der Mühle standen schon den ganzen Tag, und die Knechte und Mägde da drüben im Hause, die schlichen so leise umher und flüsterten nur mit einander, als wollten sie die Ruhe unserer Lisett nicht stören.

Und da auf einmal hör’ ich von drüben Jemand kommen, so einen rechten festen raschen Tritt. Jesus! mein Christian! dacht’ ich, aber in demelben Augenblick tritt’s auch schon auf den Mühlensteg, und eine kecke Stimme fängt an, so recht laut und vergnügt ein Lied zu trällern – mir ging’s durch Mark und Bein – Herr des Himmels, das war des Baron Fritz’ Stimme! Und ehe ich es versehe – denn ich war wie gelähmt vor Schreck – ist er im Hause drin, und wie ich dann nachkomme, hatte er schon die Stubenthür geöffnet und stand dem Müller gegenüber; sein glückliches Gesicht und die blitzenden Augen suchten in allen Winkeln herum nach der Lisett.

Die Frau sank mit einem Schrei in den Sessel zurück, als sie ihn erblickte, der Müller aber stürzte auf ihn zu, und mit dem Ausruf:

‚Verfluchter Bube, willst Du mich auch in meinem Schmerz noch äffen?‘ riß er ihn in’s Zimmer hinein.

Der Müller war ein jähzorniger Mann, aber Lisett’s Bruder sprang zwischen die beiden Ringenden und rief:

‚Erst frage ihn, ob er schuldig ist, Vater!‘

Der alte Mann jedoch stellte sich vor ihn hin und schrie:

‚Die Lisett! Sie suchen wohl die Lisett, Herr Baron? Da droben liegt sie; gehen Sie hinauf und sehen Sie sie an!‘ Dann schlug er sich die Hände vor’s Gesicht in heißem, wildem Schmerz.

‚Komm, Fritz!‘ sagte unser junger Herr und zog den Erschrockenen in das Nebenzimmer, ‚komm her! Ich will Dir Alles sagen, was Trauriges über uns hereingebrochen ist.‘ Und dann schloß sich die Thür hinter ihnen, und ich blieb allein mit den weinenden Eltern.

Nebenan hörte man kein Wort, nur einmal ein schmerzliches Aufstöhnen – das war Alles; wie in endloser Pein vergingen die Minuten. Ich saß am Fenster und schaute in die Nacht hinaus, plötzlich aber schrak ich zusammen, den draußen an die Scheibe hatte sich ein Gesicht gepreßt und blickte mit ein paar großen dunklen Augen, aus denen Angst und Entsetzen leuchtete, in’s Zimmer hinein, und dann winkte mir eine Hand, und das Gesicht war verschwunden. Ich hatte es erkannt – es war die tolle Fränzel.

‚Gott behüt’ uns!‘ dacht’ ich, ‚was will Die wieder?‘ Aber ich ging leise hinaus, und da stand sie und klammerte sich mit beiden Händen an die Pfosten der Hausthür, und der schwache Lichtschein aus dem Fenster der Stubenthür zeigte ein vor Angst fast verzerrtes Gesicht, über das die schwarzen Haarsträhnen aufgelöst hingen, das Schreckliche ihrer Erscheinung noch vermehrend. Sie zitterte so, daß sie sich kaum aufrecht zu erhalten vermochte, und als ich sie fragend und verwundert ansah, da bewegte sie ihre blassen Lippen, ohne daß ein Wort herüber kam.

‚Die Lisett –‘ fragte sie dann mit völlig klangloser Stimme, ‚ist’s wahr, was die Leute sagen, hat’s vorhin um die Lisett geläutet?‘

‚Sie liegt droben im ewigen Schlaf,‘ erwiderte ich.

‚Heiliger Gott!‘ schrie das Mädchen auf, ‚ist’s wahr, ist’s wirklich wahr?‘

In dem Moment kam Baron Fritz aus der Nebenthür, hinter ihm unser junger Herr, der ein Licht in der Hand trug. Er war blaß wie der Tod, und die Augen glühten ihm förmlich im Kopfe; offenbar wollte er in’s Sterbezimmer hinauf. Da fielen seine Blicke auf die Gestalt an der Erde, und sie erkennend blieb er stehen.

Der sollte ich das Andenken an meine Braut geschenkt haben?‘ sagte er unheimlich ruhig, während seine Augen mit verächtlichem Ausdruck auf ihr haftete, ‚Friedrich, glaubst Du das? Sprich, Du Geschöpf,‘ rief er dann mit zittender Stimme. ‚Du hast das goldene Herz gestohlen, das ich im letzten Augenblick meiner Abreise von hier vermißte!‘

Das Mädchen hob die Hände zu ihm empor. ‚Nein, o nein, Herr Baron –‘

‚Wirst Du gestehen, nichtsnutzige Dirne!‘ rief er und hob die Reitpeitsche, die er in der Hand hielt, zum Schlage.

‚Schlagt zu, Herr!‘ rief sie, ‚ich hab’s verdient, aber ich habe es nicht gestohlen, beim ewigen Gott nicht! Man hat es mir gegeben, so wahr ich hier liege; ich hätt’s ja nimmer zum Spaß umgehängt, hätt’ ich gewußt, wie’s auslaufen thät’.‘

Baron Fritz ließ den erhobenen Arm sinken. ‚Hinaus mit Dir!‘ rief er und wies ihr die Thür, ‚Du sollst wenigstens nicht die Ruhe hier im Trauerhause stören; ich fasse Dich doch noch.‘

Sie raffte sich auf. ‚Erbarmen, Herr!‘ rief sie, ‚vergeben Sie mir; ich bin ein eitles dummes Ding, aber schlecht bin ich nicht – o Herr Baron, ich wollt’ ja gern sterben, könnt’ ich die Lisett wieder lebendig machen.‘

Sie sah so zerknirscht, so wahrhaft jammervoll aus, als sie vor ihm stand, die Hände gefaltet, mit den verweinten dunklen Augen, daß unser junger Herr den Baron Fritz bat: ‚Frage sie, wer ihr befahl, das kleine Herz zum Spaß umzuhängen! Vielleicht sagt sie’s.‘

‚Wer hat Dir befohlen, daß Du das goldene Herz umhängen solltest?‘ wiederholte der Baron mechanisch die Frage, und in seinen Augen blitzte es auf einmal auf wie die Ahnung von etwas Entsetzlichem.

‚Sag’s, Fränzel,‘ redete ihr der junge Herr leise zu, ‚sag’s, wenn wir es glauben sollen, daß Du wirklich nichts Böses im Sinne führtest, als Du –‘

‚Nein, wahrhaftig!‘ schrie sie auf, ‚ich hab’ nichts Böses gedacht, ich wollt’ nur die Lisett einmal ärgern, weil sie immer so stolz that gegen mich, und ich konnt’ ihr doch nichts anhaben, und deshalb war ich gleich dabei, als sie mir sagte, ich sollte – Nein, ich verrath’s nicht, Jesus! ich darf nichts verrathen.‘ –

Sie zitterte am ganzen Leibe.

‚Geh!‘ sagte Baron Fritz plötzlich, ‚ich will es jetzt nicht wissen; es ist ein Bubenstück ausgeübt worden, ein teuflisches Bubenstück.‘

Er wies mit dem Arm hinaus, und das Mädchen lief schluchzend in die finstere Nacht hinein; ich trat vor die Thür und schaute ihr nach; ich konnt’ gerade noch die Gestalt über den Mühlensteg ziehen sehen, dann verschwand sie in der Dunkelheit. Draußen aber war es eine unheimliche Nacht geworden, und es ging ein Sausen und Brausen durch die Luft, ein fremdartig schrilles Pfeifen und Heulen; der Himmel hatte sich bezogen; kein einziges Sternlein blitzte mehr hernieder, und die Aeste der alten Linden ächzten und bogen sich unter gewaltigen Windstößen; es war zum Fürchten unheimlich geworden da draußen, und doch blieb ich stehen. Wenn so ein plötzlicher Sturm daher rast, so sagt man bei uns auf dem Lande, es habe sich ein verzweifelndes Menschenkind selbst das Leben genommen, und man betet für seine arme Seele ein Sprüchlein, wenn man gleich nicht wissen kann, wer es sei, und ich faltete auch die Hände und wollt’ ein Gebet sprechen, da fiel mir’s schrecklich auf’s Herz. Herr Gott im Himmel, wenn die Fränzel –? Im ersten Augenblick wollt’ ich ihr nach; dann blieb ich stehen – wo sollt’ ich sie auch suchen?

[823] Drinnen im Zimmer hatte wieder das ruhelose Wandern des Müllers begonnen, und wieder scholl der Mutter Schluchzen, des Sohnes Trösten dazwischen, aber wo war Baron Fritz? Noch immer am Todtenbett? Drüben im Dorfe schlug es zehn Uhr; da hörte ich einen Schritt die Treppe herabkommen, so langsam und schleppend, als gehe ein alter Mann. Ich schaute in den Hausflur – da stand er am Treppengeländer; leichenblaß sah er aus; kaum wieder zu erkennen war das hübsche, lebenslustige Gesicht. Er sah noch einmal hinauf und schritt dann langsam auf die Wohnstubenthür zu; als er dicht davor stand, schauderte er zusammen, wandte sich rasch um und ging an mir vorüber, ohne mich zu sehen, in die finstere Nacht hinaus, wie ein armer gebrochener Mensch. Es war das letzte Mal, daß ich ihn gesehen, er soll dann ein wildes, tolles Leben geführt haben – wie mochte sein Herz im lauten Jammer schreien! In Derenberg ist er nie wieder gewesen, und jetzt wird er lange todt sein. Möge Gott ihm eine sanfte Ruhe schenken!

Die tolle Fränzel aber war auch verschwunden; Niemand wußte, wohin. Und auf dem Schlosse und im Dorfe sagten sie Alle, der junge Baron sei mit ihr auf und davon, und da hab’ ich auch noch einmal gezweifelt an seiner Treue. Aber dann, als die Lisett begraben war, da ging ich gegen Abend mit meinem Christian auf den Kirchhof zu dem frischen Grabe, und wie ich dort stehe und weine und die Kränze all zurecht lege, die ihr die Leute geschickt hatten, da sagte Christian: ‚Guck, Mariechen, dort liegt was Weißes wie ein Zettel,‘ und richtig, es war auch ein Steinchen darauf gelegt, damit es nicht wegfliegen sollt’, und wie ich ihn aus einander falte, da steht darauf in großen ungelenken Buchstaben: ‚Es ist nicht wahr, was sie sagen; er hat mich niemals angeschaut; ich weiß nicht, wo er ist, und er nicht, wo ich bin. Mich sieht nimmer Einer wieder von Euch – denkt nicht zu schlecht von mir! Das goldene Herz hab’ ich umgehängt, weil es meine Herrin befohlen; sie sagte, es gelte nur einen Spaß mit der Lisett. Die Sanna war dabei – Ihr könnt sie fragen. Gott soll mir vergeben; ich hab’ nicht wollen so Böses thun.

Franziska.‘

So hat sie es damals gemacht, sie da droben, um des Lumpenmüllers Lisett nicht in ihre stolze Familie zu bekommen und – Kind“ – die alte Frau streichelte weich das Haar des tief erschütterten Mädchens zu ihren Füßen – „Du, unser Einziges, thu’ Dir und uns das nicht an, daß Du ihr wieder zu einer Gelegenheit verhilfst, solch ein Teufelsstück auszuüben! Sie wird es ausüben – verlaß Dich darauf! – sie haßt uns hier in der Mühle, weil sie von der Lisett her ein böses Gewissen hat. Sieh’, mein armes Herzel, wenn’s mir auch bitter weh um Dich ist, ich kann Dir nur eines sagen: begrabe, was Du heute erlebt hast!“

„Ich vermag es nicht, Muhme,“ unterbrach sie das junge Mädchen thränenmüde, aber mit unverkennbarer Bestimmtheit; und plötzlich erhob sie sich und stand in fester Haltung vor der alten Frau. „Die Geschichte von der Tante Lisett ist sehr traurig. Aber ich habe Army das Versprechen gegeben, daß ich ihn retten will, und das muß ich halten. Und wenn ich ihm die Geschichte der Tante Lisett erzählt haben werde, dann wird er gewarnt sein. Sei barmherzig, Muhme, und rede mir nicht ab!“ fügte sie nach kurzer Pause in ausbrechender Leidenschaft hinzu, indem sie auf’s Neue zu den Knieen der sprachlos Dasitzenden niedersank, „wir haben uns ja so lieb, so lieb – hilf uns, daß wir glücklich werden! Sag’ es dem Vater drunten und der Mutter und rede ihnen zu – nicht wahr, Du thust es, liebe, süße Muhme, nicht wahr?“ Und die feuchten Augen des gequälten Mädchens blickten flehend zu der Muhme hinauf, und diese fühlte, wie zwei weiche Hände die ihren faßten und sie ängstlich festhielten.

„Mein Gott“ – klang es im Herzen der alten Frau, „es hat nichts geholfen; es ist die Lieb’ wie sie immer war, die niemals klug wird, außer durch eigenen Schaden. Und er hat sie doch nicht lieb; es ist nicht wahr, wenn ich nur das Herz hätte, ihr das zu sagen! – und der Friedrich wird’s nie zugeben –“

„Willst Du mit den Eltern sprechen, Muhme?“ flüsterte es so wehmütig und schmeichelnd zugleich zu ihr herauf.

„Ja, mein Herzchen! Ich seh’s schon, es hilft nichts – aber schlaf’ nur ruhig heut! Morgen, morgen –“

„Nein, heut, gleich jetzt! Morgen kommt er ja,“ flehte sie, „Vater muß sich in der Nacht doch überlegen, was er ihm sagen will – bitte, bitte, Muhme!“

„Hast Recht, mein Kind, es ist besser gleich,“ bestätigte die alte Frau, und die Stimme klang so eigenthümlich gepreßt, „laß mich aufstehen! Ich will hinunter, Du aber schlaf’ süß! Morgen früh erfährst Du zeitig genug, was sie sagen, mein Liebling.“

„Wie könnt’ ich schlafen, Muhme!“ rief sie aufspringend und legte die kleine zitternde Hand auf die Schulter der alten Frau.

Die alte Frau antwortete nicht; sie öffnete hastig die Thür und ging hinaus. Lieschen folgte ihr in den dämmerigen Vorsaal und bog sich über das Treppengeländer; da schritt sie die breite gewundene Stiege hinunter, aber wie langsam ging es! Die alten Füße konnten doch sonst noch so flink trippeln; heute wollten sie gar nicht vom Fleck; langsam – langsam, Stufe um Stufe ging es; die Treppe ächzte ordentlich unter den schweren Tritten der Alten, und ihre Hände faßten so fest das geschweifte Geländer – nun verschwand die Gestalt den Blicken Lieschens; die schleppenden Tritte über den steingepflasterten Flur tönten in ihr Ohr, und jetzt – jetzt – das war die Thür der Wohnstube; jetzt stand sie vor Vater und Mutter.

„Ob man das Sprechen hier oben hören kann? Was werden sie sagen?“

Athemlos stand sie so über das Geländer gebeugt; kein Laut drang zu ihr hinauf – nur ein paar Mal hörte sie Dörtens Stimme leise vor sich hin singen und Klappern von Tellern und Geschirr aus der Küche – dann war’s ruhig wie zuvor.

„Aber jetzt – das war der Vater; ob er böse ist? Er sprach so laut, und nun die Muhme.“ Lieschens Herz fing an gewaltig zu klopfen; sie preßte beide Hände darauf. „Wie, wenn der Vater nicht einverstanden wär’? Aber das ist ja unmöglich, rein unmöglich; der Army ist’s ja, der sie liebt.“ Das war ein Durcheinandersprechen dort unten – jetzt der Muhme Stimme; das klang so besänftigend, und jetzt wieder der Vater – deutlich schallte es heraus; wie betäubend drang es in ihr Ohr:

„Nein, nein und tausendmal nein, sage ich, und wenn Ihr allesammt vor mir auf den Knieen liegt, ich weiß allein, was ich zu thun habe.“

Einen Augenblick sahen die großen blauen Augen wie verständnißlos in’s Leere hinaus; dann flog sie die Treppe hinunter, und im nächsten Momente stand sie mitten in der Wohnstube; über ihr Gesicht flog bald eine glühende Röthe, bald überzog es tiefe Blässe. „Vater!“ bat sie.

Er blieb stehen und sah sie an; auf seiner breiten weißen Stirn ringelte sich blau eine kleine Ader; sie kannte es wohl, das Zeichen der höchsten Erregung bei ihm, und seine Augen leuchteten förmlich Blitze zu ihr hinüber. Die Muhme aber hatte ein so tief bekümmertes Gesicht, als sie jetzt zu dem jungen Mädchen trat: „Komm, Liesel, geh’ hinauf!“

„Nein, Muhme, laß mich! Ich will wissen, was der Vater sagt.“

„Was der Vater sagt?“ tönte jetzt seine Stimme in ihr Ohr; „der sagt, daß Du ein törichtes, dummes Ding bist, dem zu viel Willen und zu viel Freiheit gelassen wurde, aber das Versäumte wird jetzt nachgeholt werden – verlaß Dich darauf!“

„Das heißt, ich soll nicht Army’s Braut werden, Vater?“ Sie stand plötzlich dicht vor ihm und sah ihn fest an.

„Nein, mein Kind, zu Deinem Besten nicht. Ich dulde nicht, daß meine Tochter das Opfer einer Speculation werde.“

„Speculation?“ fragte Lieschen, die blaß geworden war wie der Tod, „ich weiß nicht, was Du damit meinst, Vater! Du glaubst vielleicht, Army hat mich nicht lieb; das ist ja möglich, aber wenn er mich auch wirklich nicht so lieb hat, wie ich ihn, das darf für mich nicht in Betracht kommen; ich weiß, daß das Leben erst wieder Werth für ihn bekommen wird, wenn er –“

„Seine Schulden bezahlt hat, mein Kind.“

„Muhme!“ wandte sich Lieschen jetzt in höchster Erregung zu der alten Frau, „Muhme, glaubst Du das von dem Army? O, sprich ein Wort!“ Sie sagte es so überzeugend; der alten Frau schossen die hellen Thränen in die Augen.

„Komm, komm, mein Liesel!“ flüsterte sie; „der Vater ist böse und aufgeregt; morgen wird er ruhiger sein.“

„Nein, nein, Muhme, Du mußt es dem Vater sagen, was Du denkst; er giebt so viel auf Deine Meinung.“

Die alte Frau stand in peinvollster Verlegenheit; die Thränen [824] rannen ihr über die gefurchten Wangen, und ihre Hände fuhren hastig an dem Schürzensaum hinunter.

„Du glaubst auch, Muhme –?“ Es klang wie ein Aufschrei, aber noch kam keine Thräne in Lieschen’s Augen.

„Vater, ich weiß, daß es nicht so ist; es ist nicht möglich, nein, es ist nicht möglich –!“

„Ich begreife Deinen Schmerz, Lieschen,“ sagte er ruhiger, „aber wie konntest Du so thöricht sein und an eine plötzlich erwachte Neigung glauben? Du bist sonst ein so vernünftiges kluges Mädchen; sieh, er kennt Dich schon lange und zog doch eine Fremde Dir vor; er hat niemals daran gedacht, Dich zu lieben, Dich heirathen zu wollen; es waren Kinderspiele, die Euch einst zu einander führten, weiter nichts, und jetzt, jetzt, wo er nicht aus noch ein weiß, erinnert er sich des kleinen Mädchens, das ja Vermögen besitzt, und verlangt ihre Hand, um sich zu retten, und sie ist so thöricht, dies für Liebe zu halten. Muß ich erst an Deinen Mädchenstolz appelliren, Lieschen?“

Sie antwortete nicht; nur ihre Augen sahen mit beinahe irrem Ausdrucke zu dem Vater hinüber.

„Die Mutter Nelly’s ist auch so ein Opfer geworden, mein Kind! Ist sie Dir jemals beneidenswert erschienen? Muß sie sich nicht stets grenzenlos gedemüthigt vorgekommen sein, ihrem Gatten gegenüber, der sie nur als lustige Zugabe zu ihrem Vermögen betrachtete? Weil er die Frau nicht liebte, führte er ein wildes tolles Leben und als ihre Mitgift verschwendet war, da erschoß er sich – ist das nicht namenloses Elend? Lieschen, Kind, und würdest Du verlangen, daß ich Dich in einen solchen Abgrund stürzen lasse?“

Da lösten sich die gefalteten Hände von Lieschens Brust; sie faßten nach dem Tische, an dem sie stand; ihre blassen Lippen bewegten sich leise, als wollten sie sprechen, aber kein Wort kam hervor. Die Tassen auf dem Tische klirrten hörbar von dem heftigen Zittern des Mädchens.

„Liesel! Um Gotteswillen!“ rief die Muhme und umschlang sie mit den Armen.

„Ich danke Dir, Vater,“ sagte Lieschen, sich losmachend, tonlos, „ich – ich werde Dir gehorchen.“ Sie wandte sich und schritt langsam nach der Thür; wie in schwindelndem Kreise wirbelte es vor ihren Augen; sie hörte noch die Stimme der Muhme; dann fiel die Thür hinter ihr zu. Sie wankte die Treppe hinan; sie mußte sich schwer auf das Geländer stützen, und endlich, endlich war sie oben in ihrem Stübchen und sank auf das kleine Sopha.

Der Vater kam herauf und streichelte ihr die Wangen und nannte sie sein gutes verständiges Kind, das noch einmal sehr glücklich werden würde. Die Muhme setzte sich neben sie und weinte still vor sich hin, und dann und wann kam ein gutes Wort des Trostes über ihre Lippen; Lieschen hörte Alles wie aus weiter Ferne, nur das Eine wiederhallte laut und deutlich in ihrer Seele: „Er liebt mich nicht: er hat mich nicht gewollt, nur meine irdischen Güter – aus Noth.“ War es denn wirklich erst ein paar Stunden her, seit sie unter der alten Linde ihren Kopf an seine Brust gelegt und den Worten gelauscht hatte, die er ihr zuflüsterte? War es nicht schon eine Ewigkeit, eine lange Ewigkeit, und lag nicht zwischen jetzt und vorhin ein ganzes Meer von Leid und Weh?

Sie stöhnte laut auf und preßte die Hände gegen die Brust. Ach, ihre kurze Seligkeit, ihr süßer Liebestraum – vorbei, vorbei für ewig! Glühend stieg ihr das Blut in die Wangen, als sie daran dachte, daß sie ihm so vertrauensvoll gestanden, wie sehr sie ihn liebe; es war ihm ja ganz gleichgültig, konnte ihm nur gleichgültig sein; er wollte ja nicht ihre Liebe; er wollte ihr Geld. Wo sollte sie sich nur hinverbergen, damit sie Niemand sähe? Sie schloß die Augen und dachte: wenn er nun kommen und der Vater seinen Antrag zurückweisen würde. Das schöne stolze Gesicht, wie würde es anzuschauen sein in jenem Moment? „Und dann wird er gehen,“ dachte sie. Sie sah ihn im Geiste aus des Vaters Zimmer treten und durch die Hausflur schreiten, die hohe Gestalt stolz aufgerichtet; er wird sich nicht umwenden nach ihren Fenstern; er wird gehen – gehen auf Nimmerwiedersehn. Auf Nimmerwiedersehn – ein bitteres, hartes Wort, ein Wort, das namenloses Weh birgt!

„Ach, Muhme,“ stöhnte sie in ihrer Qual, und die alte Frau beugte sich hernieder zu ihr:

„Weine Dich aus, mein Herzel, weine Dich aus! Es wird besser darnach.“

„Ach, wenn es nur erst vorüber wäre!“ flüsterte sie.

„Es gehen auch die schwersten Stunden vorüber, wenn man nur beten kann.“

„Ich kann nicht beten, Muhme, ich kann nicht.“ – –

Und die Nacht verging, und der Tag brach an, wo er den Vater sprechen wollte. Auf Lieschen’s Gesicht lag eine fast unnatürliche Ruhe heute früh, nur ihre Augen glühten fieberhaft; wie immer that sie ihre kleinen Pflichten im Haushalt, und dann setzte sie sich in ihr Zimmer und nahm ein Buch; die Muhme kam herauf und fing freundlich an zu sprechen von gleichgültigen Dingen; sie hörte es mit an und antwortete, und dann ging die alte Frau wieder ihren wirtschaftlichen Geschäften nach. Unaufhaltsam rückte der Zeiger der Uhr weiter, und jetzt stand er auf Elf – da auf einmal flog ein dunkles Roth über ihr Gesicht; sie hatte seinen Schritt im Hausflur erkannt, und jetzt schallte des Vaters Stimme herauf. Sie machte eine Bewegung, als wollte sie zur Thür eilen, aber dann senkte sie wieder die Augen aus das Buch; die Blätter zitterten unter ihrer Hand; sie legte das Buch auf den Tisch und beugte sich darüber. Unwillkürlich las sie leise:

„So laß mich denn, bevor du weit von mir[WS 1]
Im Leben gehst, noch einmal danken dir!
Und magst du nie, was rettungslos vergangen,
In schlummerlosen Nächten heimverlangen.“

„Was rettungslos vergangen!“ wiederholte sie fast laut.

„Und wie viel Stunden dir und mir gegeben,
Wir werden keine mehr zusammenleben.“

„Keine mehr!“ Das Buch fiel zur Erde. War es nicht unrecht von ihr, ihn gehen zu lassen in ein irres Leben, ohne Halt? Sie hätte ihn retten können vor Noth und Schande; es war ja doch der Army, der alte gute Spielcamerad, und jetzt ist es noch Zeit, noch konnte Alles gut werden!

Sie lief aus dem Zimmer zur Treppe; dort blieb sie stehen. „Ach nein,“ sagte sie – sie vergaß es ja; er liebte sie nicht; wieder mußte sie ihren Mädchenstolz anrufen, der vor der alten heißen Liebe geflüchtet war. Wie lange er beim Vater blieb! Horch, da ging die Thür – war’s der Army? Sie beugte sich über das Geländer; da schritt er eben nach der Hausthür – sie sah sein dunkles Kraushaar unter der Mütze hervorquellen; wie aufrecht er dahin ging! Mit lauten gewaltigen Schlägen pochte ihr Herz; die Erinnerung an gestern überkam sie mit aller Gluth, mit aller Seligkeit, und jetzt, jetzt faßte er die Thür; wenn sie wieder in’s Schloß fiel, dann war es vorbei – für immer – rettungslos vergangen. „Army!“ schrie sie plötzlich auf und flog die Stufen hinunter, aber da schlug eben der eichene Flügel zu, und laut dröhnend klang die Schelle durch den hohen Flur. „Army!“ wiederholte sie noch einmal leise und streckte die Arme aus; ein heißer Thränenstrom quoll aus den Augen und langsam schritt sie wieder hinauf in ihr kleines Stübchen. Rettungslos vergangen! Wie öde war die Welt geworden, wie namenlos öde!


(Fortsetzung folgt.)

Anmerkung (Wikisource)




Am Sarge des großen Kurfürsten.

An der nämlichen Stelle Berlins, wo in unseren Tagen eine Reihe von Gebäuden zwischen der Brüder- und Breitenstraße ihre nördliche Front dem Schlosse zukehrt, stand bis zum Jahre 1750 die Pfarrkirche des Berliner Schlosses – der Dom „Zur heiligen Dreifaltigkeit“. Dominicaner hatten anfänglich bei Gründung des Schlosses ein Kirchlein gebaut; das wuchs mit dem neuen Fürstengeschlechte der Mark, bekam mit der Zeit zwei stattliche gothische Thürme, aber als es im äußern Ausbau vollendet war, da fehlte im Innern etwas zu einer Kirche sehr Wesentliches – der alte Glaube. Von 1539 an wurde darin lutherisch gepredigt, dann sechsundsiebenzig

[825]

„Messieurs, der hat viel gethan für Preußen!“
Gemälde Adolf Menzel’s für die „Freytag-Gallerie“. In Holz geschnitten bei H. Kaeseberg.

Jahre später reformirt. Und nachmals die Freigeisterei auf dem Throne und von da in den Kirchen heimisch wurde, zeigte sich auch die Berliner Oberpfarrkirche baufällig, sodaß man schließlich an den Abbruch derselben denken mußte. Die Kirche stellte in ihrem Stil einen der Backsteinbaue des Mittelalters dar, von denen man heute noch so köstliche Muster in den alten Städten der Kur-, der Ucker- und Altmark sieht. Das war aber damals nicht mehr Mode – ein neues Licht war der Welt aufgegangen und die alten Kirchen waren zu dunkel für dasselbe. Von Joachim dem Zweiten an hatten sich die Kurfürsten von [826] Brandenburg ihre letzte Herberge in diesem alten Domstift auf dem Schloßplatze zu Berlin bereitet, und bis zum ersten König bettete man sie daselbst. Der Vater Friedrich’s des Großen wollte nicht mehr dort begraben sein. Er hatte sich seine Grabstätte ausgesucht da, wo seine „blauen Kinder“ beteten, in der Garnisonkirche zu Potsdam.

Am 2. Januar des Jahres 1750 lief viel Volks auf den Plätzen zwischen der alten und neuen Domkirche zusammen. Jene war zum größten Theile schon abgebrochen, diese in ihrem Neubau schon fertig. Es fand an diesem Tage eine besondere Feierlichkeit statt. Die alten Kurfürsten hielten ihren Auszug aus ihren alten Grabgewölben in die neuen, welche ihnen im neuen Dome bereitet waren. Es waren sieben Fürstengenerationen, die Häupter des kurfürstlichen Hauses mit Weib und Kind und Allem, was ihnen im Leben durch Bande des Blutes verbunden war, aber auf dem Sarge des letzten lag statt des Kurfürstenhutes eine Königskrone, die erste im Hause Brandenburg. In den stattlichen ehernen Särgen mit den Emblemen der Würde derer, die darin ihren Ewigkeitsschlaf hielten, zog vor den Berlinern damaliger Zeit die Geschichte zweier Jahrhunderte vorüber. Die meisten der Kurfürsten waren ihnen schon in die Ferne des Gedächtnisses gerückt – ihrer Namen Laut war nur ein Schall ihren Ohren, dem keine Bewegung ihres Herzens entsprach, bis endlich ein Sarg kam, groß, schwer, in Metall gegossen, mit Lorbeerkränzen rings und reich verziert - unterm Haupt- und Fußende darniederliegende Figuren, als Stütze, zwischen ihnen unter den Längsseiten Löwen, erstere um die Feinde anzudeuten, die der Inliegende mit der Wucht seines Lebens darniederdrückte, letztere um das Bild des Starken und Edlen, das Löwenmäßige des Todten zu symbolisiren. „Der große Kurfürst!“ mochte es flüsternd durch die Reihen der Zuschauer gehen. Die Häupter entblößten sich vor diesem Sarge, und oben an einem der Fenster des Schlosses stand Einer und sah dem Todtenzuge seines Geschlechtes und dieser stillen Salutation zu. Das war der Urenkel des großen Kurfürsten - der junge König Friedrich der Zweite, dessen Haupt bereits die Lorbeeren seiner schlesischen Siege umgrünten.

Zwei Jahre vorher, am 25. Januar 1748, hatte der königliche Schriftsteller in der Berliner Akademie der Wissenschaften durch seinen Lector jenen Theil aus den „Denkwürdigkeiten zur Geschichte des Hauses Brandenburg“ vorlesen lassen, welcher das Leben des großen Kurfürsten von Brandenburg, seines Urgroßvaters, zum Gegenstande hat. Heutzutage würde man diesen Abschnitt einen historischen Essai nennen und jedenfalls mit nicht weniger Erbauung und Aufmerksamkeit hören, als damals die gravitätische hochgelehrte Gesellschaft, welche im Sitzungssaales der Akademie in feierlicher Amtstracht, in Talar und Perrücke, die neueste literarische Offenbarung des Königs entgegennahm. Es war nicht blos der Geist des Königs, es war ein wahrhaft königlicher Geist, der aus diesem literarischen Producte sprach; man muß nur, um es in seiner ganzen Bedeutung zu würdigen, den Staub der Geschichtsschreibung um jene Zeit kennen, wo der König seinen Essai der Akademie übergab. Der Geist Pufendorf’s, des Geschichtsschreibers des großen Kurfürsten war längst dahin; an seiner Stelle hatten Pedanterie, Schwerfälligkeit, Geschmacklosigkeit, Geistlosigkeit die Feder zur Behandlung historischer Gegenstände ergriffen. Die Geschichtsschreiberei war zur Lobrednerei herabgesunken. Und nun dieser Essai! Welcher Freimuth, welcher scharfe und große Blick für die Anschauung politischer Dinge, welches sichere und unfehlbare Urtheil für die Persönlichkeit und die menschlichen Regungen derselben, welch hoher geistiger Standpunkt, welche knappe, pointirte, glänzende Sprache! Es war der Freimuth des Philosophen, die Erfahrung des Herrschers, die im Geiste eines Familienmitgliedes lebendige Tradition, welche hier über den großen Kurfürsten urtheilten.

Lassen wir aber den König selbst sprechen über den großen Ahnherrn, dessen Sarg hier durch die Thore des Schlosses in die neue Domkirche unter feierlichem Gepränge gebracht wird, suchen wir, wenn auch nur im Auszuge, die glänzende Stelle heraus, wo der Urenkel die historische Gestalt seines Ahnherrn an der seines Gegners, des vierzehnten Ludwig’s, mißt.

„Diese zwei Fürsten,“ sagt er, „standen, Jeder in seiner Sphäre, als die zwei größten Männer ihres Jahrhunderts da. Das Aeußere Beider war anmuthend und gewinnend; das Gemeinsame Beider waren scharfe und bestimmte Züge, die Adlernase, in der Lebendigkeit des Blickes der beredte Ausdruck der Regungen der Seele. Ihr Wesen war einnehmend und zugleich majestätisch. Ludwig der Vierzehnte war größer von Figur; er hatte in seiner Haltung mehr Weichheit; sein Wort war kürzer, knapper und zugleich eindringender. Das Wesen des großen Kurfürsten dagegen war kälter, seine Beredsamkeit breiter, das kam von dem Aufenthalte auf den holländischen Universitäten. Schon die Jugend der beiden Fürsten bot manche Aehnlichkeit. Der minderjährige König brachte dieselbe unter den Kriegen der Fronde hin, bei denen er Zuschauer war. Der Kurprinz, mit seinem Vater in Holland flüchtig, machte seine kriegerische Lehrzeit unter einem Oranier und zeichnete sich bei mehreren Belagerungen aus, so bei der von Breda. Als Ludwig der Vierzehnte zur Regierung gekommen war, unterwarf er sein Land der Wucht der königlichen Autorität; Friedrich Wilhelm von Brandenburg war der Nachfolger seines Vaters mit den Ansprüchen auf ein verwüstetes Land; erst auf dem Wege der Unterhandlungen brachte ihn seine Politik in den Besitz desselben. Der französische Monarch ist des Lobes darum würdig, weil er auf dem Wege, den Richelieu ihm vorgezeichnet hatte, weiter gegangen war, der deutsche Held that mehr: er bereitete sich seinen Weg allein. Beide Fürsten befehligten ihre Armeen. Der Eine hatte die berühmtesten Feldherrn Europas unter sich, die Turenne, Conde, Luxembourg, deren Erfolge er zu den seinigen machte, der Andere dagegen hatte fast gar keine Truppen, noch weniger geschickte Generale; seine einzige Hülfe war sein Genius. Er erdachte seine Pläne und führte sie aus; er war General und Soldat, Führer und Combattant zugleich.

Die Thaten des französischen Monarchen imponiren uns durch ihre Großartigkeit, durch die Heere, welche er dazu verwendet, durch die Uebermacht über die anderen Könige, endlich durch die Bedeutsamkeit der politischen europäischen Fragen. Die unseres Helden sind dagegen um so bewunderungswürdiger, als sein Muth und sein Genius dabei Alles gethan haben. Mit wenig Mitteln führte er die schwersten Unternehmungen aus und mit den äußeren Schwierigkeiten wuchsen seine geistigen Hülfsmittel. Ludwig der Vierzehnte war durch seine Macht der Schiedsrichter Europas; der große Kurfürst wurde das Orakel Deutschlands durch seine persönlichen Tugenden, welche ihm das Vertrauen der größten Fürsten erwarben. Ihm erkannte man freiwillig zu, was Jener sich despotisch erzwang. Ludwig der Vierzehnte verdient die Unsterblichkeit als Beschützer der Künste; das Andenken des großen Kurfürsten wird uns ewig theuer sein, weil er nie an seinem Vaterlande verzweifelte. Er bevölkerte seine Staaten wieder, verwandelte Sümpfe in blühende Gründe, Wüsteneien in Dörfer, er hob die Städte aus Ruinen hervor. Der König vertrieb die Reformirten aus seinem Lande; der Kurfürst nahm sie auf, und darin erhebt sich der tolerante und edelmüthige Fürst weit über den bigotten und harten König. Beide Fürsten schlossen Verträge und brachen sie auch, der Eine aus Ehrgeiz, der Andere aus Nothwendigkeit. Der König ließ sich gegen das Ende seines Lebens durch seine Maitresse leiten, unser Held durch seine Gemahlin. Beide beschlossen ihr Leben als große Männer, wie sie gelebt hatten. Mit unerschütterlicher Festigkeit sahen sie dem Tode in’s Auge, Genuß, Glück, Ruhm und Leben mit stoischem Gleichmuthe hinter sich lassend. Mit sicherer Hand führten sie bis zum Moment ihres Todes die Zügel der Regierung; ihre letzten Gedanken gehörten ihrem Volke, ihre letzten Ermahnungen ihren Nachfolgern. Ein Leben voll Arbeit, voll erstaunlicher Thaten und voll Ruhm war die Rechtfertigung des Beinamens ‚des Großen‘, welchen die Zeitgenossen ihnen verliehen und die Nachwelt vollständig bestätigen wird.“

„Messieurs, der hat viel gethan für Preußen.“ Dieses Wort des großen Urenkels war der Epilog zu dem in dem Essai entworfenen Lebensbilde, nicht geschrieben, sondern gesprochen am Tage, nachdem die Särge in die neue Domkirche gebracht worden waren, am 3. Januar des Jahres 1750.

Meister Adolf Menzel hat ein Oelbild in Grisaille-Manier, das heißt grau in grau, zu „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“ von Gustav Freytag geschaffen, welches die ergreifende Scene dieses 3. Januar zur Anschauung bringt; eine Holzschnittwiedergabe des geistvollen Menzel’schen Originals ist es, welche umstehend diese Zeilen begleitet. In dem Capitel über den großen König in Freytag’s Buche steht freilich nichts von dem Vorgange, den sich die Meisterhand des Künstlers zum Gegenstande genommen hat. [827] Gleichviel! Dann hat eben der berühmte Illustrator des großen Königs und seiner Zeit und hervorragendste deutsche Maler der Gegenwart den Autor ergänzt. Wie er ihn, von dem man mit Hamlet sagen kann: „Ihr werdet seines Gleichen nimmer sehen“ – ihn und seine Paladine so mannigfach mit Stift oder Farben in packendster Wirklichkeit vor die Augen eines späteren Geschlechts gezaubert, ihm zurufend: „Seht, das ist er, so war er; in seinem Anschauen lebt ihr ein Jahrhundert, sitzt mit ihm zu Tische, promenirt an seiner Seite auf der Terrasse von Sanssouci, seht in seine strahlenden Augen, hört den bestrickenden Zauber seiner Rede im sinnlichen Klange, wie im geistigen Inhalt,“ so giebt er ihn hier auf unserem Bilde wieder, an der Stätte der Majestät des Todes, im Grabgewölbe des Domes von Berlin, damals des neuen. Eigentlich doch in keiner Gruft. Die Särge waren in offenen Nischen aufgestellt, die durch Eisengitter vom Schiffe abgeschlossen wurden, wie sie Jedermann heutzutage noch sehen kann.

Das Leben hat einen Zug zum Tode, die Größe wieder zum Großen, die Familie zur Familie. Der König wollte den im Tode sehen, dessen Heldengestalt er den Lebenden durch seinen Geist wieder erweckt hatte, dessen Gedächtniß nicht allein in den Büchern der Geschichte lebte, sondern auch noch so frisch und lebendig im Volke war.

Am 3. Januar 1750 war’s, als der König seinen Weg nach dem Dome nahm. Ein kalter Januartag. Das Innere des neuen Gotteshauses war in seiner Ausschmückung noch nicht vollendet, aber trotzdem hatte der Dombaumeister Boumann alle Arbeiter feiern lassen, sobald der Besuch des Königs angesetzt war. Dieser kam mit kleinem Gefolge. Die „Spener’sche Zeitung“ von damals sagt freilich, daß auch die Prinzessin Amalie darunter war, aber sie hat auf unserem Bilde keinen Platz gefunden; auch Preuß sagt nichts von ihr; nehmen wir an, daß es eine Incorrectheit des damaligen Reporters war. Mit dem Könige waren gekommen: sein ältester Bruder Prinz Heinrich, der treffliche Feldherr des siebenjährigen Krieges, der geistige Epikuräer von Rheinsberg, hier erkenntlich an dem Stern des Schwarzen Adlerordens auf dem Militärmantel, dann der zweitälteste Prinz und Stammvater des jetzt regierenden Hauses, der schöne August Wilhelm, der acht Jahre darauf nach dem heftigen Rencontre, das er ob seines Rückzugs im Lager von Bautzen mit dem Könige hatte, wie ein verwundeter Löwe heim nach Oranienburg ging, sich hinlegte und starb. Auch die beiden Lieblinge des Königs aus seiner militärischen Umgebung waren mit ihm: Keith und Winterfeld. Voran Jakob Graf von Marishal Lord Keith und Altran. Schottländer von Geburt, Jakobit von Gesinnung, war er wenige Jahre zuvor aus russischen Diensten in die des Königs getreten, Gouverneur von Berlin geworden und Ritter des Schwarzen Adlerordens, dessen Stern er auch auf unserem Bilde trägt. Er sowohl wie der über den Sarg sich neigende jüngere Mann neben ihm, der stattliche, viel angefeindete Generaladjutant von Winterfeld, bezahlten im siebenjährigen Kriege die Gunst und das Vertrauen, womit der König sie auszeichnete, heldenmüthig mit dem Tode; ebenso General Franz Ulrich von Kleist, dessen Kopf sich über dem Bilde des Prinzen August Wilhelm erhebt. Bei diesem winterlichen Kirchenbesuche treten sie uns noch im frischesten Leben entgegen. An den Portalen des Domes hatte die Domgeistlichkeit den König empfangen und ihm das Geleit gegeben. Ihre Köpfe werden auf dem Bilde hinter der militärischen Suite bemerkbar.

Das Kirchengewölbe widerhallte von den klirrenden Schritten der Besucher. Schweigend, in sich gekehrt, angeweht vom Ernste der Stätte und des Zweckes, schritt der König dahin. Die Weichheit der Jugend war aus seinem Gesichte verschwunden - die scharfen charakteristischen Züge der späteren Jahre begannen sich bereits herauszubilden. Aber hier war noch die ganze Frische und Kraft der Jugend in ihm; das eigentliche Friedrichsgesicht, so wie wir es kennen, kam erst nach der Schlacht bei Leuthen zum Vorschein. In dem blauen Sammetpelz mit dem Stern des Schwarzen Adlerordens, den er über der Uniform trug, eine wahre Königsgestalt, stattete er dem todten Kurfürsten den gebührenden Tribut an jenen Ehren ab, welche bereits seine Regierung schmückten: denn daß er hier stand, schon in vollem Nimbus seiner Thaten, das war zum großen Theil die Frucht der rastlosen Arbeit, das glorreiche Verdienst des Mannes, der da vor ihm lag im Sarge, dessen Deckel man eben von der körperlichen Hülle Friedrich Wilhelm’s des großen Kurfürsten abhob. Der König zog den Hut und salutirte; mit ihm die Prinzen und Alle, die gegenwärtig waren.

Zweiundsechszig Jahre waren darüber hingegangen, seit man die Leiche des Dahingeschiedenen von Potsdam nach Berlin und von dem Schlosse in das Gewölbe der alten Domkirche überführt hatte. Von dem Leben war nicht viel mehr zu erschauen, als etwa die äußeren Abzeichen der kurfürstlichen Würde, der rothe mit Hermelin besetzte Talar, der aber auch schon der Nothwendigkeit irdischer Vergänglichkeit zu unterliegen begann, und dann noch die große Allongeperrücke. Von den historischen Zügen des Gesichtes war kaum mehr etwas übrig – das Fleisch war braun, eingeschrumpft, mumienhaft. Die Stille des Todes hier wie draußen im weiten Kirchenraum. Das bleiche Licht des winterlichen Himmels fiel durch das Kirchenfenster auf den Leichnam des großen Mannes. Man hätte das Zittern des Staubes vernehmen können. Alles Mühen, alles Kämpfen, aller Glanz, der Rest von allem Leben – Staub und Staub und Staub! Nicht doch! Hier in diesen großen, von feuchtem Glanze verklärten Augen des Königs, die träumend-nachdenklich auf dem Ahnherrn ruhten, hier war das Leben des großen Todten wieder lebendig geworden in geistiger Nachfolge; hier stand sein Fleisch und Blut, Athem, Geist, Kraft und Gesinnung vor ihm – in dem Urenkel war der Ahnherr in neuer Gestalt dem Leben und der Welt wiedererstanden: der große Kurfürst in dem großen Könige. Von diesem Empfinden kam etwas in die Seele des Königs. Durch die Thränen, die auf seine Wangen herabträufelten, blitzte die Begeisterung, das Bewußtsein seiner Macht und seines Geschlechts. Und als er die Hand des Todten ergriff und zu seiner Umgebung die Worte sprach: „Messieurs, der hat viel gethan für Preußen“, war er von einem Gefühle durchglüht, dem er später in einer Epistel an seinen Bruder August Wilhelm in französischer Sprache dichterischen Ausdruck gab!

„Der Held, unsterblich, wie sein Geist erhaben,
In Krieg wie Frieden von gleich großen Gaben,
Er, der die Welt gezwungen, ihm zu geben
Des Großen Namen – was sind wir daneben!

Unwürdig nicht, wenn wir nur richten
Nach ihm die hohen Ziel unsrer Pflichten;
Es bietet uns sich zum Gesetz sein Leben:
So nah’ sein Bild – so hoch geh’ unser Streben!“

Georg Horn.




Zur Kaltwasserbehandlung der Neuzeit.

Die Behandlung hitziger Krankheiten, besonders des Typhus, mit kaltem Wasser ist an und für sich nicht neu; sie war im Gegentheil schon seit geraumer Zeit von einzelnen Aerzten (Wright, Jackson und Anderen) zur Anwendung gebracht worden. Das Verdienst aber, diese Methode zuerst wissenschaftlich begründet und genauere Regeln der Anwendung angegeben zu haben, gebührt dem englischen Arzt Currie (in Liverpool), welcher am Anfang dieses Jahrhunderts in seinen besten Jahren starb. Indessen, seine Kaltwasserbehandlung des Typhus schlief wieder ein. Die damalige Zeit war eben noch nicht reif für diese so tiefeingreifende Umwälzung. Dr. Ernst Brand in Stettin hat das große Verdienst und den Ruhm, der Neubegründer der Hydrotherapie des Typhus, wie der Hydrotherapie der hitzigen Krankheiten überhaupt zu sein, und ihr diejenige allgemeine Anerkennung verschafft zu haben, welche sie heutzutage genießt.

Die Erfahrungen desselben und die von ihm beobachteten Verhaltungsregeln, welche er in seinen classischen Werk „Die Hydrotherapie des Typhus“ niedergelegt hat, sind seitdem durch zahlreiche Wiederholungen als richtig bestätigt worden, und schon jetzt steht fest, daß die Zahl der Todesfälle bei den mit kalten Wasser behandelten Typhuskranken eine bei Weitem geringere ist, als dies unter andern Verhältnissen vordem der Fall war.

Zwei Hauptwirkungen sind es, welche bei Anwendung des kalten Wassers auf den Körper zur Geltung gelangen: die Wirkung des Temperaturreizes, den wir als Kälte oder Wärme empfinden und zu welchem bei bewegtem Wasser (Wellen-, See-, Strahlbäder

[828] etc.) noch die Wirkung der durch das Wasser bewirkten Reibung kommt, und die Wirkung der Abkühlung.

Je nachdem wir die eine oder die andere der oben genannten Methoden anwenden, beziehentlich je nach der Dauer solcher Anwendung, übt entweder der Reiz oder die wärmeentziehende Wirkung den herrschenden Einfluß auf den erkrankten Organismus. Der erste Eindruck aber ist in allen Fällen der des Reizes, und es ist dieser Eindruck ein um so stärkerer, je verschieden die Temperatur der Haut von derjenigen des sie benetzenden Wassers ist. Bei kalten Bädern von nur momentaner Dauer kommt fast lediglich diese Reizwirkung, welche durch Reiben noch bedeutend verstärkt werden kann, zur Geltung. Vermittelst solchen Hautreizes sind wir, wie die neuesten Untersuchungen bewiesen haben, allein schon im Stande – und zwar auf dem Wege des Reflexes, das heißt indem sich jener Reiz auf Hirn und Rückenmark und von hier auf die inneren Theile des Körpers fortpflanzt – einen mächtigen Eindruck auf die inneren Organe, das Herz, die Lunge, das ganze Gefäßsystem, zu machen und verändernd auf die Functionen dieser Organe zu wirken. Dieser Rückschlag auf die inneren Organe kann, z. B. bei durch vorhergegangene Bewegung sehr erregtem Körper, sogar so stark sein, daß sofortiger Tod erfolgt. Pflegt das plötzliche Hineinspringen in’s kalte Wasser beim Baden für gewöhnlich auch unschädlich zu sein, so ist es doch aus eben gesagten Gründen, um den Rückschlag, den der plötzliche starke Reiz auf die inneren Organe bewirkt, einigermaßen abzuschwächen, jedenfalls zu rathen, vorher Brust und Gesicht mit kaltem Wasser zu benetzen. Die augenblickliche, wenn auch rasch vorübergehende Beklommenheit, welche man in dergleichen Fällen plötzlichen Eintauchens in kaltes Wasser fühlt, beruht auf einem momentanen Versagen der Athmung der Herzthätigkeit. Kommt dieselbe nicht sofort wieder in Gang, so erfolgt, wie das leider öfters geschieht, Ohnmacht und Tod.

Die nächsten uns sichtbaren Veränderungen, welche das kalte Wasser auf der Haut hervorruft, bestehen in einer allgemeinen Zusammenziehung der Blutgefäße, in Folge deren die Haut, da das Blut aus ihr verdrängt wird, erblaßt. Sehr rasch aber folgt die sogenannte Reaction, das heißt ein vermehrtes Zurückströmen des Blutes nach der Haut und lebhafte Röthung durch die jetzt erweiterte Gefäße. Dabei wird die Herzthätigkeit erhöht, und man empfindet im ganzen Körper eine wohlthätige Erregung. Es wird hierbei vorausgesetzt, daß die Kaltwassereinwirkung (Wellen-, Strahl-, Regenbad, Douchen) nur kurze Zeit dauert. Solche rasch abgebrochene Bäder sind, wie sich aus dem Gesagten begreift, da am Platze, wo es gilt, belebend und anregend auf den Stoffwechsel zu wirken, besonders auch bei überkommenden Schwächezuständen (als Sturzbäder, kalte Bespritzungen etc.), ebenso, täglich wiederholt, bei Blutarmen. Derartige Personen vertragen kalte Bäder von längerer Dauer gewöhnlich nicht, weil sie durch den erlittenen Wärmeverlust, welcher einen raschen Ersatz erfordert, zu sehr erschöpft werden, wogegen ihnen die rasch abgebrochene, nur als Hautreiz wirkenden Bäder häufig von größtem Nutzen sind. Durch sie wird besonders die Haut- (und Lungen-)Athmung, das heißt der Austausch zwischen den verbrannten Gasen des Körpers und dem Sauerstoff der Luft, welcher bei den Blutarmen zumeist herabgesetzt ist, bedeutend erhöht, in Folge dessen der Stoffwechsel befördert, der Appetit vermehrt, die Erscheinungen der Blutarmuth vermindert, die ihren Grund in einer mangelhaften, bezüglich abnormen Ernährung haben. Diese Erhöhung der Hautathmung und deren eben geschilderte Folgen, sowie der Umstand, daß durch den Kaltwasserreiz die Spannung in den Gefäßen der innern Organe in wohlthätigster Weise verändert und besonders hierdurch die zu Entzündungen und Katarrhen geneigten Lungen von Blut entlastet werden, sind es auch in erster Linie, welche den großen, oft lebensrettenden Nutzen der Kaltwassercur bei Brustkranken bedingen. Waren diejenigen, welche überhaupt nur sehen wollten, durch die überraschenden Heilungen vieler verzweifelter Fälle längst schon von einem solchen Nutzen überzeugt, so war es doch erst der neuesten Zeit vorbehalten, auf dem Wege des physiologischen Versuches festzustellen, wie der Kaltwasserreiz auf den Körper einwirkt.

Wir wollen hinsichtlich dieser Wirkung nur Folgendes anführen! Beobachtet man bei einem dazu geeigneten Thier die kleinen Blutgefäße der inneren Organe, z. B. des Darmes oder der Lungen durch das Mikroskop, während man die äußere Haut des Thieres mit kaltem Wasser benetzt, so zeigt sich bei mittlerem Kältereiz eine deutliche Verengerung jener Gefäße, welche sich auch auf das übrige Gefäßsystem des Körpers erstreckt. Diese und andere an den Gefäßen und besonders auch an dem Pulse wahrnehmbaren Erscheinungen, welche den ursächlichen Reiz lange Zeit überdauern, beweisen allein schon, welchen mächtigen Einfluß ein die äußere Körperhaut treffender Kältereiz auf sämmtliche Organe ausübt, und es sind diese an den Gefäßen hervortretenden Veränderungen an und für sich schon genügend, um eine tief eingreifende Umwandlung der gesammten Ernährung herbeizuführen.

Leider wird dieses oft einzig rettende Mittel, welches wir in der Kaltwasserheilmethode besitzen und neben welchem natürlich noch andere diätetische Mittel in Anwendung zu bringen sind, bei weitem nicht in dem Umfange benutzt, wie es verdienter Weise geschehen sollte. Und warum? Weil die Durchführung allerdings eine Beharrlichkeit und Ueberwindung erfordert, welche die Mehrheit der betreffenden Kranken, beziehentlich deren Umgebung nicht besitzt. Sie siechen eben lieber unter Verputtelung und Verweichlichung dahin. Obgleich derartige Curen, bei welchen besonders methodische kalte Abreibungen von größtem Vortheile und, in vielen Fällen in der Behausung der Kranken recht gut vorgenommen werden könnten, ist es, eben weil der Wille der Durchführung zu fehlen pflegt, am gerathesten, dieselbe in renommirten Kaltwasserheilanstalten unterzubringen.

Wie auf Blutarmut und Brustkrankheiten, so wirkt die Kaltwasserbehandlung auch auf viele andere chronische Krankheiten in günstigster Weise ein, indem sie die Lebensthätigkeit mächtig anregt und durch Vermehrung der natürlichen Ausscheidungen im Körper angesammelte krankhafte Stoffe entfernt, den Stoffwechsel zur Norm zurückführt.

Ist nun die Art und Weise, in welcher man das kalte Wasser auf den Körper wirken läßt, schon bei chronischen Krankheiten zur Erzielung eines günstigen Erfolges von großer Wichtigkeit, so gilt dies noch weit mehr für acute Fälle. Hier ist bei der Raschheit des Verlaufes ein begangener Fehler oft nicht wieder gut zu machen, und kann eine falsche Anwendungsweise des kalten Wassers geradezu den Tod herbeiführen.

Derartige Wassercuren bei hitzigen Krankheiten haben für den Laien häufig etwas Abschreckendes, und es gehört oft das ganze Ansehen und die ganze Energie des Arztes dazu, sie durchzusetzen. Mit Recht dringt Dr. Brand darauf, die Pflege des Kranken den Angehörigen, wenn irgend möglich, ganz aus den Händen zu nehmen. Manches junge Leben ist nur deshalb zu Grunde gegangen, weil die Angehörigen den Schwächen und Launen des Kranken und nicht den Anordnungen des Arztes gefolgt waren.

So trifft es sich, um nur ein Beispiel anzuführen, oft genug, daß der Kranke nach einem Bad, statt gebessert zu werden, verschlimmert erscheint, der hinzukommende Arzt findet ihn aufgeregter als je und die Angehörigen in größter Besorgniß. Was aber war der Grund dieser Verschlimmerung? Man hatte in übel angebrachter Schwäche die rechtzeitige Wiederholung des Bades unterlassen, und die Fieberhitze war in Folge dessen wiedergekehrt. Sie schwand und es trat Ruhe ein, nachdem das Bad, nicht ohne großes Widerstreben der Angehörigen, wiederholt worden war. Solche Wiederholungen sind aber nicht blos ein- oder zweimal des Tages, sondern zumeist öfter vorzunehmen, im Allgemeinen so oft, als das Fieber einen bestimmten Hitzegrad zu überschreiten droht. Diese Hauptwirkung des kalten Wassers bei acuten Krankheiten, nämlich die Herabsetzung des Fiebers, welche man durch keine andere Behandlungsweise mit gleicher Sicherheit zu erzielen vermag, ist es allein schon, welche seinen Nutzen weit über den aller übrigen Mittel erhebt. Denn die Hauptgefahr, besonders bei Typhus, lag eben in dem anhaltenden hohen Fieber, das man bisher so schwer zu bekämpfen vermochte und welches den Kranken den so nöthigen Schlaf raubte und ihre Kräfte rasch aufrieb. Es mag immerhin möglich sein, daß die ärztliche Kunst noch andere ebenso sichere, aber in der Anwendung bequemere Mittel zur Bekämpfung der acuten Krankheiten erfinden wird wie die Kaltwasserbehandlung. Vor der Hand jedoch dürfte dieselbe nicht so leicht wieder verdrängt werden. Der Kranke aber und seine Umgebung mögen dem Arzt sein schweres Amt nicht durch unbesonnenen Widerspruch zum eigenen Nachtheil noch erschweren!

-s-

[829]

Der bekannte Schelm.
Mit dem Bilde von F. Barth aus dem Prachtwerk „Künstlerheim“.


„Sperrt alle Fenster, Thüren, Ritzen,
Es wird nichts schönen Frauen nützen;
Wär’s Schlüsselloch auch noch so klein,
ich komm’ doch sicherlich hinein.
 Der bekannte Schelm.


Es geht ein Schelm durch alles Land;
Der ist bei Jung und Alt bekannt,
Ein Knabe mit zwei Aeuglein klar,
Mit Schelmengrübchen und Lockenhaar;
Er schaut so fromm-unschuldig drein –
     Jungfräulein,
     Hüt’ Dich fein!
Sonst muß Dein Herz verloren sein.

Sein Bogen in der Rosenhand,
Sein Pfeil – das ist kein Kindertand.
Er legt ihn auf, als wär’s zum Scherz –
Es gilt ein armes Menschenherz;
Das stöhnt dann wund in süßer Pein –
     Jungfräulein,
     Hüt’ Dich fein!
Sonst muß Dein Herz getroffen sein.

Eine Maid am Fenster saß und spann;
Da ritt des Wegs ein Reitersmann.
Er sah sie an so wonniglich –
Da fuhr’s in’s Herz ihr, daß sie erblich.
„Um Gott! was war Dir, Tochter mein?“
     Mütterlein,
     Schick’ Dich drein!
Nun muß sie Dir verloren sein.

Wer steht dort in der Thür und lacht?
Das ist der Schelm, der hat’s vollbracht.
Er traf die Maid; er traf den Mann,
Er hat seines Herzens Freude dran.
So treibt er seine Schelmerei’n
     Klug und fein,
     Jahr aus Jahr ein;
Kein Mensch mag vor ihm sicher sein.

Ihr hohen Herrn im Regiment,
Wer schafft, daß man ihn fangen könnt’?
Und wer ihn fing’ und bänd’ ihn an,
Der hätt’ ein gutes Werk gethan!
Doch so Du gehst die Welt befrei’n –
     Hüt’ Dich fein,
     Ein Schelm wird Dein,
Du möchtest selbst verloren sein!

 Victor Blüthgen.

[830]
Drei Schalksnarren.
Von Johannes Proelß.

Als vor wenigen Jahren Julius Wolff uns mit einem „Till Eulenspiegel redivivus“ beschenkte, wandte sich die öffentliche Aufmerksamkeit wieder einmal mit besonderer Vorliebe dem alten deutschen Schalk der Schälke zu, von dem die durch einen Denkstein in das Bereich der Geschichte hineinragende Sage behauptet, daß er im Jahre 1350 zu Mölln gestorben und begraben worden sei. Die ausführlichen Besprechungen, welche die Kritik dem Schelmenliede J. Wolff’s damals darbrachte, versäumten nicht, mit dankbarer Liebe und Verehrung des berühmten Kneitlinger Bauernsohns, der hier ein Auferstehungsfest im Geiste und Frack des neunzehnten Jahrhunderts feierte, zu gedenken, und das Fischart’sche Ruhmwort fand erneute Erhärtung:

Am ganzen Rhein auf und ab
Der Menschen Gedächtniß ist sein Grab.

In diesen Tagen ist nun wiederum ein Buch erschienen, welches den Schatten des unruhigen, schalkigen Vaganten in der Erinnerung heraufbeschwört: Murad Efendi’s „Nasreddin Chodscha“, welchem die 1838 in Constantinopel zuerst erschienenen „Latha’if–i Chodscha Nasreddin“ zu Grunde liegen und dessen Held uns vom Dichter selbst als ein „osmanischer Eulenspiegel“ vorgestellt wird. Wer dieser war? Ein türkischer Schulmeister, das ist Chodscha zu deutsch, der um das Jahr 1400 in dem bei Brussa gelegenen Güssel Hissar wirkte, also in einer Zeit, wo die griechische Landschaft Anatolien in viel strengerem Sinne als heute türkisch war. Wie uns Murad erzählt, genießen seine witzigen Einfälle und Schwänke noch heute im Orient kaum geringere Popularität als die unseres Eulenspiegel bei uns. Noch heute werden sie allerwärts citirt und bewundert, und neue Streiche und Witzworte finden daselbst unter der Flagge seiner Vaterschaft am schnellsten und nachhaltigsten Anerkennung und Verbreitung.

Stolze Namen sind verschollen;
Chodscha’s Ruhm noch heut besteht.
Nachruf auch ist Spiel der Launen,
Wie ihr’s an dem Narren seht.

Mögt ihr manchen seiner Streiche
Tadeln als zu dünn geschürzt,
Als zu bäurisch, derb, vielleicht auch
Eurem Gaumen zu gewürzt;

Dennoch in Serail und Hütte
Wird noch Nasreddin’s gedacht,
Sich auf Nasreddin berufen
Und der Nasreddin belacht.

Erinnern nicht diese Worte, in denen Murad den Ruhm seines Helden verkündet, an die begeisterte Apostrophe, welche Julius Wolff in einer Lebensskizze des alten Till diesem gewidmet hat? „Sein Andenken lebt fort im deutschen Volke, wie sein Geist noch lebendig ist im Volkswitz und im guten Humor des deutschen Gemüths, mag er sich offenbaren, wie und wo er will, an Schriften und Liedern, aus der Gasse, in Wort und Bild, an That und Thorheit. Wer wird über fünfhundert Jahre nach unserem Grabe fragen? Und was war Till? Was hat er gethan, geschaffen, entdeckt, erfunden, hinterlassen? Nichts. Eines Bauern Sohn war er, ein fahrender Mann und ein Narr, aber ein kluger Narr, der wohl wußte, daß unser Wissen Stückwerk ist.“

Wohl hat darnach Franz von Werner (dies ist der angeborne Name Murad’s) ein Recht, seinen Helden einen osmanischen Eulenspiegel zu taufen, wenn auch ein näherer Vergleich allerdings ergiebt, daß die Aehnlichkeit Beider in Thun und Rede nicht gar so groß ist, so wenig der türkische Volkscharakter dem des Deutschen im Reformationszeitalter gleicht. Der Sinn des Osmanen neigt sich dem Maßvollen zu; Ernst und Würde im Benehmen, im Bewegen und Sprechen ist ein Gebot auch für den gewöhnlichen Türken. Sein Eulenspiegel ist daher kein Fahrender, kein unruhiger Springinsfeld, dem Ernst und Würde widerwärtige Dinge, kein Thunichtgut, der nichts im Kopfe hat als lose Streiche, wie unser Till, seine Bedürfnisse sind gering und nöthigen ihn zu keinem Verstoß gegen die Moral, während es von diesem im Volksbuch heißt: „Gesottenes und Gebratenes wollte er allezeit essen, darum mußte er sehen, wo er es nähme.“ Nasreddin ist ein Gelehrter, ein Philosoph, ein gewissenhafter Familienvater; sein Heimathsort und dessen Weichbild genügen ihm zum Schauplatz seiner Thaten und Predigten. Er benutzt nicht die Schwächen seiner Nebenmenschen zu seinem Vortheil, sondern lächelt meist nur vom erhabenen Standpunkt seiner Weltanschauung über sie und findet darin seine Befriedigung. Ein lachender Philosoph, pfeffert er seinen Witz mit heimlichem Spott, und durch seinen Humor schimmert ein tiefsinniger Pessimismus. Seine Schwänke laufen daher meist auf eine ironische Wendung, seltener auf ein eigentliches mit Handlung verquicktes Abenteuer hinaus. Nur in einzelnen Fällen, so wenn Nasreddin den Aga seines Orts, der anbefohlen hat, man solle, wenn er niese, „Gesundheit“ rufen und dabei der Sitte gemäß in die Hände klatschen, durch seine unzeitgemäße Formbeflissenheit in den Ziehbrunnen purzeln läßt, klingt das an die eigenthümliche Ironie an, die wir „Eulenspiegeleien“ nennen und deren Wesen in der wörtlichen Auffassung und unzeitigen Ausführung erhaltener Aufträge besteht. Dem Metzger, der Eulenspiegel auf dem Markte zuspricht, er solle doch etwas mitnehmen, läßt dieser seine Bitte nicht unerfüllt, und als der Bäcker ihm zuruft: Hebe dich zum Hause heraus, so nimmt er den Weg durch’s Dach. Die Kunst des Silbenstechens ist es, die Beiden den gleichen Meisterhut auf das Haupt drückt, aber in dieser finden Beide wiederum ihren Meister in einem andern Erzschelm des Ostens, der im Uebrigen in wunderbarer Weise die hervorgehobenen Unterschiede in seinem Wesen vereint. Ein Weiser und Philosoph, ein Schlemmer und Vagabond zugleich, tritt uns Abu Seid von Serug, der lustige Liebling Arabiens, entgegen, der in Hariri’s Makamen ein unsterbliches Leben genießt und der uns Deutschen durch Friedrich Rückert’s bewunderungswürdige Uebertragung dieser Dichtung schon lange eine vertraute Gestalt geworden. Er ist unstreitig der poetischste der im Titel zum Kleeblatt vereinigten Schelme.

Als Deutschland noch im Schatten der Scholastik träumte, genossen[WS 1] bereits die arabischen Völker den klaren Sonnenschein einer in sich ausgereiften, eigenartigen Cultur. Charakteristisch für diese ist die Stellung, welche sie dem Dichter einräumte. Die in dem glücklichen Arabien umherziehenden Nomaden waren sowohl durch ihre Lebensweise und Umgebung wie durch den Genius ihres Volkes mehr denn je ein anderes Volk auf die Poesie als fast ausschließliche Quelle höheren Lebensgenusses angewiesen. „Das Nacht- oder Mondscheingespräch der Araber, ‚Semer‘“ so berichtet Rückert, „ist ein Hauptstück ihres geselligen Lebens. Mit seiner stillen Einförmigkeit muß es ihnen die ganze Mannigfaltigkeit von lauten Vergnügungen ersetzen, die in unseren Städten die Nacht zum Tage machen. Aus der eigensten Natur des Bodens hervorgegangen, geht diese volksthümliche Sitte aus dem Naturstand in den Culturstand, aus den Zelten in die Städte und aus dem arabischen Heidenthume in den Islam herüber, von dessen Strenge sie sogar gleichsam erst ihre Nahrung erhält.“ In der That, der Koran, indem er Wein und Spiel, Musik und Tanz verbot, förderte wie kein anderes Religionssystem die Pflege der Sprache und der Kunst, die auf der Sprache beruht. Jede Art von Spiel war den Gläubigen verpönt, nur das Wortspiel verblieb ihnen. Bei ihren Geschäften sprachen die Araber wenig; um so mehr erschien ihnen die Sprache als Gegenstand einer Kunst, ja als Kunst selbst, und je kunstvoller es Einer verstand, sie nach Form und Inhalt zu gebrauchen, je mehr war er Gegenstand allgemeiner Bewunderung. So erklärt sich die glänzende Stellung des Dichters im öffentlichen Leben der Araber. Wenn in einem Stamme ein hervorragender Dichter auftrat, so erschienen Gesandtschaften der übrigen, um ihm Glück zu wünschen, und es wurden ihm zu Ehren Gastmähler und Feste veranstaltet. Redeturniere, Sängerkriege waren nichts Seltenes und konnten leicht Ereignisse von höchster Bedeutung werden. Einen Abglanz dieser Verhältnisse hat der Einfluß der spanischen Araber in die Entwickelung der abendländischen Poesie hinein geleitet, indem derselbe auf der Sprachinsel der Provence die Republik der Troubadours entwickeln half.

Das Vorstehende erklärt den uns gleichzeitig so fremdartigen und doch so seltsam anziehenden Charakter Abu Seid’s. Die [831] komische Lieblingsgestalt einer Nation von Dichtern mußte selbst ein Dichter, ein Dichter von großartiger Begabung und nach ihrem Geschmacke sein; ein Volk von Nomaden verschmolz sein Dichterideal mit demjenigen eines buntbewegten Wanderlebens. So ward Abu Seid, der als Charakter unmöglich nur als Erfindung eines Kunstdichters gelten kann, der aber in der Gestalt, die ihm die Schöpferkraft Hariri’s gegen Ende des elften Jahrhunderts nach Christo gegeben, eine unveränderliche Plastik erhalten, ein dichtender Vagabond, ein vagabondirender Dichter, wie seines Gleichen die Weltliteratur nicht kennt.

Das Vagabonden-Element, die unbezähmbare Wanderlust, der Drang nach Abenteuern in ihm macht diesen Araber nun unserm Till Eulenspiegel in erster Linie verwandt. Auch Till ist das Product einer Cultur, in welcher das fahrende Volk, vom Ritter bis zum Landsknecht, vom Scholasten bis zum musicirenden Gaukler, vom Gelehrten bis zum quacksalbernden, goldmachenden Adepten, eine wichtige Rolle im öffentlichen Leben spielte, der Repräsentant einer Nation, in welcher die Wanderlust, die einst ihre Väter an der großen Völkerbewegung maßgebenden Antheil nehmen ließ, alle Zeit lebendig und mächtig geblieben ist und in den späteren Romfahrten, den Kreuzzügen erneuten historischen Ausdruck gefunden hat.

Die geistige Ueberlegenheit gegenüber denen, die sie prellen und anführen, ist ferner beiden gemeinsam, beiden die witzige Wendung, in der es geschieht, und welche unsere Sympathie, so oft diejenige der Beschädigten selbst auf ihre Seite zieht. „Ein bischen Diebsgelüst, ein bischen Rammelei“ sind wesentliche Ingredenzien ihrer Abenteuer. Beide setzen stets ihre Persönlichkeit ein, auch wenn es sich um Handlungen von offenem Lug und Trug handelt; ihr Muth ist nicht ihr geringster Bundesgenosse. Und nicht nur die Verlegenheit und Noth, sondern natürlicher Drang treibt beide zu allerlei Verkleidungen; wie des Arabers Abenteuer mit Recht von Rückert „Verwandlungen“ genannt worden sind, so stellen sich auch diejenigen des deutschen Tollkopfes als solche Verwandlungen dar. Nichts ist ihnen dabei heilig; das Gewand des Priesters deuten beide für ihre Zwecke aus. Und wenn dieses im Besondern dem beredten Scheich besser zu Gesicht steht – hat er doch die volle Beredsamkeit eines Abraham a Santa Clara zur Verfügung – so muß dem niederdeutschen Bauernsohn nachgerühmt werden, daß er sich auf dem Gebiet der Verkleidung weit erfinderischer zeigt, als sein ihm an Phantasie und Gedankenfeinheit doch so weit überlegener Widerpart. Des Serungers Verwandlungen heben diesen nur selten aus der Sphäre seines Bettlerthums heraus; welche Fülle von Rollen weiß dagegen der Kneitlinger sich zu eigen zu machen!

Beide verwerthen weiterhin ihre Talente zur Ermöglichung eines thunlichst arbeitslosen und genußvollen Lebens, ohne in der Wahl ihrer Mittel durch Ehrbegriffe sonderlich gehindert zu werden, aber des Arabers Schwindeleien sind durch die Grazie der Ausführung weit mehr dem Dunstkreise des Gemeinen entrückt, als die des Deutschen. Der letztere wird uns in seinem Denken und Handeln oft sogar widerwärtig; gewisse Unfläthereien, die Lust am „Hofixen“ und anderen schmutzigen und windigen Dingen, denen K. J. Weber in seinem „Demokritos“ das „Capitel Pfui“ gewidmet hat, erscheinen uns Modernen kaum noch komisch und lächerlich, wie unseren roheren Altvordern. Vor dieser Ueberschreitung in das Gebiet des Niedern und Gemeinen schützte den Seruger seine bessere Vergangenheit, und neben dem edleren Sinn seiner Nation der Adel seines Dichtergeistes. Eulenspiegel ist ein junger Bursche, der Sohn einer armen energielosen Bäuerin; er ist zu faul ein Handwerk zu lernen, und als er sechszehn Jahr alt ist, „tummelt er sich und lernt mancherlei Gaukelei“. Er sucht in der Fremde sein Glück; mit Zehrgeld versorgt ihn sein Mutterwitz, und dieser ist, um seinen Zweck nicht zu verfehlen, naturgemäß auf den Geschmack der Lebenskreise angewiesen, in denen Till am meisten Verkehr hat: des niedern Bürgerstandes und der Bauern. Wohl veranlaßt der wachsende Ruf seiner Schwänke und Anschläge auch Fürsten und Große, den gewandten Schalksnarren zu sich zu rufen, doch wahrlich nicht um ihn bessere Sitten und Lebensanschauungen zu lehren. Wie traurig es übrigens auch um diese stand, ist aus des Ritter’s Hans von Schweinichen Denkwürdigkeiten und den Simplicianischen Schriften männiglich bekannt. Der Bettlerkönig aus Serug hingegen darf sich edelster Abstammung rühmen; seine Jugend war in Wohlleben verstrichen. Unglück allein hat ihn seines Besitzthums beraubt und zum Landstreicher gemacht. Er bettelt, aber im Vollbesitze der höchsten Bildung eines hochgebildeten Volks. Und vertiefter, wie uns sein Charakter gezeichnet ist, hat dieser neben der komischen eine tragische Seite. Die elegische Sehnsucht nach dem verschwundenen Paradies seiner Heimath und Jugend sendet oft genug einen wehmüthigen Accord in den jauchzenden Schwall seiner heiteren Beredsamkeit.

Rührend schildert er selbst diese Doppelnatur seines Wesens in folgenden Versen:

Ich bin der alte Wunderreich,
Der Ueberall und Nirgendwo.
Der Araber und Perser ruft
Ob meinen Streichen ha und ho!
Ich aber ruf’ an jedem Tag
Ob meinem Jammer ah und oh!
Denn ach, die Hand des Schicksals liegt
Auf meinem Nacken rauh und roh.

Der Unterschied adeligen und gemeinen Wesens zwischen beiden Schelmen tritt besonders hervor in der Art, wie sie sich dem Lebensgenuß hingeben. Wenn Eulenspiegel einen Streich glücklich aufgeführt hat und zu Gelde gekommen ist, dann heißt es einfach: „Und er war hinweg und schlemmte redlich.“ Auch Abu Seid enteilt dem Schauplatze seiner Thaten und setzt sich fest in der Schenke in Nichtachtung der Vorschriften des Propheten. Aber was für ein Zecher ist er! Auch hier ist er Künstler! „Bald den Schenken herzte er; bald mit der Flasche scherzte er, roch nun den Duft der Viole, sog nun das Naß der Phiole und horchte dem Lied der Viole, von der Lust Gesellen umrungen, von den Gasellen umsprungen und von den Ghaselen umklungen.“ Die schönste aber entperlt seinem eigenen freudetrunkenen Munde – Anakreon wird zum Schulbuben neben ihm:

Nicht schelt’ einen Alten,
Der glätten will Falten
Und füllen die Spalten
Und stützen sein Dach!
Denn Wein ist der Glättstein
Des Trübsinns, der Wetzstein
Des Stumpfsinns, der Brettstein
Des Sieges im Schach.
Ja, Wein ist der Meister
Der Menschen und Geister,
Der Feige macht dreister
Und stärket, was schwach …
Sprich, weißt Du, was besser
Als Schenkengewässer
Und brausende Fässer
Und Taumelgelag? …

Ist Eulenspiegel’s Witz rasch zur That und kurz von Wort, so ist dagegen der unseres Dichters wort- und klangreich, eher dem seines türkischen Vetters verwandt. Die Sprache ist sein Instrument, auf welchem er spielt, so verführerisch, so bestrickend, daß die Herzen der Hörer weich werden und, berauscht von dieser Musik, dem Spieler ihre Freigebigleit unbegrenzt zuwenden. „Er bezauberte mit seinem Mundwerk das Volk, indeß er mit beiden Händen molk“, und so haben seine Worte, mögen sie in lyrischer Begeisterung ertönen, in epischer Breite ihre Farbenpracht entfalten, in gnomenhafter Kürze, Raketen gleich, hervorblitzen, das Wesen und die Wirkung von Thaten.

Bald rüttl’ ich Schläfer wach, und bald
Umnebl’ ich die Besinnung Wacher;
Bald für die Weiner predigend,
Bald Lieder singend für die Lacher,
Im Weiberrock und Manneskleid,
Jetzt Chansa (eine Dichterin), dann ihr Bruder Sacher (ein Held).

Fast jede mit dem Sinn für das Komische begabte Nation hat ihren Schalksheiligen, dessen Charakter, durch eine literarische That in feste Form gebracht, in der Phantasie und im Munde des Volks als der gute Genius humoristischer Lebensauffassung fortlebt. Meine drei Freunde, die ich im Vorstehenden, durch neuere Literaturerscheinungen veranlaßt, neben einander gestellt und verglichen habe, würden in euer Gesammtdarstellung dieses wichtigen und anziehenden Capitels der Literatur- und Culturgeschichte eine hervorragende Stellung einnehmen. Alle Drei sind Urtypen, geboren aus dem Geiste ihrer Nationalität und ihrer Zeit, und deshalb beleuchtet sie diese selbst nach gewissen Richtungen hin auf das Hellste. [832]

Etwas von den deutschen Hülfsvereinen in der Schweiz.
Heiteres und Ernstes von einem Comitémitgliede.

„Ich werde in den gelesensten deutschen Zeitungen veröffentlichen, wie man hier arme, hülfsbedürftige Landsleute behandelt; ich werde Sie vor dem ganzen Vaterlande an den Pranger stellen.“ So hat uns schon seit Jahren mancher arbeitsscheue Stromer, mancher internationale Tagedieb gedroht, dessen Durste wir nicht nach Wunsch zu Hülfe kamen und der zwar dem Vaterlande längst abgeschworen hat, die gespendeten deutschen Markstücke aber nicht weniger willkommen heißt, als die Frankenstücke. Allein immer noch lassen diese Drohungen auf Verwirklichung warten, immer noch sind wir nicht an den Schandpfahl gestellt, und weil die Herren uns denn doch gar zu lange warten lassen, so wollen wir selbst ihnen einen Theil der Mühe abnehmen und uns in dem allergelesensten deutschen Blatte selbst der Oeffentlichkeit preisgeben. Schade nur, daß wir nicht mit der culturhistorischen Feder Riehl’s schreiben können, oder daß wir nicht Socialpolitiker sind, um unsere langjährigen Erfahrungen praktisch zu verwerten! Wir wollen darum nur einfach wiedergeben, was wir seit einer Reihe von Jahren erfahren haben und fast täglich noch erfahren, indem wir es dem Leser überlassen, weitgehende Schlüsse daraus zu ziehen.

Ein „Vocativus“.
Von Hugo Kauffmann in München.
Aus dem Prachtwerk „Spießbürger und Vagabonden“.


Die deutschen Hülfsvereine in der Schweiz haben im Allgemeinen denselben Zweck: Unterstützung ansässiger und durchreisender hülfsbedürftiger Landsleute; einzelne Vereine verbinden mit diesem human-patriotischen Zwecke zugleich den gesellschaftlichen, eine innigere Verbindung der an demselben Orte oder in demselben Cantone ansässigen Deutschen herzustellen. Landsleuten zu gewährende Unterstützungen werden in besonderen Vorstands-(Comité-)Sitzungen behandelt; zur Abfertigung der Durchreisenden aber sind tägliche regelmäßige Bureaustunden bestimmt, welche abwechselnd von den Comitémitgliedern übernommen werden und überall auf eine Vormittagsstunde verlegt sind, damit Diejenigen, welche von den Vereinen befördert werden, ihre Reise am gleichen Tage antreten oder fortsetzen können. Diese Unterstützungsbureaux werden täglich von einer größeren oder kleineren Anzahl von „Reisenden“ frequentirt, am stärksten wohl dasjenige in der Bundesstadt, weil diese als der Sitz der Gesandtschaften allerlei Pilger anzieht. Denn unser Herrgott hat gar mancherlei Kostgänger, und unzählig sind die Mittel und Finten, durch welche dieselben sich einen Weg zum Herzen des functionirenden Ausschußmitgliedes und zur Casse des Vereins zu bahnen suchen. Gesunde, arbeits- und marschfähige Reisende erhalten in der Regel keine Unterstützung (Ausnahmsfälle sind indeß immer noch [833] häufig genug), und ebenso werden auch keine sogenannten „Geschenke“ verabreicht. Kein Wunder also, wenn alle möglichen und unmöglichen Krankheiten simulirt und alle nur denkbaren Vorwände fingirt werden, um die Bittenden als unterstützungsbedürftig und -würdig erscheinen zu lassen. Kein Wunder aber auch, wenn sich die Vereine mit allen Vorsichtsmaßregeln wappnen und, wo der Fall nicht augenscheinlich ist oder wo das confiscirte Aeußere einer Bassermann’schen Gestalt oder problematischen Existenz Zweifel an der Würdigkeit auftauchen lassen, etwas polizeilich verfahren, ehe sie in den Säckel greifen und die oft sauer verdienten Beiträge von Vereinsmitgliedern an einen stets durstigen Stromer wegwerfen.

Um dem täglich versuchten Mißbrauche der Vereinscassen nach Kräften vorzubeugen, tauschen die Vereine regelmäßig halbmonatlich ihre Unterstützungslisten gegen einander aus, worauf Name, Beruf, Heimath der Unterstützten, Art und Begründung der Unterstützung nebst allfälligen Randbemerkungen und Winken verzeichnet sind, und welche zugleich die Candidaten der schwarzen Liste, das heißt diejenigen Persönlichkeiten enthalten, welche aus irgend einem triftigen Grunde der Aufmerksamkeit der Vereine zur Abweisung empfohlen werden. In besonders dringenden Fällen warnen sich die Vereine gegenseitig expreß durch Correspondenzkarten oder selbst durch Telegramme vor cassengefährlichen Stromern. Jene schwarze Liste oder vielmehr jenes schwarze Buch (denn die Liste ist im Laufe der Jahre zu einem ziemlich umfangreichen Bande angewachsen), durch dessen Anlage sich namentlich der Nestor der Vereinsvorstände und die personificirte Vorsehung der Vereine, Dr. Nauwerck in Zürich, der alte Patriot von echtem Schrot und Korn, ein Verdienst erworben hat, ist eine köstliche Blumenlese von mehr als zwölfhundert Vertretern aller Länder und Ländchen Deutschlands und Oesterreichs, die aus irgend einem schwarzen Grunde sich ein Anrecht darauf erworben haben, auf dieser Ehrenliste zu paradiren. Da erscheinen in buntem Gemisch Handwerker und Gelehrte, Tagelöhner und Künstler, Kellner und Kaufleute, Civilisten und Militärpersonen, Leute mit und ohne Beruf; da figuriren Bummler und Lumpen, Gauner und Schwindler, Tagediebe und Hochstapler, Lügner und Betrüger aller Art, jung und alt, männlich und weiblich, bürgerlich und adelig; da stehen Professionsbettler und Fechtbrüder, alljährlich wiederkehrende Zugvögel auf fremde Kosten, zu Dutzenden; da kommen schockweise Betrüger an Vereinen, Meistern und Cameraden. Hier handelt Einer mit Bruchbändern, die er sich von den Hülfsvereinen hat schenken lassen, dort verkauft ein Anderer das Eisenbahnbillet, das er sich erlogen hat; Der reist mit doppelten und dreifachen Papieren, um auf zwei und drei Metiers fechten zu können; Jener läßt sich neue Schriften ausstellen, damit man die reiche Markensammlung von Vereinsstempeln in den alten nicht zu Gesicht bekomme; der Eine schwindelt mit Krankheiten, der Andere reist auf ein Bein, einen Arm oder ein Auge; ein Dritter oder Vierter macht in Wunden, die er bei Wörth oder Sedan empfangen habe. Ja, es giebt wahre Rattenkönige von Schwindlern, welche eine ganze Reihe von Namen und Geschäften in ihrer werthen Person vereinigen, und der Muth einzelner Stromer versteigt sich nicht nur zu impertinenten Schmähbriefen an die Vereinsvorstände, sondern sogar zu thätlichen Angriffen auf Comitémitglieder, welche ihrem trotzigen Begehren nicht nach Wunsch entsprechen. Zu den schwärzesten Blättern des schwarzen Buches gehören aber jene, welche die Namen von etwa hundert Schuften verzeichnen, welche Weib und Kind im Stiche ließen und dem Elende preisgaben. Selbst mit dem Heiligsten wird geschwindelt: Betschwestern und Märtyrer freier religiöser Ansichten und politischer Grundsätze hoffen auf Sympathie und beuten in schamlos heuchlerischer Weise die Vereine aus. Man sieht: Practica est multiplex, und die Herren Straubinger sind zum Theil nicht ängstlich und verlegen bei der Wahl der Mittel zu ihrem Fortkommen in der Welt.

Bewunderungswürdig ist die Schnelligkeit, mit welcher unter diesen Herren die Kunde sich verbreitet, an welchem Tage ein „grünes“ Comitémitglied das Bureau versieht. Die meisten neugewählten Vorstandsmitglieder pflegen nämlich vor lauter Patriotismus und Humanität allzu optimistisch den Aussagen



Moderner „Rattenfänger von Hameln“.
Von Hugo Kauffmann in München.
Aus dem Prachtwerk „Spießbürger und Vagabonden“.

[834] und Vorspiegelungen des Bummelvolkes Glauben zu schenken und die Mahnungen ihrer älteren, erfahreneren Collegen: „Landgraf, werde hart!“ als einen Ausfluß allzu düsterer Weltanschauung zu belächeln, bis sie, hundertmal belogen und beschwindelt, ja, wie oben gesagt, thätlich angegriffen, nach und nach hartgesotten werden. Und dazu bietet sich ihnen gewöhnlich reichliche Gelegenheit; denn an jenen Tagen, an welchen sie amtiren, wird, als ob es sich die Landläufer nach allen Richtungen der Windrose hin telegraphirt hätten, sofort das Bureau stärker frequentirt, als an den übrigen, wo ein „Knauser“, ein „Filz“, ein „schlechter Patriot“ die Casse hütet.

Man könnte nach obiger Schilderung zu der Annahme versucht sein, als ob die Thätigkeit der Hülfsvereine auf dem Passantenbureau vorzugsweise eine negative, abweisende wäre, zumal wenn wir noch hinzufügen, daß außer den im schwarzen Buche Verzeichneten noch zahlreiche andere arbeits- und marschfähige „Reisende“ abgewiesen werden müssen, damit den wirklich Hülfsbedürftigen geholfen werden könne. Allein man wird eines Bessern belehrt werden, wenn man bedenkt, daß laut dem dreizehnten Centralberichte der deutschen Hülfsvereine in der Schweiz für 1876 in diesem Jahre 2986 Personen mit etwa 23,000 Mark unterstützt wurden, von welcher Summe wohl der dritte Theil auf durchreisende Landsleute verwendet wurde. Man sieht also, daß eine beträchtliche Anzahl von Reisenden nicht vergebens bei den Hülfsvereinen anklopft, eine Zahl, die mit jedem Jahre wächst. Denn es ist unleugbar, daß der moralische und mit ihm natürlich zugleich der finanzielle Zustand der sogenannten reisenden Arbeiterclasse sich von Jahr zu Jahr verschlimmert, daß Arbeitsscheu, Bummelei, Genußsucht weiter und weiter um sich greifen und daß alljährlich mehr und mehr Personen der Wohlthätigkeit anheimfallen.

Allzu reichliche Freiheiten in Gesetzgebung und Polizeiwesen, übereifrige Humanität in öffentlichen und privaten Verhältnissen, die besten Absichten von Staaten, Gemeinden und Privaten haben im Schooße der Arbeiterclasse schlimme Früchte gezeitigt, unter welchen Staat und Gemeinde und Wohlthätigkeitsanstalten schwer leiden, am schwersten aber die arbeitende Classe selbst. Durch die an sich sehr lobenswerte Vereinfachung des Paßwesens ist manche nützliche Einrichtung und sind namentlich die so praktischen Wander- und Arbeitsbücher fast ganz in Abgang gekommen; eine einfache Paßkarte, ein Militärdienstbüchlein, selbst ein auf bestimmte kurze Frist ausgestellter provisorischer Ausweis genügt, um Jahre lang im In- und Auslande zu reisen und – herumzulungern. Und diese provisorischen Pässe werden von manchen Consuln in ihrer Gefälligkeit und Milde auf die nichtigsten Aussagen über den wirklichen oder angeblichen Verlust der alten Papiere ausgestellt. Sagte mir doch ein Stromer, der mir einen provisorischen Paß vorzeigte, auf meine Frage, was aus dem Wanderbuche geworden sei, ganz dreist, eine Lawine habe ihm dasselbe, als er aus dem Urnerloche hervorgetreten sei, aus den Händen gerissen und ihn selbst ohne Schaden gelassen! Ein Handwerksreisender mit einem geregelten Wanderbuche und mit Zeugnissen von Meistern, bei denen er gearbeitet, ist bei uns eine seltene Erscheinung, wird aber gerade deshalb, wenn ihm die Existenzmittel ausgegangen sind, bereitwillige Unterstützung finden. Leider wird der wachsende Hang zur Stromerei gefördert durch wohlgemeinte, aber oft übel angebrachte Gemeindespenden, wie sie mancherorts in Deutschland und der Schweiz noch üblich sind. So werden einzelne Gegenden der Ostschweiz, die Ufer des Zürchersees, die March im Canton Schwyz zu einem vielbesuchten Eldorado für Bummler, und selbst die Unterstützungen der deutschen Consulate und Hülfsvereine kommen dem Vagantenthume zu Hülfe und ermöglichen z. B. die beliebte Rundreise aus Deutschland über Tirol, Venedig, Mailand, Turin und Genf zurück auf deutschen Boden.

Was soll man aber dazu sagen, daß krüppelhafte, arbeitsunfähige Personen von einzelnen Gemeindebehörden Deutschlands mit förmlichen Bettelbriefen ausgestattet und in die Fremde geschickt werden, um das deutsche Proletariat im Auslande noch zu vermehren? Rückweisung an der Grenze und Heimbeförderung auf Kosten der betreffenden Gemeindevorstände wäre wohl die wirksamste Cur für Behörden, welche ihre Unterstützungsbedürftigen durch Abschiebung auf die wohlfeilste Art loszuwerden suchen.

Ein ergiebiges Feld für ihre Thätigkeit finden die Hülfsvereine in der oft entsetzlichen Armuth und dem bleichen Elende deutscher Arbeiterfamilien in der Schweiz. Erkrankt Vater oder Mutter, oder wird die Arbeitskraft der Eltern durch Krankheiten der Kinder in Anspruch genommen und dem Erwerbe entzogen, so sind die seltenen und geringen Ersparnisse bald aufgezehrt, die nöthigsten Hausgeräthe verpfändet oder verkauft, und es bleibt neben der vielbewährten Wohlthätigkeit schweizerischer Anstalten und Privaten als einziger Rettungsanker der Hülfsverein der Landsleute, der freilich nach Kräften die Noth zu lindern sucht, aber nicht immer so ausgiebig und nachdrücklich helfen kann, wie er selbst es wünscht. Und doch verwendeten die deutschen Hülfsvereine in der Schweiz im Jahre 1876 auf Krankenpflege, auf Linderung von Familiennoth und auf Verpflegung von Wittwen und Waisen gegen 15,000 Mark. Am bedauernswerthesten ist das Loos solcher Wittwen deutscher Männer, welche geborene Schweizerinnen sind und es natürlich nicht über sich gewinnen können, ihr Vaterland zu verlassen, um der Heimath des Mannes, wo ihnen Sprache, Volk, Sitten und Gebräuche, kurz Alles fremd ist, zur Last zu fallen. Welches Loos würde die Arme zumal in einer Dorfgemeinde erwarten! Zwar steuern einzelne Gemeinden und Kreisverbände in dankenswerther Weise zum Unterhalte solcher Wittwen und ihrer Waisen bei, aber es könnte hierin ungleich mehr geschehen, nicht zur Erleichterung der Hülfsvereine, sondern zur Verbesserung des Looses der unglücklichen Verwaisten. Die jüngste Erfahrungen lassen uns hoffen, daß die deutschen Gemeinden, welche verarmte Angehörige in der Fremde haben, ihr Herz dem Elende derselben mehr und mehr öffnen werden. Solche Gaben aus der Heimath ermuthigen Alle, die am patriotischen Liebeswerke der Hülfsvereine mitwirken, und kräftigen bei Glücklichen und Unglücklichen die Liebe zum theuren Vaterlande, das seiner Kinder auch in der Ferne nicht vergißt.

F. E.



Die Sonne als geographischer Kupferstecher.

„Es ist eine der erstaunenswürdigsten Entdeckungen unserer Zeit. Mit dem Effect auf Chlor-Silber hat es nichts gemein; hier bringt Licht Licht hervor, ein Bleichproceß, wie ein Gitter nach Monaten sich auf einer rosenroth unecht gefärbten Gardine abbildet. Man sieht bei Daguerre nur sechszig bis siebenzig Bilder in Rahmen unter Glas, meist auf Metall, einige weniger gute auf Papier und auf Glasplatten gebildet, alle dem feinsten Stahlstich ähnlich, von bräunlich grauem Biesterton, die Luft immer etwas traurig und verwischt. Die schärfsten Abstufungen der Hellschatten, die Verschiedenheit des Seine-Wassers unter den Brücken, oder in der Mitte des Flusses, die Oberfläche des feuchten Gesteins, des Gemäuers, hat eine Wahrheit, die kein Kupferstich erreicht. Der generelle Ton zart, fein, aber als braungrau etwas traurig. – Arago hat jetzt das Geheimniß von Daguerre erhalten und hat in zehn Minuten ein vollendetes Bild unter seinen Augen entstehen sehen. Das Bild zeigte einen fernen Blitzableiter, denn Arago mit bloßen Augen nicht gesehen hatte. Welch ein Vortheil für Architekten, den ganzen Säulengang von Baalbek oder den Krimskrams einer gothischen Kirche in zehn Minuten in Perspective auf dem Bilde mitzunehmen!“

Dies schrieb Alexander von Humboldt am 25. Februar 1839 an Carus in Dresden, als er in Paris Daguerre’s Erfindung kennen gelernt hatte. Seitdem sind noch nicht vier Jahrzehnte vorüber gegangen, und die Photographie hat die Daguerreotypie längst überholt und wird in mannigfachen Processen ausgeübt. Man kennt unter andern die Photolithographie, die Photozinkographie, den photographischen Silberproceß, den Pigmentproceß, die eingebrannte Photographie aus Glas und Porcellan; endlich nennen wir noch die Heliographie. Alle diese Processe und Verfahrungsarten werden insgesammt im Dienste der mannigfachsten Künste und Wissenschaften angewandt.

[835] Es ist hier nicht der Zweck noch der Ort, diese verschiedenen Verfahrungsarten zu beschreiben. Wir wollen hier nur von den neuesten staunens- und bewundernswerthen Leistungen der Heliographie oder Heliogravüre, das ist des Sonnenkupferstichs im Dienste der Geographie und Kartographie Nachricht geben, nämlich von der Herstellung der großen Generalstabskarte der österreichisch-ungarischen Monarchie, 715 Blätter im Maßstabe von 1:75.000.

Bei der Herstellung eines so umfangreichen Kartenwerks, das selbst die kleinsten Einzelheiten berücksichtigen muß, sind, ganz abgesehen von der Richtigkeit und der künstlerischen Ausführung der Aufnahme, der Zeichnung, des Stichs etc., zwei wesentliche Momente zu beachten: die Zeit und die Kosten. Schnelligkeit und Billigkeit sind Cardinalforderungen.

Was nützen Karten, welche erst nach zwanzig bis dreißig Jahren vollendet werden, während welcher Zeit sich Straßen und Wege, Oertlichkeiten, oft selbst Boden- und Terrainverhältnisse wesentlich geändert haben, sodaß die ersten Blätter veraltet sind, ehe die letzten vollendet worden? Was nützen Karten, wenn ihr hoher Preis die Beschaffung erschwert oder gar verhindert?

Aus militärischen Gründen werden freilich alle Staaten zu allen Zeiten einzelne Karten geheim halten. Friedrich der Große hatte die Erlaubniß zur Veröffentlichung der neuen Müller’schen Karte von Schlesien vierzehn Jahre lang verweigert und ertheilte sie zuletzt nur unter der erniedrigenden Bedingung, daß die zahlreichen Fehler der alten Stiche unverbessert blieben; – 1764 wurden die Platten einer neuen Karte der Burggrafschaft Nürnberg vernichtet und ihr Verfasser Knopf bestraft. Solche Maßnahmen fanden immer und überall statt. Um so erfreulicher sind die Rücksichten, welche die österreichische Regierung bei Herausgabe der großen Generalstabskarte auch für die leichte Beschaffung derselben beobachtet. Diese Rücksichten auf Billigkeit und Schnelligkeit bei Herstellung der genannten Karte ließen indeß den bisher üblichen Kupferstich nicht anwenden. Denn Ein Kupferstecher braucht durchschnittlich über vierthalb Jahre zum Stich einer Platte. Die siebenhundertfünfzehn Blätter oder Platten würden also hundert Kupferstecher durch wenigstens fünfundzwanzig Jahre in Anspruch genommen haben. Dabei wäre auch noch in Betracht zu ziehen, daß die Arbeiten an dieser Karte kaum die Hälfte der in Kupfer herzustellenden Arbeiten repräsentiren, diese Anzahl der Kupferstecher also eigentlich verdoppelt werden müßte. Wo aber fände sich eine solche Zahl gleichmäßig geschickter Kupferstecher, da, um auch nur einen regelmäßigen Kupferstecher auszubilden, wohl zehn Jahre erforderlich sind? Man entschloß sich daher nach dem Vorschlage und dem Plane des früheren Chefs des militärgeographischen Instituts in Wien, des Feldzeugmeisters und commandirenden Generals Baron von Kuhn, zur Herstellung der großen Generalstabskarte die Heliographie in photographisch- galvanoplastischer Methode ohne jede Beihülfe des Kupferstechers anzuwenden.

Die verschiedenen Methoden der Heliographie oder Heliogravüre sind unter Kunst- und Fachtechnikern längst bekannt. Ueberzieht man eine Metallplatte mit einer Auflösung von Asphalt und Lavendelöl, trocknet die Schicht und belichtet sie unter einer auf durchscheinendem Papier gefertigten Zeichnung, so lassen die schwarzen Striche der Zeichnung das Licht nicht durch und der Asphalt auf den darunter befindlichen Stellen bleibt daher löslich; unter den weißen Stellen der Zeichnung aber, die das Licht durchgelassen haben, ist der Asphalt unlöslich. Behandelt man nun die so belichtete Platte mit Lavendelöl, so nimmt dasselbe den löslichen Asphalt weg, während der unauflösliche zurück bleibt. Die Platte behält daher an allen Stellen, die nicht durch die Striche der Zeichnung gedeckt waren, ihren Asphaltbezug. Gießt man nun eine ätzende Säure auf die Platte, so frißt dieselbe an allen Stellen, von denen der Asphalt weggenommen wurde, die Metallplatte an, während die mit Asphalt bedeckte Fläche unverändert bleibt, und man erhält ein erhöhtes Bild auf der Platte, das einer Radirung der Zeichnung vollständig ähnlich ist. – Ein anderes Verfahren ist die Metallplatte mit einer Mischung von chromsaurem Kali und Leim zu überziehen. Dieser Ueberzug verliert bei der Belichtung seine Löslichkeit in warmem Wasser, wie Asphalt im Licht seine Löslichkeit in ätherischen Oelen verliert, während die unbelichteten Theile von dem Bezuge rein gewaschen und geätzt eine Radirung darbieten. – Ein ferneres Verfahren fertigt auf gewöhnlichem photographischem Wege mittelst Silberfalzen von der Zeichnung ein positives Bild auf Collodium. Dieses Bild ist ein schwaches Relief, welches, durch geschickte Verstärkung erhöht, dann galvanoplastisch niedergeschlagen, ebenfalls eine druckbare Metallplatte liefert. Diese Methoden sind zur Herstellung von Druckplatten nach Zeichnungen, die in Strichmanier ausgeführt sind, wie Landkarten, vorzugsweise geeignet und sind jetzt in der Kartographie zum ersten Male in ebenso großartiger wie erfolgreicher Weise durch das k. k. militär-geographische Institut in Wien zur Anwendung gebracht worden.

Wenn bisher zur Herstellung einer Karte Zeichner und Kupferstecher nöthig waren und der Kupferstecher je nach der Menge und Schwierigkeit des Terrains zum Stich derselben vierthalb bis fünf Jahre brauchte, so macht die Heliogravüre den Kupferstecher ganz entbehrlich. Nach dem Zeichner tritt die Sonne an die Arbeit und mit Hülfe von etwas Scheidewasser giebt sie die Zeichnung in wenigen Wochen so vollendet genau wieder, wie sie der beste Kupferstecher nur in gleich vielen Jahren herzustellen vermag, und zwar ohne die Mühen und Sorgen, ohne den Kummer und Aerger, wie sie der Kupferstecher oft in höherem Maße verursacht, als die ursprüngliche geistige Arbeit der Zeichnung.

Die Zeichnung freilich erfordert für die Heliographie bei weitem mehr Sorgfalt, doppelt so viel Zeit und doppelt so viel Kosten wie für den Kupferstich. Sie muß so vollendet sein, daß auch nicht ein Pünktchen, ein Ton, auch nicht die geringste Nüancirung in einem mikroskopischen Theilchen zu verändern ist. Sie erfordert wissenschaftlich und künstlerisch gebildete Männer. Wo aber fände man solche methodisch gleichmäßig gebildete Männer in solcher Anzahl, wie sie für die k. k. Generalstabskarte unumgänglich nothwendig sind? –

Es war daher zunächst die Aufgabe, tüchtige topographische Zeichner für die Originalzeichnung auszubilden, welche für die heliographische Reproduction nicht blos, wie für den Kupferstecher, richtig, sondern auch schon im definitiven Charakter der Karte, möglichst präcis und scharf hergestellt werden muß. Hierzu wurde eine entsprechende Anzahl von Truppen-Officieren und Unterofficieren in das geographische Institut einberufen und ihre einheitliche Schulung für diese Aufgabe eingeleitet.

Diese Schulung der Zeichner begann im Herbste 1872, und in der zweiten Hälfte des Jahres 1873 konnte bereits mit der Zeichnung begonnen werden. Bis Ende 1874 wurden durch Heliographie achtundvierzig Blätter, im Jahre 1875 schon dreiundsiebenzig, 1876 gar dreiundachtzig und 1877 wieder siebenundsechszig Blätter, zusammen bis Ende 1877 zweihunderteinundsiebenzig Blätter, vollendet. Um diese zweihunderteinundsiebenzig Blätter in derselben Zeit in Kupfer zu stechen, in der sie heliographirt worden sind, würden etwa dreihundert Kupferstecher erforderlich gewesen sein.

Vergleichen wir die Leistungen der Heliogravüre und des Kupferstichs nach dem Aufwand von Zeit und Kosten für ein und dasselbe Blatt, so ergiebt sich: Zur Herstellung einer Karte im Maßstabe 1 : 75.000 braucht je nach dem Inhalt, namentlich dem Terrain des Blattes,

die Heliogravüre:   der Kupferstich:
Zeichnung 7,5 Monate   Zeichnung 3,7 Monate
heliogr. Proceß,
Retouche
1,5 Monate   Stich 42 Monate
  9 Monate.     45,7 Monate.

Die mittleren Kosten bei der Herstellung einer Druckplatte für ein Blatt 1 : 75.000 betragen bei Anwendung

der Heliogravüre:   des Kupferstichs:
Zeichnung 1000 Gulden   Zeichnung 500 Gulden
heliogr. Platten 45 Gulden   Stich 3500 Gulden
Retouche 50 Gulden   Kupferplatte 140 Gulden
  1095 Gulden.     4140 Gulden.

Eine anerkannte und vollberechtigte Autorität in der Beurtheilung der geographischen Kartographie, Professor August Petermann, sagte gelegentlich einer Besprechung dieser neuen österreichischen Generalstabskarte „Die Heliographie der Gegenwart verhält sich zu der altmodischen Arbeit des Grabstichels wie etwa ein Hinterlader zur Armbrust, wie der Dampfer zum Galeerenboot, wie die Locomotive zur Droschkenkarre oder zum Tragsessel,“ – [836] das klingt freilich etwas drastisch, immerhin aber ist dargethan daß die Heliographie zu vortrefflicher Herstellung einer Generalstabskarte mit reichstem, schwierigstem Terrain nur ein Fünftheil der Zeit und ein Viertheil der Kosten erfordert, welche der Kupferstich beanspruchen würde.

Die topographische Aufnahme oder die Generalstabskarte ist die höchste Leistung in der technischen, graphischen Erdkunde. Sie giebt die genaueste Abbildung der Erdoberfläche und ist die sicherste Basis für alle geographisch-topographische Kenntniß. Die Generalstabsinstitute waren immer die hohen Schulen für den gediegensten Theil der Kartographen. Es sind in ihnen die meisten und besten Zeichner und Stecher gebildet worden. Höchst wahrscheinlich, daß auch diese großartige heliographische Leistung des K. K. Oesterreichischen Militär-Geographischen Institutes nicht ohne Nutzen und Folgen für die allgemeine Kartentechnik bleibt.

Der Nutzen, den die Heliogravüre weiterhin noch für die Kartographie, und darum auch für die Geographie, haben dürfte, ist gar nicht zu ermessen, da ein so großartiges Kartenwerk, wie die neue topographische Aufnahme des Oesterreichisch-Ungarischen Kaiserstaates, in 715 stattlichen Blättern in der kurzen Zeit von zwölf Jahren brillant ausgeführt werden kann, und jede Verwandlung in andere Maßstäbe mit Leichtigkeit gestattet.

Vielleicht, – denn was wäre in unseren entdeckungs- und erfindungsreichen Tagen nicht möglich? – macht die Heliographie auch noch den Zeichner entbehrlich. Ein Photograph in einem Ballon captif, wie er schon oft zu militärischen Recognoscirungen gebraucht wurde, könnte leicht wie im Vogelfluge das Bild von der unter ihm liegenden Landschaft oder Gebirgsgegend aufnehmen, und – alles Weitere würde die Heliographie besorgen.

J. Loewenberg.


Blätter und Blüthen.

Neue Prachtwerke des Buchhandels. An die Reuter-Gallerie, welche wir in unserer letzten Nummer berührten, schließt sich noch die an künstlerischem Werth obenan stehende „Freytag-Gallerie“ (Leipzig, Schlömp) deren Perle, das Menzel’sche Bild „Friedrich der Große am Sarge des großen Kurfürsten“, in werthvoller Holzschnittwiedergabe den ersten Bogen unserer heutigen Nummer ziert. Auch hier die dreifache Erscheinungsweise, auch hier die photographische Herstellung Bruckmann’sche Arbeit. Die früheren Blätter dieser Gallerie, welche noch durch das Jahr 1879 geführt werden wird, sind so bekannt und viel besprochen daß hier nur der jüngsten Publicationen zu gedenken übrig bleibt. Zu ihnen gehört das Menzel’sche Bild, das rührend-schöne Thumann’sche „Thränenkrüglein“, eine sehr anmuthige Composition H. Kaulbach’s zu „Marcus König“, eine Ingraban-Scene von Knille, anderes Treffliche von Lossow, Piloty, Hünten, Camphausen, Becker, Oehmichen, auch ein Portrait Gustav Freytag’s.

Eines photographischen Verlages müssen wir noch gedenken, dessen vorzügliche Arbeiten einen glänzenden Ruf in der Künstlerwelt genießen und dessen freundlicher Ueberlassung photographischer Blätter zur Vervielfältigung im Holzschnitt unsere Leser einen nicht kleinen Theil der „Gartenlauben“-Bilder verdanken: es ist der Verlag der „Photographischen Gesellschaft“ in Berlin. Wohl die meisten guten Bilder, welche alljährlich durch die verschiedenen Kunstausstellungen wandern, erhalten durch Erwerbung des Vervielfältigungsrechts seitens dieser rührigen Gesellschaft weite Verbreitung im deutschen Publicum. Wer z. B. eines der prächtigen Grützner’schen Falstaff-Bilder, von denen wir seiner Zeit zwei unsern Lesern vorgeführt haben, als Zimmerschmuck erwerben sollte, wird das Blatt diesem Verlage zu verdanken haben.

Verlassen wir jetzt das Gebiet der Photographie, um das nahe verwandte des Lichtdrucks zu betreten, eine Vervielfältigungsart, welche in erster Linie der Ackermann’sche Verlag in München pflegt. Es ist zunächst eine Collection humoristischer Skizzen, welcher dieses Verfahren zu Gute gekommen ist. Arbeiten des jugendlichen, aber vollreifen und hochbegabten Münchener Künstlers Hugo Kauffmann, welche unterm Titel „Spießbürger und Vagabonden“ in prächtiger Mappe uns vorliegen. Wir dürfen nicht verschweigen, daß dieses Prachtwerk bereits den vorjährigen Weihnachtstisch schmückte[WS 2]: ein Blick auf die Proben indeß, welche wir in unserer heutigen Nummer bieten, wird es rechtfertigen, daß wir Versäumtes nachholen und das Werk in den Bereich dieser Weihnachtsbesprechung ziehen. Wie derb charakteristisch ist jenes Paar mit seiner Drehorgel aufgefaßt, welchem die Gabe des weiland Rattenfängers von Hameln eignet, die Straßenjugend beiderlei Geschlechts unwiderstehlich nach sich zu ziehen, und welche drastische Komik spricht aus jener so unmittelbar dem Leben abgelauschten Scene von irgend einer Promenade, wo ein „Vocativus“, einer jener gefürchteten pfiffigen Taugenichtse, die es „hinter den Ohren haben“, sich hinter der Ruhebank auf Kosten des wohl von einem unfreiwilligen Schläfchen überraschten alten Herrn amüsirt! Der Ackermann’sche Verlag, der die Veröffentlichung dieser Skizzen übernahm, hat ihnen jüngst ein neues Lichtdruck-Prachtwerk hinzugefügt: fünfundzwanzig durchgeführtere Originalzeichnungen in Feder und Blei, Kreide und Kohle, welche vervielfältigt den Titel „Künstlerheim“ tragen. Unter den Meistern, welche das Material geliefert haben, fehlen wenige von den glänzendsten Münchener Namen. Auch aus diesem Werke, das jeden Weihnachtstisch zieren wird, führen wir unsern Lesern heute eine Probe vor Augen: Ferd. Barth’s reizendes Blatt „Der bekannte Schelm“. – In das Capitel der Lichtdruck-Reproduction fällt endlich noch ein Lieferungswerk, das mit einem schon erwähnten Prachtwerke eng zusammenhängt. Der Engelhorn’sche Verlag hat es unternommen, die Originalzeichnungen, welche das Werk „Italien“ in Holzschnitten bringt, photolithographisch zu vervielfältigen, und die theilweise herrlichen Arbeiten von Meisterhand sind unter dem Titel „Handzeichnungen deutscher Künstler“ sonach bequem und in möglichst treuer Nachbildung der Originale separat zu erwerben.

Eignet sich schon manche der bisher erwähnten Publicationen dazu, als Quelle für Rahmenbilder zur Gewinnung eines künstlerisch werthvollen Zimmerschmuckes angesehen zu werden, so geht ein Unternehmen speciell auf die Lieferung trefflicher und dabei billiger Bilder in diesem Sinne aus, welches nicht genug empfohlen werden kann: es ist das die „Wiener Gesellschaft für vervielfältigende Kunst“. Ihr eigentliches Gebiet ist der Stich und die neuerdings wieder mit so viel Liebe und Erfolg gepflegte Radirung. Freilich, um billig in den Besitz ihrer Leistungen zu kommen muß man für dreißig Mark Jahresbeitrag Mitglied der Gesellschaft werden; man erhält außer Bildern eine glanzvoll ausgestattete Vierteljahrsschrift „Die graphischen Künste“ (Redacteur Dr. Berggruen), welche allein für Nichtmitglieder zwanzig Mark kostet. Zu den hervorragenden Erscheinungen älterer und neuer Zeit, welche in wahrhaft ausgezeichneter Weise vervielfältigt sind, steht übrigens für nächstes Jahr ein Beitrag von besonderer Bedeutung in Aussicht: ein großer Stich der Raffael’schen „Schule von Athen“, welcher demnächst nach zehnjähriger Arbeit von dem Kupferstecher Prof. Jacobi fertig gestellt sein wird.

An farbigen Publicationen verzeichnen wir als besonders empfehlenswerth ein Album in zwölf Blättern: „Frühlingsblumen“ nach Aquarellen von Georg Hirth, sowie eine Auswahl prachtvoller großer Farbenbilder aus dem Verlage von Edm. Gaillard in Berlin. Die „Frühlingsblumen“, welche von Versen deutscher Lieblingsdichter begleitet werden, erscheinen als mit vielem Geschmack arrangirte, sehr wirksame Compositionen, und die Nachahmung des Aquarellcharakters ist mit außerordentlicher Feinheit gewahrt, wie sich das bei der chromographischen Anstalt von W. Seitz in Wandsbeck von selbst versteht. Die relative Billigkeit der „Frühlingsblumen“ wird so mancher jungen Dame zu Gute kommen, welche gute Vorlagen für ihre aquarellistischen Versuche zu erwerben wünscht. Die Gaillard’schen Bilder geben sich als die Proben eines neuen Verfahrens, welches sich „Heliochromographie“ nennt, Arbeiten von außerordentlicher Frische der Farben, unter denen sich ein Bild „Mutterglück“ nach Schwartz und ein Portrait des Kaisers nach der Natur besonders auszeichnen.

Chromographien, mit Lithographien gemischt, schmücken den neuesten Jahrgang von „Deutsche Kunst in Bild und Lied“, herausgegeben von Albert Traeger, ein Album, das auch in diesem Jahre seine Aufgabe würdig löst. Der Werth des Inhaltes bleibt von Jahr zu Jahr der nämliche: nur müssen wir bemerken, daß in diesem Jahre das Format ein wesentlich vergrößertes geworden ist. Wie immer, empfehlen wir das glänzende Buch auch diesmal mit Vergnügen.

Damit schließen wir das Capitel der „Prachtwerke“. Es bleibt uns nur der Wunsch auszusprechen übrig, daß es recht vielen unserer Leser vergönnt sein möge, das eine oder andere der hier genannten Werke auf seinem Weihnachtstische glänzen zu sehen.


Kleiner Briefkasten.

E. M. in H. Das von Ihnen erwähnte sehr beachtenswerthe Buch wurde bereits bei seinem ersten Erscheinen in unserem Blatte freundlich begrüßt. Der genaue Titel lautet übrigens auch in der soeben ausgegebenen vierten Auflage: „Aus der Pension. Briefe einer Fünfzehnjährigen an eine Siebenzehnjährige. (Frei nach dem Englischen des H. Mayhew“ von Sophie Verena. (Berlin, H. M. Müller.)


So eben erschien im Verlag von Ernst Keil in Leipzig:

Robert Blum.

Ein Zeit- und Charakterbild für das deutsche Volk
von Hans Blum.

Mit einem Portrait in Stahlstich und dem Facsimile des letzten Briefes Robert Blum’s.
Preis broschirt 6 Mark.

Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: denossen.
  2. vgl. Berichtigung