Die Gartenlaube (1879)/Heft 39
[641]
No. 39. | 1879. |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.
Es war ein herrlicher Junimorgen. Man hatte die kranke Lucile auf die völlig zugfreie zweite Terrasse getragen – denn die Füßchen, die unter den Beifallsstürmen der Zuschauer seit drei Jahren schmetterlingshaft über die Bühne gegaukelt, waren „merkwürdiger Weise“ immer noch zu schwach, um die federleichte, kinderkleine Gestalt auch nur zwei Schritte weit zu tragen. Ein Zeltdach schützte die Kranke vor dem blendenden, belästigenden Sonnenlicht. Sie verharrte fröstelnd auf ihrem Ruhebett, in wärmende Decken gehüllt; nur der in blaue Atlasfalten und reiche Spitzengarnirungen vergrabene Oberkörper lag frei und auch jetzt in seiner hülflosen Zusammengesunkenheit noch kokett graziös auf dem Polster. Schön war dieses todtenbleiche Gesicht immer noch; die Lieblichkeit der Züge war selbst dem grausam verzerrenden Tod unerreichbar.
Mißmuthig rührte sie mit dem Löffel in der Frühstückschocolade.
„Ich weiß nicht – der Koch muß ein besonderes Vergnügen darin finden, mir meine Chocolade immer homöopathischer zu mischen; ich kann das elende Gebräu nicht trinken und bitte mir für künftig Kaffee aus,“ sagte sie, die Tasse wegschiebend, kurz und herb zu der Majorin, die eben kam, um nach ihr zu sehen.
„Der Kaffee ist Ihnen streng verboten,“ antwortete sie ruhig.
„Ja, ja – verboten!“ wiederholte die kleine Frau, den Ton ihrer Schwiegermutter nachahmend – man sah den alten, unbezwinglichen Haß in ihren Augen auffunkeln. „Hier in dieser trostlosen Villa wird das Wort mit unvergleichlicher Consequenz von Jung und Alt, Hoch und Niedrig mir gegenüber gehandhabt. Ich habe diese Plagerei satt, aber so satt – bis zum Ekel! Und diese Herren Aerzte – daß sich Gott erbarm’! - es ist Einer immer dümmer als der Andere. Können nicht einmal mit einem armseligen Katarrh fertig werden, und um solch eine Kleinigkeit schlagen sie einen Lärm, als ginge es an’s Leben, an mein junges, herrliches, vielbeneidetes Leben – bah, Blödsinn!“ fügte sie mit schwacher Stimme und fieberisch glänzenden Augen hinzu, während die Majorin sich anschickte, das Zelt zu verlassen.
„Ich bitte Sie, thun Sie mir den einzigen Gefallen und schließen Sie dort die Terrassenthür in Mercedes’ Salon – meinetwegen auch die seidenen Vorhänge!“ rief sie ihrer Schwiegermutter nach, die sofort zurückkam.
Man blickte vom Zelt aus durch eine weitoffene Glasthür in ein schönes Parterrezimmer hinauf, von dessen tiefer Wand sich die Gestalten eines Bildes ergreifend lebensvoll abhoben.
„Ich habe mich schon in Baron Schilling’s Atelier mehr als genug vor dieser gräulichen, hugenottischen Frauengruppe entsetzt,“ fuhr die kleine Frau nervös ärgerlich fort, „und nun tritt sie mir auch hier, wie das aufdringliche Fatum, immer wieder vor die Augen. Mercedes ist nicht recht klug, daß sie solch schauderhafte Bilder kauft und ihren sonst ganz passable hübschen Salon damit verdirbt.“
Sie griff grollend in die dicken Büschel aufgeblühter weißer Rankrosen, die seitwärts über das Bronzegitter der Terrasse herüberschaukelten, und zerpflückte sie, die Blätter in gedankenlosem Spiel über die seidene Decke hinstreuend. Dann richtete sie sich auf und warf sich eine Handvoll der weißen Kelchblätter über die dünnen, sorgfältig geordneten Locken – sie sah aus, wie von Schneeflocken überrieselt.
Die Majorin wandte sich weg und sah über das weite, herrliche Blumen- und Rasenparterre hin, das sich zu Füßen der Terrasse ausbreitete. Die Indignation über das bodenlos kindische Gebahren der jungen Frau schnürte ihr fast die Kehle zu, und doch verrieth kein Zug ihres ernsten Gesichtes, daß sie diese Sterbende hasse und verachte bis in den Tod hinein – sie dachte an die Kinder, denen sie das Leben gegeben, und bezwang sich.
„Ich möchte Paula haben,“ sagte hinter ihr die heisere, schwache, eigensinnige Stimme.
„Die Kleine macht mit Deborah ihren Morgenspaziergang; sie wird im Augenblick nicht herbeizuschaffen sein,“ versetzte die Majorin gelassen „Aber José höre ich eben zurückkommen.“
Gleich darauf sah man drei Reiter in den breiten Durchhau einlenken, der den Waldpark angesichts der Villa-Façade in seiner ganzen Tiefe durchschnitt und einen herrlichen Ausblick auf die fern sich hinstreckende Stadt gewährte.
Ruhig, gleichsam noch in den Genuß des Morgenrittes versunken, kamen die Reitenden näher und näher – es war Donna Mercedes mit José und dessen Hauslehrer. Dem Knaben sah man nicht mehr an, daß er vor drei Jahren schon halb und halb eine Beute des Todes gewesen war. Schlank und blühend, ein Bild der Kraft und Schönheit, saß er auf seinem kleinen Pferd – der Majorin schwoll das Herz vor Stolz und Freude, als er ihr von ferne mit seinem Hütchen grüßend zuwinkte.
„Der dumme Bub’ spielt wirklich schon den großen Herrn,“ grollte die ärgerliche Frauenstimme unter dem Zeltdach, während die Majorin am Terrassengeländer stand und mit der Hand die Näherkommenden begrüßte. „Aber Sie sind selber schuld, Madame; ein achtjähriger Junge gehört noch nicht auf’s Pferd –“ [642] „José ist zehn Jahre alt.“
„Mein Gott, das muß ich immer wieder hören, damit ich mir ja recht einbilde, ich sei eine alte Frau. Dazu qualificire ich mich aber nicht, absolut nicht, und wenn Sie es noch so eifrig wünschen. Ich bin jung und mädchenhaft, mag zehnmal solch ein langer, altkluger Bengel neben mir stehen und ,Mama’ zu mir sagen. Und in fünf Wochen tanze ich in Berlin, allen spießbürgerlichen Anschauungen, aller doctorlichen Weisheit zum Trotz – glauben Sie, ich werde das nicht wahr machen?“
Die Frau am Geländer zuckte schweigend die Achseln, und Lucile knickte mit ihren matten, blassen Fingern nun auch ein paar Rosen sorgfältig ab, um sie in das Haar und an die Brust zu stecken.
„Schau, wie Dame Mercedes kokett zu Pferde sitzt!“ sagte sie, ohne den Kopf zu wenden, mit einem blinzelnden Seitenblick aus halbgeschlossenen Augen. „Nur schade, daß das der blöde, junge Hauslehrer vor lauter Respect nicht zu bemerken wagt! Wenn sie nur wüßte, wie schauderhaft ihr das blaue Reitkleid zu dem gelben Gesicht steht! Bah, sie hat nie Geschmack gehabt! Und in dem gräßlichen Reitcostüm steckt sie Tag für Tag – es sieht verwettert aus wie ein alter Commißrock. Aber das ist jetzt so ihre Marotte – sie spielt die Einfache. Mein Gott, warum nur? Die alten Stoffe werden aufgetragen bis auf den letzten Faden, und die Jungfer lamentirt, daß längst alle Schmucksachen bis auf den kleinsten Manschettenknopf weggeschlossen worden sind – lächerlich! Drüben war sie, wie alle diese protzigen Baumwollenprinzessinnen, stets aufgeputzt wie ein Schlittenpferd – die Augen thaten Einem weh vor lauter Brillantengeflinker, wenn man sie ansah. Will sie hier vielleicht auch Nonne werden, wie die odiöse Baronin Schilling?“
Die Majorin ging, ohne ein Wort der Erwiderung, behenden Schrittes die Terrasse entlang und stieg die breiten Mittelstufen hinab, den Heranreitenden entgegen. Sie zog einen Brief aus der Tasche und schwenkte ihn in der Luft.
Donna Mercedes trieb sofort mit einem leichten Gertenschlag ihren schönen Fuchs an und flog den Anderen weit voraus. Eine tiefe Gluth bedeckte ihr Gesicht, während sie hastig nach dem Briefe griff und das Couvert aufriß. Sie überflog die ersten Zeilen; dann bückte sie sich tief zu der Majorin herab und flüsterte mit vor Bewegung fast erstickender Stimme: „Baron Schilling kommt heute Abend aus Frankreich zurück.“
Unwillkürlich griff sie nach der Hand der alten Frau und hielt sie mit aufstrahlenden Augen und einem vielsagenden Druck einen Augenblick fest; dann steckte sie den Brief zu sich, wendete ihr Pferd, und mit einem freundlichen Gruß nach der mürrisch dreinschauenden kleinen Frau hinauf, jagte sie auf dem nächsten, durch den Wald führenden Wege der Stadt zu.
Der kluge Fuchs trug seine Reiterin die Chaussee entlang, am Bahnhof vorüber, trabte da durch eine belebte Straße, dort über einen stillen Domplatz, und bog schließlich in die öde, zum Theil von Gartenmauern gebildete lange Gasse ein, in welche eine wohlbekannte Mauerthür mündete. Er machte fast täglich diesen Weg und wieherte stets freudig beim Einlenken in den Garten des Schillingshofes; denn er wußte, daß er da drinnen als Liebling cajolirt und gehegt und gepflegt wurde.
Die Thür stand, wie immer um diese Stunde, wo Donna Mercedes zu kommen pflegte, weit und gastlich offen. Mit stürmisch pochendem Herzen ritt sie in das grüne Fichtendämmern hinein – heute noch einmal war sie, wie die langen drei Jahre her, mutterseelenallein in Atelier und Garten; dann –
Der Stallbursche kam durch die Platanenallee gelaufen, um ihr vom Pferde zu helfen. Sein Gesicht strahlte, und nur mit Mühe verbarg er ein pfiffiges Schmunzeln.
„Ah – Sie wissen schon?“ sagte Donna Mercedes, als sie neben ihm auf dem Boden stand.
„Jawohl, gnädige Frau,“ versetzte er ehrerbietig. „Alles im Schillingshofe ist rein närrisch vor Freude, weil nun endlich die langweilige Wartezeit überstanden ist. Solch ein herrenloses Haus ist schrecklich.“
Er führte den Fuchs nach dem Stall, und Donna Mercedes blieb einen Augenblick auf dem Kiesplatz vor dem Atelier stehen und übersah das Gartenrevier, soweit sie vermochte. Ob er wohl zufrieden war mit ihrem Schalten und Walten?
Dort, auf dem Klostergut, wo früher die hinfälligen, dohlenumschwärmten Giebel, die zerbröckelnden Wände der Hintergebäude in häßlicher Verkommenheit über die Obstbaumwipfel geblickt hatten, erhoben sich jetzt schöne, neue Schieferdächer. Aber sie waren um ein beträchtliches Stück vom Säulenhause weggerückt – es gab keine gemeinsame Wand mehr zwischen Schillingshof und Klostergut, die einen spukhaften „Mäuseweg“ gestattet hätte.
Die Majorin hatte beim Verkauf des Klostergutes die Bedingung gestellt, daß der neue Besitzer sein Wohnhaus weit ab aufbauen müsse, und dafür den Kaufpreis um ein Bedeutendes ermäßigt – nur so kam die Schmach, die der letzte Wolfram auf sein altes, ehrenfestes Geschlecht geladen, allmählich in Vergessenheit.
Der nunmehrige Besitzer hatte sich auch herbeigelassen, Baron Schilling einen breiten Streifen des freigewordenen Terrains abzutreten. Damit fiel auch die hohe, verdüsternde Mauer, die einst die plebejischen Tuchweber von den Ritterlichen streng geschieden, und machte einem niedrigen hübschen, der Physiognomie des Säulenhauses entsprechenden Gemäuer Platz, an dessen Fuß nunmehr die jungen Aeste seinen Spalierobstes emporkletterten. Das herrliche italienische Haus reckte sich, nun auf allen Seiten von Licht und Luft umspielt, noch einmal so imposant in den blaßblauen deutschen Himmel. Im großen, hinter dem Säulenhause liegenden Garten aber schloß sich an die Mauer ein luftiges helles Stacket, das die beiden Grundstücke wohl trennte, aber nicht wie der ungeschlachte, struppige Zaun wüst und entstellend in die Anlagen hineinragte.
Alle diese Neuerungen hatte Donna Mercedes überwacht und geleitet. Baron Schilling hatte ihr brieflich seine Ideen und Absichten mitgetheilt, und sie war denselben möglichst treu und pünktlich nachgekommen. Langsam, mit kritisch musterndem Blick schritt sie jetzt auf dem Wiesenweg, der direct nach dem Säulenhause lief. Sie hatte die Reitschleppe um den Arm geschlungen und das Hütchen mit der weißen, wallenden Feder schützend in die Stirn gerückt.
Wohl war das Mädchengesicht auf der Elfenbeinplatte, das einst ein zärtlich stolzer Vater über das Meer geschickt, damit es sich deutsche Herzen erobere, von hinreißender Schönheit gewesen; auch die Frau, die vor drei Jahren in Trauergewändern den Schillingshof betreten, hatte die Augen geblendet durch ihre undinenhafte Erscheinung, allein ihre herrischen Geberden, ihr verschlossenes Wesen, der Eisesblick, den die großen, gebieterischen Augen hochmüthig über andere Mitgeschöpfe hingleiten ließen, hatten einen erstarrenden Hauch um sie verbreitet. Heute schritt das junge Weib, die südlich blaßgelbe Haut vom nordischen Hauch zu unvergleichlicher Blüthe und Frische gewandelt, voll unbeschreiblichen Liebreizes durch die Boscage und ließ den Blick ängstlich prüfend und in sichtlicher Beklommenheit über die Ostfronte des Säulenhauses hinschweifen. Ob auch Alles seinen Wünschen entsprach?!
Nur durch traute, gemüthliche Einfachheit wollte er ein „Familienheim“ beglückend finden. Und er hatte ja unbedingt Recht, vollkommen Recht, wie – in Allem. Nun, dort hinter den Fenstern des Oberbaues waren ja alle kostbarer Tüll- und Spitzengardinen verschwunden. Sie waren, in Kisten verpackt, nach Coblenz gewandert, um mit Allem, was „Steinbrückisch“, verauctionirt zu werden.
Keinen Leinenfaden, keinen Nagel in der Wand, von welchem sie nicht mit gutem Gewissen sagen konnte, daß es Schilling’scher Besitz sei, hatte Mamsell Birkner im Hause geduldet – sie hatte auf jede verirrte Flaumfeder, auf jedes werthlose Medicinfläschchen in den Zimmern der „Gnädigen“ Jagd gemacht und Alles pünktlich notirt und mit verpackt.
Baron Schilling hatte die selbstentworfenen Zeichnungen zu den neuen Meublements seines Heims und die Mittel zur Beschaffung derselben an „seine gute, alte Birkner“ eingeschickt; allein sie war halsstarriger Weise dabei verblieben, nicht ein Stück ohne Donna Mercedes’ Rath und Sanction anzukaufen. Und so hingen nun dort in den mächtigen Bogenfenstern einfarbige oder auch in buntem Teppichmuster leuchtende Wollgardinen, die in Ringen liefen. Es ließ sich nicht leugnen, jetzt erst verschärfte sich der Charakter des Bauwerkes, der eines [643] venetianischen Prachthauses – man meinte, dort unter dem wogenden Faltenwurf einer halb zurückgeschlagenen Gardine müsse der Kopf einer schönen Dogen- oder Patriciertochter auftauchen.
Es wehte heute eine so lautlose Stille um das Säulenhaus. Weder Mamsell Birkner, noch Hannchen ließen sich sehen, und sonst kamen sie doch stets voll Freude daher, um den lieben Gast zu begrüßen. Sie waren wohl in Küche und Keller emsig beschäftigt, um auch da die letzte Hand zum Empfang des heimkehrenden Gebieters anzulegen.
Donna Mercedes kehrte wieder über die Wiesen zurück und pflückte im langsamen Weiterwandeln da und dort eine langstielige, morgenfrische Feldblume. Wie zierlich sie die Blumen zu gruppiren verstand! Camillen, Butterblumen, weiße Glöckchen auf schwankem Stengel, hier ein wildes Röschen von der Hecke, dort einige der Vergißmeinnicht, die am Bachufer üppig wucherten, und darüber ein feiner, wallender Schleier bräunlich grüner Zittergräser – so entstand in den schmalen Frauenhänden ein köstlicher, malerisch geordneter Strauß einfacher Wiesenblumen.
Wer es der „Plantagenfürstin“ einst gesagt hätte, daß sie den stolzen Leib unzählige Mal nach einer armseligen deutschen Feldblume bücken würde! Nicht einmal den Blick hatte sie damals gesenkt nach den demüthigen Kindern der Natur, an denen ihre Sohle knickend hingestreift. Und war es nicht die verhaßte deutsche Luft, welche sie, manchmal stehenbleibend, mit so durstig tiefen Zügen einsog, als sei dieser würzige, kräftige Odem voll Fichtenduft vom Anfang an das Element gewesen, in welchem sie einzig und allein zu leben vermöge?
Der Strauß war so umfangreich geworden, daß ihn die Hand kaum zu umfassen vermochte – er war fertig, um in die Vase gestellt zu werden. Donna Mercedes schritt nach dem Glashause, aber es war verschlossen. So stieg sie denn, wie sie so oft that, die Treppe nach dem Oberbau hinauf.
In dem kleinen Salon, den Baron Schilling einst um ihretwillen bewohnt, hielt sie sich oft stundenlang auf; fast alle an ihn gerichteten Briefe hatte sie auf dem einfachen Eichenholz-Schreibtisch am Fenster geschrieben.
Mamsell Birkner und Hannchen wußten das und sorgten stets dafür, daß dort irgend eine Erfrischung für den Besuch bereit stand. Auch jetzt blickte eine schöne Krystallschale voll frischer Erdbeeren auf einem weißgedeckten Seitentischchen.
Donna Mercedes warf ihren Hut auf einen Stuhl und zog das Reitkleid schürzend durch eine Gürkelkette. Das Hütchen hatte ihr die Haarwellen lose und lockig in die Stirn geschoben, und beim Herausziehen der Nadeln, die es festgehalten, war eine Flechte locker geworden und seitwärts bis tief über die Hüfte hinabgeglitten. Sie bemerkte es nicht. In der einen Hand den kleinen Silberteller mit der beerengefüllten Krystallschale, in der andern den Feldblumenstrauß, stieg sie die Wendeltreppe in der Atelierecke hinab.
Sie war jetzt ganz sorgende Hausfrau. Ihre Augen flogen forschend und strengprüfend durch den Raum, ob auch Alles unverrückt an seinem Platze stehe, ob kein Stäubchen auf all dem blinkenden und blitzenden Glas- und Metallgeräthe liege und Licht und Schatten durch das Arrangement der Vorhänge so vertheilt sei, wie Hannchen gesagt, daß er es liebe.
Er hatte seiner Correspondentin die Stätte seines Schaffens wiederholt an das Herz gelegt, und sie behütete den Raum wie ein Heiligthum. Jede Spur des Attentates, das einst die rachsüchtige weibliche Hand hier verübt, war längst verwischt. Im Glashause rauschte leise die eine große Fontaine und hauchte erfrischende Kühle in das Atelier; die Palmen hatten sich herrlich entwickelt und drohten mit ihren Kronen das Glasdach zu sprengen, und zwischen den sammetschimmernden Blättern der Gloxinien leuchtete schon manch früherblühter Kelch.
Donna Mercedes rückte ein Rococo-Tischchen mit ausgelegter Platte neben die Staffelei und stellte die Krystallschale darauf. Dann nahm sie ein hohes venetianisches Kelchglas von einem Schranksims, füllte es am Bassin mit frischem Wasser und placirte es mit dem Wiesenblumenstrauß neben der Schale. Fast zaghaft griff sie in die Tasche und zog ein kleines, unscheinbares Etui heraus – sie trug es in der letzten Zeit immer bei sich und hatte sich doch stets gescheut, es da niederzulegen, wohin es von Rechtswegen gehörte.
Noch einmal drückte sie die Feder auf, und das Mädchengesicht auf der Elfenbeinplatte sah sie mit seinen halb stolzen, halb melancholischen Augen an. Lächelnd schob sie die schmale Kapsel tief in das Herz des Straußes, und die Zittergräser schlugen harmlos darüber zusammen – sie wußten ja nicht, daß das Reuebekenntniß eines in all seinen Tiefen gewandelten weiblichen Herzens zwischen ihnen ruhe. – –
Das war nach Wunsch ausgefallen – ihr strahlender Blick glitt befriedigt über das Tischchen, und nun ging sie umher und bückte sich, um da ein Pantherfell näher und bequemer an den Lehnstuhl zu rücken, dort einen vermuthlich am Kleidersaum hereingetragenen feinen Holzsplitter von der blanken Fußboden-Mosaik zu nehmen, und bei diesem Bücken fiel ihr die gelöste Flechte vornüber. Sie hob die Arme, um sie festzustecken.
„Mein süßes Weib, wie entzückst Du mich!“ scholl es plötzlich in hervorbrechender Leidenschaft durch das Atelier.
Sie stieß einen Schrei aus und wankte, aber schon fühlte sie sich innig umschlungen; sonnenverbrannt, aber tiefgeistigen Ausdruck in jeder seiner unregelmäßigen Linien beugte sich das Gesicht mit der eckige Stirn über sie, und die blauglänzenden Augen tauchten beseligt in die ihren.... Ihrer nicht mehr mächtig, schlang sie die Arme um seinen Hals und ließ es geschehen, daß er ihr Gesicht mit Küssen bedeckte.
Dann aber strebte sie zu entfliehen. „Böser Mann!“ schalt sie. „Das ist eine unerlaubte Ueberrumpelung! – Im ersten Schrecken –“
„Im ersten Schrecken, Mercedes?“ fragte er, ohne sie freizugeben. „Im ersten Schrecken bist Du mein geworden?“ Er lachte. Wie klang das voll und frisch und herzbezwingend von den Wänden! „Verlangst Du ernstlich, daß ich in aller Form das ausspreche, was wir längst zwischen den Zeilen unserer Briefe gelesen haben?“
„Nein, das sollst Du nicht. Ich weiß, daß Du mich liebst mit deutscher Innigkeit und Treue,“ sagte sie tiefernst, und das Feuer ihres Blickes milderte sich zu jenem sanften Licht, welches die Hingebung des Weibes so unwiderstehlich bekundet.
„Mercedes!“ Er zog sie tiefer in das leuchtende Viereck, welches das Oberfenster hereinwarf. „Laß sehen – Du bist es nicht, die mir einst Liebesleidenschaft und Haß und Abscheu zugleich eingeflößt hat, die Frau, die Engel und Teufel in ihrem unbegreiflichen Wesen vereinigte, die schlimme Worte mit todbringenden Blicken aussprechen konnte –“
„Still! Ich sagte und that gar Vieles einzig und allein aus Trotz, aus Nothwehr gegen den siegreichen ‚fischblütigen’ Germanen.“ – Sie verbarg ihr Gesicht an seiner Brust.
„O, meine arme, geblendete Madonna!“ rief er lächelnd mit einer Wendung nach dem Schranke, in welchem er einst das zusammengerollte Oelbild verschlossen hatte. „Nun sind die Augen doch wahr gewesen!“
Sie sah ihn erstaunt an.
„Ja, Deine Augen, Mercedes. Das kleine Bild auf der Elfenbeinplatte“ – jetzt richtete sich ihr Blick verstohlen nach dem Feldblumenstrauß – „o, ich weiß schon, wo ich mir mein Eigenthum wiederzuholen habe,“ unterbrach er sich lachend. „Zuerst sah ich Dich, vom Glashause aus, über die Wiesen schreiten und Blumen pflücken. Dann kamst Du dort die Treppe herab, während ich mich hinter den großen, chinesischen Schirm geflüchtet hatte und fürchtete, mein laut pochendes Herz würde mich verrathen. Ich sah, wie Du mitleidig lächelnd in das Gesicht der Dreizehnjährigen blicktest – und doch sind es diese tiefen Kinderaugen, die Du auf manchem meiner besten Bilder finden wirst – sie erstanden immer wieder unter meiner Hand, ob ich wollte, oder nicht. Aber da kamst Du eines Tages selbst, in der ersten Stunde meine Seele bezwingend, wie Satanella, wie eine ‚Teufelinne’ – ich haßte die eisigblickenden Flammenaugen und vergötterte sie zugleich; in aufloderndem Zorn verlöschte ich die spöttische Sphinx an meinem Herzen – beseligende Wandlung! Sie will mein sein in sanfter Hingebung – ob aber auch in Allem, Mercedes?“
Er ließ plötzlich die Arme sinken und trat unter einem tiefen Athemzug von ihr weg.
„Das muß erst noch gesagt werden – ich kann mir nicht helfen. Du wohnst in einem Zauberschloß, schwimmst in feenhaftem Luxus und bist gewohnt, mit vollen Händen Dein Gold in die Welt zu streuen. So tief und wahr, so heiß ich Dich [644] liebe – Eines müßte uns scheiden: sofern Du gewillt bist, in diesem einen Punkt Donna de Valmaseda zu bleiben –“
„Du irrst,“ unterbrach sie ihn mit sanftem Lächeln und ergriff seine Hand. „Ich werde kein anderes Brod essen, als das meines Eheherrn, und nur die Kleider tragen, die er mir giebt. Dafür will ich die fürsorgende Hausfrau des Schilligshofes sein, die selbst thätig ist, um das Heim nach Deinem Sinn behaglich zu gestalten – frage die gute Birkner, ob ich nicht bereits ein wenig Begabung dafür gezeigt habe! Aber freilich, in einem Punkte will ich auch höher hinaus, Arnold. Ich möchte auch die Künstlerfrau sein, die hier zu jeder Stunde Zutritt hat, mit der Du über Deine Ideen und Entwürfe sprichst – bin ich einmal die Frau eines berühmten Mannes, dann muß ich mir auch mit gerechtem Stolze sagen dürfen, daß ich auch geistig neben ihm auf seiner Bahn schreite –“
Weiter konnte sie nicht reden. Mit einem wahren Aufjauchzen zog er sie wieder an sich und verschloß ihr den Mund.
„Gehen wir jetzt in unser künftiges Heim!“ sagte er. „Ich bin heute in aller Morgenfrühe angekommen und habe längst gesehen, wie Du mich und mein Wesen aus meinen Briefen verstanden hast.“
Er schloß das Glashaus auf; sie traten hinaus in den Garten und schritten durch die Platanenallee, die schon auf so viel wechselndes Glück und Leid herabgesehen. Und sie sprachen von José und Paula, von der Majorin und Lucile – und in diese Mittheilungen hinein sagte Donna Mercedes mit strahlenden Augen:
„Aber nach der Villa gehen wir alle Tage – wir müssen doch nach den Kindern und der Großmama sehen. Wenn Du Deine Arbeit müde wegschiebst, dann wandern wir hinaus – dann bist Du aber auch mein Gast –“
„Jawohl – bei einem frugalen Abendbrod –“
„Einem selbstverständlich ‚frugalen’ Abendbrod auf der Terrasse. Ich habe auch einen kostbaren Schatz draußen; der bleibt aber für immer dort in meinem Salon. Ich wette, er zieht Dich – hast Du ihn erst gesehen – weit mehr noch hinaus, als jetzt Deine Braut –“
„Erlaubst Du, daß ich zweifle?“
„Nein – Du wirst sehen.“
Er lachte heiter auf und führte sie die Freitreppe des Säulenhauses hinauf. Und jetzt thaten sich die Thürflügel, wie durch Zauberhand berührt, weit auf.
Die Hausmamsell und Hannchen traten feierlich aus der Tiefe der Flurhalle, und über das Gesicht der „guten alten Birkner“ flossen Freudenthränen. Sie trug eine schöne neue Haube, die ihr „Arnold – wollt’ ich sagen: der gnädige Herr“ – von der Reise mitgebracht hatte, und statt des eingelernten Glückwunsches, von welchem kein Laut über die zuckenden Lippen wollte, zeigte sie nur stumm auf den blumenbestreuten Weg, der durch den Corridor nach der Treppe lief, auf den frischen Guirlandenschmuck, in welchem die Wände der Flurhalle prangten.
„Meine Birkner hat einen wahren Kassandra-Blick,“ sagte Baron Schilling schelmisch, und doch mit einer tiefen Ergriffenheit kämpfend. „Sie hat gewußt, daß um diese Stunde eine Braut einziehen wird.“
Und ohne Weiteres seinen Arm um die kleine, runde Person schlingend, küßte er sie herzlich auf die Wange, wie er oft als Knabe gethan, da sie ihm Alles gewesen, Mutter, Pflegerin und Vertraute, die zwischen ihm und dem strengen Vater stets vermittelt.
Nicht in ihre künftigen Zimmer, die schönen Salons, die an die Terrasse stießen, führte er die Braut zuerst; die Thüren des großen Mittelsaales waren weit zurückgeschlagen – auch hier bedeckten Blumen das Parquet; sie lagen zu Füßen der markigen Gestalten mit den viereckigen Köpfen, der alten Ritterlichen, welche die gewundenen und vergoldeten Rahmen füllten, und das Bild des alten Freiherrn Krafft von Schilling war mit Fichtengrün und Eichenlaub umkränzt.
Sein Sohn umfaßte das schöne, schlanke Weib an seiner Seite und trat vor die imposante Soldatengestalt, die mit feurig sprühendem Blick auf die Nahenden herabsah. „Da ist sie, Vater – Lucian’s Tochter,“ sagte er so ernst feierlich, als könne die kräftig schöne Hand dort oben, deren Segen er wünschte, sich in der That über ihn hinstrecken. „Die ‚Opferung des armen Isaac’ ist tausendfältig gut gemacht – bist Du zufrieden?“
Draußen, jenseits des Eisengitters strömte der Menschenverkehr auf und ab. Man lauschte durch das kunstvolle Gittergeflecht und ließ den Blick immer wieder bewundernd über die herrliche Façade des Säulenhauses hinfliegen – aber Niemand ahnte, daß soeben wunderbar verschlungene Ereignisse und Schicksale ihren glücklichen Abschluß gefunden hatten „Im Schillingshofe“.
In der Geschichte des deutschen Volkscharakters begegnen wir immer zwei mächtigen Trieben von total gegensätzlicher Wirkung. Der eine ist der Trieb corporativer Geschlossenheit, der ein seßhaftes Beharren voraussetzt; der andere treibt wieder hinweg von der gemeinsamen Scholle und lockt mächtig hinaus zum freien Wandern. So hat sich im Gegensatz zu der stillen Clause des Mönchs, der wallumschienten Burg des Ritters und dem mauergehüteten Stadtbann die deutsche Landstraße schon frühzeitig mit allerlei seltsamen Gesellen, fahrendem Volke, bevölkert. Ritterliche Abenteurer und gemeine Stegreifritter, fahrende Fräuleins, Sänger und Lautenschläger, Tabuletkrämer und Hausirer, Gaukler und Künstler, Bettler mit allerhand wirklichen oder fingirten Gebresten ziehen da in buntem Wechsel vorüber. Wie der seßhafte Bürger seine Markthalle und Zunftstube, der Ritter seine Burg, der Bauer seinen umfriedeten Hof, so nehmen sie die Landstraße als ihr Privileg in Anspruch. Zu ihnen gesellt sich mit dem Aufblühen des Zunftlebens der wandernde Handwerksbursch, und am Ende des eigentlichen Mittelalters und mit dem Eintritt der Reformation die seltsame Species des „fahrenden Schülers“.
Die Gelehrsamkeit hatte den Bann der Klöster durchbrochen und sich, wenn auch noch vielfach im Sold und Schutze der Kirche, auf ihre eigenen Füße gestellt. Auf dem bewegten Forum des städtischen Lebens hatte sie ihre Sitze aufgeschlagen; Universitäten, Stadt- und Rathsschulen waren ihre Pflegstätten geworden; freie und unabhängige Gelehrte schlugen ihre Lehrzelte auf und riefen gleich den werbenden Feldherren alle Wissensdurstigen zu ihren Fahnen. Und wie bei keinem anderen Volke der Drang nach gelehrter Bildung ein so tief in die untersten Schichten hinabgehender ist, wie bei dem deutschen, so war die Masse derer, welche nach jenen Stätten der Weisheit hinstrebten, besonders damals eine große, wo die Weisheit eine ganz neue Welt vor den staunenden Blicken aufschloß, wo die vergrabenen Schätze des classischen Alterthums auf einmal in goldenem Zauber zu Tage traten. Wie aber sollte der arme kaum neun- oder zehnjährige Junge, den der Wissenstrieb aus seinem weltabgelegenen Dorfe nach der oft viele Meilen fernen Stadt führte, welche eine berühmte Schule in sich barg – wie sollte er, der kein anderes Zehrgeld besaß, als vielleicht den Goldgulden, den er dem Mitleid einer wohlhabenderen Pathe verdankte, ungefährdet dahin gelangen und noch mehr: ungefährdet dort verweilen?
Die Zeit schuf dafür Rath. Sie übertrug den Geist des Zünftigen von dem Handwerk auf die Schule. So begegnen wir hier der zünftlerischen Dreitheilung von Meister (Schul- oder Kindermeister), Gesell und Lehrling. Und wie der wandernde Handwerksgesell, so zogen auch die Schulgesellen wandernd von Schule zu Schule. Man nannte sie deshalb „Bacchanten“ (von bacchari: schwärmen; doch ist der Ursprung des Wortes nicht ganz sicher; vielleicht ist „Bachanten“ zu schreiben). Ihnen nun schlossen sich die Lehrschüler, die jungen Anfänger als „Schützen“ an, ein Name, der noch in unsern „ABC-Schützen“ fortlebt. Der ältere Bacchant, welcher sich bereits mehrere Jahre an den Brüsten der Weisheit genährt hatte, machte es sich zur Aufgabe, die ihm folgenden Schüler an die Stätten der Gelahrtheit zu führen, ihnen sein eigenes Wissen einzuprägen, sie zu schützen
[645][646] und zu erziehen. Dafür aber fiel den Schülern die Pflicht zu, für den Unterhalt ihres Bacchanten zu sorgen und ihm allezeit willig zu dienen.
Aber gerade in diesem Punkte lag das Verhängniß des ganzen Verhältnisses, welches dasselbe seiner Entartung unabwendbar entgegentrieb. Der Mutter- oder Pathenpfennig des kleinen Schützen, den er gewissenhaft dem Bacchanten übergab, war nur zu bald verzehrt, der Bacchant aber verlangte gebieterisch seinen Zoll. Da blieb dem Schüler kaum etwas Weiteres übrig, als, wie es in der Zunftsprache hieß, „zu heischen“ und das Erbettelte oder sonst Gewonnene dem Bacchanten zu „präsentiren“. Mit der Zeit wurde nun für die Bacchanten, welche einen Stolz drein setzten, recht viele Schützen zu haben, das Unterrichten Nebensache und das Sichnährenlassen Hauptsache. Sie führten ein wahres Lotterleben, nahmen von der Beute des Tages immer den Löwenantheil, wo nicht das Ganze, und ließen die armen Schützen hungern und darben oder warfen ihnen von dem verzehrten Brode höchstens die verschimmelte Rinde hin. Wenn die Schützen ihnen nichts brachten, so erhielten sie Schläge, und wenn sie gar merkten, daß ein schlauer Schüler heimlich die erbettelten Bissen selber verzehrte, schlichen sie ihm nach und hießen ihn „sich den Mund mit Wasser ausspülen und dasselbe in eine Schüssel ausspucken, um darin die Spuren des Genossenen zu entdecken“.
So lebten die Schützen in beständiger Furcht und litten lieber so argen Hunger, daß sie wohl gar den Hunden die Knochen abjagten oder die Brosamen auflasen, welche in der Schule in die Ritzen der Dielen gefallen waren. Das Heischen selbst war ein geduldetes Privileg, ähnlich dem Heischen des Geschenks bei den Handwerksgesellen. Die Schützen zogen frank und frei mit ihren gestrickten Netzen auf dem Rücken, wohinein sie das Erbettelte steckten, in den Straßen umher. Um den Anschein einer Gegengabe zu gewinnen, sang ein Theil von ihnen vor den Thüren geistliche und weltliche Lieder ab.
Zu der ursprünglichen Harmlosigkeit trat freilich bald ein bedenkliches Raffinement. So lesen wir in Pauli’s „Schimpf und Ernst“, wie ein solcher Schüler die Dummheit und den Aberglauben einer mit einem Augenleiden behafteten Frau sich zu Nutze macht, indem er ihr gegen einen Goldgulden ein Brieflein aufschwatzt, bei dessen Tragen ihr kein Auge mehr weh thäte. Oft trägt die Sache auch einen Beigeschmack von Humor. So schildert uns die Selbstbiographie des weiland Schulrectors Thomas Platter in Basel, die derselbe hochbetagt im Jahre 1573 niederschrieb und welche zugleich die vornehmste Quelle für das geschilderte Treiben bildet, wie ein junger Schüler beim Weggange aus dem väterlichen Hause ein Stück Tuch mit bekommt, um sich daraus ein Röcklein machen zu lassen, und nun der fürsorgliche Bacchant dieses Tuch an sich nimmt und dazu benutzt, in jeder Stadt, die er mit seinen Schützen passirt, für dasselbe Haus für Haus das Macherlohn heischen zu lassen. Zuerst geschieht es in Ulm. Nach Ablauf eines Jahres kommen sie auf ihrer Rundreise wieder dahin zurück. Noch immer führen sie das Tuch bei sich, ohne daß dasselbe seine Wandlung zum Rocke inzwischen angetreten hätte. Nun macht es von Neuem um des Macherlohns willen die Runde in der Stadt, bis zuletzt doch ein etwas gedächtnißstarker Bürgersmann zu dem heischenden Schützen meint:
„Potz Marder, ist der Rock noch immer nicht gemacht? Ich glaube, Du gehst mit Bubenwerk um.“
„Zogen dann,“ erzählt der Biograph, „weiter; ich weiß aber nicht, wo das Tuch hingekommen und ob der Rock gemacht worden ist oder nicht.“
Wenn in den Städten die geheischte Nahrung oft eine so reichliche war, daß die Schüler sich, wie Platter einmal in Breslau erlebte, sogar überaßen, so war sie auf der Wanderschaft um so dürftiger, denn der Bauer war zähe im Geben und jagte die jugendlichen Bettler wohl gar mit Hunden vom Hofe. Dann sah sich die wandernde Schaar lange Zeit beschränkt auf den Genuß roher Zwiebeln, die nur mit etwas Salz bestreut wurden, auf gebratene Eicheln, Holzäpfel, Birnen und die Rüben, welche das Feld trug. Doch vervollkommnete sich der einfache Speisezettel oft noch durch einen ganz besonderen Leckerbissen: das war eine von der Heerde wegstibitzte Gans. Dieses Gänsestehlen war so allgemein im Brauche unter Bacchanten und Schützen, daß man von dem „Schießen“ oder Werfen der Gänse den Namen Schütze herleiten zu müssen glaubt. Denn die Bacchanten nahmen an dem Raube nur als die Verzehrenden Theil; sie sandten die Schützen zum Raube aus, von denen der eine nach der Gans warf, die anderen sie an sich nahmen und forttrugen.
In Meißen und Schlesien, so ging die Rede unter den Schülern, sei es erlaubter Brauch, Gänse und Enten und andere solche Speise zu nehmen, und geschähe dem, der glücklich entronnen und nicht auf frischer That ertappt sei, nichts. Den Bauern im Lande schien jedoch diese Sitte nicht zu Sinne zu sein, denn als Platter in einem Dorfe bei Meißen denselben Brauch in Ausübung bringen will und eine Gans im Haufen mit einem Steine todt wirft, sie dann aufnimmt und unter den Rock steckt, der freilich so kurz ist, daß Kopf und Füße des geflügelten Opfers darunter hervorsehen, kommt der Gänsehirt und schreit im Dorfe aus: „Der Bub’ hat mir eine Gans geraubt.“ Da kommen die Bauern mit Hellebarden aus den Häusern und verfolgen die flüchtigen Schützen, sodaß diese in der Angst die Gans wieder fahren lassen. Inzwischen saßen die Bacchanten gemüthlich im Wirtshause.
Gewöhnlich schlug die Schaar ihr Lager im Freien vor dem Orte auf, und die Schützen gingen allein hinein zum Requiriren und Fouragiren. So vergegenwärtigt auch das diesem Artikel beigefügte Bild von H. Heim ein solches Lager von fahrenden Schülern im grünenden Hag. Besonders drastisch ist darin der Gegensatz ausgeprägt zwischen dem süßen Nichtsthun der spielenden Herren Bacchanten und dem geschäftigen Treiben ihrer gnomenhaften Diener, deren Fehdezug in’s Reich der gefiederten Gelbschnäbel diesmal von günstigem Erfolge begleitet ist und darum mit einem bacchantischen Halleluja begrüßt wird. Nur der eine der Schützen, den seine noch gut erhaltene Schülerkleidung als einen erst vor Kurzem zur Schaar gekommenen Neuling kennzeichnet, vermag seine Furcht vor einem lauernden Hirten oder Dorfbüttel nicht zu bemeistern.
Eine Stelle in Platter’s genannter Selbstbiographie liefert zu der ganzen Scene einen so treffenden Commentar, daß wir es uns nicht versagen können, sie in Uebertragung hier anzufügen.
„Von da,“ erzählt der weiland fahrende Schüler, „zogen wir unser acht wieder hinweg auf Dresden zu. Da wir indessen unterwegs großen Hunger litten, beschlossen wir, uns einen Tag zu theilen. Etliche sollten nach Gänsen gehn, Etliche nach Rüben und Zwiebeln, Einer nach einem Hafen (Topfe), wir kleineren aber in die Stadt zum Neumarkt, der nicht weit von der Straße lag, und sollten da nach Brod und Salz auslugen. Auf den Abend wollten wir vor der Stadt wieder zusammenkommen, außer derselben das Lager aufschlagen und kochen, was wir dazu hätten. Da war ein Büchsenschuß von der Stadt ein Brunnen; dort wollten wir die Nacht bleiben, aber wie man in der Stadt das Feuer sah, schoß man zu uns heraus, traf uns jedoch nicht. Da wichen wir hinter einen Rain zu einem Wässerlein und Wäldlein. Die großen Gesellen hieben Stangen ab und machten eine Hütte. Ein Theil rupfte die Gänse, deren wir zwei hatten; Andere rösteten die Rüben in dem Hafen und thaten den Kopf, die Füße und die Gedärme hinein. Wieder Andere machten hölzerne Spieße und fingen an zu braten. Und als das Fleisch ein wenig roth war, hieben wir’s am Spieße ab und aßen’s, ebenso auch die Rüben. In der Nacht hörten wir etwas schnältern. Da war neben uns ein Weiher, den man am Tage abgelassen, und sprangen die Fische herum auf dem Moore. Da nahmen wir von den Fischen, so viel wir in einem Hemde an einem Stecken zu tragen vermochten, und zogen davon bis in ein Dorf. Dort gaben wir einem Bauern etliche Fische, daß er uns die andern in Bier kochte.“
Auch die Kleidung der kleinen Schützen war in den meisten Fällen eine so dürftige, wie sie unser Bild wiedergiebt. Als z. B. der junge Platter von Hause fortging, hatte er keine Hosen und nur sehr „böse“ Schuhe. Dies benutzt sein Bacchant Paulus Summerwetter, ihn, wenn er nicht laufen will, mit einer Gerte an die bloßen Beine zu schlagen. Und später noch klagt er, daß ihm die Schuhe gänzlich fehlten und ebenso ein Barett, ferner daß sein Wams zu kurz und ohne Falten sei.
Auch sonst macht sich die Uebermacht der Bacchanten über ihre jüngeren Pflegebefohlenen allenthalben geltend. Wenn die Schaar in ein Wirthshaus kommt, eine Wohlthat, die ihr nur nach einer guten Ernte zu Theil wird, so nehmen die Bacchanten die Betten im Voraus in Beschlag und ihre kleinen Zuträger müssen [647] in den Roßställen schlafen. Oft wird ihnen das Quartier in den Städten ganz verweigert; dann suchen sie ein Unterkommen in den Schragen (Fruchthallen), wo ihnen die Kornsäcke zum Nachtlager dienen. Auch da, wo große Schulgebäude mit besondern Unterschlupfen für die fremden Schüler waren, wie es z. B. im Stift zu Sanct Elisabeth in Breslau deren allein etliche hundert gab, nahmen die Bacchanten sofort von denselben Besitz und die Schützen mußten sich mit einem gemeinsamen Lager am Herd begnügen. War es Sommer, dann richteten sie sich auf den Kirchhöfen ein Nachtlager her, indem sie das Heu zusammentrugen, das man in den Herrengassen des Sonntags vor die Häuser zu breiten pflegte, und es dann in einer Ecke der Kirchhofsmauer aufschichteten. Fällt in der Nacht Regen, so laufen sie rasch in die nahgelegene Schule. Breslau scheint von den fahrenden Schülern wegen seiner guten Schuleinrichtungen ganz besonders heimgesucht worden zu sein; es bestand dort sogar ein eignes Schulspital mit einem Arzte. Oft waren dort etliche Tausende bei einander, die sich alle von Almosen nährten, so daß zuletzt, wie unser Gewährsmann berichtet, die Nahrung ausging. Die Stadt war in sieben Pfarrbezirke getheilt, deren jeder seine Schule hatte, und „durfte kein Schüler in eines Andern Pfarre gehen und dort heischen und singen“, sonst wurde er mit Worten und Schlägen hinausgewiesen. Auch anderswo litt man nicht, daß die fremden Schüler besondere Landsmannschaften gründeten und auf eigne Faust sangen und heischten. So erging in Naumburg an Platter und seine schweizerischen Landsleute, welche dort schon mehrere Wochen lagen, das Gebot, sich der städtischen Schule anzuschließen, und als sie dem nicht nachkamen, zog der Schulmeister mit seiner ganzen Schule wider sie aus, und da sie sich in einem Hause verschanzt hatten, begann man sie mit Steinen zu bombardiren, bis sie Abzug nahmen.
Den Schützen kam aufs ihren besonders zur Winterszeit recht harten Gängen vielfach das lebendige Mitleid entgegen. Barmherzige Frauen führten sie in die Häuser, wärmten den vor Frost Zitternden die Füße und kochten ihnen ein warmes Süpplein oder ein Habermus. Einer solchen Pflegerin begegnete bekanntlich auch der junge Martin Luther in der Frau von Cotta, als er in Eisenach vor den Thüren sang. Auch Doctor Faust holte seinen späteren Famulus Christoph Wagner von der Straße herauf, wo er, übel gekleidet und fast erfroren, das Responsorium sang. Andere traten zeitweise ganz in die Dienste von Handwerkern. So trat Thomas Platter eine Zeitlang bei einem Seifensieder ein und half da freilich dem Meister mehr seifensiedern und die Asche von den Dörfern holen, als er in die Schule ging. Trotzdem hörte er nicht auf, in der Stadt zu heischen und seinem Bacchanten mancherlei Beute zu präsentiren, denn dieser läßt die Schützen so leicht nicht aus dem Garne. Sie bilden so die Pfründe, welche ihn ernährt. Selbst wenn der Schütze dem harten Zwange durch die Flucht sich entzieht, verfolgt er seine Spur von Stadt zu Stadt und tritt ihm eines Tags mit drohendem Bakel (Stock) wieder entgegen. Und dabei zog das arme Schülerlein oft nicht die geringste geistige Ernte aus dem ganzen Verhältnisse. „Fünf Jahre,“ klagt Platter, „zog ich schon mit meinem Bacchanten herum, und er hatte mir noch nicht einmal lesen gelernt.“
Vergebens hätte man auch bei den meiste Bacchanten nach dem Besitze eines gedruckten Buches geforscht. Nur in den Händen des seßhaften Schulmeisters, der sich übrigens oftmals selbst nicht scheute, von der Tagesbeute des heischenden Schülers zu genießen, fanden sich bereits einzelne Exemplare der freilich damals noch seltenen und kostspieligen Ausgaben lateinischer Autoren. Die Bacchanten schrieben das aus den Büchern Vorgetragene zu oft umfangreichen Heften in den Lehrsälen nach.
Und was, fragen wir billig, war das Ende dieses fahrenden Treibens? Stand an dem Wegziele wirklich der Lehrstuhl eines würdigen Meisters von der Schule in seinen drei Rangstufen des Baccalaureus, Cantors und Rectors? Mußte dieser Weg nicht nothwendig im Sumpf und Moraste enden? Vielfach war dies letztere in der That so. Nur eine gesunde, starke und in sich gefestete Natur konnte den Einflüssen eines solchen physischen und moralischen Elends ohne Gefahr für ihr besseres Selbst auf die Dauer widerstehn. Aber es fehlte in jener bedeutenden Zeit, welche durch die Namen eines Reuchlin, Erasmus, Melanchthon, Hutten un|d Luther getragen wird, keineswegs an solchen energischen Charakteren. So finden wir auch unsern Thomas Platter schließlich als wohlbestallten Rector der Lateinschule zu Basel. Aus dem armen Schüler, der einst zerlumpt und barfuß auf die Schulwanderung zog, war jetzt ein wohlangesehner und begüterter Mann geworden, der seinen Sohn Felix wohlvorbereitet auf die berühmte Arztschule in Montpellier schicken konnte, ohne ihn den Unbilden schülerischen Wanderlebens aussetzen zu müssen. Freilich war der Weg, der unsern Gewährsmann bis zu diesem Ziele gebracht, immer noch reich an Mühen, Rauhheiten und Abenteuern von oft seltsamer Art.
So treffen wir ihn am Schlusse seiner Schülerfahrten in der Werkstatt eines Seilers, wo er die losen Druckbogen des Plautus, den ihm ein zugeneigter Druckherr verehrt hat, beim Spinnen des Hanfes auf die Gabeln gesteckt hat und im Hinter- und Vorsichgehn fleißig studirt. In den Nächten lernt er Hebräisch und giebt am Feierabend einer Anzahl Studenten in seinem „Seilerschürzlein“ Unterricht in der hebräischen Grammatik. Dann ist er eine Zeitlang in einem Schweizerdorfe ehrsamer Seilermeister und würdiger Ortsschulmeister zugleich, bis ihn sein alter Wandertrieb von da wieder fort nach Basel führt, wo er, wie viele seines Gleichen, Corrector in einer Druckerei und dann erst Schulrector wird.
Viele von dem großen Haufen der fahrenden Schüler, die einst nach der Palme des Gelehrtenruhms getrachtet, gründen ihre Heimstätte zeitlebens auf dem goldenen Boden des Handwerks, der ihnen meist weit reichere Früchte trägt, als der dürre Boden des Lehramts. So verstand mancher schlichte Handwerksmeister des sechszehnten Jahrhunderts nicht nur seinen Donatus, sondern war auch wohlbewandert im Terenz und den Reden des Cicero.
Somit entkeimte der üblen Frucht des schülerischen Nomadenthums der Segen einer allgemeinen Verbreiterung der neuen humanistischen Bildung. Inzwischen wurde die Schule mehr und mehr seßhaft, der alte Wandertrieb verschwand aber nur, um auf andern Gebieten und in andern Formen desto mächtiger wieder hervorzubrechen.
Unter den brennenden Fragen, welche die Jetztzeit bewegen, steht die Frauenfrage mit in erster Linie, und mancher dankenswerthe Schritt ist zu ihrer Lösung vorwärts gethan worden. Ich möchte im Folgenden ein Uebel beleuchten, das manches weibliche Wesen, welches nicht gegen die gemeine Noth des Lebens anzukämpfen hat, schwer beunruhigt: die Berufslosigkeit.
Hat heute ein Mädchen die Mitte der zwanziger Jahre überschritten, hat der Reiz der Bälle und Gesellschaften, die Freude an allerlei dilettantenhaften Versuchen nachgelassen, so kommt der Moment, in welchem jedes edlere, geistig kräftige Frauengemüth zu der immer brennender sich gestaltenden Frage gelangt: Wohin? Wie verwende ich die in mir ruhenden Anlagen und Kräfte am ersprießlichsten für mich und Andere?
In einer aus gegenseitiger Neigung geschlossenen Ehe ist der schönste und naturgemäßeste Wirkungskreis gegeben, in dem alle edlen Keime der Frauennatur sich entwickeln können. Allein – wir wissen es alle – unsere Zeit mit ihren gesteigerten Forderungen an materiellen Genuß macht Eheschließungen, falls nicht einer der Ehegatten über größere Mittel verfügt, immer schwieriger.
Womit soll nun das unverheirathete Mädchen sich beschäftigen die langen Tage hindurch? In den höheren Ständen suchen einige ihre Kräfte zu verwerthen, indem sie Unterricht an Privatschulen unentgeltlich ertheilen, ohne hierbei zu bedenken, daß sie dadurch den auf Erwerb angewiesenen Mädchen eine traurige Concurrenz bereiten. Andere fertigen Arbeiten für Läden und Bazars an und drücken – da sie an einem sehr geringen Preise Genüge haben – den bereits allzu kärglichen Lohn der armen Arbeiterinnen noch mehr herunter.
[648] Eine wirkliche Befriedigung giebt es für thatkräftige, bedeutender angelegte Naturen bei solchem Thun nicht. Je reifer sie werden, desto mehr drängt es sie, ihre eigenen Bahnen zu verfolgen, ihre individuelle Ansichten und Grundsätze zu verwerthen. Die Stimme in ihrem Innern wird immer mächtiger: „Ich will durch mein Handeln erproben, ob ich durch meines Wesens Kraft mir Hochachtung und ehrende Liebe erringen kann, ich will nicht über die Erde gehen, ohne segensreiche Spuren meines Waltens zurückzulassen.“
Solche Gedanken haben sicherlich auch die Seele der wackern Frau bewegt – Miß Octavia Hill – von deren Thun ich hier berichten möchte, um dabei die innige, dringende Bitte an deutsche Frauen auszusprechen: Folget ihr nach! Hier ist das schönste Arbeitsfeld gefunden, das ein edles, wirkensdurstiges Frauenherz nur ersehnen kann.
Miß Octavia Hill hat eine Schilderung dessen, was sie unternommen, sowie der Resultate ihres Schaffens in Aufsätzen niedergelegt, welche in der „Fortnightly Review“, in „Macmillan’s Magazine“ und anderen Zeitschriften veröffentlicht worden sind. Die leider so früh dahingeschiedene Großherzogin Alice von Hessen ließ diese Berichte in’s Deutsche übersetzen und hat dem kleinen Werke eine Vorrede beigefügt, aus welcher ich das Bemerkenswertheste jetzt folgen lasse:
„Dieses kleine Buch,“ heißt es dort, „enthält die Geschichte des Wirkens einer edlen Frau, welche mir vergönnt war bei meinem letzten Besuch in meiner englischen Heimath kennen zu lernen und in ihrer Thätigkeit zu beobachten.
Der tiefe Eindruck, den ich von ihrer selbstlosen, thatkräftigen und reichgesegneten Liebe mit hinwegnahm, erfüllte mich mit dem Wunsche, daß uns, die wir ähnliche Zwecke und, wie ich hoffe, in demselben Geist, verfolgen, das Anschauen eines so edlen Beispieles in unserer eigenen Arbeit ermuthigen und stärken möge.
Systeme mögen, wie Miß Hill richtig bemerkt, werthvoll, ja nöthig sein, aber in den meisten Fällen und jedenfalls in diesem sind sie wie eine Maschine: nutzlos oder schlimmer als das, wenn das beseelende Element der Persönlichkeit in den Plan ihrer Wirkung nicht aufgenommen ist.
Das Buch zeigt, wie Miß Hill mit ebenso viel richtigem Tact wie aufopfernder Liebe, durch Geduld und standhaftes Beharren bei den einmal gewonnenen Grundsätzen, Freundin ihrer Armen zu werden verstand, ohne deren Liebe durch Almosen zu erkaufen, und ihnen unendliches Gute that vor Allem durch Aufschließung und Entwickelung ihrer eigenen moralischen Hülfsquellen. Solches Streben wird immer von Schwierigkeiten und Enttäuschungen begleitet sein. Wir selber haben ja dazu beigetragen, die Armen zu demoralisiren, indem wir in den Tag hinein Unterstützungen austheilten, ihre Selbstachtung, ihren Willen und ihre Fähigkeit zur Selbsthülfe untergruben. Aber es ist Zeit, dem ein Ende zu machen und als den Hauptgesichtspunkt einer verständigen und wahrhaft liebevollen Armenpflege den erziehlichen zu erkennen.“ –
Soweit die Vorrede der Großherzogin Alice! Zur richtigen Würdigung des menschenfreundlichen Wirkens der Miß Hill möge das Folgende gesagt sein.
In London sind, wie in den großen Städten unseres Vaterlandes, Wohnungen für die Arbeiterclasse knapp und verhältnißmäßig theuer. Miß Hill hatte sich längere Zeit mit der sehr richtigen Idee getragen, daß ein Hausbesitzer, welcher gesunde, saubere Quartiere an Arbeiter und andere sich um das tägliche Brod mühende Leute zu billigen Preisen vermiethet, einen großen Einfluß auf diese gewinnen müsse. Sie beschloß, sich in Besitz solcher Häuser zu setzen und alle ihre Kraft aufzuwenden, um die Bewohner derselben zu Ordnung, Sauberkeit und Pünktlichkeit in Erfüllung ihrer Pflichten zu erziehen und dadurch auch deren geistige Erhebung zu bewerkstelligen.
Wie Miß Hill dies erfüllt, will ich, zumeist mit ihren eigenen Worten, hier anführen; ich habe dazu aus mehr als hundert Seiten das Nothwendigste zusammengestellt.
„Vor etwa vier Jahren,“ sagt unsere englische Menschenfreundin, „gelangte ich in den Besitz[1] dreier Häuser in einer der schlimmsten Gassen von Marylebone. Sechs weitere Häuser wurden nach und nach dazu gekauft. Alle waren mit Insassen überfüllt. Das Erste, was geschehen mußte, war, sie in die Verfassung zu setzen, in welcher sie mit Anstand vermietet werden konnten. Die Häuser waren in einem erbärmlichen Zustande. Der Bewurf fiel von den Wänden herunter; auf einer Treppe stand ein Eimer, um den Regen aufzufangen, der durch das Dach hereinfiel. Alle Treppen entbehrten der Geländer, die von den Miethsleuten als Brennholz verbraucht worden waren. Das Pflaster in den Hinterhöfen war aufgebrochen; große Pfützen hatten sich darin gebildet, aus denen die Feuchtigkeit an den Außenmauern hinaufstieg. Sobald ich das Besitzthum übernommen hatte, erhielt jede Familie Gelegenheit sich zu verbessern, indem denjenigen, welche nicht zahlen wollten oder ein offenkundig unmoralisches Leben führten, gekündigt wurde. Die Zimmer, die sie freiließen, wurden gereinigt; andere Miethsleute, die Zeichen von Besserung an den Tag legten, rückten in dieselben ein, und auf diese Weise ergab sich die Möglichkeit, ein Zimmer nach dem anderen ausbessern und anstreichen zu lassen. Alle altersschwarzen Schichten von Papier und Lappen wurden von den Fenstern gerissen und Glas eingesetzt – von 192 Scheiben waren nur 8 unzerbrochen; Hof und Fußsteig wurden gepflastert.“
Es gilt bei Miß Hill als Regel, daß unter ungefährer Beibehaltung der alten Zimmerpreise den Miethern mit zahlreicher Familie zwei Zimmer abgelassen werden, für weit geringeren Preis, als für dieselben Zimmer in Einzelmiethe verlangt wird. Keinem Miether wird eine ungenügende Räumlichkeit überlassen, keine Aftermiethe wird gestattet. Die Reinhaltung von Treppen und Gängen wird älteren Mädchen gegen Bezahlung übertragen, wodurch sie sich an Reinlichkeit gewöhnen und die Insassen der Zimmer zu gleicher Sauberkeit anspornen.
Miß Hill bemerkt mit Recht, daß einerseits die Erfüllung der wechselseitigen Pflichten zwischen der Hauswirthin und den Miethsleuten, andererseits aber auch die aus genauer Bekanntschaft und einem gewissen Gefühl von Abhängigkeit und Schutz entspringende persönliche Freundschaft zur Erreichung ihrer menschenfreundlichen Absichten Hand in Hand gehen mußten. Durch ein solches Verhältniß wurde Miß Hill befähigt, „die wirkliche Lage der Familien zu erkennen, ihnen bei Zeiten die unvermeidliche Folge dieser oder jener Gewohnheiten vorauszusagen, auf Maßregeln zu dringen, welche die Erziehung der Kinder und ihre Selbstständigkeit im Leben sichern, die Keime der Energie lebendig zu erhalten, weichere Regungen des Gemüthes zu wecken, jede Hülfe entschlossen zu versagen, die nicht Selbsthülfe hervorruft, den kleinsten Schimmer von Selbstachtung liebevoll zu pflegen und schließlich mit starker Hülfe nahe zu sein, wenn die Stunde der Prüfung schwer und unerwartet erscheinen sollte, und diese Hülfe zu leisten mit der Hand und dem Herzen eines wirklichen alten Freundes, der noch in ganz anderem Verhältnisse zu dem Bedrängten steht, als in dem des Almosengebens, und der dadurch das Recht gewonnen hat, diese niedrigere Art der Hülfe auch denen zu bieten, die am meisten auf Unabhängigkeit halten.“
Die Miethsleute der Miß Hill gehörten zu den eigentlichen Armen. Aber außer solchen, die nicht den Willen zum Erwerb hatten, haben sie sich Alle im Laufe der vier Jahre, während welcher sie unter der Obhut der Miß standen, zu bedeutend besseren Verhältnissen emporgerungen.
Was den ordentlichen Miethsleuten die meisten Schwierigkeiten beim Zahlen bereitete, das waren die Schwankungen im Verdienste. Miß Hill half ihnen auf zweierlei Art: Erstens hielt sie dieselben an, zurückzulegen – was sie mit Ausdauer thaten, sodaß jeder Herbst sie mit einem kleinen angesammelten Capitale ausgerüstet fand, von dem sie zehren konnten, so lange die Arbeit während der „todten Jahreszeit“ nachließ.
Zweitens that sie, was sie konnte, um ihren Miethsleuten während flauer Zeitläufte Beschäftigung zu schaffen. Sie sparte sorgfältig jede Arbeit, die sie thun konnten, für solche Zeiten auf.
Erspartes Geld sammelte sie persönlich ein und verließ sich nicht [649] darauf, daß es an entfernt liegende Banken und Sparvereine abgeliefert würde.
„Schließlich wußte ich,“ fährt Miß Hill fort, „daß ich lernen müßte, diese Leute als meine Freunde zu betrachten und dadurch instinctmäßig dieselbe Achtung vor ihrer häuslichen Unabhängigkeit zu hegen, sie mit derselben höflichen Rücksicht zu behandeln, wie ich beides irgend einem anderen Freunde beweise. Es durfte keine Einmischung vorkommen, kein Eindringen in ihre Zimmer ohne Aufforderung, kein Anerbieten von Geld oder Gegenständen des Lebensbedarfes. Wenn aber die Gelegenheit selbst kam, mußte ich ihnen jede Hülfe gewähren, wie ich sie anderen Freunden, ohne zu verletzen, auch darbieten kann – Theilnahme in ihrer Betrübniß, Rath und Beistand in ihren Schwierigkeiten, nützliche Empfehlungen, Mittel der Erziehung, ein Buch, um in den Tagen der Arbeitsunfähigkeit zu lesen.
Ich bin überzeugt, daß Vieles von dem, was für die Armen gethan wird, unter anderen Uebeln an einem Mangel von Zartgefühl und höflicher Rücksicht krankt und daß wir ihnen nicht in wohlthätiger Weise helfen können, sobald es in irgend einem andern Geiste geschieht, als in dem wir unseres Gleichen helfen würden.
Es ist ein großer Vortheil, der aus der Einrichtung dieser Häuser entspringt, daß sie eine Prüfungsschule bilden, in welcher die Leute sich besserer Situationen würdig beweisen können. Nicht wenige der Miethsleute sind unter die gesellschaftliche Schicht, in welcher man sie einst gekannt hatte, herabgesunken, und einige von diesen gewannen einfach dadurch, daß sich ihr Charakter bewährte, ihre frühere Lebensstellung wieder. Ein Mann war vor zwanzig Jahren Diener einer Herrschaft gewesen, hatte Geld gespart, ein Geschäft angefangen, geheirathet, fallirt und war dann damit aus den Fugen des Verdienstes gekommen. Als ich ihn kennen lernte, hatte er ein erbärmliches Stück Brod für seine Frau und sieben Kinder, und alle neun siechten und sanken dahin, ohne daß Jemand davon wußte. Nachdem ich ihn drei Jahre lang beobachtet und geprüft hatte, konnte ich ihn einem Herrn auf dem Lande empfehlen, wo nun die Familie statt eines Zimmers deren sechs bewohnt, frische Luft und regelmäßigen Lohn genießt.
Es ist aber viel leichter, hülfreich zu sein, als Geduld und Selbstbeherrschung genug zu haben, um zeitweise Leiden zu sehen und ihnen nicht abzuhelfen. Und doch muß der Ton der Behandlung im Wesentlichen ein strenger sein. Es bedarf vieler Verweise und Zurückweisungen, wenn auch eine tiefe, stille Unterströmung von Mitgefühl und Erbarmen darunter hergehen mag.
Ein schöner Zug in dem Charakter der Armen ist ihr Vertrauen; es war ganz wunderbar zu beobachten, wie groß und wie bereitwillig dieses ist. In keinem einzigen Fall ist mir Argwohn begegnet, oder irgend etwas anderes als vollkommenes Vertrauen. Es ist unnöthig zu sagen, daß es nicht an kleinen Schwierigkeiten und Enttäuschungen gefehlt hat. Jeder Einzelne, dem es nicht gelang sich soweit zu erheben, um die so gern gebotene Hülfe zu ergreifen, ist für mich ein fühlbarer Verlust gewesen; denn ein wirkliches Gefühl, daß diese Leute zu mir gehörten, ist in mir lebendig geworden, und ich habe ein starkes Bewußtsein von Verantwortlichkeit gehabt, auch wo am wenigsten Liebenswerthes in einem Charakter zu finden war.“
Nach der finanziellen Seite hin erzielte Miß Hill einen befriedigenden Erfolg; denn es konnte bei einem Ertrag von fünf Procent Zinsen für das angelegte Capital nicht nur ein Fonds zur Rückzahlung angesammelt, sondern auch eine reichliche Bewilligung für Reparaturen gemacht werden, und hier muß der Mittel gedacht werden, wodurch die Miether gewöhnt wurden, sich mit Zerbrechen und Verwüsten in Acht zu nehmen. Die für Reparaturen jährlich bewilligte Summe ist für jedes Haus festgesetzt; bleibt etwas davon übrig, so wird der Rest zu solchen weiteren Bequemlichkeiten verwandt, welche die Miether selbst wünschen. Auf diese Weise liegt es in ihrem eigenen Interesse, die Ausgaben für Reparaturen so niedrig wie möglich zu halten, und anstatt leichtsinnig Schaden anzurichten, sind sie darauf bedacht, Beschädigungen zu vermeiden, und zeigen sich hülfreich und erfinderisch in sparsamer Herstellung des Zerbrochenen und Verdorbenen.
Miß Hill ließ auch ein großes Versammlungszimmer für die Mietsleute bauen; das dazu verwendete Capital verzinste sich gleichfalls aus den Mietbeträgen. „Hier werden nun,“ berichtet sie, „die Unterrichtsstunden gehalten – zweimal wöchentlich für Knaben, einmal für Mädchen. Eine zahlreich besuchte Arbeitsstunde für Frauen und erwachsene Mädchen findet einmal wöchentlich statt. Es ist eine gute Zeit zu ruhigem Gespräch mit ihnen, indeß wir da [650] arbeiten, und manches nachbarliche Gefühl wird unter den Frauen erweckt, wenn sie zusammen auf einer Bank sitzen, einander Nadel oder Faden leihen, von derselben Hand bedient werden, von derselben Person Leitung erwarten. Auch einen Spielplatz – einen ummauerten Raum – habe ich für die Kinder einrichten lassen. Bisher haben Balltreiben, Schlagball, Schaukeln, Springen und das Singen einiger Kindergartenlieder mit übereinstimmenden Bewegungen die Hauptunterhaltung geliefert. Vor Kurzem aber habe ich für die Knaben das Exerciren eingeführt mit einer Trommel- und Pfeifenbande. Leider nahm die Sorge für die Häuser soviel Zeit in Anspruch, daß der Spielplatz etwas vernachlässigt wurde, und doch ist er ein höchst wichtiger Theil des Werkes. Die Uebel der Straßen und Gassen sind zu offenbar, um der Auseinandersetzung zu bedürfen. Der moralische Einfluß des Spielplatzes hängt indeß davon ab, daß sich Damen finden, die hinkommen, Spiele angeben, als Schiedsrichter auftreten, die Kinder kennen lernen und sich ihrer annehmen. Solcher hoffe ich immer zu finden.“
Mit sehr viel Tact und Feingefühl hat Miß Hill es verstanden, durch Anrufung des Schönheitssinnes ihrer Schutzbefohlenen zu deren sittlicher Erziehung beizutragen Das Leben der Armen ist eintönig; sie suchen gemeine Vergnügungsorte auf; sie stürzen sich in den Strudel wilder Belustigungen. Nun lud aber Miß Hill sie zu edleren, von Schönheit verklärten Vergnügungen als ihre Gäste ein; ein angeborenes Ehrgefühl erhielt den guten Ton in der ganzen Gesellschaft. „Sicherlich,“ ruft sie aus, „es kann keinen erhebenderen, dankbareren Augenblick geben, als wenn wir eine große Anzahl dieser Menschenkinder, denen das Leben dumpf und sorgenvoll verfließt, zu einem fröhlichen heiligen Christfest um uns versammelt sehen, oder wenn wir sie in der schönen Sommerzeit nach einem heiteren, stillen Orte führen, wo sie, durch ein Gefühl der Zusammengehörigkeit unter einander verbunden, durch die Gegenwart derer, die sie lieben und von ihnen geliebt werden, unbewußter Weise vor Unrecht bewahrt werden.
Alle diese Gelegenheiten des Zusammenkommens sind für unser Verhältniß zu den Armen unschätzbar, und doch würden sie wenig nützen ohne die geschäftliche Beziehung, die uns mit ihnen verbindet, ohne die Fürsorge, die jedem einzelnen Mitgliede des kleinen Kreises zu Theil wird. Allwöchentlich beim Einziehen der Miethe findet sich die Gelegenheit, jede Familie allein zu sehen. Da giebt es eine Menge Dinge zu verhandeln. Erstens, die rein äußerlichen Geschäftssachen: Erhebung der Miethe, Wünsche der Miethsleute in Bezug auf Reparaturen; zuweilen Entscheidungen bezüglich des Verhältnisses zu anderen Miethern, dann wieder Verweise wegen vorgekommener Unordnungen. Eine wesentliche Rolle spielen die traurigen oder erfreulichen Mittheilungen über Gesundheit, Verdienst, über die kleinen Ereignisse der Woche. Zuweilen erheben sich schwere Fragen über wichtige Wendepunkte im Leben der Familie – soll die Tochter in Dienst gehen? soll man das kranke Kind in das Spital bringen? etc.“
Im Laufe der Zeit trugen denn diese mancherlei Methode ihre Früchte in dem kleinen Reiche der Miß Hill.
„Das Gefühl, einer ruhigen Ueberlegenheit und einem herzlichen Mitgefühl zu begegnen,“ sagte sie, „machte sich geltend, und immer weniger kamen Ausbrüche von Wildheit und Rohheit uns gegenüber vor. Noch ehe der erste Winter vorüber war, geschah es öfter, daß Jemand sich beeilte, uns die Treppe hinauf zu leuchten, und anstatt daß mir, wie früher, das Miethbuch nebst Geld durch die halboffene Thür zugestoßen wurde und ein fest dawider gestemmter Fuß mir den Eingang verwehrte, war nun mein Empfang: „O Fräulein, können Sie nicht auf einen Augenblick hereinkommen und sich setzen?“
Anfangs gehe ich zu regelmäßigen Zeiten in die Häuser, dann reinigen sie Alles zu meinem Empfang; sie haben das Vergnügen, für mich Vorbereitungen zu treffen und meine Befriedigung zu sehen; später komme ich zu unerwarteten Zeiten, um sie zu der Kraft zu erheben, immer die nöthige Reinlichkeit walten zu lassen. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß die Leute sich schämen, einen Ort, für den Sorge getragen wird, zu verwahrlosen. Dieses ihr Gefühl, verbunden mit der Thatsache, daß sie nicht gern diejenigen, die sie zu lieben gelernt und deren Gesichtspunkt höher ist als ihr eigener, Dinge sehen lassen, welche sie betrüben würden, hat es uns möglich gemacht, beinahe jede Reform in äußeren Dingen durchzuführen; der sicherste Weg, die Reinhaltung eines Ortes zu bewirken, war, ihn oft selbst zu besehen. Blickt man auf die Jahre zurück, wie sie vorübergehen, so sieht man einen Erfolg, der nicht klein ist; aber Tag für Tag hat man mit solchen Kleinigkeiten zu thun, daß sie die Geduld auf eine harte Probe stellen, wenn man nicht über sie hinaus und durch sie hindurch sieht – Schlösser zu repariren, Anzeigen zu machen, den fehlenden Schilling der Wochenmiethe drei- und viermal einzufordern, kleinliche Streitigkeiten zu schlichten, Verweise zu geben, die nämlichen Vorstellungen wieder und wieder zu machen.
Aber von diesen Dingen und ihrer gewissenhaften Ausführung hängt das Leben der ganzen Sache ab, durch sie wird ein stetiges Fortschreiten gesichert. Es sind die kleinen Dinge dieser Welt, welche dem Leben unserer Mitmenschen die Färbung geben, und auf den ausdauernden Anstrengungen zu ihrer Verbesserung beruht der Fortschritt.
Man sagt mir vielleicht: ‚Das ist recht gut, soweit es dich und deinen kleinen Kreis von Miethsleuten angeht, aber wie hilft uns das, mit den ungeheuren Massen von Armen in unseren großen Städten fertig zu werden?’ Ich antworte: ‚Bestehen die großen Massen von Armen nicht aus vielen kleinen Kreisen? Sind die großen Städte nicht in kleine Bezirke theilbar? Giebt es darin nicht Leute, die freudig bereit wären, die regelmäßige Leitung eines oder mehrerer Häuser zu unternehmen, wenn sie von dem Besitzer dazu autorisirt würden? Und warum sollte man nicht diese Leitung registriren können, sodaß mit der Zeit, wenn sich mehr und mehr Freiwillige fänden, die ganze Stadt eingetheilt würde und alle einzelnen Stücke der Arbeit wie Steinchen eines Mosaiks sich ist einander fügten, um ein verbundenes Ganzes zu bilden?’“
Ich möchte diesen Mittheilungen aus Miß Hill’s kleiner Schrift noch hinzufügen: Wenn in einer Grube hundert Bergleute verschüttet sind und wir mit aller Kraft daran gehen, sie dem gewissen Tode zu entreißen, so kommt uns ja auch der natürliche Gedanke, daß nicht alle gerettet werden dürften. Allein das hindert unsere Anstrengungen nicht; wir preisen uns glücklich um Jeden, der zu neuem Leben erweckt wurde; wir halten uns für belohnt, wenn wir auch nur für einen gearbeitet haben. So sei es auch hier, und darum an’s Werk! Ist den größten Städten Deutschlands kann man Häuser mit 10 bis 12 Arbeiterwohnungen mit einer Anzahlung von 6000 bis 9000 Mark kaufen, und der übrige Theil des Geldes wird von Corporationen, Stiftungen und von Capitalisten dargeliehen werden, die so leicht – wenn es ein solches Unternehmen gilt – nicht kündigen würden. Und über ein Capital von 9000 Mark verfügt so manches ältere Mädchen, oder Menschenfreunde geben die Summe her, wenn das Haus unter eine richtige Leitung kommt. Auch können ja Eltern anstatt der Mitgift, welche sie ihrer Tochter im Falle der Verheirathung bestimmt haben, ein solches Grundstück für sie kaufen. Wie anders wird das Mädchen alsdann die Wohlthaten empfinden, welche ihr sicheres, edles Dasein ihr bietet; wie viel Gegenstände der Besprechung und Berathung wird es mit den theuern Eltern geben, nun jeder dieser drei in Liebe verbundenen Menschen einen Wirkungskreis nach seinen Kräften gefunden! Und wie viel Wärme wird das Mädchen aus dem schönen Familienkreise zu ihren Armen tragen, welche sie zu erziehen hat, ein Beruf, für den dem Weibe so wunderbare Begabung verliehen ist!
Vor meiner Seele steht ein Ideal: Wenn jedes Haus, das Wohnungen für Arme bietet, unter der Verwaltung von edlen Frauen gleich Miß Hill stünde, wenn Siechenhäuser aller Orten die unheilbar kranken Bedürftigen aufnähmen, wenn Alters- und Krankencassen für alle die schwer ringenden, arbeitenden Männer gegründet wären, dann hätten wir den Socialismus und seine Irrlehren nicht zu fürchten. Wir wären alsdann im schönsten, wahrhaft göttlichen Sinne „ein einzig Volk von Brüdern“.
[651]Wir führen den freundlichen Leser nach dem herrlichen Alpenlande Kärnten. Es ist reich an entzückenden Landschaften, großartigen Gebirgsscenerien, klaren, lieblich gelegenen Bergseen und überaus interessanten historischen Erinnerungen, zu denen namentlich eine stattliche Reihe einst mächtiger, theilweise noch wohlerhaltener Burgen und Schlösser zählt. Wer von dem obersteiermärkischen Städtchen Bruck an der Mur mittelst der Kronprinz Rudolf-Bahn seinen Einzug in Kärnten halten will, dem rathen wir, sein Billet nur bis zur Eisenbahnstation Launsdorf zu lösen, die man hinter St. Veit, der einstigen mittelalterlichen Residenz der Herzöge Kärntens, erreicht.
Wenn der Reisende in Launsdorf den Bahnzug verläßt, wird er zur Linken durch ein Bild überrascht, das jedenfalls nicht zu den gewöhnlichen oder alltäglichen gehört. Die hohen Waldrücken treten halbkreisförmig zurück, eine Thalmulde begrenzend, in deren Mitte ein kolossaler, fast senkrecht abfallender Felskegel sich erhebt; sein Gipfel ist mit einer mächtigen Bergveste gekrönt, deren Mauern, Wälle, Thürme und Thürmchen terrassenförmig emporsteigen. Diese Bergveste ist Hochosterwitz, die schönste, mächtigste Burg Kärntens, würdig, auch über dessen Grenzen hinaus bekannt zu werden.
Die Veste ist von hohem Alter und stammt, wie schon ihr Name andeutet, aus der altslavischen Geschichtsperiode Kärntens. Osterwitz, Ostrowitz, richtig Ostrowice (sprich: Ostrowize) enthält das allen Slaven verständliche Wurzelwort ostro, ostroj, welches scharf, kantig, steil abfallend bedeutet, eine Bezeichnung, die also auf die Lage der Veste vollkommen paßt. Die Endsilbe wice, woraus das deutsche witz entstanden, kehrt bei vielen slavischen Ortsnamen wieder. Die Bezeichnung hoch (Hochosterwitz) entstand nur zur Unterscheidung der Veste von der am Fuße des Felskegels im Thale liegenden Besitzung Osterwitz, die, wie die Bergveste, seit Jahrhunderten und noch heute sich im Besitze des alten Khevenhüller’schen Grafengeschlechts befindet.
Genaues über das Alter der Veste läßt sich nicht historisch feststellen. Die ersten Anfänge zu ihrem Baue scheinen aus dem siebenten oder achten Jahrhundert zu stammen; bestimmt erwähnt wird Hochosterwitz schon 890 von salzburgischen Chroniken. Zu Anfang und in der ersten Hälfte des Mittelalters spielte die Veste in den Fehden und Kriegen Kärntens eine hervorragende Rolle. Was uns davon überliefert worden, scheint indeß mehr dem Gebiet der Sage, als dem der Geschichte anzugehören. Nur von einer Belagerung, richtiger Berennung, im Laufe des vierzehnten Jahrhunderts haben wir genauere Kunde; bevor wir aber diese Episode erzähle, möchten wir unsere Leser zum richtigen Verständnisse jenes Eroberungsversuches mit der Wehrhaftigkeit und dem Umfange der Veste näher bekannt machen. Ersteigen wir also Hochosterwitz!
Der einzige Weg, der zur Zeit ihrer Wehrhaftigkeit nach dem Gipfel des Felsens und in das Burginnere führte, beginnt an der Nordseite des Berges. Er ist seiner Anlage nach mehr ein breiter Reit- als Fahrweg und läßt vermuthen, daß im Mittelalter die Vorräthe und Bedürfnisse für die Bewohner der Burg durch Saumrosse hinaufgeschafft wurden. Indeß konnten wohl auch nicht allzu große Wagen, freilich mit einiger Anstrengung, den Gipfel des Felsens erreichen.
Dieser Weg, in vielen, oft plötzlichen Krümmungen ansteigend, führt durch die Thore von vierzehn Thürmen, die sämmtlich wohl erhalten sind. Jeder dieser Thürme, deren Bau ein massiver, war mit Graben und Zugbrücke versehen. Die hölzernen Spitzdächer, mit denen gegenwärtig die Thürme zum Schutze des Mauerwerks gegen die Witterungseinflüsse bedeckt sind, waren zu jener Zeit nicht vorhanden. Jeder Thurm hatte vielmehr eine offene Plattform, die zur Aufnahme der Vertheidiger eingerichtet war. Dieselben konnten sich durch die dicken, crenelirten Mauern decken und durch die Schießscharten am obersten Mauerrande den Wegabschnitt vor dem Thurme und bei manchen auch seine Flanken bestreichen. Im Inneren der Thürme waren längs den Mauern stockwerkförmig steinerne oder auch hölzerne Gallerien angebracht, von der modernen Fortificationswissenschaft Banquettes genannt; sie dienten gleichfalls zur Aufnahme von Schützen, welche durch die in halber Mannshöhe eingeschnittenen Schießscharten die Annäherung des Feindes verhindern konnten.
So waren mehr oder minder sämmtliche vierzehn Thürme der Veste Hochosterwitz zur Verteidigung hergerichtet. Sie mußten alle von dem Angreifer genommen werden, wenn er auf den Gipfel des Berges in das eigentliche Innere der Burg gelangen wollte. Jede andere Annäherung an die Veste und ihre Außenwerke war durch den hohen, auf allen Seiten steil abstürzenden Felskegel völlig unmöglich. An seiner Westseite, deren Profil im Bilde dem Beschauer sichtbar ist, steigen überdies noch drei hohe Wälle terrassenförmig empor, die gleichfalls mit Thürmen und Thürmchen zur Vertheidigung oder zum Ausspähen der umliegenden Gegend, der Bewegung des Feindes versehen sind. Manche Seiten, dieser Wälle flankiren Abschnitte des Weges, welcher durch die vierzehn Thürme nach der Veste führt. Die Besatzungen der Thürme konnten also von denen der Wälle in der Abweisung des feindlichen Angriffs unterstützt werden.
Nachdem der Besucher die Thore der vierzehn Thürme passirt, gelangt er, fast sechshundert Fuß hoch, auf den obersten Wallgang, der unmittelbar unter der Burg um den Felsen läuft. Hier erblickt man in weiter Ferne die kahlen Gipfel der majestätischen Alpen, herrliche, über Berg und Thal gestreckte Wälder, grüne Matten, dazwischen in der Sonne glitzernde Flüßchen und Bäche nebst vielen durch das Grün malerisch verstreuten Flecken, Dörfern, Schlössern und verfallenen Burgen. Die Luft auf diesem hohen Walle ist überaus klar und von würzigem Dufte erfüllt, den uns die in der Tiefe liegenden Nadelholzwälder heraufschicken. Von diesem wundervollen Naturbilde wenden wir uns in das Innere der Burg. Sie ist ein massiver, zwei Stockwerke hoher Bau, mit an seinen Ecken vorspringenden Thürmen. Im Burghofe befindet sich ein bemerkenswerther Brunnen, der noch heute vortreffliches Wasser giebt. Mit diesem war also die Veste wohl versehen und brauchte nicht zu besorgen, daß es der Belagerer ihr entziehen könne. Der Brunnen ist nämlich mitten durch den Fels gebohrt und stößt in der respectablen Tiefe von fünfzig Klaftern – gerade die Hälfte der ganzen Berghöhe – auf die Quelle.
Im Inneren der Burg sind manche Säle und Gemächer noch ziemlich wohlerhalten. Einige sind leider modernisirt, was zu dem stilvollen Ganzen sowie den alten an den Wänden hängenden Ahnen-Ritterbildern einen unerfreulichen Abstich ergiebt. In einer Kammer sieht man noch die Handmühle, welche Besatzung und Bewohner der Burg mit Mehl versorgte, ferner die Reste einer einst reichen, interessanten Waffensammlung, einen alten, hohen Filzhut und ein durch die Zeit arg mitgenommenes Stierfell. An die letzteren beiden Gegenstände knüpft sich eine Sage, die wir später erwähnen wollen. Die Capelle, die am obersten Walle, außerhalb der Burgmauern sich befindet, enthält die Grabdenkmäler mehrerer Besitzer der Burg, zumal solcher aus dem Geschlechte der Khevenhüller.
Sonst ist noch ein Steinbild Maximilian’s des Zweiten vorhanden, der ein Freund und Beschützer der Burgherren von Hochosterwitz gewesen sein soll. An einigen Thoren und Außenseiten der Mauern befinden sich Bibelsprüche, die indeß halb verwischt und wegen der Höhe, in der sie angebracht, nicht gut leserlich sind. Vom Hauptthore endlich schauen zwei in Stein gehauene Ritterbilder und das angebliche Conterfei der wilden, kriegerischen Gräfin von Tirol, Margarethe Maultasch, herab, die 1335 Hochosterwitz auf das Hartnäckigste belagerte.
Margarethe Maultasch, nicht, wie manche Historiker irrthümlich meinten, wegen eines großen, unförmlichen Mundes, sondern vom Schlosse Maultasch in Tirol so genannt, war die Erbtochter des Herzogs Heinrich von Kärnten, gleichzeitig regierenden Grafen von Tirol, und der Herzogin Adelheid, geborener Prinzessin von Braunschweig. Im Jahre 1331 vermählte sie sich mit dem böhmischen Prinzen Johann, Bruder des nachmaligen Kaisers Karl’s des Vierten, aber das stille, fast schüchterne Wesen [652] ihres Gemahls paßte wenig zu ihrem heftigen, herrschsüchtigen Temperamente.
Die Chronisten jener Zeitperiode schildern uns Margarethe Maultasch als Mannweib, groß, auffällig stark und häßlich. Sie war eine sehr reiche Fürstin, dabei leidenschaftliche Jägerin, ritt, focht und schoß ausgezeichnet mit der Armbrust. Ihre Ehe mit Prinz Johann blieb kinderlos. Sie erklärte mit Beziehung darauf, als sie nach dem Tode ihres Vaters in Tirol und Kärnten zur Regierung gelangte, nicht länger mit ihrem Gemahl leben zu wollen, und sann auf Mittel, sich von ihm zu trennen. Als Prinz Johann einst von der Jagd zurückkehrte, ward ihm auf Befehl Margarethens der Eintritt in das Schloß Tirol mit bewaffneter Hand verweigert und ein gleicher Empfang in den übrigen Burgen des Landes in Aussicht gestellt. Der Prinz mußte die Nacht bei einem Förster zubringen und verließ bald darauf das Land. Margarethens Wunsch, sich von ihrem Gemahl kirchlich trennen zu lassen und die Erlaubniß zu einer zweiten Vermählung zu erwirken, ward indeß vorläufig durch ein für sie schwerwiegendes politisches Ereigniß in den Hintergrund gedrängt. Das Haus Oesterreich erhob nämlich Ansprüche auf Kärnten; Margarethe sollte sich mit Tirol begnügen. An der Spitze ihrer tirolischen Ritter und Reisigen fiel sie sofort durch das Pusterthal in Kärnten ein, verstärkte sich hier durch kärntnerische Schaaren, welche die Vereinigung ihres Landes mit Oesterreich nicht wollten, schlug die überraschten Parteigänger Oesterreichs in allen Kämpfen, brannte mehrere Burgen, Flecken und Dörfer nieder und machte ansehnliche Beute.
Sie erschien bald vor der Veste Hochosterwitz, deren Burgherrn, Ritter Schenk von Osterwitz, sie zur Uebergabe aufforderte. Dieser hatte sich indeß zur österreichischen Partei geschlagen und erwiderte die Aufforderung der Maultasch durch eine höhnische Antwort. Darüber wüthend und durch die damals in der Burg befindlichen reichen Schätze und Kostbarkeiten angelockt, schwur sie in ihrem Lager, „das Geiernest müsse herunter, reichten seine Thürme auch bis in den Mond“. – Sofort folgte ein Sturmangriff gegen das erste Zugangsthor der Veste, der indeß von der Besatzung blutig abgewiesen wurde. Nun begann eine langwierige Belagerung, deren Ende im Hinblicke auf die große Widerstandsfähigkeit der Veste und die in jener Zeit ganz unzureichenden Angriffsmittel nicht abzusehen war.
Man vergesse nämlich nicht, daß jene Belagerung in das Jahr 1335 fällt, also in eine Zeit, die zur Kriegführung noch keine Feuerwaffen kannte. Erst sechsundzwanzig Jahre später, 1361, wurden die ersten schwerfälligen, unzuverlässigen Feuergewehre, „Luntenrohre“ genannt, eingeführt, die drei- bis vierlöthige Bleikugeln schossen. Die Schaaren der Margarethe Maultasch vor Hochosterwitz waren daher nur auf die Armbrust und die alten blanken Waffen beschränkt. Erstere schoß auf zweihundert Schritte scharfe und stumpfe Bolzen sowie Bleikugeln, die ein nicht allzustarkes Panzerhemd durchbohrten. Zu den blanken Angriffswaffen gehörten namentlich: Streitäxte, Morgensterne, Flammberge, gewöhnliche Schwerter, Hellebarden, Lanzen und Dolche. Als blanke Schutzwaffen waren Helm, Sturmhaube, Panzer, Arm- und Beinschienen und Schild im Gebrauche. Bei Belagerungen bediente man sich zum Einrennen der Thore und Mauern der Sturmböcke oder Mauerbrecher, zum Ersteigen der Wälle langer Sturmleitern. Hiermit wäre das Arsenal jener Zeitperiode ziemlich erschöpft. Man wird unschwer begreifen, daß mit solchen Angriffsmitteln der Veste kaum beizukommen war, vorausgesetzt, daß die Besatzung, namentlich die der Zugangsthürme, ihre Pflicht that.
Von Annäherungsarbeiten, die von der modernen Belagerungskunst errichtet und allmählich gegen den eingeschlossenen Platz vorgeschoben werden, war zur Zeit der Margarethe Maultasch auch nicht die Rede. Die Plätze oder Vesten wurden von den Belagerern einfach ganz oder auch nur theilweise umringt, einzelne im Bereiche der Armbrustgeschosse befindliche Abtheilungen deckten sich allenfalls hinter Terraingegenständen, während sich besonders gute Armbrustschützen der Belagerer in der Nähe der feindlichen Werke verbargen oder eingruben, um auf Alles, was sich vom Gegner blicken ließ, zu schießen.
Die Besatzung des ersten der vierzehn Thürme war selbstverständlich dem ganzen Anprall der Belagerer ausgesetzt, allein bei gehöriger Wachsamkeit, Umsicht und Energie seitens der Vertheidiger war der Thurm nicht leicht zu nehmen. Der schmale, in den Felsen gehauene Weg ließ die Stürmenden nur in gedrängter Masse gegen den tiefen Festungsgraben und das festverrammelte Thor vorgehen. Der Graben mußte vom Angreifer im unmittelbaren Angesicht der Thurmbesatzung überbrückt oder sonst überschritten werden, um das starke, verschlossene Thor, das innerhalb mittelst Querbalken, schweren aufgeschichteten Steinmassen etc. noch widerstandsfähiger gemacht war, durch Beilhiebe, Sturmböcke oder Mauerbrecher zu öffnen. Das war für die Stürmenden stets eine blutige, oftmals vergebliche Arbeit. Die Besatzung des Thurmes, namentlich die der obersten Plattform, begnügte sich nicht, blos mit der Armbrust unter die Stürmenden zu schießen, sondern es wurden auf die Feinde ganze Reihen schwerer Steine herabgeschleudert, wohl auch kochendes Wasser und flammendes Pech gegossen.
Die Leute des Ritters Schenk von Osterwitz, der die Veste gegen die Maultasch vertheidigte, thaten ihre Schuldigkeit: die geschichtlichen Ueberlieferungen melden übereinstimmend, „die wilde Maultasch sei nach langer (eine bestimmte Zeitdauer wird nicht angegeben) vergeblicher Belagerung wüthend abgezogen“.
An diesen Abzug knüpft sich eine Sage, die bis heute im Volksmunde sich erhalten hat, aber aus mancherlei Gründen wenig Glaubwürdigkeit verdient. Es heißt nämlich, die Besatzung der Veste Hochosterwitz sei durch Hunger schon hart bedrängt und deshalb nahe daran gewesen, sich der Maultasch zu ergeben. Da habe der Ritter Schenk seine Rettung in einer verzweifelten „Kriegslist“ gesucht. Er ließ, heißt es, den letzten Stier schlachten und in sein blutiges Fell die geringen Reste des noch vorhandenen Korns nähen. Darauf sei das Ganze unter Trompeten- und Paukenschall vom Walle den Belagerern zugeworfen worden. Die Maultasch hätte nun geglaubt, die Veste besitze noch viel Mundvorrath, und sei, weil sie durch Gewaltmittel nichts auszurichten vermochte, schließlich abgezogen.
Kriegslisten wie die erwähnte indeß werden, fast mit denselben Worten, auch gelegentlich anderer Belagerungen deutscher Vesten und Burgen berichtet, und das Stierfell, welches noch heute in einer Kammer der Veste Hochosterwitz gezeigt wird, verbürgt die Glaubwürdigkeit jener Sage so wenig, wie die Echtheit des angeblichen „Hutes der Maultasch“ verbürgt ist, der in derselben Kammer mit dem Stierfell aufbewahrt wird.
Den Abzug der Maultasch von Hochosterwitz scheint vielmehr lediglich eine politische Kundgebung veranlaßt zu haben. Kaiser Ludwig der Baier billigte, wie historisch festgestellt ist, die Vereinigung Kärntens mit Oesterreich, eine Entscheidung, der die Maultasch, wohl oder übel, sich unterwerfen mußte.
Kaum aus dem Kriege in Kärnten heimgekehrt, nahm Margarethe Maultasch ihr altes Scheidungsproject gegen ihren Gemahl wieder auf. Es dauerte indeß sechs Jahre, bis 1341, ehe sie mit kaiserlicher Hülfe den Bischof von Freising bewog, sie von Johann zu scheiden sowie ihre Wiedervermählung mit Ludwig von Brandenburg, dem Sohne Kaiser Ludwig’s des Baiern, zu bewirken.
Im nächstfolgenden Jahre (1342) ward die Hochzeit auf Schloß Tirol mit großer Pracht gefeiert. Bei der Trauung kam es in der Schloßcapelle zu einer eigenthümlichen Scene, die mehrere Historiker übereinstimmend erzählen.
Margarethe Maultasch nahm nämlich den Schleier, den sie bisher als verheirathete Fürstin getragen, vom Haupte, legte ihn auf den Altar und setzte sich den von einem Hoffräulein bereit gehaltenen Jungfernkranz mit dem laut gesprochenen Schwure auf, daß sie auf den Kranz, trotz ihrer zehnjährigen Ehe, ein volles Recht habe.
Das Interesse, welches der gebannte Kaiser Ludwig an dieser Vermählung hatte, veranlaßte einen nachträglichen zornigen Einspruch des Papstes Clemens des Sechsten, welcher die Ehe, weil die beiden Gatten im dritten Grade verwandt waren, für ungültig erklärte. Die weiteren politischen Wendungen kamen auch der Gräfin zu gute, nur mußte zur Befriedigung der päpstlichen Ansprüche die Trauung 1359 wiederholt werden.
Ihrem neuen Gemahl gebar Margarethe nur einen Sohn, Meinhardt. 1361 starb der Erstere; zwei Jahre später verlor sie auch ihren Sohn durch den Tod. Ihre zahlreichen Feinde
[653][654] behaupteten, sie hätte Beide vergiftet, aber es liegt auch nicht der Schatten eines Beweises für diese gehässige Anschuldigung vor.
Nach dem Tode ihres Sohnes ward Margarethe der Regierung müde, verschrieb die Grafschaft Tirol ihren Vettern, den Herzögen von Oesterreich und zog sich nach Wien in das Privatleben zurück, wo sie am 10. Februar 1379 starb.
So kam Tirol an Oesterreich, mit dem es, geringe Unterbrechungen ausgenommen, bis heute vereint blieb.
Aus vergessenen Acten.
Eine Criminalgeschichte von Hans Blum.
(Fortsetzung.)
Die Untersuchung gegen Josua King konnte nun rasch zu Ende geführt werden. Die Ermittelungen über die Vergangenheit des Angeklagten bestätigten Alles, was im Briefe seines Vaters gestanden. Er räumte seine Vorbestrafung ein, leugnete aber das Motiv der That, welches Natalie enthüllt hatte, wie die That selbst.
Kern ließ den ganzen Weg, den King auf seiner Wanderschaft, nach seiner Entlassung aus dem Zuchthause, genommen, durch die Behörden feststellen und die Meister, bei denen er gearbeitet, die Leute, bei denen er gewohnt, abhören. Ihnen Allen wurde die Mordwaffe vorgelegt; keiner kannte sie. Endlich, in Bamberg, gelang es, einen wichtigen Schritt vorwärts zu thun. Hier hatte King bei einem Schuhmacher Strubel gewohnt, welcher den Dolch und die Scheide bestimmt als King’s Eigenthum wieder erkannte. Er hatte die Dolchscheide auf den Wunsch des Gesellen selbst einmal lackirt und die Waffe kurz vor dessen Weiterreise putzen und schärfen helfen. Er hatte King damals gebeten, ihm die Waffe als Geschenk zurückzulassen, aber die Antwort erhalten: „Die brauche ich selbst nothwendig.“ Auch ein Bamberger Mitgeselle King’s, ein gewisser Siegfried, besann sich genau, diesen Dolch in dessen Besitz gesehen zu haben.
„Das ist unwahr, das sind Lügen!“ erklärte King, als ihm die Aussagen dieser Zeugen von Kern verlesen wurden. „Die Menschen sollten mir einmal Aug’ in Auge gegenübertreten!“
Dem Richter lag die Zusicherung dieses Verlangens schon auf der Zunge. Aber er wußte, wie sparsam der kleine Staat in allen seinen Ausgaben war. Und er wollte King den Triumph nicht gönnen, daß die Zeugen vielleicht, trotz der Versicherung des Richters, nicht zur Verhandlung geladen würden.
Mit Abschluß dieser Erörterungen war die Sache spruchreif. Sie wurde vor die Wintersitzung des Schwurgerichts der Residenz verwiesen.
Kern, der Bezirksarzt, Margret, Natalie und die Lehrlinge wurden als Zeugen geladen, und King wurde nach der Residenz übergeführt.
Die Verhandlung dauerte mehrere Tage, unter gewaltigem Zulauf der Menschen, die theilweise von weither kamen. Die Honoratioren der kleinen Stadt, der Bürgermeister an der Spitze, waren fast vollzählig auf der reservirten Tribüne. Für die Meisten unter den Anwesenden hatte das öffentliche Schauspiel nun das Interesse, wie wenn man ein Drama, das man zum ersten Mal mit verhaltenem Athem Scene um Scene abspielen sah, noch einmal mit kritischem Auge nachliest.
Der Angeklagte machte in seinem modernen, kleidsamen Anzuge mit blüthenweißer Wäsche einen durchaus anständigen Eindruck; er hatte etwas Feines, Elegantes und war durch nichts von der ruhigen Betheuerung seiner Unschuld abzubringen nicht durch den Vorhalt der zahlreichen blutigen Beweismittel der Unthat, nicht durch das thränenreiche Zeugniß der Mutter des Ermordeten, nicht einmal durch Margret’s ergreifende Erzählung ihrer Wahrnehmungen vor, bei und nach der That, welche von der Zuhörerschaft mit solcher Begeisterung vernommen wurde, daß es dem Schwurgerichtspräsidenten schwer wurde, ein lautes Hoch auf das muthige Mädchen zu unterdrücken.
Nur ein einziges Mal gerieth King in leidenschaftlichere Erregung: als plötzlich die beiden Bamberger Zeugen aufgerufen wurden. Sie standen zwar mit auf der Beweismittelliste des Staatsanwalts, aber Eisenbahnen gab es damals über das Gebirge noch nicht, und Thurn und Taxis brauchte mindestens eine Woche, um den großen Schneefall zu bewältigen und der Postschnecke wieder Bahn zu brechen. Der Vertheidiger meinte, die Bamberger Zeugen würden acht Tage nach dem Wahrspruch der Geschworenen eintreffen, und nun waren sie mit einem Male doch da. Sie standen jetzt „Aug’ in Auge“ vor dem Angeklagten, wie dieser gewünscht hatte. Finster schossen King’s Blicke auf die Zeugen, als diese Wort für Wort wiederholten, was sie in der Voruntersuchung ausgesagt und zu beschwören sich bereit erklärt hatten. Er verlangte ungestüm, zum Worte gelassen zu werden.
„Ich gebe den Herren zu bedenken, bevor sie ihre Worte beschwören,“ sagte er nachdrücklich, „daß ich ihnen beweisen kann, wie sie sich irren, wenn sie diesen Dolch und diese Scheide für mein Eigenthum halten.“
„King,“ sagte da der Staatsanwalt. „Bedenken Sie, was Sie eben sagten? Sie haben bisher entschieden in Abrede gestellt, diese Waffe hier zu kennen?“
„Ja gewiß,“ entgegnete King trotzig.
„Und nun wollen Sie den Zeugen beweisen, daß sie sich irren. Da müssen Sie doch nachweisen, daß Sie eine andere ähnliche Waffe in Bamberg besessen haben, und daß diese hier einem Andern gehört, nicht wahr?“
„Ich habe die Zeugen nur auf die Probe stellen wollen,“ erwiderte King mit gewohnter Gewandtheit, ohne Bedenken.
Aber auch die Vertheidigung hatte ihre Zeugen geladen.
Da gab es Zeugen, welche den trefflichen Charakter, den Fleiß, die Treue und Hingebung King’s an seinen Meister bestätigten, was übrigens auch die Belastungszeugen thaten. Dann gab es Zeugen, unter ihnen vor Allem Fritz Becker, welche die Warnung King’s an Wolf vor dem wilden Bahring, als Wolf die Ressource verließ, bekundeten; Zeugen welche beschworen, wie außerordentlich müde King in jener Mordnacht gewesen, Zeugen, welche das im Keller gefundene Taschentuch als Bahring’s echtes Eigenthum anerkannten und beschworen, daß er häufig einen großen, scharfen Dolch getragen, Zeugen, welche die letzten Zeilen Bahring’s als zweifellos von dessen Hand geschrieben anerkannten.
Nach Schluß der Beweisaufnahme erhielt, unter lautlosem Schweigen der Hunderte von Zuhörern, der Staatsanwalt das Wort zur Begründung der Anklage. Er ging aus von dem Nachweise, daß der Mörder innerhalb des Hauses bei Wittwe Wolf gewesen und geblieben sei. Daher seine Blutspur nur innerhalb des Hauses, nirgends im Hofe oder vor der Hausthür. Dieser Mörder sei King. Er habe seinen Herrn durch die Vorspiegelung, daß Diebe im Pelzkeller seien, nachdem er vorher dort das Licht Hark’s aufgestellt, in den Keller gelockt. Am Kellereingang habe er den zögernden Meister von hinten angefallen, ihm Stiche in Hals und Rücken beigebracht und ihn die Treppe hinabzustürzen versucht. Da habe sich Wolf gewendet und in ungünstiger Lage, tiefer stehend, mit Händen und Armen nach Kräften sich gewehrt, auch hier wie schon oben am Eingang des Kellers nach Hülfe geschrieen. Der Mörder habe dem armen Opfer sein Taschentuch in den Mund gestoßen, um Wolf’s Rufe zu ersticken. Da sei Margret draußen vor der Kellerthür erschienen. Der Mörder habe ihr die Thür versperrt; Wolf sei dann an den bisher empfangenen zahlreichen Wunden zusammengebrochen, und King habe den Sterbenden in den Vorkeller geschleppt und hier an dem Tuche Bahring’s, das er vermuthlich in der Ressource entwendet, die Finger abgewischt. Der Wirth der Ressource habe ja beschworen, daß Bahring bei seinem Weggehen sein Taschentuch vermißt habe. Um den Verdacht auf Bahring zu lenken, habe er dieses Tuch in der Nähe der Leiche liegen lassen und die Briefe der Braut des Ermordeten zerrissen, sein eigenes Tuch dagegen wieder an sich genommen. Leider sei es durch den in derselben Nacht verübten Selbstmord Bahring’s unmöglich geworden, Bahring selbst gegen diese raffinirte Bosheit des Angeklagten als Zeugen aufzurufen.
King habe nun die Hülferufe Margret’s im Hofe gehört. Rasch habe er das Licht verlöscht, um unerkannt zu bleiben. Die Dolchscheide, die ihm entfallen, im Dunkel zu suchen, habe er keine Zeit gehabt. Er sei hinaufgeeilt, um die Thür der Damen [655] und die Hinterthür nach dem Hof zu schließen und zu verriegeln, behufs Sicherung seines Rückzugs. Um noch einmal den Verdacht der Hausbewohner auf eine falsche Spur zu leiten, habe er die Hausthür geöffnet und laut zugeschlagen. Dann sei er lautlos zu seiner Kammer zurückgeeilt – von Niemandem erkannt, für Niemand verdächtig, wie er meinte. Aber das blutgetränkte Taschentuch in seinen Händen habe im Dunkel der Nacht, ohne daß er selbst es ahnte, seine Spur verrathen. Margret habe ihn vor der That hinabschleichen hören, der eine der Lehrlinge ihn bei seiner Rückkehr durch die Kammer hasten sehen. Dazu kämen nun die Beweise, welche die noch in der nämlichen Nacht unternommenen Erörterungen, die später aufgefundenen Zeugnisse wider King ergaben: die Fasern der Unterbeinkleider King’s an den Fingernägeln des Ermordeten, das versteckte blutige Taschentuch, die dem Angeklagten gehörende Mordwaffe, der fehlgeschlagene, wenn auch heroische Versuch desselben, durch die Wunde, die er sich nach seiner Verhaftung freiwillig beigebracht, das furchtbare Zeugniß der Blutspur zu entkräften. Das Motiv zu der mit beispielloser Ruhe, Hinterlist und Tücke und mit ungewöhnlicher Ueberlegung ausgeführten That sei das Streben King’s gewesen, von der Wittwe Wolf als Geschäftsführer und später als Geschäftseigner angenommen zu werden und Natalie Becker zu heirathen.
Die Vertheidigung hatte dieser klaren, scharfen Beweisführung der Anklage gegenüber einen schweren Stand.
Sie versuchte den Nachweis, daß kein Anderer als Karl Bahring der Thäter sei. Auf ihn wiesen die zerrissenen Briefe, das Taschentuch im Keller. Sein Motiv zur That, Liebeseifersucht, sei klar und greifbar, das Motiv, welches die Staatsanwaltschaft King unterlege, verworren unpsychologisch, eine Kette von unglaubhaften Hypothesen. Daß King Bahring’s Taschentuch entwendet, sei in keiner Weise erwiesen. Er wäre thöricht gewesen, wenn er es gethan und sich der Ueberführung dieser Entwendung ausgesetzt hätte. Bahring habe gemordet mit dem festen Vorsatze, sich dann selbst zu tödten. Deshalb habe er alle die Beweise seiner That zurückgelassen, auf dem Mordschauplatz verstreut. Nur sein Haus habe er unverfolgt gewinnen wollen, um hier seine That selbst zu sühnen, und das ihm lästige Leben hinzugeben. Bahring’s Schuld an der Ermordung Wolf’s sprächen auch die letzten Zeilen offen aus, die Bahring angesichts des Todes geschrieben und die darum gewiß die volle Wahrheit sagten. Margret, welche King offenbar hasse und die darum als Zeugin verdächtig sei, habe die weitere Verfolgung der Spur, welche auf Bahring als Thäter hinwies, nun ganz von diesem abgelenkt. Deshalb sei Alles unerörtert geblieben, was Bahring’s Thäterschaft noch zweifelloser hätte beweisen können. Man habe nicht untersucht, ob Bahring denn nicht Beinkleider vom nämlichen Stoff getragen habe, wie er an Wolf’s Nägeln gefunden worden sei. Man habe nicht erörtert, wo Bahring sich gerade in der Stunde der Ermordung Wolf’s aufgehalten habe. Sicher sei er damals nicht mehr in der Ressource und noch nicht zu Hause gewesen. Erst die Vertheidigung habe erörtert und bewiesen, daß Bahring einen großen scharfen Dolch getragen.
King sei, nach dem Zeugnisse Aller in einem solchen Zustande der Erschlaffung in jener Nacht nach Hause gekommen, sei seiner Müdigkeit und Verschlafenheit, nachdem er seine Dienste geleistet, so rasch wieder erlegen, daß man ihm unmöglich eine solche That zutrauen könne. Auch die Blutspur sei einfach aus der Handwunde erklärlich, die von dem Arzt und Richter bei der Hast der ersten Untersuchung nicht bemerkt worden sei. King habe diese Wunde eben so wenig wie den Besitz eines blutigen Dolches und Taschentuches verrathen wollen, als ihm einmal gesagt worden war, daß der Verdacht der Thäterschaft auf ihm ruhe. Zum Schlusse betonte die Vertheidigung noch einmal, wie wenig gerade ein Mann von der Tüchtigkeit, dem Fleiß, den geselligen Talenten King’s vom gewöhnlichen Wege seiner Laufbahn habe abzuweichen brauchen, wie sicher er nach seinen bisherigen Erfolgen in der kleinen Stadt dort für alle Zeit sein gedeihliches Fortkommen habe erwarten dürfen. Am wenigsten habe es ihm der Natalie Becker halber geeilt. Denn von dieser habe er sich, wie die Zeugin selbst bekunde, seit Pfingsten mehr und mehr zurückgezogen.
Beide Parteien hatten ihre Pflicht nach Kräften gethan.
Ruhig und fest betheuerte in seinem Schlußwort der Angeklagte seine Unschuld, und die Geschworenen zogen sich zur Schöpfung des Wahrspruchs zurück. –
Unter der lautlosen Stille der gedrängten Zuhörerschaft erschienen sie nach kaum einer Stunde wieder, und der Obmann las mit bewegter Stimme den Spruch des Volksgerichtes:
„Auf meine Ehre und mein Gewissen der Wahrspruch der Geschworenen ist folgender:
‚Ist erwiesen, daß Josua King den Kürschnermeister Wolf in … in der Nacht vom 24. zum 25. Juni 185. vorsätzlich und mit Vorbedacht getödtet und dadurch eines Mordes sich schuldig gemacht habe?’
Ja! Mit mehr als sieben Stimmen.“
Der Gerichtshof sprach nun das Todesurtheil über Josua King aus. Er hörte es ruhig und kopfschüttelnd an; nur eine tiefe Blässe bekundete seine innere Erregung.
Er wurde abgeführt.
Draußen, vor dem Saal, am entgegengesetzten Ende der Ausgänge für das Publicum befand sich ein langer halb dunkler Gang nach den Gefängnißzellen, und rechts von diesem Gang war das Zeugenzimmer. Margret war als die Erste der Zeugen nach Schluß der Verhandlung in tiefster Bewegung hierher geeilt. Sie stand noch in der geöffneten Thür, als sie hörte, daß King von den beiden Wächtern vor und hinter ihm zu schleunigem Schritt ermuntert wurde. Klirrend rasselten die Ketten, die man ihm nach Verkündigung des Todesurtheils angelegt hatte, und ehe Margret sich in das Zimmer zurückziehen konnte, war der Gefangene bei ihr angelangt.
Er faßte die Gestalt des Mädchens, die nach seiner Ansicht mehr als irgend ein anderer Zeuge zu seiner Verurtheilung beigetragen hatte, mit einem raschen, durchbohrenden Blick in’s Auge und zischte, dicht vor ihr stehend, durch die Lippen:
„Warte, Margret, wenn ich wieder herauskomme!“
„Vorwärts da!“ gebot streng der Wachtmeister und stieß den schweren Säbel hart auf den Boden.
„Aermster Mann, Du gehst einen Gang, von dem Niemand zurückkehrt!“ sprach Margret vor sich hin, während King am Ende des Corridors verschwand.
Aber Margret sollte nicht ganz Recht behalten; denn das Todesurtheil wurde an King nicht vollstreckt. Er wurde zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt.
Es war Frühling geworden, bis dieses Schicksal für ihn feststand und er von der Residenz aus die Fahrt antrat, die ihm zum letzten Mal in seinem Leben den Anblick grünender Auen und Wälder, jubelnder Lerchen und fröhlicher freier Menschen bieten sollte. Er wurde an das Zuchthaus abgeliefert; in einem Alter, in dem die jungen Männer seiner Heimath noch nicht einmal für volljährig galten, hatte er mit dem Leben abgeschlossen. Menschlicher Berechnung nach hatte er in der That nun den Gang gethan, von dem es keine Rückkehr gab. Die engen vier Kerkerwände, in denen er jetzt hauste, bei harter zwölfstündiger Tagesarbeit, bei grober, reizloser Kost, abgeschieden von aller menschlichen Gesellschaft, waren bestimmt, einst Zeugen seines Sterbens zu sein. Wie lang dauerte es noch bis dahin? Niemand konnte das sagen.
Gras und Blumen schüttete der milde Frühling aus über die Gräber des ermordeten Wolf, des Fleischers Karl Bahring. Noch viel enger und stiller waren die vier Wände, in denen sie lagen, als die Zelle Josua King’s. Es gab nur wenige Menschen im Städtchen, welche nun an der Schuld King’s noch zweifelten, nur wenige, welche nicht gegrollt und gemurrt hatten, als die Kunde durchs Land ging, Josua King werde nicht hingerichtet, er sei zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe begnadigt.
Die allgemeine Aufregung über diese Kunde ging im Städtchen um so tiefer, als gleichzeitig das Gerücht sich verbreitete, daß der Bürgermeister des Städtchens Alles aufgeboten habe, um in der Residenz die Begnadigung des Mörders durchzusetzen, und daß die Verwandelung der Todesstrafe in Zuchthaus hauptsächlich ihm zuzuschreiben sei. In einer schwachen Stunde beim Wein sollte der Bürgermeister sich dieses Erfolges selbst gerühmt haben, theils um das Gewicht seiner Beziehungen zu den höchsten Kreisen der Residenz zu erweisen, theils um den Amtsrichter zu demüthigen; denn der Bürgermeister behauptete, Kern habe auf Erfordern des Justizministers sein Gutachten für Vollstreckung des Todesurtheils abgegeben. Man habe in der Residenz gelächelt über diesen Beweis human-liberaler Gesinnung des liberalen Herrn Amtsrichters.
Sehr bitter hatte sich Kern in seinem Kreise geäußert, als diese Gerüchte ihm glaubhaft zugetragen wurden.
[656] „Das nennt man landesherrliche Gnade!“ hatte er gerufen. „Wenn Serenissimus mit seinem guten, wohlwollenden Herzen doch wüßte, auf wessen Eingebung oft seines hohen Amtes Gnade und Ungnade geübt wird!“
Der Bürgermeister ließ sich den Umstand, daß die Bürgerschaft in dieser Frage gegen ihn auf Seiten des Richters stand, wenig kümmern; er begegnete der öffentlichen Aufregung und Mißbilligung gleichgültig und hochmüthig. Er mußte übrigens in der Residenz sehr gut angeschrieben stehen; denn eines Tages, als das amtliche Blatt die landesfürstlichen Ernennungen zur ersten Kammer veröffentlichte, stand auch der Name des Bürgermeisters darunter. Nun brachte er viele Monate des Jahres in der Residenz zu. Denn er war einer der wenigen Arbeiter in der hohen Pairskammer des kleinen Fürstenthums. Ein paar Prinzen, einige arme stiftsbürtige Adelige, ein halbes Dutzend Rittergutsbesitzer, die Bürgermeister der größeren Städte und was an höheren Geistlichen im Lande aufzubringen war, das bildete zusammen das Haus der Lords in diesem engen deutschen Vaterlande.
„Mit Respect zu melden,“ pflegte der Amtsrichter Kern immer zu sagen, wenn er von der ersten Kammer seines „Staates“ sprach.
Schließlich, nach dem Verlaufe einiger Jahre, verschwand der Herr Bürgermeister ganz aus dem Städtchen und tauchte als Geheimer Rath im Ministerium der Justiz in der Residenz wieder auf. Man sagte, daß er hauptsächlich die Personalsachen bearbeite.
„Dazu hat er ausgezeichnetes Geschick,“ erklärte Kern.
Der gesammte jüngere Richterstand zeichnete sich bald durch blinde Unterwürfigkeit unter die politischen Ansichten und Tendenzen der Regierung aus, und das Princip der Anciennetät wurde zum alten Eisen der Staatsrumpelkammer geworfen. Die „Brauchbarkeit“ des Beamten bildete den alleinigen Maßstab für die Schnelligkeit seines Vorwärtskommens. Was „brauchbar“ sei, entschied in jedem einzelnen Fälle der Geheime Rath, der früher Bürgermeister in dem Städtchen gewesen. Kern war nicht brauchbar. Er blieb jahraus jahrein Amtsrichter in dem Städtchen.
Der schreibende Telegraph von E. A. Cowper. Vor einer Reihe von Jahren producirte sich in Berlin und anderwärts „die geheimnisvolle Hand“, eine auf einer Glasplatte liegende Wachshand, welche auf einem untergelegten Stück Papier schriftlich allerlei Fragen beantwortete, die man ihr vorlegte. Das war natürlich ein sogenannter Pseudo-Automat, bei welchem irgend eine Täuschung unterlief, wahrscheinlich, indem Jemand mit einem starken Elektromagneten unterhalb der Glasplatte die Feder leitete. Nun hat der englische Ingenieur E. A. Cowper vor einigen Monaten wirklich einen Apparat construirt, bei welchem eine Feder, wie von Geisterhand bewegt, in den Originalzügen wiedergiebt, was Jemand, der viele Meilen entfernt sein kann, gleichzeitig an einem anderen Orte niederschreibt. Man darf diese geistreiche Construction nicht verwechseln mit dem Bain-Caselli’schen schreibenden und zeichnenden Telegraphen, von welchem im Jahrgange 1877, Seite 48 die Rede war, und welcher das Papier mit engen, farbigen Parallellinien überzieht, in denen die Striche der Schrift oder Zeichnung weiß bleiben, als wären sie aus der Schraffirung herausgekerbt; der Cowper’sche Telegraph hingegen schreibt wie ein Mensch, und ebenso deutlich, schnell, kalli- und orthographisch wie der viele Meilen entfernte Correspondent.
Da es zu schwierig und umständlich sein würde, den ganzen Mechanismus zu beschreiben, so müssen wir uns hier mit dem Versuche begnügen, dem Leser eine Vorstellung zu geben, wie dieses Wunder erreicht wird. Jedes kleine Stück einer krummen Linie läßt sich als gerade Linie betrachten, die Fortbewegung in dieser aber läßt sich durch eine entsprechende Fortbewegung in den beiden zusammenstoßenden Seiten eines Rechtecks ersetzen, dem jene gerade Linie als Diagonale zugehört. Die von der menschlichen Hand in Bewegung gesetzte Feder dient direkt als Absender von zweierlei durch die Schriftzüge modificirten Strömen, die in zwei Leitungen nach der andern Station gehen, und dort die Feder in der sich fortwährend ändernden Diagonale ihrer eigenen beiderseitigen Schwankungen fortbewegen. Man denke sich zwei Knaben, die, rechtwinklig aus einander laufend, an zwei Strippen eine kleine Karre ziehen, die sich stets in der Diagonale fortbewegt, und deren Rad sie mächtige Buchstaben im Sande beschreiben lassen. Diese beiden Knaben wurden den Zugkräften der beiden Stromleitungen entsprechen, welche die Feder der Empfangsstation leiten. Man würde durch diesen Telegraphen Dokumente von abwesenden Personen unterzeichnen und beglaubigen lassen können, deren Vollzug unter den Augen der anderen Partei stattfände.
Berichtigung. Unter Anknüpfung an unsern Artikel „Anstalten für geistig zurückgebliebene und schwachsinnige Kinder“ (Blätter und Blüthen Nr. 34) theilen wir mit, daß Herr Anstaltslehrer E. Reichelt in Hubertusburg in Sachsen nicht Lehrerinnen auszubilden, sondern nur einige schwachsinnige Kinder in seine Familie als Pensionäre aufzunehmen bereit ist.
Pfarrer M. in L. Ihr Gemeinde-Kirchenrath beabsichtigt, um den sehr störenden Widerhall in Ihrer neuen Kirche zu brechen, durch den oberen Raum derselben Fäden hin und her zu ziehen, und Sie fragen uns, ob dieses Mittel helfen könne? Da die beste Auskunft in solchen Fällen, die Drapirung der Wände mit weichen Stoffen, in Ihrem Falle nicht durchführbar sein wird, so wäre jenes Mittel immerhin in Anwendung zu bringen, und zwar mit recht vielen schwarzen (weil am wenigsten sichtbaren) kreuz und quer gezogenen Fäden. Mitunter sollen solche Versuche von gutem Erfolge gewesen sein. Wir können Ihnen wenigstens einige ermuthigende und seltsame Beobachtungen in dieser Richtung mittheilen. Im Jahre 1851 beobachtete der französische Physiker Baudimont, daß es neben manchen Eisengittern, wie sie so häufig zur Einfassung von Gärten und Grundstücken angewendet werden, fast unmöglich ist, eine Peitsche zum Knallen zu bringen. Ein niedriges Gitter auf dem Pont des St. Pères in Paris verschluckte den Knall in Folge der verschiedenen Reflexionen an den Stäben vollständig; an andern Gittern hörte er statt des kurzen Knalls ein langes eigenthümliches Zischen. (Poggendorff’s Annalen der Physik, Band 84, 1851.) Vielleicht haben die vielen Eisengitter, welche in katholischen Kirchen Hochaltar und Seitencapellen abzuschließen pflegen, einen ähnlichen Nebennutzen, und ebenso günstig wirken die vielen Bildrahmem Kronleuchter, Schreine etc. alter Kirchen, überhaupt Alles, was die Gleichmäßigkeit der Wandflächen unterbricht und die Luft zertheilt. Was jenes Zischen betrifft, so ist es ein musikalischer Ton, der von den einzelnen Reflexionen der Stäbe hervorgebracht wird, und der Physiker Oppel bemerkte, daß ein auf einer Gitterbrücke bei Frankfurt am Main abgeschossenes Gewehr einen überaus schrillen musikalischen Ton hervorbrachte, der sich in ein tiefes Gemurmel, wie Stimmengeflüster, verlor. (Poggendorff’s Annalen, Band 95, 1855.) Alles das spricht entschieden für den Nutzen der Fäden, und es wäre unbedingt gerathen, einen Versuch vielleicht mit einem vollständigen, weitmaschigen Netze zu machen. In einer Berliner Kirche hat man aus ähnlichen Gründen die Kuppel durch eine häßliche, horizontal aufgespannte Leinwand abgeschlossen. In einem beinah unsichtbaren Netze dürfte sich der Widerhall ebenso gut fangen lassen.
Karl Br. in Halver. Wir rathen Ihnen entschieden von Ihrem Vorhaben ab.
A. Z. in Halle. Ja!
A. C-ld. Ungeeignet! Ihren Briefen fehlt die Angabe Ihrer Adresse. Melden Sie diese gefälligst zur Rückgabe des Manuskripts!
Junge Abonnentin in Düsseldorf. Die gewünschte Adresse lautet: Leipzig, Sidonienstraße 57.
Außer der Fortsetzung der Criminalnovelle „Aus vergessenen Acten“ von Hans Blum liegen für das vierte Quartal die bereits angekündigten Novellen
sowie einige kleinere Erzählungen vor, darunter eine anmuthige Skizze „Unter’m Schloß“ von W. Heimburg, der Verfasserin der mit so vielem Beifall aufgenommenen Novelle „Lumpenmüllers Lieschen“. Außerdem werden wir fortfahren, unsern Lesern eine bunte Reihe belehrender und unterhaltender Artikel verschiedensten Inhalts zu bieten.
- ↑ Herr Ruskin, ein Miß Hill befreundeter Herr, gab derselben 3000 Pfund Sterling (etwa 60,000 Mark) zum Ankauf dreier Häuser, welche neben dem ihr gehörenden Grundstück lagen und welche 30 bis 40 Arbeiterwohnungen enthielten. Miß Hill vermiethete, um den Armen mehr gute Luft zu schaffen, zwei Zimmer für 4½ Schillinge (4½ Mark) wöchentlich, während man an anderen Orten 4 Schillinge für ein Zimmer zahlen mußte. Als die segensvollen Resultate, welche Miß Hill erreicht, offenbar vor Augen lagen, kaufte die Gräfin Ducie sechs Häuser, eine andere Dame fünf und Beide stellten sie unter die Obhut von Miß Hill, welche nun unter den ihr befreundeten Damen sich Gehülfinnen erwählte.