Die Gartenlaube (1882)/Heft 35

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1882
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 35.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Der Krieg um die Haube.
Von Stefanie Keyser.
(Fortsetzung.)

Staub wirbelte auf, und die Nürnberger sprengten heran. Sie waren schön anzusehen, mit Arm- und Beinschienen, Harnisch und Stahlhaube gerüstet, in köstlichen Kleidern von Sammet und Seide, mit atlasnen Borten vergittert, mit Fransen verbrämt. Die Rosse prunkten im Erzpanzer mit stählernen Stirnen. Und hinter jeglichem Herrn ritt ein Gefolge von Knechten in seinen Farben und ein Bube mit der Fahne.

Nun stiegen die zur Begrüßung Erwählten von ihren Pferden und gingen dem Erzherzog entgegen, der seine Handschuhe auszog und ihnen die Hände reichte.

Der Blick des lustigen Rathes glitt durch ihre Reihen. An den Zügen der älteren Herren blieb er haften; es lag etwas wie scheue Sorge in seinem Gesichte. Als aber aller Augen gleichgültig über ihn hinglitten, athmete er auf. Er lächelte, da er vernahm, wie dem hochmögenden Herrn Muffel die Stimme bebte, als er in langer Rede die Einladung in die Stadt sprach.

„Gleicht die Durchläuchtigkeit nicht dem Maxel, seinem Großvater?“ flüsterte es hinter ihm.

Er wandte sich um. War das nicht der Wilibald Pirkheimer, der Rath des in Gott ruhenden Kaisers Maximilian? Aber wer war der Greis neben ihm, der mit Rührung auf den Erzherzog blickte?

Er nickte dem Fragenden zu und antwortete:

„Die gebogene Nase, das freundliche Auge hat er von ihm, und auch die starke Lippe.“

An dem Tone erkannte der lustige Rath den Probst Pfinzing, der mit dem verstorbenen Kaiser den Teuerdank gedichtet hatte. Er hatte ihn vor Augen als einen noch rüstigen Mann. Wie schnell die Menschen doch alt werden!

Dicht neben sich hörte er flüstern:

„Der soll lustiger Rath sein? Schaut ja aus wie eine arme Seele, die irre geht.“

Er raffte sich auf.

Jetzt schmetterten die Trompeten; die Nürnberger Reiterschaar schwenkte rasselnd ab und gab den Weg frei.

Da war das Feldgeschütz aufgefahren. Ein Commando erschallte: die Nachtigallen und Singerinnen, wie die größten Geschütze genannt wurden, die Nothschlangen und Falkonetlein donnerten dem fürstlichen Gast ihren Gruß entgegen. Und dahinter stand die wehrhafte Bürgerschaft der freien Stadt in gevierter Schlachtordnung mit gesenktem Spieß, einen ungeheuren Würfel bildend.

Der Erzherzog winkte überall hin dankend mit der Hand.

Der Narr spähte zu den Feldgeschützen hinüber. Nein! Hinter dem berühmten Basilisk stand nicht mehr der alte Konz. Ein junger Büchsenmeister trug den weißen Wappenrock, der mit gemaltem Andreas-Kreuz und Feuereisen geziert war, und hielt die brennende Lunte.

Aber der Thurm des Frauenthores vor ihm war noch der alte trotzige, wenn auch jetzt ein Büschel Fahnen lustig von seinen Zinnen herabwallte. Wehmüthig schaute der Narr zu ihm hinauf. Das Herz wurde ihm weit, und er flüsterte: „Daheim in Altnürnberg.“

Da stockte der Zug. Der lustige Rath schaute um sich. Er sah, wie die Bürger, die, vor dem Erzherzog einziehend, Spalier bilden sollten, sich zu einem Knäuel verwickelten; er hörte, wie die Lebküchler und Spielzeugmacher um den Vorrang stritten und welche Mühe der kriegskundige Tylmann von Prem hatte, ehe er den ungefügen Haufen wieder in eine richtige Ziehordnung brachte. Der lustige Rath fühlte, wie das Herz sich ihm wieder eng zusammenzog, und als endlich die ehrsamen Meister in ihren funkelnagelneuen geschlitzten und gepufften Wämsern gassenbreit fürbaß wankten, sprach er in beißendem Spott für sich:

„Der Kastengeist ist auch noch derselbe wie ehedem daheim in Altnürnberg.“

Zinken, Posaunen, Kesseltrommeln spielten und übertönten das Getrappel der Hufe auf dem Balkenwerk der Zugbrücke, die über den tiefen Graben führte.

Durch eine hohe Ehrenpforte, die zwei Thürme krönten, schaute der Erzherzog in die festliche Stadt hinein, und es war ihm nicht zu verdenken, daß er einen Augenblick sein Rößlein anhielt, um sich an dem Bilde zu ergötzen. Eng wand sich die Straße dahin; ein vorspringender Erker, mit grünen Tannenkränzen behangen, ein geharnischtes unter spitzem Dach hervortretendes Ritterbild mit einer grünen Maie in der Hand schien sie hier und da gänzlich zu versperren. Doch so weit das Auge reichte, bildeten an beiden Seiten Gilden mit ihren Fahnen, Bürger mit Eisenhelm und Stachelpiken ein lebendiges Spalier für die einziehenden Gäste. Der Erzherzog aber wandte das Haupt über die Diensteifrigen hinweg nach den mit grünen Zweigen besteckten Laubengängen, wo sich die Häubchen der Bürgermädchen neben einander drängten, und hinauf nach den mit Blumengewinden geschmückten Fenstern der hohen Patricierhäuser, in denen bis unter die abgestuften Giebel glitzernde Mieder, wehende Schleier sichtbar waren.

„Giebt’s viele schöne Frauen in Nürnberg?“ fragte er den Probst Pfinzing.

[570] „Vor allen Dingen wird’s viele Stürze geben,“ antwortete der lustige Rath dazwischen.

Der Dichter nickte lachend.

„Ist das Pflaster so halsbrechend?“ meinten die Einreitenden.

Der Narr antwortete nicht. Sein Auge flog die Straße entlang. Es war gut, daß sein Füchslein so sicher schritt; denn die zitternde Hand des Reiters hätte es wohl nimmer zu lenken vermocht. Einmal nestelte er an seinem Wams, als sei es ihm zu eng. Ein andermal nickte er einem Franziskanermönch zu, der alt und gebückt und doch neugierig am Wege stand, aber der schaute schier verdrüßlich drein, als er die Würde des Grüßenden erfragt hatte.

„Wer wohnt in dem braunen Haus, das so schmal und windschief sich in die Gassenecke drückt?“ fragte der lustige Rath fast athemlos.

„In der alten Baracke? Kleine Leute; wer kennt sie?“

„Und wo ist der Thurm hin, der sonst hier an der Pegnitz stand? Im obern Stock war eine Tandelbude, wo es die schönsten Berluppungen gab.“

„Ist bei einem Sturm über den Haufen geschossen.“

Der Erzherzog schaute indessen eifrig um sich.

Jetzt kamen sie an das Imhofische Eckthürmchen. Die alte Imhofin lag im Fenster und winkte, wie ihr befohlen war, mit dem Facinetlein. Von all den Erlebnissen aus dem Gleichgewicht gebracht, hatte sie den Schleier des Sturzes nur lose geschlungen, so daß sich ihr würdiges Gesicht darin zeigte, wie in einem Hasenring hängend. Die Blicke der Herren glitten über sie hinweg zu der schlanken Mädchengestalt, die im Hintergrund stand.

Dem Wilhalm Haller aber wurde es heiß unter seiner Rüstung von blauem mit Gold eingelegtem Stahl, als er die begehrlichen Blicke der Gäste gewahrte, und er war froh, als nur Elsbeth’s blaue Augen aus dem Sturz herniederschauten. Er war in diesem Augenblicke dem altfränkischen Kopfputz von Herzen dankbar.

Die Imhofin sprach:

„Wenn i nur wüßt’, warum der Wilhalm jetzt allzeit mit den Augen herauf witscht. Ich denk’, er mag Dich nimmer.“

Elsbeth blieb die Antwort schuldig und zog sich vor den dreisten Blicken der Fremden noch mehr zurück.

Ueber den Herrenmarkt ging der Zug. Der Erzherzog blickte überrascht auf. Gerade über ihm schwebte ein sieghafter Adler mit einem Lorbeerkranz in den Klauen. Er hing an einer Schnur aus grünen Tannenzweigen, in welche abconterfeite Granatäpfel, Pomeranzen, Melonen, Feigen und Kürbisse gebunden waren.

Und da, wo das eine Ende an dem Fenster eines Chörleins befestigt war, zeigte sich, nachdem man bisher nur Frauenköpfe mit Stürzen gesehen, zum ersten Mal ein liebliches Frauenantlitz, vom Schleier nur leicht umweht, so daß man eine weiße Stirn, ein feines Näschen, rosige Wangen und, wenn der Frühlingswind ein wenig keck war, auch das schelmische Tüpflein im Kinn erschauen konnte.

„Wer wohnt in dem Hause mit dem welschen Feston?“ fragte der Erzherzog leise seinen lustigen Rath.

„Es ist das Rotmundische,“ entgegnete der wie aus einem Traum auffahrend.

Der Erzherzog lächelte.

„Rotmund? Auch der Name ist schön“ Und er blickte noch einmal hinauf. Aber im selben Augenblicke winkte der husarisch gekleidete Herr Rotmund grüßend mit seinem Fähnlein. Da verschwand Alles im Sturz; nur zwei Augen funkelten heraus wie die eines lauernden Kätzleins.

Schmetternde Fanfaren tönten von Rathhaus herab. Vor St. Sebaldus stimmte die Schuljugend das Te deum laudanus an; der Erzherzog neigte sich tief vor der offnen Kirche, und unter Sang und Klang, lustigem Spiel und lautem Zuruf des Volkes bewegte der Zug sich zur Veste hinan.

Nur der lustige Rath blieb zurück, während die Gäste durch das Thor einritten. Er hatte das Haupt hinüber nach dem Panierberg gewandt. Dort stieg über niedrigen Dächern ein dunkler Giebel empor, dessen Stufen sich scharf vom Himmel abhoben, als führten sie geradewegs in die lichte Bläue hinein. Seine Augen blickten so abwesend dorthin, als, sei er seelenallein.

„Bleibt in der Reihe, Narr!“ rief ein junger welscher Bischof. Feine Röthe schoß in die Stirn des Graukopfs. Er drückte die Faust zusammen, dann lachte er grell auf.

„Seid ohne Sorgen! Die Narrheit verläuft sich nicht weit von Euch weg,“ sagte er.

Aber er rührte sich nicht. Unbeweglich hielt er noch vor der Burg, als schon der Nachtrab verschwunden war und das Volk sich allmählich verlief. Ihm war zum Sterben weh.

Da sagte neben ihm eine klare Stimme, der man anhörte, daß sie beim Donner der Geschütze zu commandiren gewohnt war:

„Hätten wir solche Waffen in Preußen gehabt, wir würden uns wohl die doppelzüngigen Polen vom Halse geschafft haben.“

Der lustige Rath wandte sich um.

Bei den Hakenschützen, die am Eingang Wachtdienst thaten, hielt der Markgraf Albrecht von Brandenburg, der Hochmeister des deutschen Ordens. Er prüfte die Büchse mit dem neuen Radschloß.

„Es ist eine gefährlichere Waffe als unsere alte Armbrust,“ warnte der Söldner.

Der Markgraf erhob sich stolz auf seinem Pferde, in dessen Satteldecke der rothe Adler gestickt war.

„Gefährlich ist alles Neue, das eine große Kraft in sich trägt. Aber wer ein Recht auf die Zukunft haben will, muß bei Allem im Vordertreffen seiner Zeit stehen und in seinen Dienst nehmen, was neu und kräftig emporkeimt, sei es eine Empfindung wie diese tödtliche Waffe, oder sei es,“ fuhr er mit gedämpfter Stimme, zum lustigen Rath gewendet, fort, „ein neuer Glaube.“

Ein einverständnißvoller Blick wurde zwischen beiden getauscht. Dann athmete der Narr tief auf, als wälze er eine Centnerlast von seiner Seele, und antwortete mit tiefernster Stimme:

„Den neuen Glauben zwingt Ihr nicht in Euren Dienst. Er ist kommen als ein Befreier zu den Gebundenen und Armen, ihre Fesseln zu erleichtern, und die Fürsten und Gebieter werden sich selbst zu seinen streitbaren Dienern machen.“

Dann folgte auch er dem Markgrafen in die Burg. – –

Als der Abend dämmerte, spähte Frau Rotmundin aus ihrem Chörlein die Straße entlang, ob ihr Eheherr noch immer nicht vom Bankett auf der Burg heimkomme. Endlich tauchten Fackeln und Laternen auf, wankende Gestalten geleitend.

„Unsre Herren sind allzumal wohl bezecht,“ kicherte sie. „Selbst der Haller hat seine würdevolle Haltung aufgegeben. Er schwankt gleiche inem Irrwisch hin und her. Horch! Was singt er für ein Liedlein?“

Sie legte die Hand an’s Ohr.

„Schein uns, du liebe Sonne, gieb nun einen hellen Schein,
Schein uns zwei Lieb zusammen, ei, die gern bei einander sein!“

klang Wilhalm’s Stimme herauf. Er sah dabei die Straße entlang nach der Gegend des Imhofischen Hauses.

„Wirst Du zahm, brauner Falke?“ flüsterte die Rotmundin. „Die Els muß sich doch meine Lehren hinter die Ohren geschrieben haben.“

„Nun Herr Rotmund?“ lachte sie ihrem vorsichtig über die Schwelle schreitenden Eheherrn entgegen. „Seid Ihr brav gewesen? Ihr steigt einher wie der Storch im Lattich.“

Der Rotmund war ob des Empfanges sehr erfreut.

„Gute Botschaft!“ rief er mit schwerer Zunge und desto lauterer Stimme. „Uebermorgen ist ein Geschlechtertanz auf dem Rathhaus. Seine fürstliche Durchläuchtigkeit wünscht solches, und was sie wünscht, geschieht unweigerlich,“ schloß er fast drohend.

„Ich meine, Ihr seid Bürger einer freien Reichsstadt und braucht nicht zu gehorchen,“ sagte sie nachlässig.

„Liebes Weib, das verstehst' Du nicht,“ entgegnete er hochfahrend. „Der Kaiser ist über uns Allen, und die Durchläuchtigkeit ist sein Bruder. Aber ängstige Dich nicht vor ihm! Ich will Dir mit Rath und That beistehen, wenn Du zum ersten Mal solch fürnehmem Herrn begegnest.“ Sie lachte hell auf:

„Sorgt Euch nicht! Vor solch schönem fürstlichem Herrn fürchtet sich kein Weib.“ Herr Rotmund stutzte:

„Ach was! Er hat die habsburgische Schlarpel,“ sagte er wegwerfend und ahmte die starke Unterlippe des Erzherzogs nach.

„Die Schlarpel gefällt mir gerade,“ stritt sie trotzig.

Das schoß dem Rotmund vor den Kopf.

„Es braucht Dir nichts und Niemand zu gefallen außer Deinem Eheherrn,“ sagte er grimmig.

„Wie wollt Ihr's verhindern?“ lachte sie. „Eia der ritterliche Herr! Eia das goldbraune Rößlein!“ Neckisch gaukelte sie auf und ab.

Herr Rotmund wollte sie umfassen, stolperte und setzte sich [571] auf die standhafte Ofenbank; es gelang ihm nicht, sich wieder zu erheben. Bald schnarchte er, wie wenn zehn Lastwagen rasselten. Frau Rotmundin aber stand vor ihm und warf spöttisch ihren hübschen Mund auf. Der scharlachne, vielfach geschlitzte und gepuffte Rock trug die Spuren der Kalkwände, an die er sich gestützt hatte, und die husarischen Stiefel hatten einen Sporn und eine Quaste im Sturm und Drang des Tages eingebüßt.

„Ich weiß nit,“ murmelte sie, „was mit dem Franzel itzunder ist. Entweder ist er aufstutzig wie ein Bock, oder er liegt und schnarcht. Wenn ihn nur nicht der Tropf noch rührt!“ Sie rief mit einem Pfeifchen ihre Magd herbei. „Der Hinz und der Kunz sollen den Herrn Rotmund aus sein Faulbett tragen. – Hast Du zur großen Messe morgen in der Frauenkirche den häßlichsten Sturz ausgesucht?“

Die Gürtelmagd nickte bedenklich.

„Ja, Frau Rotmundin, es ist ein wahres Scheusal.“

Schon recht, Kathrin! Wir wollen ruhig schlafen und uns was Gutes träumen lassen.“ – – –

Am andern Morgen war in der Frauenkirche zur Messe versammelt, was nur Platz darin finden konnte, und der Erzherzog wohnte der Feier mit seinem Gefolge bei. Das Gotteshaus schaute festlich aus, prächtig zubereitet mit Teppichen, Blumen und Kerzen; die Kantorei stimmte einen Lobgesang an, und die Stadtpfeifer pfiffen; fast ununterbrochen schwangen die Ministranten ihre Weihrauchbecken, die bunten seidnen Gewänder der Geistlichen rauschten, während sie eilfertig knixend den Hochaltar umschritten; rasches Schellen ertönte dazwischen.

Der lustige Rath, der an einem der hohen Pfeiler lehnte, flüsterte leise in sich hinein:

„Sputet Euch nur! Bruder Martin überholt Euch doch.“

In den kurzen Pausen, die zwischen den Theilen der Messe lagen, flog das Auge des jungen Fürsten über die Frauenstühle dahin, aber es kehrte stets, wie verletzt, zu dem mit schönen bunten Initialen verzierten Gebetbuche zurück. Auch den Rathsherren stieg das Blut zu Häupten wenn sie auf ihre verhüllten Ehehälften blickten. So abschreckend war ihnen ihr Kopfschmuck noch nie erschienen; schier dräuend schauten sie auf dem schmalen Spalt heraus, wie die Streiter beim Gottesgericht aus dem zugeschraubten Visir.

Als die Messe zu Ende war, erhob sich der Erzherzog; er blickte unwillig die Kirche entlang, aus welcher die Frauen mit ihren unförmlichen Hauben wie eitel Nebelgespenster abzogen.

Auch der Stadtschultheiß bemerkte die Falte aus seiner Stirn und fragte in tiefster Unterthänigkeit, ob die Cantorei nicht schön gesungen, die Stadtpfeifer nicht brav gepfiffen hätten.

Der Erzherzog neigte anerkennend das Haupt.

„Aber wir haben keine Frauen gesehen,“ sagte er dann und warf schmollend das Schlarpel auf.

Während er zum Hochaltar schritt, zu welchem eben die Geistlichkeit die goldne Truhe geleitete, in der die Reichskleinodien bewahrt wurden, durchlief des erlauchten Gastes Rede den Kreis der Rathsherren; sie steckten erschrocken die Köpfe zusammen.

Aber Herr Rotmund meinte trotzig:

„Soll es unsren Frauen ergehen wie den prängischen Augsburgerinnen nach dem Reichstage, allwo sie mit den fürstlichen Herren Liebäugeln, Händedrücken und Fußtreten so lange geübt haben, bis sie in das allgemeine Geschrei gekommen sind?“

Der Pfinzing lachte.

„Der Ferdinandus ist ganz wie der Maxel,“ sagte er, und sie folgten dem jungen Fürsten nach.

Sie kamen gerade noch recht, um das Knie vor den Heiligthümern zu beugen. Der Nagel, der Spahn, die Lanze vom Kreuz des Herrn, ein Stück von der Krippe Christi, die Glieder der Ketten, mit denen Petrus, Paulus, Johannes einst gefesselt waren – all diese heiligen Dinge wurden dem Behältniß entnommen, dann Schwert, Scepter und Kleider Karl’s des Großen und zuletzt des Reiches Krone.

Alle Häupter neigten sich vor ihr; nur der Narr starte regungslos darauf hin.

„Sie könnte setzt auf dem Haupt des Sachsen ruhen,“ sprach er, und es klang Bitterkeit in seiner Stimme. „Ob wohl die rothen Strümpfe dann auch so geruhig täglich aus die Falkenbeize ritten?“ Er warf einen Blick nach dem Cardinal und Erzbischof.

„Er hat sich selbst zu schwach befunden,“ bemerkte geringschätzig der Markgraf Albrecht von Preußen.

„Vielleicht hat er das alte Sprüchwort umgekehrt,“ lachte der Narr, „und gedacht: besser keine Kopfbedeckung als ein Wespennest auf dem Haupt.“

Der Hohenzoller richtete sich auf:

„Ich wollte den Wespen schon ein Weisel sein, und die Krone wollte ich festhalten, daß sie Keiner mir vom Haupte zu reißen wagte; sie sollte strahlen vor allen Kronen der Erde.“

Der Erzherzog hörte nicht. Er schaute zwischen den Kniebeugungen durch die hohen Fenster nach dem Chörlein hinüber, in das sich die Rotmundin gelegt hatte. Der Sturz saß jetzt wieder ganz leicht auf dem hellbraunen Gelock, und der junge Fürst meinte, bis hierher ihre Perlenzähnchen blitzen zu sehen.

Er verweilte nicht länger, als nöthig war, bei den Heiligthümern. Doch gelangte er nur mühsam zu seinem Roß; denn vor der Kirchthür drängte sich ein dichter Volkshaufen um einen Mönch, der auf einem Stein stand, und da die Herren vorüber schritten, hörten sie ihn schreien:

„Versäumet nicht Eure Seligkeit! So lange die Welt steht, werdet Ihr nie wieder um so gering Geld Vergebung Eurer Sünden finden. Eurer Andacht und der hohen Festtage wegen sollt Ihr die Ablaßbriefe nicht so theuer erkaufen denn anher, und die Armen sollen selbige ohne Geld erhalten um Gotteswillen und aus des Herrn Papstes eignen Befehl.“

„Die heiligen Diebe haben von den Marktweibern erlernt, die faulen Eier umsonst zuzugeben,“ sprach der Narr.

„Treibt die Ketzerei nicht zu weit,“ dräute der Erzbischof.

Aber der Erzherzog sagte ungeduldig:

„Unser lustiger Rath soll reden, was er will.“

Der hohe Herr wünschte jeglichem Streit zuvorzukommen; denn er hatte jetzt vollauf zu thun. Zuerst mußte er sich mit aller spanischen Grandezza auf seinen braunen Hengst schwingen, dann ihn steigen lassen unter dem Chörlein, und als das stattliche Thier auf den Hinterfüßen stand, kam das Hauptstück: er warf einen Blick zu Frau Rotmundin hinauf, so feurig, daß der heilige Florian, der Schützer vor Feuersgefahr, jetzt am Chörlein sehr vonnöthen gewesen wäre.

Aber wenn die Durchläuchtigkeit glaubte, daß die Rotmundin etwas so Anmuthiges noch nie gesehen habe, irrte sie sich. Frau Rotmundin war so in Augsburg gewesen. Als das wohlgestalte spanische Roß stieg, führte sie ihr Balsambüchslein an ihr Näslein und machte eine erschrockene Gebehrde. Und da der Erzherzog das Pferd nun zügelte und mit trostreichem Lächeln hinauf sah, athmete sie merkbar auf und drückte ihre Hand auf das Herz.

Es war eine auserlesene feine Komödie, bei welcher Herr Rotmund beinahe blutigen Schweiß schwitzte. – –

Schon webte die Dämmerung des Frühlingsabends in den Straßen, als die kunstfertigen Meister von Nürnberg ihre Läden schlossen und plaudernd unter die Laubengänge traten. Sie schauten neugierig nach, wenn auf den Schrittsteinen ein Diener in den Farben der fremden Gäste seinem Herrn mit dem Windlichte voranleuchtete, bis beide, Herr und Diener, in einem Patricierhause oder in einer der vielen Trinkstuben verschwanden, aus denen der Glanz der Wachskerzen hell auf die Straße herausstrahlte.

„Da kommt der Herr von Salamanca, ein finster blickender Mann,“ rief ein Meister. „Sein schwarzes Haar ist ihm wie eine Lanzenspitze in die Stirn gewachsen.“

„Für den hat mir heute der lustige Rath meine neueste Erfindung abgekauft, so ich Blasebalg genannt habe,“ sagte der Windkünstler Lobsinger. „Ich habe ihn gemacht, das Feuer damit anzublasen. Er hat zwo Flüglein als Handgriffe und einen Schnabel. Auf dem Rücken hab’ ich ihm das Wort geschrieben: ,Alles was Odem hat, lobe den Herrn!‘ Der Narr hat gemeint: ,Es ist alles Wind: Lieb’, Treu und Hoffnung. Der Wind ist ein Hauch, der verweht, und auch das Leben.‘ Dann gab er das Instrumentlein dem Herrn aus Hispania und sprach: ‚Möchte wohl bei den Autodafés anzuwenden sein, das bös Feuer anzublasen.‘“

„Mir hat der lustige Rath eine Brille in Leder gefaßt abgekauft, wie ich solche erfand,“ kicherte ein Anderer. „Er hat sie dem Rotmund verehrt und dabei gesprochen: ‚Eines von den tausend Augen des Argus, wohl geschaffen, ein schön Weib zu bewachen‘.“

„Bei mir hat er einen lebzeltnen Reiter erstanden mit Schwert und Lanze,“ erzählte ein Pfefferküchler. „Er hielt ihn dem Markgrafen Albrecht von Brandenburg hin und meinte: ,Ein [572] Reiter, so standhaft wie die Söldnerschaaren der Reichsstände, auf die Ihr droben in Thorn gewartet habt.‘ Und damit brach er ihn mitten entzwei.“

„Ja, er reißt über Alles seine Possen und darf sich jede Neckerei erlauben,“ nickten die Meister. „Der Erzherzog schützt und hegt ihn. Muß ein wahres Herzenslabsal sein, einen Mann um sich zu haben, der Alles auf die leichte Achsel nimmt.“

(Fortsetzung folgt.)





Nürnberg und die baierische Landesausstellung.

Von Karl Braun-Wiesbaden. Mit Abbildungen von Prof. Rudolf Geißler.


Es war am Sonnabend vor Pfingsten 1882, als ich früh vor vier Uhr in Nürnberg einfuhr, um die Ausstellung zu sehen.

Bilder aus der baierischen Landesausstellung in Nürnberg:
Das Hauptgebäude.

Noch war es nicht ganz helle, und der Dämmerschein hatte eine blaugraue Hülle um die Gebäude geschlungen, in welchen und um welche eine geradezu unheimliche Stille herrschte, als ob die ganze Stadt ausgestorben wäre. Vor zwanzig, dreißig Jahren hatte ich öfters hier verweilt. Ich erkannte die einzelnen Häuser wieder. Dort der halb verwitterte dunkle Stein-Riese mit dem hohen zweifachen Giebel und der Pechnase über dem Eingangsthor – sollte ich den denn nicht kennen?

„Guten Morgen, altes Haus!“ rief ich ihm zu.

„Guten Morgen, mein alter Junge!“ scholl es zurück. „Wie geht es? Bist inzwischen hübsch grau geworden.“

„Und Du schwarz.“

„Soll aber uns Beiden nichts schaden. Ich weiß noch von damals: Deine Constitution ist gut und die meine noch besser.“

„Ja, es ist lange her, daß wir uns nicht gesehen haben, wohl zwanzig Jahre.“

„Ist Deine Schuld, mein alter Junge; Du kannst zu mir kommen, aber ich nicht zu Dir. Wo hast Du denn gesteckt die Zeit über?“

Ich nannte verschiedene Länder im deutschen Osten und Norden. Da zog das alte Haus sein breites Thor, das nun wie ein Mund aussah, noch mehr in die Breite, rümpfte die darüber befindliche Pechnase und sprach in höhnischem Tone:

„So, so? Also da hinten herum, bei den heidnischen Kassuben, Littauern, Russen, Sorben und Wenden! Pfui Teufel!“

„Was doch so ein altes christlich-germanisches Haus vorurtheilsvoll und grob sein kann!“ sagte ich und fuhr eilig weiter.

Im „Rothen Roß“ fand ich das bestellte Quartier in Bereitschaft – ein mächtiges großes Zimmer, in dem man einen Ball geben könnte, jetzt aber zu meinem Privatgebrauch durch spanische Wände in Wohn- und Schlafraum abgeschieden. Das ist auch so ein altes Nürnberger Haus, dieses „Rothe Roß“, das ich schon seit dreißig Jahren besuche. Fünfhundert Jahre steht es schon. Im fünfzehnten und sechszehnten Jahrhundert erfreute sich „das roth Rößlein, ein Wierthshaus am Wein-Marck“, eines absonderlichen Ansehens. Die Stadt pflegte hohe Gäste hier einzuquartieren, wo sie mit dem besten Wein aus dem Rathskeller tractirt und dann auch noch mit dem werthvollen Pokal beschenkt wurden, daraus sie getrunken. Ottavio Piccolomini hat hier Anno 1649 schräg gegenüber gewohnt; ich konnte von meinem Quartier aus in seine Fenster sehen. Das „Roß“ ist in den Händen deutscher, italienischer und französischer Wirthe gewesen: Erhard Rauh (1548), P. Roth (1760), Finsterer, Havard sind hier auf einander gefolgt. Im Jahre 1834 übernahm es Paolo Galimberti, und nach einer zehnjährigen Zwischenherrschaft unter einem gewissen Bauer, ist es jetzt wieder unter die italienische Dynastie zurückgekehrt, welche hier unter dem Namen „Galimberti u. Sohn“ ein segensreiches Regiment führt. Allzu häufiger Dynastiewechsel pflegt einem Lande in der Regel schlecht zu bekommen. In dem „Roth-Rößli“ aber hat er durchaus nichts geschadet.

Ich zog mich alsbald hinter meine spanische Wand zurück und schlief ein paar Stunden, aber präcis acht Uhr, wo die „Bairische Landes-Industrie-, Gewerbe- und Kunstausstellung“ (da mir dieses sechszehnsilbige Wort ein wenig zu lang ist, werde ich in Zukunft einfach „die Ausstellung“ sagen) eröffnet wurde für Diejenigen, welche ein Zwei-Mark-Stück an sie wagen wollten – von zehn Uhr Vormittags kostete sie dann nur noch eine Mark – präcis acht Uhr also war ich wieder gestiefelt und gespornt.

„Wo ist die Ausstellung?“ fragte ich.

„Auf dem Maxfeld,“ lautete die Antwort.

„Maxfeld? Maxfeld? Nie was davon gehört! Eine wahre Unsitte, alle Straßen und Plätze umzutaufen und sich dazu bloßer Vornamen zu bedienen, welche für die Meisten nicht mit einem Begriffe oder einer Vorstellung verknüpft sind. Wo liegt denn dieses Maxfeld, und wie hat es früher geheißen?“

Das Letztere wußte natürlich der Kellner nicht; denn er war kein Nürnberger. Aber die Lage des Maxfeldes beschrieb er ganz richtig. Es liegt im Nordosten der Stadt, außerhalb des Lauferthores, wohin man früher selten zu kommen pflegte, wo aber jetzt ganz neue Häuser-Viertel entstanden sind. Die neuen Häuser vor dem Lauferthore bestehen zum Theil, statt der scheußlichen Miethcasernen, welche man in Hamburg „Etagenhäuser“ und in Wien „Zinshäuser“ nennt, aus hübschen Einzelwohnungen – für je ein Haus nur eine Familie, ein Wohnungssystem, welches in England das herrschende ist, in Deutschland aber bis jetzt, soviel ich weiß, nur in Bremen festen Fuß gefaßt hat, obwohl es auf das Nachdrücklichste empfohlen zu werden verdient.

[573] Der Eingang zur Ausstellung ist schwierig, wie der Weg zum Himmelreich. Erst muß man nach der Casse suchen, welche sich jenseits der Straße befindet und äußerlich nur wenig kenntlich ist. Allein man wird reichlich belohnt für die Ueberwindung dieser kleinen Schwierigkeit. Durch das Hauptthor eingetreten, hat man ein Paradies vor sich – vorausgesetzt, daß die Sonne scheint; denn schönes Wetter gehört zu Ausstellungen und Festen. Vor Allem sieht man einen prachtvollen Park mit großen, laubigen und vollsaftigen alten Bäumen, mit schönen Weg-, Wiesen- und Beetanlagen, mit kleinen Seen und hübschen Springbrunnen, mit malerischer Decoration und Architektur und dazu allerlei Menschen-Staffage. Wenn auch die Gebäude, deren Spitzen und Kuppeln, Rotunden und Thürme hinter und über dem üppigen Saftgrün hervorschimmern, gar nicht den Zweck einer Ausstellung hätten, wenn sie blos decorative Wände wären, man würde dennoch dem Ganzen seinen lebhaftesten Beifall nicht versagen können.


Bilder aus der baierischen Landesausstellung in Nürnberg: Die „Kosthalle des bürgerlichen Brauhauses“ in München.


Aber das ist noch das Geringste, was man an dieser sinnreichen Anlage loben muß. Während man bei anderen Ausstellungen der Axt des Baumfällers nicht gewehrt, hat man hier den entgegengesetzten Weg eingeschlagen: man hat, nachdem das Maxfeld zum Ausstellungsplatze bestimmt war, sämmtliche Bäume des Platzes nach Standort, Größe und Umfang genau aufgenommen und dann erst die Gebäude in den Grundriß eingezeichnet. Dem Letzteren ist nicht ein einziger Baum zum Opfer gefallen. So ist es denn auch gekommen, daß man nicht den ganzen Gebäudecomplex auf eine zusammenhängende Fläche concentriren konnte. Aber auch das gereichte dem Ganzen zum Vortheil.

Ich will das näher erläutern. Daß z. B. die Maschinenhalle in die äußerste nordöstliche Ecke verwiesen werden mußte, ist ein offenbarer Vorzug. Die meisten Menschen verstehen nichts von Maschinen, und die Wenigen, welche etwas davon verstehen, werden den besonderen Gang nach der Halle nicht scheuen und froh sein, daß sie hier von der unverständigen Menschenmenge in ihren Studien nicht gestört werden. Zweitens machen die Maschinen, wenn sie in Bewegung gesetzt werden, ein Geräusch, das nicht sehr angenehm ist und Jedenfalls Denjenigen, welche Bilder und Statuen betrachten oder die Erzeugnisse des Gewerbefleißes studiren wollen, störend sein würde. Endlich drittens ist der Maschinenraum immer etwas feuergefährlich, und es erscheint daher sehr zweckmäßig, daß man ihn isolirt hat, wozu dann noch viertens – und das hätte ich beinahe vergessen – hinzukommt, daß man an diesem entlegenen Platze das Geld für eine glänzende Façade und andere derartige Künste sparen konnte.

Die anderen Gebäulichkeiten, nämlich erstens das Hauptausstellungsgebäude, zweitens der Pavillon für bildende Kunst, und drittens der Pavillon für Verkehrs- und Unterrichtsanstalten, liegen auch getrennt von einander. Für Diejenigen jedoch, welche die Sonnenstrahlen oder ein paar Regentropfen scheuen (zu Letzteren gehören unter Anderem auch die Damen, die für ihre Toiletten fürchten), ist durch eine gedeckte Gallerie gesorgt, welche die verschiedenen Einzelgebäude mit einander verbindet. Wir Anderen, wir gewöhnlichen Menschen, welche für ihren Teint von der Sonne nichts zu fürchten haben und auch eine wetterfeste Toilette besitzen, wir nehmen unseren Weg von einem Ausstellungspalaste zum andern mitten durch den Park, wo wir unsere von dem ewigen Betrachten und Untersuchen angestrengten Seh- und sonstigen Nerven sich wieder erholen lassen, indem wir, statt Ausstellungsgegenstände zu betrachten, zur Abwechslung einmal das Ohr spitzen, um den Gesprächen der Ausstelltungsgäste zu lauschen, welche in baierischer, fränkischer, schwäbischer, pfälzischer, mitunter auch in schriftdeutscher und nur selten in nichtdeutscher Zunge geführt werden, oder indem wir einen der Baumriesen bewundern und uns in dessen Schatten auf einer Gartenbank niederlassen, wohin uns ein benachbarter Springbrunnen einige kühlende Tropfen sendet. Eine solche beschauliche Siesta, während welcher man in seinen Ausstellungsbüchern blättert – leider sind sie unförmlich dick, und es sind deren zu viele, sodaß man sich dafür beinahe einen eigenen Träger mitnehmen müßte – eine solche Siesta wird Jeder für sehr erwünscht halten, der aus eigener Erfahrung weiß, wie sehr der stundenlang fortgesetzte Besuch einer Ausstellung ermüdet.

Und der Stil der Gebäude?

Ich weiß nur, daß alle Baugelehrten, die ich die Ehre hatte in der Ausstellung zu sprechen, diesen Stil verurtheilten, oder vielmehr behaupteten, das Alles sei bedauerlich stillos. Man sprach von arabischem, türkischem, maurischem Stil, von Rococo-, von Schnörkel- oder Zopfstil, ja sogar von Tischler-, Drechsler- und [574] Zuckerbäckerstil. Die Gebäude, so hieß es, spielten gar keine dominirende Rolle, sie verschwänden zwischen und hinter den Bäumen, da sie decorativ, aber nicht architektonisch gehalten seien. Ich ließ Jeden nach Herzenslust räsonniren, und wenn er mich dann fragte, ob ich nicht ganz mit ihm einverstanden sei, machte ich von meiner persönlichen Freiheit Gebrauch und antwortete:

„Im Gegentheil, ganz und gar nicht. Ich bin der Meinung, daß Ihr Baugelehrten die Köpfe zu sehr voll habt von Pedanterien und Vorurtheilen. Ich bin der Meinung, daß der Vorzug dieser Baukunst gerade darin besteht, daß sie nicht nach den alten Schablonen gemacht ist, die wir ja Alle schon bis zum Ueberdruß kennen, sondern daß sie versucht, nicht nur zweckmäßig, sondern auch neu und schön zu sein und sich dem Ganzen, von welchem sie einen integrirenden Bestandtheil bildet und welchem sie zu dienen bestimmt ist, unterzuordnen. Sie wollen nicht dominiren, die Gebäude, und das ist ihr Hauptvorzug; denn Das da ist doch keine Architektur-Ausstellung und kein architektonisches Versuchsfeld, sondern ein Park mit einer Gewerbe- und Kunstausstellung, und wenn nun diese Gebäude sich vernünftiger Weise bescheiden, als Zier- und Ausstattungsstücke dieses schönen Parks zu figuriren, und mit den massenhaften prachtvollen Baumgruppen ein einheitliches künstlerisches Ganze zu bilden – und so hat der Director Gnauth, der das Alles allein componirte, seine Aufgabe mit Recht aufgefaßt – so ist das Höchste erreicht und unter allen Umständen weit mehr geleistet, als wenn man da hohe, kostspielige, anspruchsvoll-gespreizte, steife Baumassen hingestellt hätte, die ihrem Zweck nicht entsprechen und mit dem Uebrigen nicht harmoniren. Nennt das meinetwegen Zopf oder Rococo, maurisch oder wie Ihr wollt. Ich sage: es ist schön und stimmt zu dem Ganzen.“

Endlich gelang es mir auch, die Geschichte des „Maxfeld“ zu ermitteln. Es hat früher „der Judenbühl“ geheißen und war zeitweise der Schauplatz jener religiösen Verfolgungen, welche einigen Blättern der sonst glorreichen Geschichte der deutschen Reichsstädte einen schweren Makel aufdrücken. Hier wurden unschuldige Juden, welchen man Verbrechen zur Last legte, die nur Phantasieproducte einer von gewissenlosen Hetzern toll gemachten Menge waren, zu Tode gemartert, und das düstere Drama fand schließlich einen Abschluß in einer Massenverbrennung nach spanischem Zuschnitt. Der Magistrat von Nürnberg machte schon im Jahre 1473 bei dem Kaiser, unter dessen Schutz die Judenschaft stand, den Versuch, eine Ausweisung derselben zu erwirken. Der Kaiser wies den Versuch zurück. Erst 1498, unter Kaiser Max, ist er gelungen. Maximilian genehmigte die Vertreibung, und schrieb – gleichsam um über die Beweggründe keinen Zweifel zu lassen – gleichzeitig an Herrn Wolfgang von Parsberg, „des Kaisers und des heiligen römischen Reichs Schultheißen zu Nürnberg“, daß er „die sämmtlichen Häuser der Juden, die Synagoge und alle anderen liegenden Güter und Gründe, sammt dem jüdischen Leichenhofe, als kaiserliche Kammergüter auf sein Geheiß und auf seinen Namen in Besitz nehmen solle“.

Und Dem ist denn auch also geschehen. Das war nicht kaiserlich, sondern communistisch und ist auch nicht zu entschuldigen durch die große Finanznoth, in der sich Kaiser Maximilian damals befunden. Auf Mittfasten 1499 sind dann sämmtliche Juden mit Frau und Kind aus der Stadt auf den Judenbühl gezogen und von hier aus nach allen Richtungen der Windrose gegangen. Die Markgräfin Anna von Brandenburg hat sich ihrer warm angenommen, und die Meisten erreichten Unterkunft in der freien Stadt Frankfurt am Main. Andere fanden eine neue Heimath in den näher gelegenen onolzbachschen (das ist anspachischen) Orten, in Fürth, Schneitlach, Hüttenbach, Bruck, Neumarkt, Sulzbach etc.

Wie aber die Bürger innerhalb ihrer Ringmauern Unschuldige peinigten, so wurden sie selbst wieder außerhalb der Stadtmauern unschuldig gepeinigt. Dafür nur ein Beispiel! Unter dem Jahre 1382 – es sind also gerade fünfhundert Jahre her – schreibt der Annalist:

„Johann von Rotenstein hat dem Rathe zu Nürnberg abgesagt (das heißt ihm die Fehde angekündigt), darumb, daß der Rath seinen Knecht Peter von Ortengluching als einen Leuteschinder und Straßenräuber hat niederwerfen und enthaupten lassen. Auch haben dies Jahr Burckard von Seckendorff und Ernst von Seckendorff, genannt ‚Hörauf‘, Ulrich von Wildenstein, Reichhard von Wenkstein und Lutz von Egersdörfer, sammt ihren Helfern und Helfershelfern, ein Reiten gethan wider Hilpold von Stein; und obwohl die Stadt Nürnberg mit dieser Fehde nichts zu thun gehabt, so sind doch die Nürnbergischen Unterthanen merklich beschädigt und ihnen über dreißig Höfe und Güter niedergebrannt worden; sonderlich sind dem Peter Mendel und dem Moritz Mendel zwei Häuser zu Elßenbach, drinnen dreißig Simmer Korn, fünfzehn Fuder Heu, viel Hausrath, sammt einem Kinde, verbrunnen; Dergleichen ist anderen Orten auch geschehen, wie in dem Nürnbergischen Achtsbuch des Längeren zu lesen. Hat also die Bürgerschaft zu Nürnberg dies Jahr große Feindtschaft gehabt, die sie allenthalben hat angegriffen und beschädigt; und zwar sind auch etzliche abtrünnige Burger gewest, Namens Burkard Gailler, Kunrad Schmalz und Andere Mehr, die diesen Befehdern Hülfe und Fürschub zum Zugreifen gethan haben. Seind also dieses wüsten Wesens halber gefährliche Zeitläufte, sonderlich für die Handelsleute, und seind die Straßen allenthalben unsicher gewest.“

Dieser Bericht der Nürnberger Chronik von 1382, den ich erst vor Kurzem gelesen, fiel mir wieder ein, als ich 1882 im Nürnberger Ausstellungspark saß unter einem mächtigen Kastanien- oder Nußbaume – ringsum die Producte einer hochentwickelten Industrie und Kunst, und Leute „aus aller Herren Ländern“, welche Leute unter dem Schutze der Cultur, der Civilisation, des Friedens und der Freiheit hierher gekommen waren, um diese Werke des Friedens, des Fortschritts und der Culturentwickelung zu betrachten. Ein Blick auf diese Umgebung, in der Alles lachte und lebte, aber Niemand bangte und bebte, eine Vergleichung dieses frohmüthigen und sonnenhellen Bildes mit den oben geschilderten Hergängen von 1382 und 1499 zwang mir die Frage auf: wie lange wird es noch Menschen geben, die albern genug sind, an das tausendmal widerlegte Märchen von der guten alten Zeit noch immer zu glauben? Wie lange wird es noch Menschen geben, die gewissenlos genug sind, den Leuten einzureden, die Schädigung des Nachbarn sei ihr einziger Vortheil, und sie aufzustacheln zu Schandthaten, wie sie vormals gespielt haben hier auf diesem „Judenbühl“, der jetzt Maxfeld genannt wird?

Ist dieses Maxfeld in seiner neuesten Gestaltung nicht selbst ein herzerfreuendes Beispiel des Fortschritts?

Die große Fläche von mehr als 120,000 Quadratmeter war bis dahin trotz ihrer schönen Bäume, unter welchen sich namentlich die stattlichsten Linden und Kastanien hervorthun, wenig beachtet worden. Die Masse der Bevölkerung mied sie; höchstens suchten dort einsame Spaziergänger etwas Erholung. Anno 1848 hatten hier große Volksversammlungen mit stürmischen Reden stattgefunden, etwa wie damals in Berlin „unter den Zelten“. Dann war das Maxfeld wieder in sein Dunkel zurückgesunken. Es lag außerhalb der städtischen Bewegung. Erst nachdem die Direction des Gewerbemuseums den Platz in gerechter Würdigung seiner Schönheit für die Ausstellung ausgewählt und der Magistrat der Stadt, welcher das Maxfeld gehört, dasselbe zu diesem Zwecke der Commission zur Verfügung gestellt hatte, begann man es gartenkünstlerisch zu behandeln in einer Weise, die selbst einem Fürsten Pückler-Muskau zur Ehre gereicht haben würde. Auch das hatte freilich, wie alles Gute und Schöne, seine besonderen Hindernisse und Schwierigkeiten. Verschiedene in der Nähe des Platzes gelegene Gemeinden machten allerlei Servituten an demselben geltend, wie Fahr-, Gang-, Wegerechte und sogar Trieb- oder Triftgerechtigkeiten für die Viehheerden. Es gelang jedoch, sich mit diesen Prätendenten zu verständigen. Und nun konnte es denn mit der Kunstgärtnerei losgehen, welche an Stelle der alten Viehtriften zierliche Blumenbeete, pleasure-grounds und Wege schuf, aber auch bei dieser Anlage mit der größten Pietät vorschritt, um alle Bäume und größeren Gesträuchanlagen zu erhalten. Die Ausstellungscommission hat ganz Recht, sich dessen zu berühmen. Es geschieht mit den Worten:

„Wenn bei der ersten Weltausstellung 1851 in dem Hyde-Park in London die Rücksicht auf die Bäume des Parks soweit ging, daß eine alte Linde, welche in dem Raume wuchs, der für das Ausstellungsgebäude bestimmt war, dadurch erhalten wurde, daß man sie in den Krystallpalast einbaute und diesem ausschließlich zum Zwecke der Erhaltung des Baumes eine Glaskuppel aufsetzte an dieser Stelle, wo man sonst Steine aufgerichtet hätte, so hat die Baierische Landesausstellung nicht minder rücksichtsvoll mit größter Sorgfalt jeden Eingriff in die vorhandenen Baumanlagen vermieden.“

Und dann hat sie für Wasser gesorgt, um die Baum-, Park- und Zieranlagen stets bei der nöthigen Frische zu erhalten, um [575] einen kleinen See zu füllen, den man da ausgegraben, und eine Anzahl von Fontainen zu speisen. Das Wasser wird durch ein Pumpwerk aus der Pegnitz gehoben, durch eine Rohrleitung in die Reservoirs an der Maschinenhalle geführt und von da wieder auf die verschiedenen Stellen der Ausstellung und des Parks vertheilt. Die Fontainen, das Pumpwerk, die Rohrleitung, das Gaswerk, das Musikzelt, die verschiedenen Pavillons, die altdeutsche Weinstube, das Empfangsgebäude, alle die Pflanzen und Blumen der baierischen Gartenbau-Vereine – kurz Alles und Jedes ist nicht nur Hülfsmittel, sondern auch selbst wieder Ausstellungsobject, Mittel und Zweck zugleich geworden: es dient der Ausstellung und stellt sich selbst aus.

Bei jedem Schritte hat man als wißbegieriger Tourist auf etwas zu achten. Aber auch bei jedem Schritt wird man stärker beseelt von dem Bewußtsein, daß wir Deutsche nun doch endlich auch das Ausstellen gelernt haben. Ich habe alle europäischen Weltausstellungen seit 1851 mitgemacht. Die anmaßliche Kritik der Erzeugnisse deutschen Gewerbfleißes, die sich in das unüberlegte Wort „Billig und schlecht“ zusammenfaßte, ist stets eine Unwahrheit gewesen (wenigstens in dieser Allgemeinheit). Dagegen ist es wahr, daß der Zollverein, oder Deutschland, trotz aller inneren Tüchtigkeit, es nicht recht verstanden, uns auf eine gute Art angenehm und liebenswürdig zu präsentiren.

Schon die Austellungen in Berlin, Düsseldorf, Breslau und Stuttgart haben uns gezeigt, daß wir jenen früheren Fehler des aschenbrödelhaften Auftretens überwunden haben und unsere Ausstellungen auch in eine geschmackvolle und künstlerische Form zu bringen wissen. Und wo sollte das bester gelingen, als in Nürnberg, in der Stadt der ersten deutschen Kunstschule, oder wenn man lieber will „Malerzunft“, wo zugleich eine Stätte vorhanden war, wie man sie nicht schöner hätte wünschen können?

Ich habe nicht die Absicht, auf die einzelnen Ausstellungsbranchen und Ausstellungsgegenstände einzugehen. Das besorgen die Zeitungen und Fachzeitschriften. Ich will nur eine Gesammtskizze geben, welche die charakteristischen Eigenthümlichkeiten gerade dieser Ausstellung hervortreten läßt.

Zu diesen Eigenthümlichkeiten gehört nun aber vor Allem die Methode der Eintheilung der Gruppen. Diese Eintheilung folgt nicht den Provinzen, Kreisen und Städten; sie folgt auch nicht den Fabrikaten. Sie folgt den Rohstoffen, als da sind: Feldfrüchte, vegetabilische Fasern, animalische Fasern, Felle und Häute, Gummi und Guttapercha, Stein und Horn, Meerschaum und Bernstein, Glas und Thon, Gyps und Cement, Metall und Holz etc. Dies hat zwei Vortheile. Einmal kann man dem ganzen Entwickelungs- und Gestaltungsprocesse folgen: vom Rohproduct zum Halbfabrikat und von diesem zum Ganzfabrikat und den façonnirten Artikeln. Der zweite Vortheil aber ist, daß man hier so recht mit den Händen greifen kann, wie unrecht eine Handelspolitik thut, wenn sie vor Allem darauf ausgeht, die Rohstoffe und Halbfabrikate zu vertheuern; denn dadurch nimmt sie unserer sonst ebenso exportfähigen wie exortbedürftigen Industrie die Möglichkeit, mit dem Auslande zu concurriren.

Eine weitere Eigenthümlichkeit ist der in den Durchgangshallen zum ersten Male gemachte Versuch, die Ausstellungsgegenstände von dem Zuschauer in der Weise abzuschließen, daß diese Objecte die volle Beleuchtung haben, während der Beschauer im Halbdunkel steht. Die beweglichen Glasabschlüsse, deren man sich hierbei bedient, haben allerlei Vortheile: sie gewähren Schutz gegen Beschädigung durch Staub etc. und ersparen dem Aussteller die Ausgabe für den Schrank oder, wie man in neuerer Zeit sagt, für die „Vitrine“.

Diese Schränke- und Vitrinenkosten waren der Gegenstand lebhafter Beschwerden für viele unserer Aussteller und haben zu recht unangenehmen Processen Anlaß gegeben. Doch sprechen wir nicht von solchen „garstigen“ Dingen! Erfreuen wir uns lieber an den Erzeugnissen der Kunst und der Kunstgewerbe, und noch mehr an den frohen Menschen, die bestrebt sind, sich ihrer zu erfreuen, und daneben sich auch leiblich und geistig zu erfrischen! Denn auch dafür ist reichlich gesorgt, sowohl drinnen wie draußen, sowohl in Bier wie in Wein.

Inwendig sind die „Kosthallen“, auswendig die Kneipen die auch hier lokal concentrirt sind, ähnlich wie 1897 in Berlin, wo man die betreffende Fläche des Ausstellungsparkes „die nasse Ecke“ zu nennen pflegte.

Flaniren wir durch die Gruppe I (Gewerbliche Consumtionsproducte für Leben und Haushalt: Nahrungs- und Genußmittel, Mittel zur Beleuchtung, Beheizung, Reinigung etc.), so finden wir eine kleine Menschenanhäufung vor einem riesigen Fasse – freilich nicht so groß wie das auf dem Heidelberger Schlosse, und dabei schön decorirt. Die Menschen blicken in das Faß, welches es Allen angethan zu haben scheint: Jung und Alt – sowohl dem flotten Studenten und dem schneidigen Lieutenant, wie auch dem ehrwürdigen Greis mit dem schwabbeligen Bauche. Was mag wohl in dem Fasse stecken? Ist es der alte Diogenes, welchem König Alexander von Macedonien in dieser etwas ungewöhnlichen Schlafstelle die Ehre seines Besuches erwiesen? Nein, es ist etwas viel Besseres oder wenigstens Schöneres. Es ist die „Schützenliesel“, eine Biernixe so schön und so lustig, wie unser Herrgott nur eine erschaffen. Und man kann darüber streiten, was diese Männer – „den Jüngling wie den Greis am Stabe“ – mehr anzieht, die schöne Liesel oder das schöne Bier. Hier ist nämlich, in und vor diesem Fasse, „die Kosthalle des Bürgerlichen Brauhauses“ in München, und dieses „Bürgerliche Brauhaus“ braut alljährlich für beinahe eine Million Mark Bier und versendet diesen Gerstensaft nach Deutschland, Frankreich, Belgien, Holland und Italien; die Leute scheinen also immer noch nicht dem Orakelspruch, daß „Bier dumm macht“, Glauben zu schenken.

Draußen aber im Parke steht die „Pfälzer Weinstube“, auch das „Altdeutsche Weinhaus“ genannt, ein stattlicher Holzbau mit hohem steilem Schieferdache, innen und außen stilgerecht durchgeführt im deutschen Frührenaissancegeschmack. Die große Weinstube und das kleinere Herrenstüblein im Innern sind schön. Aber noch schöner ist draußen die Veranda, wo man sitzt, wie „unser Herrgott in Frankreich“. So sagen die Pfälzer, die da droben sitzen. Wir aber, wir Andern, die wir nicht die Ehre haben, Pfälzer zu sein, trinken ihnen zu mit dem Wahrspruch: „Fröhlich Palz – Gott erhalt’s!“

Gestärkt mit einem frischen kühlen Trunk „Forster Rießling“, kehren wir wieder zurück in das Hauptausstellungsgebäude. Wir bewundern die ausgestellten Objecte; wir bewundern die Art der Ausstellung. Aber wir amüsiren uns auch, und zwar amüsiren wir uns, nachdem wir nunmehr unser pflichtmäßiges Pensum an Studium erledigt und uns ein wenig aufgefrischt haben, am meisten mit dem Publicum und über dasselbe, und wir haben auch nichts dagegen, wenn wir selbst, die wir ja auch zum Publicum gehören, Gegenstand des Studiums und der Heiterkeit für Andere werden.

„Die Heiterkeit nimmt Keiner krumm;
Denn Einer ist kein Publicum.“

Da steht eine Gruppe Altmühler Bauern, das würdige Elternpaar und eine dralle Dirne, vor der Zeltnische, in welcher sich die Ausstellung der Ultramarinfabrik befindet. Man nennt scherzweise diese Nische die „grotta, d’Azurro“, die blaue Grotte von Capri. Die Frau, neugierig wie Eva’s Töchter sind, ist am weitesten vorgedrungen und im Ausharren unermüdlich. Der Mann nimmt eine beobachtende, vorsichtige Aufstellung in zweiter Linie, indem er seinen baumwollenen Regenschirm krampfhaft umklammert. Das Madl aber hat sich umgedreht vor Erstaunen über dies „blaue Wunder“.

Hier ist wieder eine Bauerngruppe, diesmal aus dem Thale der Pegnitz, aber „Pegnitz-Schäfer“ im literargeschichtlichen Sinne sind es gewiß nicht. Der Mann ist schon etwas von der modernen Nivellirung ergriffen. Die Frauen aber sind noch echtes kräftiges bäuerliches Vollblut. Das zeigt ihr charakteristischer Sonntagsstaat, der heute noch gerade so ausschaut, wie zur Zeit ihrer Großmütter. Anch hier fehlt der Regenschirm nicht; er ist unvermeidlich. Das Wetter ist zwar schön, aber man kann ihm nicht trauen. Und dann hat doch dieser Schirm zwölf Mark gekostet; da kann man ihn doch auch sehen lassen.

„Ach,“ sagte die Großmutter, „haben mir meine guten Enkelkinder vor sechs Wochen den schönen theuren Regenschirm zu meinem Namenstage verehrt, und seitdem hat es noch keinen einzigen Sonntag geregnet. Hab’ ich den schönen Schirm noch gar nicht zum Kirchgang mitnehmen und Staat damit machen können. Das ist doch recht jammerschade!“

Zum Schluß werfen wir noch einen Blick in die Bilderausstellung. Sie leidet ein wenig darunter, daß sich manches Bild ersten Ranges zur Zeit nach auf der Ausstellung in Wien befindet. Prachtvoll ist die Ausstellung des sogenannten „Elitesaales“, [576] eines quadratischen Saales mit Eisenconstruction und Oberlicht. Hier hängt auch das außerordentlich fein und wahr charakterisirte Portrait des Fürsten Bismarck von Lenbach in München. In der Nähe befinden sich die Bildnisse des englischen Staatsmannes Gladstone und des deutschen Humoristen Busch, des Humoristen in Schrift und Zeichnung, des Verfassers des „Heiligen Antonius“, des „Max und Moritz“ etc. Aber diese Portraits, so gut sie sind, vermögen nicht aufzukommen gegen dasjenige Bismarck’s.

Unter diesen Bildern fiel mir, inmitten der Beschauer, die massive Gestalt eines echten Baiern vom Lande auf. Er kümmerte sich nicht um das Alles, weder um den berühmten Maler, noch um die berühmten Gemalten. Er wendete sein Antlitz von ihnen ab und der Kühlung zu, welche ihm vom Perseus-Brunnen her zuging. „Hier ist’s serr aromantisch,“ sagte er mit Genugthuung. Damit meint er „erfrischend“. Unser Held ist aus Altbaiern und wiegt über hundertfünfzig Doppelpfund oder Kilo. Seine lederne Hose ist unten zugeschnürt. Er schnupft Brasil und trägt Ueberreste davon in seinem Schnurrbart. Er ist jedenfalls ein gemachter Mann, der in seinen eigenen Schuhen steht. Ob er aber mit Holz handelt oder mit Schweinen – das konnte ich nicht ermitteln.




Aus Bayreuth, der Stadt der Parsifal-Aufführungen.

(Schluß.)

Die Vorstellung des „Parsifal“ dauert von vier bis kurz nach zehn Uhr. Zwischen den einzelnen Acten sind aber so lange Pausen, daß Jedermann Gelegenheit hat, sich zu erholen und neue Kräfte zu schöpfen.


Bilder aus der baierischen Landesausstellung in Nürnberg: Bauern aus dem Pegnitzthale.
Originalzeichnung von Professor Rudolf Geißler.


Wer den „Lohengrin“ von Richard Wagner kennt, dem ist auch der Name des „Parsifal“ nicht fremd; denn in dieser früheren Oper wird Parsifal als der Vater des Lohengrin und als Hüter des „Gral“ erwähnt.

Wer oder was ist nun dieser Gral? Nach dem Glauben des Mittelalters ist es die aus einem kostbaren Edelsteine verfertigte Schale, aus welcher Christus das Abendmahl gespendet hatte, in welcher später (von Joseph von Arimathia) sein Blut aufgefangen worden war und die, von Engeln gebracht, in einem Tempel des fernen Ostens aufbewahrt wurde. Hier war eine Schaar erlesener Ritter zum Dienste des Grals versammelt, die auf seinen Befehl und unter seinem Schutze herrliche Thaten verrichteten. Der Gral spendete ihnen täglich Speise und Trank, wodurch die Ritter jung und unsterblich blieben. Der Charfreitag war der Hauptfesttag in der Gralsburg; an ihm kam eine Taube vom Himmel und brachte die heilige Oblate, durch welche die Kraft des Gefäßes auf ein frisches Jahr erneut wurde. Die Ritter des Grals hatten sich mancherlei Regeln zu unterwerfen, unter Anderem auch der Ehelosigkeit. Nur der Gralskönig durfte ein Weib haben.

In dieser Sage finden augenscheinlich Mönchsthum und Ritterthum eine gemeinsame Verherrlichung, und bei der Bedeutung, welche diese beiden Mächte im Mittelalter hatten, ist es natürlich, daß die Sage vom Gral eine große Anziehungskraft ausübte und daß sich die Poeten von Fach ihrer bemachtigten, sie ausschmückten, erweiterten und in ihre einzelnen Theile zerlegten. Es bildete sich um den Gral ein ganzer Kreis von Sagen; seine einzelnen Ritter wurden zu Helden besonderer Dichtungen, und namentlich die Schicksale und Thaten seiner Könige boten einen unerschöpflichen Stoff zu dichterischen Erzählungen.

Unter diesen Königen nun hat der Eine das Glück gehabt, von einem Dichter besungen zu werden, den Friedrich von Schlegel den größten Poeten Deutschlands genannt hat. Dieser König ist unser Parcival, und sein Homer war Wolfram von Eschenbach.

Wolfram, im Ansbach’schen, also in der Nähe von Bayreuth, geboren, lebte im Anfang des dreizehnten Jahrhunderts. Das genaue Datum seiner Geburt ist ebenso wenig bekannt, wie das seines Todes. Sein Hauptwerk ist aber der „Parcival“, eine Dichtung von ungefähr 24,000 Versen, die durch Karl Simrock, der sie in das heutige Deutsch übertrug, Jedermann zugänglich ist. Ihr Inhalt in einem kurzen Satze wiedergegeben lautet: wie Parcival König vom Gral wurde.

Wolfram schildert das Leben Parcival’s von dessen frühester Jugend an. Sein Vater, Gamuret, dessen Abenteuer ebenfalls berichtet werden, ist gestorben, ehe Parcival geboren wurde, und seine Mutter, Herzeloyde, zieht den Knaben in völliger Einsamkeit auf, damit er ja kein Ritter werde. Das Blut in ihm ist aber stärker als der Wille der Mutter, und eines Tages geht auch der sorglich gehütete, unerfahrene Knabe hinaus in die Welt, besteht die üblichen Fehden, klopft hier und da an: so z. B. am Hofe des König Artus, und gelangt endlich auch zur Gralsburg. In dieser liegt zu jener Zeit Amfortas, der König, an einer Wunde, die er zur Strafe für eine begangene Sünde erlitten, darnieder. Heilung ist ihm versprochen, wenn ein Fremder aus freien Stücken nach seinem Leiden theilnehmend fragen würde. Parcival aber, der von seinem Lehrer Gürnemanz gelernt hat, ein Ritter sollte so wenig wie möglich fragen, fragt nicht und bringt damit den Amfortas um die Heilung, sich selbst aber um hohe Ehren; denn dem fragenden Fremden ist die Königswürde beim Gral verheißen.

Diese Unterlassungssünde hat noch weitere schlimme Folgen für Parcival, die ihn zu einer jahrelangen kämpfereichen Irrfahrt treiben. In deren Verlauf geht aber mit ihm eine innere Umwandlung vor sich: er wird aus einem wilden, trotzenden Ritter zu einem frommen Menschen, der sich unter Gottes Fügungen beugt. Er gewinnt jetzt zu den Vorzügen der körperlichen Kraft [577] und Tapferkeit auch Seelengröße und einen geläuterten und gereiften Charakter und nun erscheint die Botin vom Gral, die ihn früher verflucht hat, wieder und verkündet ihm, daß er zum Gralskönig erwählt sei. Gleichzeitig hat ihn sein Weib Kondmiramues mit ihren während der Abwesenheit Parcival’s geborenen Zwillingssöhnen aufgesucht, und mit ihr hält er nun seinen Einzug in die Gralsburg.


Bilder aus der baierischen Landesausstellung in Nürnberg: Altbaier im „Elitesaale“.
Originalzeichnung von Professor Rudolf Geißler.

Wolfram erhebt sich in seinem „Parcival“ über die zeitgenössische Dichtung nicht blos durch die Lebendigkeit der Schilderung und die innigen Züge, mit denen er Personen und Ereignisse ausstattet, sondern vor Allem dadurch, daß er in den Kranz der Abenteuer, aus welchen sein Epos besteht, eine große, ethische Idee hinein gewunden hat. Das ist die Entwickelung seines Helden vom Manne der bloßen ritterlichen Etikette zum sittlich freien, edlen Menschen. An diese Idee hat Richard Wagner angeknüpft. Das Fragen, das theilnehmende Fragen des Wolfram’schen Parcival nennt Wagner „Mitleid“ und macht es zum Angelpunkt seines Drama „Parsifal“.

Die Geschichte des „Parsifal“ von Wagner ist im Wesentlichen dieselbe, wie wir sie soeben aus dem Wolfram’schen Epos wiedergegeben haben. Wagner mußte den Stoff natürlich vereinfachen und konnte von der reichen Ausbeute an Heldenthaten, welche Parcival bei Wolfram verrichtet, nur sehr geringen Gebrauch machen. Auch der große Kreis von Bekannten und Freunden, die mit dem Parcival im Epos in Berührung kommen, mußte im Drama auf eine geringe Zahl zurückgeführt werden.

Den Charakter des Parcival hat der Dramatiker im Ganzen so beibehalten, wie ihn der Epiker geschaffen. Auch Wagner’s Parsifal ist der unerfahrene, unverdorbene, herzensgute und kühne Jungling, ale den ihn Wolfram schildert. Wagner legt auf das Moment der Unerfahrenheit oder Thorheit ein so großes Gewicht, daß er sogar die Schreibart des Namens seines Helden darnach bestimmt hat. In Widerspruch mit allen Philologen, die „Parcival“ als einzig richtig erklären, hat Wagner sich die von Görres aufgestellte Variante „Parsifal“ zu eigen gemacht, die nach dem Persischen bedeutet „reiner Thor“.

Um die für das Drama nöthigen Conflicte und Gegensätze zu gewinnen, sah sich Wagner genöthigt, außer jenen erwähnten Vereinfachungen und Verkürzungen auch noch Umbildungen an dem von Wolfram und anderen Quellen gebotenen Stoffe vorzunehmen. Die wesentlichste besteht darin, daß er den Ritter Klingsor, der bei Wolfram nur eine Nebenrolle spielt, in den Vordergrund stellt. Dieser Klingsor, bei Wolfram ein harmloser adliger Sonderling, welcher auf seiner abgelegenen Burg, Schastelmarveil bei Wolfram genannt, allerhand Schabernack und Zauberspuk treibt, wird bei Wagner ein gefährlicher Feind des Gral. Seine Burg und die des Gral treten gegen einander wie Hölle und Himmel; bei Wagner spielt ein großer Kampf zwischen Klingsor und den Gralsrittern in dem Momente, wo Parsifal in die Handlung eintritt. Klingsor’s Armee besteht aus Frauen von teuflischer Schönheit, welche die Ritter des Gral berücken und einen nach dem andern in die Gewalt des Zauberers führen. Auch Amfortas, der König des Gral, hat sich seine Wunde dort geholt, im Garten des Klingsor. Der Sieg neigt sich auf des Letzteren Seite; das Gralsritterthum wird schimpflich untergeben, wenn auch Parsifal der Macht der Verführung unterliegt. Gegen ihn, den gefürchteten Anhänger des Gral, bietet Klingsor die Kundry auf. Diese Kundry ist bei Wolfram einfache Grafsbotin, bei Wagner ein Doppelwesen: im ersten Acte gehört sie zum Gral, im zweiten zu Klingsor. Parsifal widersteht ihr aber durch die Macht des Mitleids, welche ihm im Augenblicke der Versuchung das Bild des Amfortas vor die Seele ruft, der im gleichen Falle einst fiel und nun leidet. So wird Parsifal bei Wagner Gralskönig.

Die Handlung vertheilt sich in dem Musikdrama über die einzelnen Acte folgendermaßen: im ersten kommt Parsifal in das Gebiet des Gral und wohnt einer Feier des Liebesmahls auf der Burg bei. Die Herrlichkeit der Anemonia, ebenso die Leiden bes Amfortas lassen ihn scheinbar unberührt, und er wird deshalb wieder aus der Burg hinausgewiesen.

Der zweite Act spielt auf dem Zauberschlosse Klingsor’s. Als hier Kundry’s Künste an Parsifal machtlos abprallen, eilt Klingsor herbei und schleudert nach jenem einen Speer. Dieser Speer gehört unter die heiligen Reliquien des Gral und ist von Amfortas, als dieser auf demselben Platze, wo jetzt Parsifal steht, dem Sinnentaumel erlag, an Klingsor verloren worden. Parsifal wird von dem Speere nicht getroffen, sondern ergreift ihn und schlägt mit demselben gegen Klingsor das Zeichen des Kreuzes. Daraufhin sinkt die ganze Zauberpracht krachend zusammen.


[578] Der dritte Act führt uns wieder auf die Gralsburg zurück. Jahre sind verflossen, und mit den Gralsrittern geht es zu Ende, da Amfortas, um seinen Tod zu erzwingen, seit jenem Tage, wo Parsifal dem Abendmahle zugesehen hat, nicht wieder den Gral enthüllt hat. Da trifft Parsifal wieder ein, wird erkannt, zur Burg geleitet, zum König gesalbt und tritt sein Amt an, indem er Amfortas heilt und erlöst und den Gral wieder enthüllt.

Dies ist in den Hauptzügen der Inhalt des Wagner’schen „Parsifal“. Aus dem vom Hause aus wenig dramatischen Stoffe hat Wagner ein Bühnengedicht geschaffen, das neben manchen unbegreiflichen und verwunderlichen Momenten viele große und ergreifende Züge zeigt.

Die Musik hebt einzelne Partien hoch heraus. Namentlich gilt dies von den beiden Scenen der Abendmahlsfeier im ersten und der sogenannten Scene der „Blumenmädchen' im zweiten Acte. Bei jener hat Wagner zu dem an und für sich schon imposanten Apparate von dreifachen Chören, von Soli und Orchester noch ein Glockengeläute hinzugezogen, das bei den ersten Darstellungen allerdings sehr verstimmt war. Die Scene der Blumenmädchen leitet an die dramatisch wichtige Stelle, wo Parsifal verführt werden soll. An dramatischer Beweglichkeit und sinnlichem Reiz ist sie die stärkste Stelle des ganzen Werkes und ihre Erfindung und ihre Ausführung erregte das ungetheilte Erstaunen aller Zuschauer. Neben diesen beiden Hauptpunkten tritt noch eine Reihe von rein lyrischen Stellen hervor, die durch Schönheit und Charakter der Musik fesseln. Vor Allem gehört darunter die sogenannte „Blumenaue“ im dritten Acte, ein rein idyllisches Intermezzo des Orchesters, während dessen Parsifal seine Freude über den Zauber der vor ihm im jungen Frühling prangenden Landschaft äußert. Verwandt nach Art und Wirkung sind hiermit noch die Stellen, wo Kundry dem Parsifal von seiner Mutter erzählt, eine andere, wo der von Parsifal erlegte Schwan beklagt wird, und die ausgeführteren Instrumentalsätzchen, während welcher der kranke Amfortas durch den Wald zum Morgenbade getragen wird.

In den eigentlichen recitativischen Partien steht der „Parsifal“ hinter den letzten Musikdramen Wagner’s zurück, und die für das System des Componisten so wichtigen Leitmotive fungiren hier wieder mehr wie in seiner ersten Zeit als äußerer Mechanismus; sie werden mit der Weiterführung der Handlung nur wenig in organischer Weise entwickelt.

Das Eine glauben wir constatiren zu dürfen, daß eine Aufführung des „Parsifal“ für Jedermann, was er auch sonst über Richard Wagner und seine künstlerischen Tendenzen denken mag, viel Interessantes bietet. Die Ausstattung und Ausführung des Werkes verdient eine ungetheilte Bewunderung. Die scenischen Bilder, welche geboten werden, gehören zu den stilvollsten und schönsten, welche die Geschichte des Musikdramas kennt, und die Ausführung der Orchesterpartien geschieht in würdiger Weise durch die Münchener Hofcapelle unter Leitung von Hermann Levi. Wie für diesen ist auch für die Sänger ein Ersatz bereit: die hervorragendsten Partien sind sogar dreifach besetzt, und zwar von Künstlern, die verdienten Ruf haben, wie Fräulein Brandt, Frau Materna, die Herren Hill und Scaria. Auch für untergeordnete Nebenrollen sind Künstler von der Bedeutung des Herrn Kindermann verfügbar.

H. Kretzschmar.




Zwei Fahrten durch den Suezcanal.

Zeitgemäße Schilderungen von C. W. E. Brauns.

Als eines der Wunderwerke der Welt darf man wohl den Canal durch die Landenge von Suez bezeichnen, der heute wieder ein Hauptangelpunkt des politischen Interesses geworden ist – man darf ihn als ein Wunderwerk der Welt bezeichnen, nicht etwa weil ein Uebermaß von Schwierigkeiten sich der technischen Ausführung desselben entgegengestellt hätte, nicht etwa weil eine absonderliche Beschaffenheit oder außergewöhnliche Steigerung der Hülfsmittel zur Ueberwindung solcher Schwierigkeiten dabei in Anwendung gekommen wäre, sondern weil dieses so einfache und doch zugleich so kühne Unternehmen dem ganzen Erdball einen ganz ungewöhnlichen Segen spendet; denn erwächst nicht auch den Nationen, welchen wir unsere Cultur und unsere Culturerzeugnisse auf dem Wege des Handels überbringen, erwächst nicht diesen ein gleicher Vortheil, ja ein größerer noch als uns Europäern, aus der unschätzbaren Verkehrserleichterung zwischen Ost und West, welche wir dem Suezcanal verdanken? Wurde nicht erst durch die Eröffnung dieser Seestraße, welche die Entfernung des entlegensten Ostens von den Mittelmeerhäfen ungefähr auf die Hälfte reducirt, die volle, fruchtbringende Einwirkung unserer Cultur auf die Völker des Ostens ermöglicht?

Man wende nicht ein, daß diese Völker sich ohne die europäische Cultur besser befinden würden als mit ihr! Wer Augen hat zu sehen und sie benutzen will, der sieht, wie überall eine menschenwürdige Existenz, verbunden mit dem Streben nach wahrer Wissenschaft und nach Gewährleistung der Menschenrechte, nach allen den Gütern, die Europa sich durch ernste Arbeit und schwere Kämpfe erstritten, den fernen Zonen durch uns geboten wird.

Man wende ferner gegen die hohe Bedeutung des Isthmuscanales nicht ein, daß ja der alte Seeweg nach Ostindien, den vor vierhundert Jahren die Portugiesen entdeckten, den nämlichen Verkehr vermittelt habe! Zeit ist Geld – dies gilt vor allem für den europäischen Kaufmann, der jetzt noch ein volles Vierteljahr auf eine Antwort aus China oder Japan zu warten hat und dem selbst dieser Zeitraum, klein gegen sonst, übermäßig lang erscheint. Dies gilt aber auch umgekehrt für den, welcher am fernen Gestade ängstlich alles dessen harrt, was ihm Europa als nothwendige geistige Nahrung zuführen muß, auf Bücher, Zeitungen und mancherlei andere Dinge, die uns alltäglich erscheinen und die erst die Fremde uns nach Gebühr schätzen lehrt.

Schon aus diesen Andeutungen dürfte zweifellos hervorgehen, daß die Bedeutung des Suezcanals durchaus nicht erschöpfend gewürdigt wird, wenn man nur seinen Nutzen für den Handel in’s Auge faßt. Die Postdampfer Hollands, Frankreichs, Englands durchkreuzen den Isthmus tagaus tagein, nicht blos gefüllt mit Waaren, sondern auch voll von Passagieren aller Nationen.

Traurig, daß wir Deutsche nicht auch solche Postdampfer haben! Leider finden wir die geringe Vertretung Deutschlands im Suezcanal nicht nur auf dem Gebiete des Personenverkehrs, sondern auch auf dem des Handels. Die Statistik des Verkehrs vom Suezcanal, die in den dreizehn Jahren seines Bestehens eine überraschende und bis in die letzten Jahre stetig andauernde Steigerung ausweist, läßt dort die deutsche Flagge erst in sechster oder siebenter Stelle erscheinen, während unser Seehandel sich doch jeder anderen Nation, außer der englischen, mindestens an die Seite stellen darf.

Ein Hauptgrund dieser Seltenheit der deutschen Handelsschiffe im Canal ist allerdings in dem Umstande zu suchen, daß kleine Fahrzeuge – und aus solchen besteht ja unsere Handelsflotte zu einem großen Theile – die schweren Kosten der Durchfahrt durch den Canal scheuen, weshalb denn auch hanseatische Schiffe selbst heutzutage noch oftmals den Weg um das Cap der guten Hoffnung vorziehen; es ist jedoch vorauszusehen, daß dieses Verfahren durch die Allmacht der Concurrenz allmählich in Wegfall kommen muß; denn es läßt sich mit Sicherheit voraussagen, daß in der Entwickelung unserer Handelsmarine ein rascher Fortschritt stattfinden wird, was sich durch die fortwährende Zunahme des Procentsatzes deutscher Schiffe im Canal auch bestätigt.

Wie die Sachen stehen, sind es nun freilich nicht unsere Schiffe, wohl aber im hohen Grade unsere Waaren, welche auch in materieller Hinsicht unsere Aufmerksamkeit auf den Suezcanal lenken und unser eigenstes Interesse gefährdet erscheinen lassen, sobald die kleine Wasserader von Port Said nach Suez unterbunden wird. Ganz abgesehen von dem Antheil, welchen wir am Gedeihen und an der Ausbreitung europäischer Civilisation haben, müssen wir also mit ängstlichem Blicke der Entwickelung der Dinge im Pharaonenlande folgen, die uns ohne den Suezcanal kaum in Spannung versetzen könnten.

Die Gefahr einer Sperrung des Canals ist in der That vorhanden, so lange die gegenwärtigen Zustände andauern. Die dagegen vorgeschlagenen Mittel – namentlich das einer Neutralitätserklärung des Canalgebietes – sind offenbar unzureichend. Ja gerade dieses Mittel könnte verhängnißvoll werden, indem es die für Offenhaltung der Fahrstraße interessirten Europäer zurückhielte [579] und dieselbe den uncivilisirten einheimischen Horden preisgäbe. Auf Zusicherungen eines Arabi – selbst wenn sie durch achtbare Vermittler und Bürgen unterstützt werden sollten – darf schwerlich irgend welches Gewicht gelegt werden, und so stehen wir zur Zeit machtlos der Möglichkeit gegenüber, unsere Interessen durch eine fanatisirte Beduinenschaar oder durch plünderungssüchtige Truppen des ägyptischen Prätorianerführers auf’s empfindlichste geschädigt zu sehen.[1]

Mag aber hiergegen auch die Erfahrung einigen Trost gewähren, daß höherer Muth und Unternehmungsgeist selten in solchen Schaaren anzutreffen ist, wie sie auf ägyptischer Seite im Felde stehen, und daß schließlich in solchen Fällen eine gewisse Scheu vor der Ueberlegenheit der Europäer das Aeußerste zu verhindern pflegt, so hat man doch eine andere Gefahr bis jetzt kaum in’s Auge gefaßt, die nämlich, daß fortdauernde Wirren eine Vernachlässigung der Unterhaltungsarbeiten am Canal zur Folge haben können. In dieser Beziehung ist leider schon arg gesündigt worden, und ohne Noth; denn von den 50 Millionen Franken, welche die Abgaben der passirenden Schiffe für jedes der letzten Jahre betragen haben, bleiben auch bei reichlichster Berechnung der Zinsen, Amortisationen und Gelder für einen etwaigen Reservefonds[2] unbedingt Summen übrig, welche eine weit solidere und ausgiebigere Durchführung der Unterhaltungsarbeiten ermöglichen würden, als sie thatsächlich ausgeführt worden sind. Es ist dies ein Punkt, auf den sich die Aufmerksamkeit der europäischen Mächte ebenso sehr richten sollte, wie auf den militärischen Schutz; sonst könnte es sich immerhin ereignen, daß – vielleicht um so eher unter dem Deckmantel politischer Schwierigkeiten – die Anlagen des Canals, von Haus aus nicht ohne alle Mängel, durch eine kurzsichtig-eigennützige Verwaltung in ein Stadium des Verfalls gerathen würden.

Es waren friedlichere Zeiten, als ich zum ersten Male die Fahrt durch den Canal auf einem französischen Postdampfer machte. Der Sturm hatte uns im Mittelmeer einigermaßen mitgenommen und die ungewöhnlich kühle Witterung, welche er gebracht, hielt bis in die Nähe Aegyptens an. Hier aber machte sich wärmere Luft geltend; Nebel und Gewölk verschwanden gänzlich, und bestrahlt von heller Sonne liefen wir am Mittage des 25. Oktober 1879 in Port Said ein. Der Strand, den wir erblickten, war der der Wüste, jener zauberhafte Strand, der den Wissensdrang so manches Gelehrten, der den Muth kühner Reisenden bis zur Opferwilligkeit steigerte, eine Sphinx, die uns nicht ruhen läßt, bis wir ihre Räthsel gelöst, die aber auch dann ihre Anziehungskraft nicht verliert – denn in der That: die Wüste ist schön.

Der blaue Himmel über dem gelben Sande, mit dem der Wind spielte, die Rinderheerde, vom schwarzen Fellah durch Zuruf gelenkt, welche am scheinbar nackten Strande weidete, die Palmen, deren herrliche Kronen sich über Dächer und zwischen Sandhügeln erhoben – all das bestrahlt von einem Lichte, gegen welches selbst das des schönen Hesperiens erbleicht: das war das erste Bild vom Wüstensaume, das sich uns bot.

Einen ähnlich märchenhaften Eindruck ruft Port Said selbst hervor. Gerade, breite Straßen zwischen halb orientalisch gebauten Häusern, die aber auch eine bedenkliche Aehnlichkeit mit Holzbaracken verrathen, machen anfangs wohl einen eher abstoßenden als anziehenden Eindruck. Sieht man aber den Verkehr von Ost und West, Süd und Nord, die Menge der Waarenlager, die Emsigkeit der Handeltreibenden, und mischt man sich gar in das Gewirr der Völker, die vom Aegypter und Araber bis zum Inder und Europäer jeder Zunge und Zone dort vertreten sind, so macht das erste Vorurtheil bald dem Staunen über die Großartigkeit der Anlage dieses Hafenortes Platz. Port Said hat die übrigen Häfen am Canal, selbst Suez, weit überflügelt; vermöge seiner Lage leistet es eben, was keine andere Stadt Aegyptens leisten könnte. Daher entwickelt sich denn dort auch jetzt schon aus dem rein kaufmännischen Getriebe Comfort und Schmuck des Daseins. Im Wüstensande erheben sich Gärten und gewähren oder verheißen doch in Bälde Schatten und Kühlung; europäisches Geistesleben beginnt sich anzusiedeln und selbst die Kunst zeigt sich, wenn auch in schüchternen Anfängen.

Für mich war es nicht ohne Genuß, durch die Straßen zu pilgern und allerhand Einkäufe wohl in derselben Art zu machen, wie dies in den Erzählungen von „Tausend und einer Nacht“, einem zum großen Theil auf ägyptischem Boden erwachsenen Werke, in so unnachahmlicher Naturwahrheit geschildert wird. Begleitet war ich von einem genügsamen Lastträger, der nicht verfehlte, mir seinen Rath hinsichtlich der Wahl der Kaufläden zu ertheilen, einen Rath, der sich meist auch bewährte.

Die Anlage des Hafens gehört nicht zu den geringsten Schwierigkeiten, welche sich der Ausführung des Canalbaues entgegen setzten: lange Schutzdämme, aus großen Steinblöcken gefertigt und doch nur nothdürftig gegen den Wogenprall ausreichend, ermöglichen allein den Aufenthalt der großen Zahl der Schiffe, welche der Erlaubniß zur Einfahrt zu harren pflegen. Mit großen Geldopfern, wenn auch nicht gerade in zweckmäßigster Weise, hat man dem sturmgejagten Seefahrer einen ruhigen Zufluchtsort geschaffen, den ein hoher Leuchtthurm ihm weithin sichtbar macht.

Die Stadt dehnt sich zumeist am westlichen Ufer des Canals aus, sodaß wir am Morgen nach unserer Ankunft, bei Beginn der Canalfahrt, noch viele der stattlicheren Gebäude vor Augen hatten. Es war ein klarsonniger Tag, wie gewöhnlich hier zu Lande. Das Verdeck hatte bereits früher ein doppeltes Dach aus Segeltuch zum Schutze gegen die südliche Sonne erhalten; Kopfbedeckungen von wunderbarer, helmartiger Form, aus dem Marke einer indischen Pflanze hergestellt, kamen zum Vorschein, die größte Wohlthat aber gewährten die – von den Fellahs für billigen Preis zu erkaufenden grauen oder blaugrünen Brillen, die für jeden in Aegypten reisenden Nordländer eine Nothwendigkeit sind, wenn er sich nicht Kopfschmerz und Augenübel zuziehen will.

Zu Beginn der Fahrt lag zu unseren beiden Seiten, namentlich aber rechts von uns, die weite Fläche des Menzalehsees, einer jener Riesenlagunen, die den größeren Theil der Küste des Nildeltas einnehmen, eine seichte, von unzähligen Inseln unterbrochene, von Schwärmen des verschiedensten Geflügels bevölkerte Wasserfläche. Besonders fielen uns die Flamingos auf, deren dichte Schaaren schneeweißen Inseln glichen. Nur mit Hülfe des Fernrohrs konnten wir das helle, röthlich angehauchte Gefieder dieser Thiere erkennen.

Der Postdampfer genoß damals ein gewisses Vorrecht vor anderen Schiffen und glitt ungehindert an den Fahrzeugen vorbei, welche an den Haltestellen auf seine Vorüberfahrt zu warten hatten. So ging es rasch weiter; auf den See folgte eine flache, völlig ebene Wüstenstrecke niedrigen Niveaus; hinter derselben aber zeigten sich, oft mit wunderbar schöner Luftspiegelung, die Dünen – Erg oder Areb – der Wüste, in deren Bereich wir in den Umgebungen des wenig bedeutenden Abu-Ballahsees kamen. Der Wüstensand, der durch die Morgenbrise nicht blos auf’s Verdeck, sondern durch alle Schiffsräume geweht ward, wäre uns hier vermuthlich noch beschwerlicher gefallen, wenn nicht um Mittag der Wind sich etwas gelegt hätte. Nun konnten wir die ferneren Dünenhügel, deren Kamm in fortwährender Bewegung blieb, ungestört betrachten und uns des Anblicks der Kameelheerden und Karawanen erfreuen, welche unserer Vorbeifahrt harrten, um den Canal überschreiten zu können, oder wir konnten unser Mitgefühl einem schwarzbraunen Fellah schenken, der, vom Schweiß überströmt, im heißen Sande watete und an langer Leine mühsam ein Schifflein zog.

Gluthroth sank schon die Sonne, als unser Schiff zwischen den hohen Sanddünen anlangte, welche sich auf dem Wege zwischen dem Abu-Ballahsee und Ismailia befinden. Den Vorschriften gemäß mußten wir hier übernachten, rechts und links vom Wüstensande eingeschlossen, der sich zu beiden Seiten an den Böschungen erhob. Noch eine kurze Frist, und der volle Mond bestrahlte den jetzt ganz weiß erscheinenden Sand. Die tiefste Stille herrschte weit und breit – wir waren allein in der Wüstennacht.

Einen angenehmen Contrast bildete in der That diese Nacht gegen den lärmenden Aufenthalt in den Häfen; noch mehr aber als wir Passagiere empfanden dies die Matrosen, die hier ohne die schweren Plagen des Ein- und Ausladens von Waaren ihre Nachtruhe genießen konnten. Sie waren daher ungewöhnlich vergnügt und unternahmen einen Streifzug an’s Land. Ein Boot ward hinabgelassen, die Schiffstreppe folgte, und alsbald war der Kahn dicht mit Matrosen besetzt, welche an’s Ufer ruderten und Einer nach dem Andern die sandige Böschung erstiegen. Bis über die Kniee sanken sie in den Sand; doch das focht sie wenig an – [580] bald war die Höhe erklommen, und ein lautes „vive la compagnie!“ tönte durch die Stille. Dann zogen sie am Böschungsrande dahin, bogen ab und gaben uns durch ein paar Raketen, welche vom Schiffe aus erwidert wurden, ein Lebenszeichen.

Bald verbreitete sich unter den Passagieren die Kunde, daß sonderbare „Ruinen" in der Nähe zu sehen seien, und so wallfahrteten denn auch Manche von uns an’s Land. Ich schloß mich dem letzten Zuge an, der am weitesten vordrang. Wir verschmähten es nicht, einen gut vorgerichteten Landungsplatz am westlichen Canalufer aufzusuchen, und hatten daher den großen Vortheil, vom Boote aus mittelst einer Holztreppe die Hohe des Wüstenplateaus erklimmen zu können. Immerhin war das Hinaufsteigen nicht ohne Beschwerde; denn manche der Stufen waren förmlich vom Sande verweht. Ich machte hier schon die Bemerkung, daß der Wüstensand jetzt ebenso angenehm die Füße kühlte, wie er zur Tageszeit gebrannt haben mußte.

Ansicht der Stadt Suez.

Nichts beschreibt meine Ueberraschung, als ich oben statt der Ruinen in lautloser, nur selten von einem Schakal- oder Eulenrufe unterbrochener Stille eine anscheinend vollständige Stadt erblickte. Freilich gewahrte ich, sobald ich hineintrat, hier eine niedergestürzte Reihe von Fensterläden – mit dem orientalischen schrägen Gitterwerke –, dort halbdemolirte Wände und zerstreute Dachtrümmer. Aber noch hielt das Ganze nothdürftig zusammen; noch hielt man selbst die Haus- und Gartenthüren geschlossen, und zuletzt, am äußersten Ende, fanden wir eine Wache von drei Aegyptern – die einzigen menschlichen Wesen weit und breit. Sie hießen uns, wenn auch in fremder Zunge, doch augenscheinlich herzlich willkommen, befragten uns so lange, bis sie von unserer Herkunft genugsam unterrichtet zu sein glaubten, und reichten uns die rasch bereitete Schale mit Mokka, den unausbleiblichen Willkommen der Orientalen. Tabak besaßen sie nicht und waren daher hocherfreut, als wir sie zum Lohne ihrer Gastlichkeit damit beschenkten. Als wir durch den Sand der geisterhaft leeren Straßen und durch das eigenthümliche Gemenge künstlicher Vegetation und echten Wüstengestrüppes unseren Rückweg antraten, begleiteten sie uns zur Landungsstelle, um vom Schiffe aus noch eine kleine Gabe der ihnen überaus werthvollen Cigarren zu erlangen.

Sonderbar schien es mir später, daß kein Grauen vor der Zerstörung, die unserem Auge in fast taghellem Mondscheine sich darbot, in meine Seele fließen wollte. Es war ein stiller Tod, der das Menschenwerk hier getroffen, der Tod durch die allmächtige Hand der Natur. Die kleine Stadt war durch Mangel an Trinkwasser zu Grunde gegangen.

Der Wind ruhte völlig, und wir konnten ohne alle Störung die Schönheit der nächtlichen Wüstenlandschaft genießen, durch die friedlichste Ruhe der Natur von den friedlichen Söhnen der Wüste geleitet. Die Kühlung war uns werthvoll; sie labte uns hier zum letzten Male für lange, lange Zeit.

Mit Sonnenaufgang setzte sich das Schiff wieder in Bewegung, zunächst in der gewohnten langsamen Weise, bis wir den Timsahsee erreichten, dessen breitere Fläche die ängstlichen Vorsichtsmaßregeln unnöthig macht. Hier sieht man westwärts die freundliche Oasenreihe, aus deren Palmenzweigen Ismailia mit seiner Eisenbahnstation und dem khedivischen Palaste hervorleuchtet. Dann durchfuhren wir wieder langsam eine tiefer in geschichtetes Erdreich eingeschnittene Canalstrecke, darauf die großen Bitterseen, welche wiederum rasch passirt wurden und sehr wesentlich zur Abkürzung der Fahrzeit beitrugen, endlich noch eine kurze Strecke schmaleren Wassers, auf welcher uns die schwarzen Fellahknaben unablässig begleiteten und um Kupfermünzen bettelten, welche sie – wie immer zur Zeit der Ebbe, die sich von Suez bis zu den Bitterseen wohl bemerkbar macht – gierig aus dem Uferschlamm hervorholten.

So ging es weiter und weiter, bis wir am frühen Nachmittage unter immer glühenderem Sonnenbrande im Hafen von Suez anlangten. Die Stadt selbst zu besuchen, war leider nicht möglich; wir sahen sie nur als malerische Gruppe massiger Steinhäuser inmitten des herrlichen Panoramas, das uns hier die Felsenwüste darbot. Vor uns im seichten Meere tummelten sich Schwärme großer Delphine und umkreisten das Schiff mit drolligen Sprüngen; nahe bei uns, auf einer Landzunge neben der Canalausfahrt, war ein Lager ägyptischer Truppen aufgeschlagen, deren braune Gestalten im bunten Waffenschmucke zwischen den Zelten ein anziehendes Bild friedlichen Soldatenlebens gewährten. Die zackigen Höhenzüge ringsum waren von jenem zauberhaften rosigen Lichte übergossen, das wohl nur in Aegypten zu voller Geltung kommt. Annähernd so schön sieht man es in Italien, doch jene Klarheit und zauberhafte Harmonie der Farben habe ich nirgendwo gesehen, als in der Landschaft um Suez.

Unwillkürlich mußte ich an die Aquarelle denken, durch welche Hildebrand uns Deutsche in der That mit diesem Farbenzauber bekannt gemacht hat. Die Wiedergabe desselben ist so überraschend treu, daß ich oft den Namen des Künstlers ausrief, wenn ich eines seiner Bilder gleichsam in der Natur vor mir sah.

Vor Sonnenuntergang verließen wir den Hafen, doch es dunkelte, bevor wir uns vom Anblicke der Uferfelsen losrissen. Das war meine erste Fahrt durch den Suezcanal. – –

Mehr denn zwei Jahre waren verflossen – der Januar 1882 näherte sich seinem Ende – als ein Dampfer derselben [581] Linie mich zurück nach Suez brachte. Auf der Heimreise begriffen, hatte ich vermeint, noch die Wunder des Pharaonenlandes erschauen zu können, doch als wir am Abend in den Hafen einliefen, ward uns angekündigt, daß wir Quarantäne hätten, und die gelbe Fahne wurde am Maste aufgezogen. Diese Enttäuschung blieb nicht die einzige; es war, als sollten wir überhaupt die Kehrseite von dem kennen lernen, wovon bei der ersten Fahrt fast nur die glänzende Lichtseite bemerkbar gewesen war.

Ohne Zweifel hatten sich aber auch die Zeiten geändert; die ägyptischen Wirren lasteten schon auf Land und Leuten, und da wir später, bei der Landung in Neapel, hörten, daß die Quarantäne in Aegypten bereits zur Zeit unserer Ankunft gesetzlich nicht mehr bestanden habe, so bin ich überzeugt, daß auch bei dieser Angelegenheit anarchische Elemente ihr Wesen trieben.

Nicht minder lästig waren die endlosen Verzögerungen der Einfahrtsordre; erst gegen Mittag erhielten wir dieselbe und fuhren nun hinter zwei anderen Schiffen in den Canal ein, von denen wir später eins überholten. Wir erfuhren zu unserem großen Leidwesen, daß von einer Bevorzugung der Postdampfer nicht mehr die Rede sei. Die Canalverwaltung scheint die Absicht gehabt zu haben, die Taxe für dieselben über den bisherigen Satz zu erhöhen und sie zur Zahlung des den Handelsschiffen auferlegten Zuschlages zu zwingen. Wenigstens läßt sich sonst kaum ein stichhaltiger Grund für ein Verfahren auffinden, das zum Schaden aller Verkehrtreibenden und Reisenden gerade denjenigen Schiffen empfindliche Verzögerungen verursacht, die den Zweck und die Verpflichtung rascher und sicherer Beförderung haben.

Neuer Hafen von Suez und Fernsicht auf die Felswüste von Ataka.

Wie dem aber auch sei, wir hatten in Folge dieser Neuerung geradezu unerhörten Aufenthalt und machten dabei denn auch gründliche Bekanntschaft mit der Thatsache, daß die Böschungen des Canals sich in einem wahrhaft verwahrlosten Zustande befinden. Eine Versandung des Canales, welche trotz der Wüstenwinde sonst nicht zu befürchten sein würde, wird die unausbleibliche Folge dieser Vernachlässigung sein, wenn nicht noch zu rechter Zeit in ganz anderer Weise, als dies bis zum Januar 1882 geschehen, Vorkehrungen dagegen getroffen werden.

Bis dahin hatte man nur ein gewisses Quantum von Steinen sehr mäßiger Größe und Qualität aus den Gebirgen um Suez an den Canal geschafft und die Böschungen in ziemlich liederlicher Weise damit auszubessern begonnen. Anfangs scheint man der Ansicht gewesen zu sein, daß man die Ufer durch Anpflanzungen in gutem Stande erhalten könne, doch erweist sich dies als verfehlt, da der sandige Boden und das trockene Klima kein gehöriges Bewachsen zulassen. Hierbei macht es sich doppelt fühlbar, welcher Uebelstand in der geringen Breite des Canals liegt. Wäre derselbe so angelegt, daß überall zwei Schiffe an einander vorbeifahren könnten – was zur Zeit nur an den Ausweichstellen der Fall – so würde die Beschaffenheit der Böschung keine so große Rolle spielen und die Wasserbewegung beträchtlich ermäßigt sein.

Selbst in dem geschichteten Erdreich in dem südlichen Theile des Canals, das man als einen Ausläufer der Plateauwüste ansehen darf, zeigte sich öfter ein Unterspülen der Ufer, und an einzelnen Stellen waren sogar die mangelhaften Steinpackungen wieder schadhaft geworden. Natürlich wurde angesichts dieses Uebelstandes noch ängstlicher darauf gehalten, daß die Schiffe mit der gehörigen Langsamkeit fuhren. In den engeren Canalstrecken brachten wir es höchstens auf 5 Seemeilen oder 1¼ geographische Meile in der Stunde, und meistens ermäßigte sich die Geschwindigkeit noch mehr, oft bis auf 3½ Seemeilen in der Stunde.

Das häufige Anhalten, zu dem wir gezwungen waren, ward um so lästiger und zeitraubender, als wir widrigen Wind, fast genau Nordwind, hatten, der uns etwas schräg von der rechten Seite her packte und das Schiff unbarmherzig in die versandeten Theile am Westufer des Canals trieb. Nachdem wir 14 Meilen nach mancherlei Hindernissen um 3½ Uhr zurückgelegt, mußten wir für den ersten Tag Halt machen. Der lange Aufenthalt war [582] um so unangenehmer, als der Wind kalt und zugleich jeder Ausflug an’s Land durch die Quarantäne abgeschnitten war.

Am folgenden Tage schien sich die Sache anfänglich günstiger gestalten zu wollen; wir hatten die Strecke durch die Bitterseen schon vor 10 Uhr Morgens hinter uns. Allein dann erneuten sich die Erlebnisse des vorigen Tages: Wir lagen stundenlang fest und fuhren erst nach Mittag weiter, um schon nach einer halben Stunde abermals zum Halten gezwungen zu werden. Auf der Strecke zwischen den Bitterseen und Ismailia waren die Böschungen in noch schlechterem Zustande, was vollkommen erklärlich, da hier mit den dürftigen Reparaturarbeiten überhaupt noch nicht begonnen war. In Folge davon hatte denn auch ein etwas voreiliger Versuch, das Schiff von einer Sandbank, auf der es festsaß, durch die Kraft der Schraube loszumachen, keinen andern Erfolg, als daß die Schraube stark verletzt wurde. Eins ihrer Blätter brach ab; ein zweites ward stark, ein drittes weniger verbogen, und nur eins blieb unversehrt.

Bei der langsamen Canalfahrt war dies jedoch zunächst ohne hemmenden Einfluß, und so ging die Reise an der Oasengruppe von Ismailia vorüber durch den Timsahsee ohne weitere Störung fort. Dann hatten wir noch zweimal Aufenthalt, sodaß wir 30 Seemeilen von Port Said entfernt abermals zu übernachten hatten.

Am dritten Tage der Fahrt lag die Dünenwüste hinter uns, allein noch immer waren die Hemmnisse nicht zu Ende. Nachdem wir kaum 3 Meilen weiter gefahren, hatten wir 1½ Stunden Aufenthalt. Dann ging es etwas besser, bis wir etwa um 1 Uhr noch 7½ Seemeilen vom Hafen entfernt waren. Hier aber wurde uns ein abermaliger Halt von mehr als 3 Stunden bescheert, sodaß wir froh sein mußten, überhaupt noch – etwas nach Sonnenuntergang – nach Port Said zu gelangen.

Das sind die Erfahrungen, um die mich meine zweite Fahrt durch den Canal von Suez bereicherte. Die daraus zu ziehenden Schlüsse liegen auf der Hand: Gehen die Dinge in der Weise fort, wie dies in den letzten Jahren geschehen, und wie es leider schon durch die erste Anlage bedingt war, so ist offenbar die ununterbrochene Fortdauer der Fahrbarkeit des Canals in Frage gestellt. Gewiß wäre es nicht zeitgemäß, jetzt auf Aenderungen der ganzen Bau-Ausführung zu dringen, welche mit den größten Schwierigkeiten verknüpft wären, nämlich auf ein Verflachen der Böschungen und ein Verbreitern der Fahrstraße, welche auf lange Strecken nur 60 Meter im Wasserspiegel bei 8 Meter Tiefe und 22 Meter Bodenbreite mißt. Dagegen ist die Beseitigung der Uebelstände, unter welchen wir gleich Tausenden anderer Schiffe zu leiden hatten, um so dringender geboten und ohne Zögern eine gründliche Uferbefestigung und durchgängige Austiefung des Canals vorzunehmen. Hierbei sind sämmtliche Nationen Europas ohne Ausnahme betheiligt, und keine Regierung sollte sich der Aufgabe entziehen, die Leitung eines Unternehmens gehörig zu überwachen, das ein Stolz unseres Jahrhunderts und ein unschätzbares Kleinod Europas genannt werden muß und nun und nimmer uns verloren gehen darf.[3]


Aus deutschen Idiotenanstalten.

„Ihr kauft die Kräuter, kauft die Gräser
Für Euern kranken Bologneser
Und pflegt den Liebling mild;
Ihr gebt Schabracken Euern Rossen,
Deckt weit und breit mit seinen Schloßen
Der Winter das Gefild.
Euch rührt das Würmlein auf der Erde –
Doch nicht mit flehender Geberde
Ein trostlos Menschenkind.“

Diese Worte aus Karl Beck’s „Liedern vom armen Manne“ fielen uns ein, als wir im letzten Sommer, von Wien kommend, einige der lieblichen Thäler Steiermarks durchwanderten und als uns dort kurze, schmutzig-gelbe Gestalten, mit großem Kropfe, struppigen Haaren, niedriger Stirn und blöde dreinschauenden Augen in den Weg traten und mit rauher, kreischender Stimme um Almosen baten. Es waren Cretins, verkümmerte, halbblödsinnige Menschen, wie man sie in jenen Gebirgsgegenden leider nur allzu häufig anzutreffen pflegt. Unwillkürlich gedachten wir bei diesem Anblicke der Idiotenheilpflege in unserer Heimath. In ein wie helles Licht tritt dem Schicksale solcher armer Thalbewohner gegenüber das deutsche Idiotenwesen! Wenn wir auch zugeben müssen, daß auch bei uns die Lage der Blöd- und Schwachsinnigen noch Manches zu wünschen übrig läßt, so kann doch gar nicht verkannt werden, daß wir uns auf dem Wege einer gesunden Entwickelung dieser humanitären Bestrebungen befinden und daß bei uns – namentlich in den letzten Jahrzehnten – nach dieser Seite hin viel und bei weitem mehr als anderwärts geleistet worden ist. Das Nachstehende, in dem wir von den einschlagenden Bestrebungen ein gedrängtes Bild zu entwerfen gedenken, wird dazu einige Belege liefern.

Kein Land hat verhältnißmäßig so viele Anstalten für Blöd- und Schwachsinnige aufzuweisen, wie Deutschland. Während z. B. in den österreichischen Ländern nur vier derartige Unternehmungen mit etwas über hundert Zöglingen bestehen, giebt es innerhalb der Grenzen des deutschen Reiches gegenwärtig schon mehr als dreißig Lehr- und Pflegestätten für Blöd- und Schwachsinnige mit etwa fünftausend Zöglingen. Die meisten derselben sind Privatanstalten; einige unter ihnen genießen laufende Unterstützungen von Regierungen, Gemeinden etc., andere dagegen sind bezüglich ihrer Existenz nur auf sich selbst angewiesen. Das Königreich Sachsen war der erste deutsche Staat, welcher auf seine Kosten ein derartiges Institut in’s Leben rief: es ist dies die blühende „Erziehungsanstalt für blödsinnige Kinder in Hubertusburg“. (Siehe „Gartenlaube“ 1858, S. 151, außerdem über verwandte Gegenstände: 1862, S. 600, 1879, S. 576, 656, 728.)

Im Jahre 1867 folgte dem Beispiele Sachsens das Großherzogthum Mecklenburg-Schwerin und errichtete ein ähnliches Unternehmen in der Nähe seiner Hauptstadt.

Die innere Leitung der deutschen Anstalten liegt in der Hand entweder eines Arztes oder eines Pädagogen. Welche von beiden Leitungen die bessere sei, darin gehen die Ansichten noch aus einander. Nach unserer Meinung ist jeder Streit in dieser Beziehung ein müßiger: denn die Art der Vorbildung allein ist es sicher nicht, die von vornherein zur Leitung einer Anstalt befähigt. Steht an der Spitze derselben ein Arzt, so wird er nicht umhin können, sich bis zu einem gewissen Grade mit der Pädagogik zu befassen, und ist der Leiter ein Pädagoge, so wird von ihm vorausgesetzt werden müssen, daß er den Menschen nicht nur nach seiner psychischen, sondern auch nach seiner physischen Seite hin kenne.

Die Leiter der deutschen Idiotenanstalten versammeln sich in bestimmten Zeiträumen zu gemeinschaftlichen Conferenzen. Solcher Versammlungen – „Conferenzen für Idioten-Heilpflege“, wie ihr officieller Titel lautet – haben bisher, nachdem die Vertreter einer Anzahl von Anstalten bereits 1865 in Hannover, gleichzeitig mit der daselbst tagenden Naturforscherversammlung sich ein Rendez-vous gegeben, drei stattgefunden, und zwar 1874 in Berlin, 1877 in Leipzig und 1880 in Stuttgart. Seit der letzten Versammlung haben diese Conferenzen in der „Zeitschrift für das Idiotenwesen“ ein eigenes Organ gewonnen, welches in Dresden erscheint und unter Mitwirkung von Aerzten und Pädagogen vom Director W. Schröter in Dresden und Lehrer E. Reichelt in Hubertusburg herausgegeben wird.

Wiederholt haben sich diese Conferenzen mit dem Wesen des Blöd- und Schwachsinns und dessen Eintheilung beschäftigt, und insbesondere hat man die Frage aufgestellt, ob Blöd- und Schwachsinn als Krankheit oder als Schwäche anzusehen sei. Während diese Frage, deren Beantwortung in der Hauptsache nur von wissenschaftlichem Werthe ist, noch als eine offene bezeichnet werden muß, haben die Verhandlungen wenigstens zu dem Beschlusse geführt, für alle Zustände, welche als eine Hemmung der psychischen Entwickelung erscheinen, vom niedrigsten Grade geistiger Schwäche an bis zum vollen Blödsinn, die Bezeichnung Idiotie zu gebrauchen. Im praktischen Idiotenwesen hat sich seither die Eintheilung der Leidenden in bildungsfähige und bildungsunfähige eingebürgert.

[583] Unter den bildungsunfähigen Idioten werden diejenigen verstanden, bei denen wir in der Hauptsache nur von einem Triebleben reden können, die z. B. eine ihnen vorgemachte Bewegung der Beine, Arme, Hände nicht nachzuahmen verstehen, auch nicht im Stande sind, sich die Anfänge des Elementarunterrichts anzueignen und nach alledem nicht die geringste Aussicht bieten, einigermaßen zur Selbstständigkeit zu gelangen. Das sind die wirklich Blödsinnigen, die Voll-Idioten.

Eine wesentlich höhere Stufe nehmen ihre bildungsfähigen Leidensgenossen ein: sie zeigen in der Regel dieselbe Empfänglichkeit für Sinneseindrücke, wie der geistig normale Mensch, aber es fehlt ihnen die Kraft, diese Eindrücke in demselben Maße wie jener festzuhalten. Der bildungsfähige Idiot hat den Charakter der Vernünftigkeit; seinem Wollen und Handeln können sittliche und religiöse Motive zu Grunde liegen, aber alles, was er denkt und thut, geschieht bei ihm viel langsamer, als bei dem geistig Gesunden. Bei ihm strebt die gehemmte psychische Entwickelung mit der fortschreitenden körperlichen Entfaltung einer gewissen Ausgleichung zu. Er ist unterrichts-, weil entwickelungsfähig, während der Blödsinnige nur als gewöhnungs- und höchstens beschäftigungsfähig bezeichnet werden kann. Bei dem Schwachsinnigen liegt der Schwerpunkt seiner Behandlung in der Erziehung und Bildung, bei dem Blödsinnigen in der Pflege und Beschäftigung.

Je nachdem nun eine Anstalt sich mit diesen oder jenen Zöglingen beschäftigt, ist sie entweder eine Erziehungs- oder eine Pflege-Anstalt. Die größeren Institute Deutschlands vereinigen in sich beide Richtungen, während die kleineren entweder nur Erziehungs- oder Pflege-Anstalten sind.

Aus dem Gesagten ergiebt sich, daß die Pflege-Anstalt ein anderes Bild bieten muß als die Erziehungsanstalt. Während wir in der letzteren meist körperlich gesunden Kindern begegnen, treffen wir in der ersteren verhältnißmäßig viele mit körperlichen Gebrechen an. Die Zöglinge der Erziehungsanstalt verstehen, was wir zu ihnen sagen, sind mehr oder weniger selbst der Sprache mächtig, und wir können uns mit ihnen unterhalten; in der Pflege-Anstalt giebt es dagegen immer eine Anzahl solcher Kinder, über deren Lippen noch nie ein Wort gekommen ist und voraussichtlich auch keines kommen wird; einige starren theilnahmlos vor sich hin; andere schwatzen und sprechen zu uns unaufhörlich ein und dasselbe.

Da ferner unter den Idioten die Epilepsie häufiger auftritt, als unter geistig Gesunden, so trifft man in jenen Anstalten oft auch Epileptiker an. Einige deutsche Anstalten schließen diese Art Leidende mit Rücksicht auf die übrigen Zöglinge aus; in anderen bestehen besondere Abtheilungen für Epileptische.

Welche Aufgabe aber stellt sich nun die Erziehungsanstalt für Schwachsinnige? Sie erstrebt dasselbe, was die Volksschule als ihr Ziel ansieht; denn sie will ihren Zöglingen die Grundlagen sittlich-religiöser Bildung und diejenigen Kenntnisse und Fertigkeiten verschaffen, welche für das Leben nöthig sind. So hoch auch dieses Ziel schwachsinnigen Kindern gegenüber erscheinen mag, so hat doch die Erfahrung gelehrt, daß es in vielen Fällen möglich gewesen ist, dasselbe zu erreichen. Natürlich aber setzt diese Erfüllung des angegebenen Zweckes die Erfüllung gewisser Bedingungen voraus, von denen hier ganz besonders eine betont werden muß: da die Volksschule zur Erreichung ihres Zieles fast allgemein einen achtjährigen Schulbesuch fordert, so bedarf die Erziehungsanstalt für Schwachsinnige natürlich mindestens die gleiche Zeit zur Lösung ihrer Aufgabe. Es liegt deshalb im Interesse eines schwachsinnigen Kindes, daß es der Anstalt möglichst frühzeitig übergeben und so lange in derselben belassen werde, bis das Anstaltsziel an ihm, soweit dies möglich erscheint, erreicht ist. Ein Blick in irgend eine Idiotenschule wird die Nothwendigkeit dieser Forderung bestätigen: überall werden diejenigen Zöglinge als der Norm am nächsten stehend erscheinen, welche der Anstalt möglichst jung zugeführt wurden. Die meisten Institute nehmen deshalb auch schon fünfjährige, ja nicht selten noch jüngere Kinder auf, natürlich nicht, um dieselben schon in aller Form zu unterrichten – das kann ja oft vor dem siebenten oder achten Jahre nicht geschehen – sondern um sie in geeigneter Weise, besonders in physischer Hinsicht, zu erziehen und nach und nach für den Unterricht vorzubereiten.

Da eine methodische Einwirkung auf die geistige Entwickelung der Schwachsinnigen einen gewissen Grad körperlicher Kräftigung voraussetzt, so gilt das erste und dringlichste Bemühen der Anstalt der körperlichen Erziehung. Selbstverständlich ist, daß das Institut eine gesunde Lage haben muß und daß seine Wohn-, Unterrichts-, Schlaf- und Beschäftigungsräume allen sanitären Anforderungen zu entsprechen haben. Ebenso unerläßlich erscheint ein geräumiger Hof und Garten mit Turn- und Spielplätzen und eine entsprechende Vorrichtung zum Baden. Eine wichtige Stellung nehmen die gymnastischen Uebungen ein; sie treten hier aber nicht nur als tägliche Lectionen auf, sondern es werden mit ihnen auch vielfach die Pausen zwischen den Unterrichtsstunden und die freien Stunden überhaupt ausgefüllt. In fast allen Lehr- und Pflegestätten Deutschlands werden besonders die Fröbel’schen Glieder- und Bewegungsspiele geübt.

Die Unterrichtsgegenstände der Anstalt für Schwachsinnige sind im Allgemeinen dieselben, wie die der Volksschule, und wenn auch in einigen Disciplinen eine Beschränkung des Stoffes eintreten muß, so kommt es doch nicht selten vor, daß die besseren Zöglinge bei ihrer Entlassung aus der Anstalt im Wissen und Können manchen Schülern der Volksschule gleichstehen. Ja wir haben sogar erlebt, daß diese von jenen übertroffen wurden; freilich gehörten solche Fälle zu den Ausnahmen, und obgleich es vorkommt, daß Schwachsinnige nach einzelnen Richtungen hin, z. B. für Musik, besondere Neigung und Begabung zeigen, so ist ihnen doch selbstverständlich die künstlerische oder wissenschaftliche Laufbahn verschlossen. Dagegen gilt es, sie, wenn irgend möglich, zu tüchtigen, für das Leben brauchbaren Menschen heranzubilden.

Wir finden deshalb in fast allen Instituten die Einrichtung, daß die Zöglinge zu verschiedenen Beschäftigungen angeleitet werden. Bei den Mädchen sind es vorzugsweise die weiblichen Handarbeiten und die Geschäfte des Haushaltes, die hierzu ein geeignetes Arbeitsfeld darbieten; dazu kommen aber an manchen Orten noch andere Beschäftigungen, wie Weben, Wirken, Zwirnen etc., während die Knaben mit landwirthschaftlichen Arbeiten oder in besondern Werkstätten beschäftigt werden. Aber „Eines schickt sich nicht für Alle“ – und deshalb hat jede einzelne Anstalt immer mehrere Arbeiten in ihren Erziehungsplan aufgenommen, sodaß sie sowohl die Individualität wie die gesellschaftliche Stellung der einzelnen Zöglinge zu berücksichtigen vermag.

Wollte man nach dem Gesagten annehmen, es gingen aus der Schule fertige Handwerker etc. hervor, so wäre dies ein Irrthum; denn von einer wirklichen Erlernung eines Berufes kann dort nicht die Rede sein. Der Zögling soll, sobald er sich den nöthigen Grad intellectueller und sittlicher Reife erworben, die Anstalt verlassen und seine berufliche Ausbildung da vollenden, wo sie der Lehrling mit normaler Veranlagung sucht und findet. Allerdings wird es nicht selten schwierig sein, für den schwachsinnigen Knaben einen geeigneten Lehrmeister zu finden, die Erfahrung aber hat gelehrt, daß der soeben angegebene Weg der rechte war; denn die Lehrlingsjahre sind für den Zögling zugleich der nothwendige Uebergang aus der Schule zu der zu erringenden Stellung in der Gesellschaft. Man kann sich deshalb auch nicht erwärmen für Errichtung besonderer, mit dem Institut verbundener „Lehrlingswerkstätten“, dagegen werden von allen Seiten „Asyle“ für solche Zöglinge gefordert, welche es wohl bis zu einem gewissen Grade von geistiger und mechanischer Ausbildung gebracht haben, selbstständig jedoch nie werden und aus irgend einem Grunde auch nicht zu den Ihrigen zurückkehren können. Mehrere deutsche Schulen für Schwachsinnige besitzen bereits solche Asyle oder „Beschäftigungsanstalten“; andere streben die Einrichtung derselben an.

Wie aber das Bedürfniß an Asylen ein dringendes ist, so bleibt auch eine Vermehrung der Erziehungsanstalten noch zu wünschen; denn wenn auch in Deutschland gegen 5000 Blöd- und Schwachsinnige im Genusse einer ihrem Wesen entsprechenden Behandlung und Erziehung sind, so giebt es doch auch hier noch eine weit größere Anzahl, welche diese Wohlthat entbehren muß, weil die bestehenden Lehr- und Pflegestätten nicht ausreichen.

Da sich namentlich in größeren Städten viele schwachsinnige Kinder vorfinden, so hat man angefangen hier und da besondere Classen und Schulen für Schwachsinnige einzurichten, wie dies unter Anderen Taubstummenlehrer Stötzner in der bereits 1864 erschienenen Schrift „Schulen für schwachbefähigte Kinder“, Professor Bock in der „Gartenlaube“, Jahrgang 1870, Seite 71 in dem Artikel „Schulkindkrankheiten oder Schulkrankheiten“ und neuerdings auch die Stuttgarter Conferenz angestrebt haben.


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Blätter und Blüthen.


Lenau’s sämmtliche Werke. Mit Biographie, Einleitungen und erläuternden Anmerkungen (Leipzig, Bibliographisches Institut). Tiefer, als man im Allgemeinen anzunehmen geneigt ist, wurzeln die dichterischen Erzeugnisse Nicolaus Lenau’s noch heute im Bewußtsein des deutschen Volks; seine Lieder werden nach wie vor vielfach gesungen, seine Balladen in den Schulen declamirt – das begreift sich leicht: der volksthümliche Geist, welcher der Poesie des unglücklichen Sängers der Pußta innewohnt, die vielfach geradezu hinreißenden Naturlaute, welche sie anschlägt, und der wunderbar melancholische Zauber eines tiefen Gemüthslebens, der aus ihr spricht – all dies legt die Dichtungen Lenau’s dem Herzen des Volkes für alle Zeiten nahe. Neue Aufklärungen über Leben und Werke unseres Dichters, welche sein literargeschichtliches Bild und seine menschliche Persönlichkeit in ein neues Licht rücken, dürfen daher in den weitesten Kreisen stets auf ein allgemein entgegenkommendes Interesse rechnen. Im Spiegel der neuen Ausgabe seiner Gesammtwerke, welche das Bibliographische Institut in Leipzig soeben in die Welt sendet, tritt nun Lenau’s halb imposante, halb rührende Gestalt vielfach in ein solches interessevolles neues Licht, und es sind namentlich zwei Wege, welche diese Ausgabe zur Erreichung ihres Zweckes einschlägt: zunächst leitet sie Lenau’s Werke durch eine vortreffliche Biographie des Dichters ein, welche, zugleich unter Benutzung der bisherigen Quellen, ein reiches, seither zum Theil noch unbenutzt gebliebenes Material zu einem eindrucksvollen Ganzen zusammenträgt; dann aber fügt sie dem Texte der lyrischen Gedichte und der größeren Dichtungen kürzere oder eingehendere Anmerkungen bei, welche nicht nur über die Abfassungszeit dieser einzelnen Dichtwerke, sondern auch über die tieferen biographischen und psychologischen Beziehungen derselben zum Leben unseres Dichters in dankenswerther Weise orientiren.


Bilder aus der baierischen Landesausstellung in Nürnberg:
Altmühler Bauern vor der „Blauen Grotte“. Die Veranda der Pfälzer Weinstube.

Originalzeichnungen von Professor Rudolf Geißler.


Außerdem sind den größeren Werken, wie „Faust“, „Savonarola“ und „Die Albigenser“, ausführliche Einleitungen vorangeschickt, welche dem Leser das Verständniß derselben erleichtern, das Interesse für dieselben erhöhen. Endlich aber liefert diese Ausgabe noch einen höchst werthvollen weiteren Beitrag zur Würdigung Lenau’s, indem sie uns in einem Anhange eine stattliche Reihe interessanter und oft geistreicher Bemerkungen darbietet, welche den Briefen und Gesprächen des Dichters entnommen sind und ihn uns oft von einer überraschend neuen Seite zeigen.

Wie aus dem Gesagten erhellt, zeichnet sich die neueste Lenau-Ausgabe vor den früheren Sammlungen der Werke dieses eigenartigen Dichtergenius in manchen Punkten vortheilhaft aus; zu weiterem Beweise dessen wollen wir schließlich nur noch auf ein schon äußerlich stark in’s Auge springendes Merkmal dieser Ausgabe hinweisen: in ihr weicht die Anordnung der Gedichte insofern von dem bisher üblichen Arrangement ab, als die Poesien, welche sich auf die drei hervorstechendsten Liebesverhältnisse Lenau’s beziehen – auf seine Verhältnisse zu Bertha, der schönen Wienerin, zu Lotte Gmelin in Stuttgart und zu Sophie Löwenthal, der Gattin des Wiener Hofconcipisten – hier der besseren Uebersicht wegen unmittelbar neben einander gestellt wurden, eine Anordnung, welche, weil sie innerlich Zusammengehöriges auch äußerlich zusammenfügt, eines besonderen Reizes nicht entbehrt.

Wir geben dem neuen „Lenau“ den Wunsch mit auf den Weg: er möge in allen Kreisen der deutschen Gesellschaft Eingang finden; denn

„Sich selber ehrt das Volk,
Das seine Dichter ehrt.“



Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Vor der Besetzung des Canals durch englische Kriegsschiffe geschrieben.
  2. Das ganze Capital beträgt etwa 19 Millionen Pfund Sterling, 380 Millionen Mark, von denen zur Zeit ungefähr 30 Millionen amortisirt sein müssen. Rechnet man zu den Amortisationen und Prioritätszinsen von 9 Millionen noch 6 Procent Zinsen, so bleiben 15 Millionen Mark jährlich disponibel.
  3. Sehr gelegen ist soeben erschienen: „E. Debes’ Karte von Unter-Aegypten, nebst Specialkarten des Suezcanals, der Umgebungen von Kairo, Alexandrien, Port Said, Ismailiye und Suez“ (1 Mark, Leipzig, Wagner und Debes). Sämmtliche Kärtchen zeichnen sich durch Correctheit, Deutlichkeit, Schönheit des Stichs, Drucks und Colorits aus und dürfen zur topographischen Anschauung der gegenwärtigen kriegerischen Vorgänge nachdrücklichst empfohlen werden.
    D. Red.