Die Gartenlaube (1882)/Heft 48

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1882
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 48.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Der Stein des Tiberius.

Novelle von F. Meister.
(Fortsetzung und Schluß.)

„Von dem Moment der soeben geschilderten Begegnung an nahm ich in unserer stillen Helene eine seltsame Veränderung wahr. Etwas Besonderes lag von jeher in ihrem Wesen, und ein großer Theil des Zaubers, den sie ausübte, bestand gerade darin, daß durch ihr gleichmäßig stilles Wesen unaufhörlich der leise Grundton zu klingen schien: ,Ihr meint mich zu kennen, aber ihr kennt mich noch lange nicht.‘ Nun, vielleicht waren wir drei prosaischen Menschenkinder, die wir ihre tägliche Umgebung bildeten, nicht auserwählt und würdig genug, sie recht zu erkennen, indessen, wenn mich eines Tages ein gewiegter Menschenkenner beim Rockknopf genommen und mir gesagt hätte, daß da in unserer Gesellschaft eine gewisse junge Dame sei, die ihren Freunden über kurz oder lang eine ganz ungemeine Ueberraschung zum Besten geben würde, dann hätte ich demselben Menschenkenner meinen Finger auf die Brust gesetzt und ihm lächelnd erwidert, daß er nur meiner eigenen Ueberzeugung Worte verliehen habe.

Ob in dem Verhältniß der beiden Verlobten während der letzten Zeit irgend eine Veränderung vorgegangen war, vermochte ich nicht mit Bestimmtheit zu erkennen, ich fühlte aber heraus, daß nicht alles so war, wie es sein sollte. Da Wenzel mir keinerlei Andeutungen machte, so brach ich endlich das Eis, indem ich ihn fragte, ob er wohl meine, daß Fräulein Dörpinghaus Grund gefunden habe, den großen Topas mit dem pittoresken jungen Manne in Verbindung zu bringen, den sie neulich in der Villa Borghese getroffen. Mein Freund fuhr empor.

‚Pittoresk hat sie ihn genannt?‘ fragte er. ‚Hat Helene Dir gesagt, daß sie den Kerl pittoresk fände?‘

‚Nicht doch! Das ist ihr nicht eingefallen. Aber er ist’s dennoch, so viel mußt Du ihm doch wenigstens zugestehen.‘

‚Hm, er hatte sein Haar mindestens acht Tage lang nicht gekämmt – wenn Du das meinst. Für solchen Vorzug dürfte Helene kaum empfänglich sein. Merkwürdig aber ist es allerdings, daß sie einen unbegreiflichen Widerwillen gegen den Topas empfindet. Sie behauptet, daß der Kaiser Tiberius ihr jede Freude an demselben verderbe. Das heißt nun, meiner Ansicht nach, die historischen Antipathien etwas weit treiben; bisher glaubte ich, daß einem hübschen Weibe durch nichts der Geschmack an blitzendem Edelgestein zu verleiden wäre. – Uebrigens steht fest, daß jener Vagabund sie damals angeredet hat.‘

‚Und was hat er ihr gesagt?‘

,Er fragte sie, ob sie meine Verlobte sei.‘

,Was erwiderte sie darauf.‘

‚Nichts.‘

,Sie wird erschrocken gewesen sein.‘

‚Möglich! Sie behauptet aber das Gegentheil. Zudem bat er sie, sich nicht vor ihm zu fürchten; er sei ein armer, harmloser Mensch, der nur sein Recht haben wolle. Sie entgegnete kein Wort und ließ ihn stehen. Ich sagte ihr, der Kerl sei wahnwitzig – und das ist nicht gelogen.‘

‚Vielleicht nicht,' erwiderte ich. Dann machte ich noch einen letzten Versuch, meinen Freund von dem Unrechte zu überzeugen, das er Angelo gegenüber begangen. ‚Höre, Wenzel,' sagte ich, ‚wenn heute Einer behauptete, in Deinem eigenen Unterscheidungsvermögen befände sich auch eine bedenkliche Verschiebung, so wäre das ebenfalls nichts gelogen. Ich habe hier den Topas im Sinne. Wenn Halsstarrigkeit unter gewissen Umständen über alle Grenzen getrieben wird, so erhält sie unbestreitbar eine verhängnisvolle Aehnlichkeit mit dem Wahnsinn.'

Wenzel lächelte kalt und abweisend.

‚Daß dergleichen Umstände hier vorhanden sind, bestreite ich,‘ sagte er. ,Und wenn ich verrückt bin, so nehme ich das Privilegium aller Verrückten für mich in Anspruch. ich halte mich für durchaus zurechnungsfähig. Wenn Du mir Moral predigen willst, dann mußt Du schon einen meiner lichten Momente zu diesem Zweck abwarten.‘ – –

Der erste Odem des jungen Frühlings übt einen fast magischen Einfluß auf die finstere, alte Siebenhügelstadt aus, hat dabei aber zugleich atmosphärische Uebelstände im Gefolge, die den Constitutionen der in Rom weilenden Fremden allerlei Ungemach zu bereiten pflegen. Es dauerte auch gar nicht lange, da begann der bereits vierzehn Tage hinter einander rasende Scirocco über das sonst so heitere und gleichmäßige Temperament der guten Frau Dörpinghaus einen Schleier krankhafter Schwermuth zu werfen. Sie glaubte das Malariafieber schon in ihren Adern zu fühlen. Der eiligst consultirte Arzt aber beruhigte sie wieder, rieth ihr einfach einen Wechsel des Aufenthaltes und empfahl ihr, zunächst einmal auf einige Wochen ihren Wohnsitz nach Albano zu verlegen. Demzufolge wurde sofort gepackt, und die beiden Damen siedelten, unter Wenzel’s Escorte, nach Albano über. Ich selber mußte aus verschiedenen Gründen in Rom zurückbleiben, dafür aber der liebenswürdigen Wittwe das Versprechen geben, sie sobald wie möglich in Albano zu besuchen.

Obgleich ich über den Gesundheitszustand der Frau Dörpinghaus etwas beunruhigt war, mußte ich doch acht Tage vergehen [790] lassen, ehe ich meinem Versprechen nachkommen konnte, und auch da durfte ich nur eine Nacht von Rom abwesend sein. In Albano traf ich meine Freunde gesund und wohl im Gasthofe an, und so konnte ich mich am nächsten Morgen beruhigt auf den Weg machen, um bei Zeiten wieder in Rom zu sein. Die alte, wackelige Landkutsche, die mich durch die noch nebelgraue Campagna bringen sollte, hielt vor dem etwa fünf Minuten entfernten Postgebäude und wartete auf ihre Ladung. Um den Weg abzukürzen, ging ich durch den kleinen Garten, der hinter dem Gasthause lag. Noch war Alles ringsum still; meine Schritte knirschten laut auf dem feuchten Kiese des Weges, der an einer moosgrünen, verstümmelten Statue und an einer breiten, steinernen Bank vorüberführte; von der letzteren erhob sich bei meinem Näherkommen ein Mensch – Angelo Beati!

,Angelo –!‘

Er stand ganz ruhig vor mir und sah mich lächelnd, dabei aber starr und mit seltsam herausfordernden Blicken an. Endlich murmelte er etwas zwischen den Zähnen, und ich glaubte zu verstehen, daß er doch wohl noch das Recht habe, sich in seines Nachbars Garten aufzuhalten.

,In Ihres Nachbars Garten?‘ fragte ich. ‚Nun ja, aber –‘

‚Nun, per Dio! wohne ich denn etwa nicht in Ariccia?‘

Und dabei lachte er fast wieder so kindisch wie damals, als wir ihn aus seinem Schlummer im grünen Grase gestört.

Es war mir bisher noch gar nicht eingefallen, daß sich Wenzel durch seine Uebersiedelung nach Albano thatsächlich in den allernächsten Bereich des Feindes begeben hatte. Ich fing jezt aber an zu glauben, daß dieser Feind doch wirklich nur ein recht harmloser sei. Wenn Angelo seine Machinationen darauf beschränkte, sich die fieberschwangeren Nächte in feuchten Gärten herumzutreiben, so schadete er hierdurch mehr sich selber, als Wenzel. Anfänglich hatte ich gemeint, daß das ihm widerfahrene Unrecht einen Mann aus ihm gemacht habe, jetzt aber gewahrte ich, wieviel romantische Zwecklosigkeit doch in dem Menschen steckte.

,Aber was thun Sie hier?‘ fragte ich. ‚Wie können Sie so gedankenlos sein und sich hier in der Nacht dem Fieber aussetzen? Sie werden sich den Tod holen und dann ist die ganze Geschichte mit einem Male zu Ende.‘

‚Nicht doch, Signorino mio, vor dem Fieber habe ich keine Furcht; hier sitzt ein Fieber‘ – dabei schlug er sich heftig auf die Brust – ,das ein Gegengift ist gegen alle Malaria. Allerdings verfolge ich hier meine Absichten, aber von denen haben Sie keine Ahnung. Lassen Sie mich in Frieden! Ich will Ihnen kein Leid zufügen. Jezt aber muß ich mich auf und davon machen; der Tag bricht an, und man soll mich hier nicht sehen.‘

Ich ergriff seinen Arm, hielt ihn fest und blickte ihm forschend in’s Gesicht. Er sah mich lächelnd an. In seinem dunklen Auge lag etwas wie ein tiefes, zielbewußtes Wollen. Er wendete sich ab, als fürchtete er, daß sein Gesicht mir zuviel offenbarte, und wie verlegen pfiff er leise vor sich hin.

,Hören Sie, Angelo,‘ sagte ich, ‚es schickt sich nicht für einen Mann wie Sie, daß er hier in Nacht und Nebel wie ein Einbrecher umherschleicht; ich will Ihnen –‘

Er unterbrach mich hastig.

‚Aspetti!‘ rief er zurücktretend. ‚Wenn Sie mit der Landkutsche nach Rom wollen, dann ist es jetzt die höchste Zeit, daß Sie zur Post kommen. Wir sehen uns wieder.‘

Damit ging er schnell davon.

Ich folgte ihm nachdenklich und anfänglich im Zweifel, ob ich nicht umkehren und Wenzel diese Begegnung mittheilen solle. Da ich aber überzeugt war, daß von einer Gefahr für die Freunde nicht die Rede sein konnte, schlug ich mir, so gut es ging, alle Bedenken aus dem Sinne und fuhr nach Rom zurück.

Hier aber wurde ich, trotz aller Bemühungen, den Gedanken nicht los, daß sich in Albano etwas unerwartetes, etwas Schlimmes, etwas Trauriges für meinen Freund vorbereitete; dieser Gedanke quälte und bedrückte mich schließlich so sehr, daß ich schon nach wenigen Tagen in einem leichten Miethsfuhrwerke wieder nach Albano hinausfuhr. Gegen Abend langte ich vor dem Gasthause an. Wenzel war mit den Damen ausgegangen, der Wirth aber konnte mir die Richtung nicht angeben, welche die kleine Gesellschaft eingeschlagen hatte. Es blieb mir nichts Anderes übrig, als bis zur Rückkehr derselben in dem schmutzigen Städtchen herumzuschlendern.

Dicht am albanischen See steht ein Kapuzinerkloster; die Thür der Kirche war offen; ich ging hinein. Abendliche Dunkelheit lag schon dicht in allen Ecken des Gotteshauses, auf dem Altare aber brannte eine Anzahl Kerzen, von irgend einem frommen Opferer dargebracht. Die Lichter flackerten roth in der Dämmerung; hier und dort knieete regungslos eine dunkle Gestalt; es war ein reizvolles Bild, und ich setzte mich nieder, es mit Muße zu genießen. Nach einigen Minuten bemerkte ich nicht weit von meinem Platze eine junge, weibliche Gestalt in andächtiger Verzückung. Sie hielt die Hände auf den Knieen gefaltet und blickte mit erhobenem Antlitze und weit geöffneten, strahlenden Augen auf die flimmernden Kerzen des Altars, als habe sie dort, im Lichterscheine, eine Vision. Der Ausdruck ihres Gesichtes war so eigenthümlich, daß ich erst nach einigen Augenblicken in der verzückten Beterin – Helene Dörpinghaus erkannte.

Instinctiv suchten meine Augen ihre beiden Gefährten, aber weder Frau Dörpinghaus noch Wenzel waren zu sehen.

Helene so allein in der Kirche? Vielleicht erwartete sie hier die Andern; vielleicht war Wenzel auf die Terrasse des Klostergartens gegangen, zu welcher Damen keinen Zutritt haben, um von dort aus den Sonnenuntergang zu betrachten. Ich erhob mich, schritt um das Innere der Kirche herum und näherte mich dann der jungen Dame von der anderen Seite mit absichtlichem Geräusche. Sie wendete den Kopf nach mir um und sah mir in’s Gesicht, aber ihre Gedanken waren abwesend – sie erkannte mich nicht. – Endlich stand sie langsam auf – sie nannte meinen Namen. Ich begrüßte sie freundlich, sie aber richtete ihre Augen mit einem so tiefernsten Ausdrucke auf mich, als seien ihre Gedanken gegenwärtig hoch erhaben über allen nichtigen Höflichkeitsformen.

,Aber mein liebes Fräulein, warum so allein in dieser einsamen, dunklen Kirche?‘

‚Ich bat Gott um Licht,’ antwortete sie.

,Und das ist Ihnen hoffentlich geworden.’

‚Ja!’

Sie schritt mit mir dem Ausgange zu.

,Würden Sie die Güte haben,‘ fragte sie, ‚mich nach Hause zu geleiten?‘

Ich bot ihr den Arm und führte sie durch das Portal. Auf dem Plaze vor der Kirche blieb sie wieder stehen.

‚Sie sind ein sehr intimer Freund von Herrn Wenzel, nicht wahr?‘ fragte sie plötzlich mit einer gewissen Aufgeregtheit.

‚Das müssen Sie ihn selber fragen,’ antwortete ich; ,ich kann nur hoffen, daß er mich als solchen betrachtet.‘

,O bitte,‘ fuhr sie fort, ‚dann sagen Sie mir dies Eine: wird er eine Enttäuschung, eine schwere Enttäuschung ertragen?‘

Sie schien mich durch Ton und Geberde zu einer bejahenden Antwort drängen zu wollen; ihre Blicke hingen an meinen Augen, an meinen Lippen in stummer, dringender Beschwörung.

‚Nein!’ entgegnete ich endlich nach kurzer Ueberlegung auf das Bestimmteste. ‚Nimmermehr!‘

Sie seufzte tief auf, indem wir unsern Weg fortsetzten. Sie schritt ganz in Gedanken versunken stumm an meiner Seite hin.

Im Gasthause angelangt, erfuhr ich nach kurzer Begrüßung von Wenzel und seiner Schwester, daß alle Drei am Nachmittage einen Spaziergang unternommen hätten, daß aber Helene bald über Müdigkeit geklagt und allein wieder umgekehrt sei. – ‚Wenn mich auf dem Wege nach Hause eine Schwäche anwandeln sollte’ – hatte sie gesagt – ‚dann ruhe ich mich in der nächsten Kirche aus.’ – Man war erstaunt, sie bei der Rückkunft nicht in der Wohnung zu finden, und athmete jetzt, da ich die Vermißte heimbrachte, erleichtert auf.

Es war auch Wenzel und Frau Dörpinghaus nicht entgangen, daß das junge Mädchen sich seit kurzem in einer ganz seltsamen Gemüthsverfassung befand. Wenzel war heute nachdenklich gestimmt. Helene saß ruhig bei ihrer Stickerei; sie führte die Nadel und zog den Faden mit so vollkommen ruhiger und sicherer Hand, als gäbe es gar keine Nervosität in der Welt. Das Abendessen verlief unbehaglich, und ich nahm daher Wenzel’s Vorschlag, im Garten mit ihm noch eine Cigarre zu rauchen, freudig an.

Mein armer Freund war nicht glücklich – das sah ich ganz deutlich; ich wagte kaum zu hoffen, aus seinem Munde etwas über den Grund von Helene’s verändertem Wesen zu hören. Ich versuchte wiederholt, unserem Gespräche eine Wendung zu geben, die ihm eine Mittheilung seiner Sorgen und Befürchtungen erleichtern [791] könnte, aber vergeblich. Endlich machte ich ihn darauf aufmerksam, daß sein jetziger Aufenthalt ganz nahe bei Ariccia gelegen sei, und dann fragte ich ihn, ob er in letzter Zeit Angelo Beati gesehen habe.

‚Ich bin ihm mehrmals begegnet,‘ antwortete er, ‚im Orte sowohl, wie auf der Landstraße und in den Feldern. Er stiert mich immer frech und unverschämt an, geht aber ganz ruhig vorüber. Da siehst Du, wie viel die Racheschwüre eines solchen Müßiggängers werth sind.‘

‚Daraus ersehe ich noch gar nichts,‘ entgegnete ich. ‚Wohl aber weiß ich, daß er zu nächtlicher Weile das Haus umschleicht und sich hier im Garten zu schaffen macht. Vielleicht will er Dir böse Träume verursachen dadurch, daß er mit seinen schwarzen Augen nach Deinen Fenstern starrt.‘

Dann erzählte ich ihm, wie ich den Italiener jüngst in der grauen Morgenfrühe im Garten getroffen. Wenzel sah mich in sprachlosem Erstaunen an, während der Zorn ihm dunkelroth in das Gesicht stieg.

‚Wenn der Idiot nicht bald die Grenze seiner Narrenstreiche findet,‘ sagte er ingrimmig, ‚so werde ich sie ihm mit Peitschenhieben weisen.‘

Ich steckte die Hände in die Taschen und schlenderte weiter; ich glaube sogar, daß ich ein Lied pfiff. Wenzel sog und kaute wüthend an seiner Cigarre. Endlich, getrieben von einem Gefühl des Mitleids für meinen starrköpfigen Freund, lenkte ich wieder ein und fragte ihn, wann er zu heirathen gedenke.

Er sah mich lange und durchdringend an. Endlich sagte er:

‚Was veranlaßt Dich gerade jetzt zu dieser Frage?‘

,Aber alter Freund, ich bitte Dich, das ist doch wohl eine sehr verzeihliche Neugierde, ein freundschaftliches Interesse –‘

Wenzel warf den Rest seiner Cigarre heftig zur Erde.

‚Nein,‘ rief er erregt, ‚das ist’s nicht. Schweig’ mir von Deiner verzeihlichen Neugierde und von dem andern Zeug! Du hast irgend etwas gemerkt – Du hast irgend einen Verdacht! Wie? Rede doch!‘

Jetzt sagte ich ihm die Wahrheit.

‚Fräulein Helene Dörpinghaus,‘ begann ich, ‚scheint mir seit einiger Zeit ganz verändert und voll von allerlei Ideen, die ihr früher völlig fremd gewesen. Es muß etwas zwischen Euch vor gefallen sein, Freund.‘

,Meinst Du?‘ fragte er bitter, ‚Fräulein Helene Dörpinghaus ist mir eine durchaus räthselhafte Persönlichkeit. Ich kenne ihre Gedanken nicht, aber es wäre mir doch nun und nimmermehr in den Sinn gekommen, daß unserem Glücke etwas im Wege stehen könnte. Helenens Liebe zu mir war niemals demonstrativ; das liegt nicht in ihrer Natur; sie ist passiv, sanft, fast demüthig, aber für jedes liebevolle Entgegenkommen von meiner Seite war sie stets rührend erkenntlich.‘

Er schwieg einen Augenblick.

,Seit einigen Tagen ist das anders,‘ sagte er dann leidenschaftlich; ‚ihre Sanftmuth nahm die Form einer scheuen Schüchternheit an, und meine Freundlichkeit schien ihr beinahe wehe zu thun. Bei Gott – die Weiber sind in ihrer unberechenbaren Launenhaftigkeit wahrhaft unheimliche Geschöpfe. Aber weißt Du, Freund, ich habe vorher gar nicht gefühlt, wie sehr ich das Mädchen liebe, und wenn – –‘

In diesem Augenblicke trat Frau Dörpinghaus plötzlich aus dem Hause und zog ihn auf die Seite; Wenzel lauschte einen Augenblick ihren leisen Worten und eilte dann schnellen Schrittes in die Wohnung hinauf.

‚Wer hätte sich so etwas träumen lassen!‘ wandte sich Frau Dörpinghaus dann an mich. ,Denken Sie nur: soeben noch sitzt Helene ganz ruhig an ihrem Tische und stickt; plötzlich legt sie ihre Arbeit in den Schooß und theilt mir feierlich den Wunsch mit, Herrn Wenzel sogleich unter vier Augen sprechen zu dürfen. Ob ich wohl die Güte haben möchte, ihn herbei zu rufen? Darauf frage ich sie, ob sie nicht lieber die Güte haben möchte, vorher mir, ihrer Mutter, zu erzählen, was es denn so Geheimnißvolles gäbe. Da sieht sie mich an, wie man ungefähr ein fünfjähriges Kind ansieht, das sich vorlaut in die Gespräche Erwachsener gemischt hat. Dann aber fällt sie mir um den Hals und küßt mich und sagt, ich solle ihr nicht böse sein, ich würde ja alles bei Zeiten erfahren. Was will sie nur von ihm? Was hat ihr der arme Mensch gethan?‘

‚Sie liebt ihn nicht mehr,‘ sagte ich.

,Sie liebt ihn nicht mehr? Warum liebt sie ihn denn nun mit einem Mal nicht mehr?‘

,Vielleicht ist dieses Gefühl in ihr gar nicht so plötzlich erkaltet, wie Sie anzunehmen scheinen, verehrte Frau. Dergleichen Veränderungen haben sich schon öfter in Frauenherzen vollzogen.‘

,Ganz recht, aber doch kaum jemals, ohne daß eine neue Neigung dabei im Spiele gewesen. Helene hat wunderliche Einfälle, das ist schon richtig, und – unter uns gesagt! – daß sie sich damals meinen Bruder erkoren, das war auch solch ein wunderlicher Einfall. Aber immerhin – sie folgte doch ihrem eigenen Geschmack. Wie kommt es nun aber, daß sie so plötzlich andern Sinnes geworden? Wie gesagt, wenn hier noch eine andere Neigung vorläge – doch das ist unmöglich.‘

‚Sollte das wirklich so ganz unmöglich sein?‘ fragte ich.

‚Ganz unmöglich! Urtheilen Sie doch selber! Helene hat seit vier Wochen kaum mit einem anderen Mann gesprochen, als mit meinem Bruder. Wer soll es ihr also angethan haben? Etwa der kleine bucklige Mensch, der uns jeden Morgen die Orangen bringt? Oder vielleicht der alte Prinz Doria, der seit einigen Tagen dort drüben in der großen Villa wohnt?‘

Ich fand kein Lächeln für diese kleinen Scherze der trefflichen Dame, hatte ich doch in der That nur zur Hälfte gehört, was sie soeben gesagt; denn ich stand und grübelte und zerbrach mir den Kopf.

Jetzt trat mir eine Frage auf die Zunge, aber ich zögerte lange, derselben Worte zu geben. Endlich brachte ich’s heraus:

‚Auf welcher Seite des Hauses liegt Helenens Zimmer?‘

‚Aber ich bitte Sie! Was meinen Sie …?‘ sagte Frau Dörpinghaus ganz überrascht. ‚Hier, auf dieser Seite.‘

,Nach dem Garten zu?‘

‚Gewiß! Dort oben im zweiten Stockwerk.‘

‚Ich bitte um Verzeihung … welches ist es?‘

,Dort das dritte Fenster; die Läden sind mit einem Taschentuch zurückgebunden.‘

Diese Läden und das Taschentuch begannen jezt plötzlich meine Phantasie auf eine eigenthümliche Weise zu erregen. Ich konnte lange keinen Blick davon verwenden, und als ich endlich wieder Frau Dörpinghaus ansah, da trafen sich unsere Augen … Fräulein Helene, dachte ich bei mir, hat seit Wochen keinen fremden Mann gesprochen. Aber gesehen? Sollte es nicht dennoch sich ereignen, daß die Liebe allein nur durch die Augen ihren Weg in die Herzen findet? Sollte nicht auch eine ungesprochene Zwiesprache geführt werden können, vielleicht zwischen einem schönen, jungen italienischen Manne in einem unter dem gestirnten Nachthimmel liegenden, stillen Garten, und einem blonden, nordischen Mädchen im Fenster droben? …

Frau Dörpinghaus zog fröstelnd ihren Shawl fester um die Schultern und wendete sich der Hausthür zu.

‚Hier bleibt nichts anderes übrig,‘ sagte ich, indem ich ihr den Arm reichte, ‚als morgen in der Frühe Albano zu verlassen.‘

Wir traten auf den Corridor, auf welchen die Zimmer münden. Gleich darauf öffnete sich die Thür des gemeinschaftlichen Salons, und die junge Dame trat heraus. Hinter ihr erschien Wenzel auf der Schwelle mit einer gewaltsam unterdrückten Erregung in den Zügen. Auch Helene war bleich, aber in ihren Augen leuchtete ein ungewöhnliches Feuer; sie ergriff beide Hände ihrer Stiefmutter und küßte dieselben schweigend und demüthig. Darauf wendete sie sich zu mir und reichte mir die Hand. ‚Gute Nacht!‘ sagte sie. Im nächsten Augenblick war sie in ihrem Zimmer verschwunden.

Frau Dörpinghaus ergriff liebevoll die Hand ihres Bruders und führte ihn in den Salon.

‚Mit unserer Verlobung ist’s zu Ende,‘ sagte er kalt.

‚Wenzel!‘ rief Frau Dörpinghaus erblassend. ‚Und aus welchem Grund?‘

Die junge Frau sank in das Sopha und blickte ihren Bruder stumm und voll Mitgefühls an. Dieses ehrliche, unverhohlene Mitleid aber berührte Wenzel unangenehm; er wandte seiner Schwester den Rücken und nahm ein Buch vor das Gesicht. Auch ich griff nach einem solchen, vermochte aber kein Wort zu lesen. Endlich ertrug ich diese peinliche Situation nicht länger und ging hinaus. Frau Dörpinghaus folgte mir; sie beschwor mich, ihr zu sagen, was ich vorhin mit meinen Andeutungen in Bezug auf die Fensterläden und das Taschentuch habe sagen wollen.

[792] Ich entgegnete ihr, daß eine solche Auseinandersetzung gegenwärtig peinlich und zwecklos sein würde; sie mußte mir aber versprechen, morgen ganz früh mit Sack und Pack nach Rom zurückzukehren; dort könnte man Athem schöpfen und die Sache mit Muße überlegen.

‚Morgen reisen wir,‘ sagte sie, ‚darauf können Sie sich verlassen.‘

Damit trennten wir uns. Als ich die Treppe zu meiner Kammer emporstieg, hörte ich Frau Dörpinghaus an Helenens Thür klopfen. Sie klopfte noch einmal; Niemand öffnete. Sie klopfte zum dritten Mal, und als im Zimmer auch dann sich nichts rührte, zog sie sich langsam zurück, und ich ging in meine Kammer. Lange stand ich hier am Fenster. Nach einiger Zeit suchte ich mein Bett auf, und gegen Morgen schlief ich ein.

Das Frühstück wurde am nächsten Tage in dem gemeinschaftlichen Zimmer eingenommen; Wenzel erschien so pünktlich wie immer und dabei so sauber rasirt und gebürstet, als stände er nach wie vor unter der Botmäßigkeit jener großen, blauen Augen. Sicherlich wußte sein Inneres nichts von der Ruhe, die er äußerlich zur Schau trug; denn ohne allen Zweifel ist es ein unbehaglich Ding, beim Frühstück der Dame gegenüber sitzen zu müssen, die einem am Abend vorher die Brautschaft aufgekündigt hat.

Frau Dörpinghaus ließ lange auf sich warten; endlich erschien sie, aber athemlos und außer sich. Ihr hübsches Gesicht glühte; in ihren Augen funkelten Thränen der Entrüstung; sie hielt ein zusammengeballtes Papier in der Hand.

‚Sie ist fort!‘ rief Frau Dörpinghaus und warf sich schluchzend auf’s Sopha. ‚Sie ist fort! O das schlechte, das tollköpfige, das undankbare Mädchen!‘

Für Wenzel war dieser ganze Vorgang ein Räthsel, nicht so für mich, obgleich auch ich mich auf das Höchste überrascht fühlte. Er stand stumm da, als seine Schwester das zerknitterte Papier auf den Tisch warf. Daß Helene über Nacht auf und davon gegangen sein sollte, das war eine Ungeheuerlichkeit, die er so unvorbereitet gar nicht zu fassen vermochte. Dieses dumpfe Erstaunen war zugleich ein rührendes Zeichen davon, wie gänzlich fremd seinem

Am Wegweiser. 0Nach dem Oelgemälde von F. Streitt.

[793] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.


Herzen jeder Gedanke gewesen, der das Mädchen hätte beleidigen oder beschuldigen können. Er mochte es mir ansehen, daß ich mehr wußte, als er, und so ließ er es denn geschehen, daß ich das Papier aufnahm, um den Inhalt desselben halblaut zu lesen …

‚Lebt wohl, lebt Alle wohl! Ich kann Euch keine Erklärung geben. Haltet mich meinetwegen für wahnsinnig! Aber vergeßt mich, und glaubt, daß ich glücklich, o unaussprechlich glücklich bin!
 Helene Beati.‘

Ich legte meine Hand auf Wenzel’s Schulter; noch immer schien er unfähig zu sein, den Vorgang zu begreifen.

‚Angelo Beati hat jetzt seine Rache,‘ sagte ich ernst.

‚Was!‘ schrie er. ‚Angelo Beati? Der Landstreicher – der Bettler? Das ist gelogen.‘

‚Nicht doch, mein Freund! Er hat seine Bezahlung haben wollen, und nun hat er sie. Der ist klüger, als wir meinten.‘

Wenzel antwortete nicht, aber eine brennende Röthe überzog sein Antlitz.

Welch ein Ereigniß! Weder Frau Dörpinghaus noch Wenzel haben Helene je wiedergesehen; der Letztere sprach acht Tage lang kein Wort, und als er wieder anfing sich mitzutheilen, da sah ich, daß eine gewisse Seite seines Charakters inzwischen die Uebermacht gewonnen hatte: in jener Zeit wurde er der bittere Cyniker, der er bis zu seinem Tode geblieben.

Frau Dörpinghaus, eine Frau von so großer Gutmüthigkeit und freundlicher Biederkeit, hat ihrer Stieftochter niemals verziehen.

‚Ich kann dem Himmel nicht genug dafür danken,‘ sagte sie, ‚daß er Helenens Vater, meinen seligen Mann, die Geschichte nicht mehr hat erleben lassen.‘

Vor der Abreise von Albano hatte ich noch eine Unterredung mit dem Padre Girolamo in Arriccia, der mir durchaus nicht als der heilige Mann erschien, den sein Neffe uns geschildert. Er war ein kleiner, vertrockneter, schwarzbrauner Alter mit verschmitzten, stechenden Augen und wie dazu geschaffen, für seinen hübschen Verwandten die Karten zu mischen und auszuspielen. Ich enthielt mich aller nutzlosen Vorwürfe und begehrte einfach von ihm zu wissen, wohin Angelo die junge Dame gebracht.

[794] ‚Nach Rom,‘ sagte der Priester, ,in die heilige Stadt. Man wird die Beiden hoffentlich nicht beunruhigen. Ihre Verwandten mögen nicht vergessen, daß Helena mündig und ihre eigene Herrin ist, und daß sie mit ihrem Vermögen thun kann, was ihr beliebt. … Und sie hat ziemlich viel Vermögen … eh?‘

Der Pfaff kannte augenscheinlich das Terrain.

Er sagte mir auch, daß er es gewesen, der den Ehebund der jungen Leute geschlossen; die Ceremonie hatte an jenem denkwürdigen Morgen, um fünf Uhr, in dem kleinen, runden, alten Kirchlein, das in Albano auf dem Hügel steht, stattgefunden.

‚Sehen Sie, Signore,‘ fügte er hinzu, indem er langsam seine gelben, runzeligen Hände rieb, ‚Helena hatte es nun einmal selber so gewollt. Sie glauben gar nicht, wie sehr sie meinen Angelo liebt. Und sie hat Recht darin. Angelo ist nicht nur ein hübscher Bursche, sondern auch einer, der sich Kenntnisse erworben hat.‘

‚Wirklich?‘ fragte ich.

‚In der That, Signore! Seine Handschrift ist besser als die meine, und schon als Knabe hat er mir manchen Band der Kirchenlehre und die Lebensgeschichten der meisten unserer Heiligen vorgelesen. Bis vor einem halben Jahre war er Castellano der Villa des Principe San Marco in Albano; auch die Ländereien des Principe hat er verwaltet. Der fromme Herr ist dann gestorben, und sein Besitzthum ist an das Kloster gefallen. Aber der heilige Angelo hat meinen Neffen nicht verlassen.‘

‚Wie so?‘ fragte ich, als der Alte schwieg.

‚Nun,‘ fuhr er fort, ‚wohl schalt ich Angelo zuweilen wegen seines müßigen Umherstreifens draußen auf der Campagna – wir Menschen sind so kurzsichtig. Gerade dort hat ihn sein Schutzpatron sein Glück finden lassen. Ein Blitzstrahl vom Himmel wies ihm zuerst den Stein des alten heidnischen Kaisers, und dann seine Helena. – Sie liebt ihn sehr, und Angelo ist zufrieden. Ich bin es auch. Sie ist mehr werth, als der Topas.‘

Ich antwortete nichts, um ihm keine Veranlassung zu geben, noch mehr von dem unglückseligen Topas zu reden, und entfernte mich ohne weitere Formalitäten.

Inzwischen beschäftigte sich Frau Dörpinghaus in ihren Gedanken lebhaft mit dem Schicksale ihrer ungerathenen Stieftochter. Ihr mütterliches Herz hätte gar zu gern gewußt, wie Helene jetzt eigentlich lebte, und ob der Geruch auf der Treppe und in dem Hausflur derselben ebenso abscheulich sei, wie in den meisten römischen Häusern. Und so suchte ich eines Tages die Wohnung des jungen Paares auf, die ganz in der Nähe der Piazza Barberini lag. Die Gegend war keine besonders vornehme, aber das Haus schaute mit seinen Fenstern in die Gärten der Kapuziner, und was den Geruch auf der Treppe anlangte, so spürte ich nur den eines großen Blumenstraußes, der in einem Fenster des Flures stand.

Angelo öffnete mir die Thür; er sah recht wie der Held eines Romans aus. Anfänglich betrachtete er mich mit ziemlich kalten und mißtrauischen Blicken, als ich aber die Vergangenheit mit keinem Worte erwähnte, wies er ein höchst zufriedenes Gesicht.

Er war mir ein wandelndes Räthsel. Für verliebt hielt ich ihn nicht; ich glaube sogar, daß er schon wieder vergessen hatte, wie er in sein Glück hineingerathen war, und daß er sich jetzt lediglich und mit einem Gefühl großen Behagens von seiner jungen Gattin anbeten ließ. Er erfreute sich daran, wie am Sonnenschein. Ich bat ihn um die Erlaubniß, Helene sehen und sprechen zu dürfen; er zuckte die Achseln und meinte, daß diese thun und lassen könne, was ihr beliebte, aber er ging, um ihr meinen Wunsch mitzutheilen. Sie schien sich schwer entschließen zu können, mich zu empfangen; wenigstens ließ sie mich eine lange Zeit warten. Endlich erschien sie, und kühl und reservirt fragte sie nach dem Zwecke meines Kommens.

‚Man hat mich gebeten,‘ entgegnete ich, ‚mich zu erkundigen, ob Sie glücklich seien. Frau Dörpinghaus möchte Rom nicht verlassen, ohne Ihnen noch einmal Gelegenheit zu geben ….‘

‚Reuevoll zurückzukehren?‘ fragte sie schnell. ‚O, Frau Dörpinghaus mag beruhigt abreisen … Alles, was ich noch erbitte, ist: recht schnell vergessen zu werden.‘

Ich stand noch immer vor ihr, obgleich ich ihr ansah, daß sie dringend wünschte, mich gehen zu sehen.

‚Ich für meine Person kann dies nun kaum versprechen,‘ entgegnete ich, ‚denn eines solchen Paares, wie Sie und mein guter Freund hier, erinnert man sich noch lange.‘

Sie wendete sich kurz ab; Angelo athmete auf, als nicht mehr Deutsch gesprochen wurde. Er ging zur Thür, öffnete und sah mich mit selbstbewußtem, bedeutungsvollen Lächeln an.

‚Sie ist glücklich, nicht wahr?‘ fragte er.

‚So sagt sie.‘

Er legte seine Hand auf meine Schulter.

‚Nun, und ich bin’s auch. Sie ist mehr werth, als der Topas.‘

Ich schob ihn auf die Seite und eilte hinaus. – –

Wenzel mußte wohl errathen haben, daß ich in Angelo’s Hause gewesen. Am Abende desselben Tages forderte er mich auf, mit ihm einen Spaziergang in den Straßen zu machen. Die Luft war feucht und warm, und große, zerrissene Wolkenmassen trieben langsam über den Mond. Wir wendeten uns dem Dome von St. Peter zu. Auf der Brücke von St. Angelo blieb Wenzel stehen und schaute, über die Brüstung gelehnt, hinab in den Tiber. Plöglich stieß er die Frage hervor:

‚Du hast sie also gesehen?‘

,Ja.’

,Was sagte sie?’

‚Daß sie glücklich sei.‘

Er schwieg und wir gingen weiter. Mitten auf der Brücke stand er von Neuem still und sah in die Fluth hinab. Dann zog er ein Kästchen aus der Tasche, öffnete es und ließ etwas im Mondschein blitzen und funkeln. Es war der wundervolle, der kaiserliche, der unglückselige Topas. Er blickte mich an, und ich verstand ihn. Ja wohl, es haftete ein Fluch an dem goldig glänzenden Kleinod. Mochte es denn zurückkehren in die modernde Unterwelt der römischen Vergangenheit.

Ich ergriff Wenzel’s Hand und drückte sie warm und fest; da erhob er die andere in weitem Schwunge und schleuderte das glitzernde Juwel hinunter in den schwarzen, schweigenden Fluß.

Dort liegt es wohl noch heute.

Eines Tages, wenn man den Tiber nach Schätzen durchsucht, wird man vielleicht auch unseren Topas wieder zu Tage fördern. Aber Niemand wird dann ahnen, daß er schon einmal seinem tausendjährigen Grabe entrissen gewesen, um mit wetterleuchtender Gewalt die Tiefen menschlicher Leidenschaften aufzuwühlen und Menschenschicksale übermächtig in andere Bahnen zu lenken.“




Der Venusdurchgang vom 6. December 1882.

Der 6. December dieses Jahres wird mit besonderer Spannung von unseren Astronomen erwartet; schon lange bereiteten sie sich auf diesen Tag vor, und wenn er hereinbricht, werden sie an vierzig Punkten der Erde gerüstet stehen, um ihre Fernröhre und Helioskope, ihre Prismen und photographischen Apparate auf die Sonnenscheibe zu richten; sie hoffen fest, an jenem 6. December Wichtiges zu vollbringen, wenn ihnen die wetterwendischen Mächte, welche oft zur unrechten Zeit den Himmel mit Wolken umschleiern, keinen Strich durch die Rechnung machen. Am 6. December wird nämlich die Venus als ein schwarzer runder Fleck vor der Sonnenscheibe vorübergehen, schnurgerade von Westen nach Osten, wie dies unsere anseitige Abbildung zeigt (Figur 1). Das ist ein gar seltenes Ereigniß, das keineswegs wie die Sonnen- und Mondfinsterniß alle Jahre eintritt. Kein sterbliches Auge, welches sich jetzt zum gestirnten Himmel erhebt, wird die Wiederholung dieses Venusdurchganges schauen; denn erst nach hunderteinundzwanzig Jahren und sechs Monaten wird, den unfehlbaren Berechnungen der Astronomie zufolge, die Venus wieder einmal vor der Sonnenscheibe, sichtbar für uns Menschen, ein Stück ihrer Bahn beschreiben.

Unsere Leser, die für astronomische Thatsachen ein gutes Gedächtniß haben, werden sich erinnern, daß vor acht Jahren, nämlich am 8. December 1874, gleichfalls ein Venusdurchgang stattfand und daß damals die „Gartenlaube“ einen ausführlichen Artikel [795] (vergl. Jahrg. 1874, Nr. 43) brachte, in welchem die Periodicität dieser Erscheinung genau mitgetheilt wurde. Auch ihre Bedeutung für die Sternkunde hat damals Dr. R. Engelmann in klarer Weise unseren Lesern dargelegt, sodaß wir, um Wiederholungen zu vermeiden, nur Folgendes kurz hervorzuheben brauchen.

Die genaue gleichzeitige Beobachtung des Venusdurchgangs an verschiedenen, weit von einander entfernten Punkten der Erde giebt dem Astronomen Daten an die Hand, aus welchen er mit großer Sicherheit die Entfernung der Erde von der Sonne zu berechnen vermag. Vor allen Dingen muß er dabei genau die Augenblicke bestimmen, an welchen die Berührung des Sonnenrandes mit dem Rande der Venusscheibe erfolgt, jene vier Momente, welche auf der Figur 1 mit a, b, c und d bezeichnet sind.

Die im Jahre 1874 mit einem großartigen Aufwand von Geld und Kraft erfolgte Beobachtung des Venusdurchgangs führte leider nicht zu dem erwünschten Resultate, und nach wie vor wissen wir nur, daß die mittlere Entfernung der Erde von der Sonne ungefähr 148,670,000 kilometer oder 20,036,000 geographische Meilen beträgt. „Es scheint,“ bemerkte hierzu treffend ein französischer Forscher, „daß der erste Venusdurchgang nur eine Vorbereitung für den zweiten sein sollte; die Mehrzahl der Astronomen, welche das Phänomen zum ersten Male sahen, war überrascht und erregt; es fehlte ihnen die Sicherheit der Beobachtung, welche sie nach acht Jahren wieder aufnehmen sollten.“

Fig. 1.

In der That verspricht man sich von den am 6. December dieses Jahres vorzunehmenden Observationen einen viel bedeutenderen Erfolg, und die civilisirten Staaten von Europa und Amerika haben gegen vierzig Expeditionen zu diesem Zwecke ausgerüstet. Darunter befinden sich auch vier deutsche, welche bereits an den Orten ihrer Bestimmung, in Hartford (Connecticut), in Aiken (Süd-Carolina), in Bahia Blanca (Argentinien) und in Punta-Arenas (Magellan-Straße), angelangt sind.

Fig. 2.

Die weiten Reisen waren für die deutschen Astronomen unvermeidlich, weil man den Durchgang in Europa in seiner Totalität nicht wird beobachten können; die Venus tritt z. B. von Berlin aus gesehen um 2 Uhr 8 Minuten 51 Secunden (Pariser Zeit) in die Sonnenscheibe ein, ihr Austritt wird aber in Deutschland nicht mehr beobachtet werden können, weil die Sonne für uns noch vor dem Erfolgen desselben untergegangen sein wird.

Alle am 6. December stattfindenden Beobachtungen werden nach einem einheitlichen Plane erfolgen, welcher von der internationalen Commission, die vom 5. bis 13. Dctober vorigen Jahres in Paris tagte, ausgearbeitet wurde.

Wie wir schon oben erwähnt haben, werden die Astronomen ihr Augenmerk ganz besonders auf die genaue Bestimmung der Berührung der Venus mit der Sonne richten müssen. Dies ist aber nicht so leicht, wie man im Allgemeinen anzunehmen pflegt. Jeder Venusdurchgang beginnt nämlich, wie wir auf Fig. 1 bei a sehen, mit der Berührung des Planeten- und Sonnenrandes. Da aber die Entfernung der Sonne von der Erde nicht ganz genau bekannt ist, so läßt sich auch der Ort, an welchem diese erste Berührung erfolgt, nicht mit voller Bestimmtheit auf der Sonnenscheibe angeben, und die erste Berührung kann deshalb auch nicht direct beobachtet werden. Man könnte freilich diesen Moment rückwärts aus dem weiteren Verlaufe des Durchgangs berechnen. Aber die Beobachtung des Ein- und Austrittes unseres Nachbarplaneten ist noch mit anderen besonderen Schwierigkeiten verbunden. Man sollte annehmen, daß, sobald der Planet bei b (Fig. 1) voll in die Sonnenscheibe eingetreten ist, die beiden ihn umgebenden Lichthörner der Sonne sich sofort schließen und zu einer glänzenden scharfen Linie sich vereinigen müßten. Dies ist jedoch keineswegs der Fall. Der Beobachter erblickt vielmehr im Fernrohre ein Bild, wie es unsere Fig. 2 darstellt. Der Sonnenrand erscheint nicht scharf von dem Planetenrande abgegrenzt, sondern beide sind durch einen schwarzen Streifen mit einander verbunden, der erst nach einiger Zeit verschwindet. Diese Erscheinung, welche auf optischer Täuschung beruht, nennt man den „schwarzen Tropfen“, und sie erschwert ungemein die so sehr nothwendige genaue Bestimmung des Zeitpunktes, in welchem die Berührung der Venus mit der Sonne erfolgt ist.

Da dieser „schwarze Tropfen“ bei den beiden zuerst beobachteten Venusdurchgängen in den Jahren 1761 und 1769 die Berechnungen der Astronomen in erheblichem Maße gestört hat, so hat man schon während der Vorbereitung zu den Expeditionen des Jahres 1874 auf Mittel gesonnen, welche denselben beseitigen würden. Man versuchte unter Anderem, die der optischen Täuschung so leicht ausgesetzte Netzhaut des menschlichen Auges durch photographische Platten zu controlliren, und hat mittelst des bekannten mit Revolvermechanismus versehenen photographischen Apparates (vergl. „Gartenlaube“ Jahrg. 1882, Nr. 21) eine Reihe von Photographien des Ein- und Austrittes der Venus angefertigt. Leider erwies sich auch diese Methode nicht zuverlässig, da die Ränder der beiden Himmelskörper auf der Photographie nicht scharf genug hervortraten. Dieser Mißerfolg hat die meisten Astronomen davon abgehalten, zum zweiten Male die Photographie als ihre Gehülfin in Anspruch zu nehmen, und nur bei einigen Expeditionen werden mit bedeutend verbesserten Apparaten photographische Aufnahmen des Venusdurchgangs am 6. December angefertigt werden. Wenn man die bedeutenden Fortschritte der Augenblicksphotographie in den letzten Jahren in Erwägung zieht, so bleibt allerdings die Hoffnung nicht ausgeschlossen, daß ihre Verwendung diesmal brauchbare Resultate liefert.

Viel wichtiger ist dagegen die am 8. December 1874 gewonnene Erfahrung, daß die Bildung des „schwarzen Tropfens“ wesentlich von der Größe des Objectivs in dem Beobachtungsfernrohre abhängt und daß sie in sehr mächtigen Instrumenten gänzlich verschwindet. In Folge dessen werden die diesjährigen Expeditionen mit entsprechenden Teleskopen ausgerüstet werden, und die Astronomen hoffen, diesmal von den Störungen dieser unliebsamen Erscheinung nur in sehr geringem Maße belästigt zu werden.

So haben die Männer der Wissenschaft alles, was in ihren Kräften stand, gethan, um mit möglichst genauer Schärfe den wichtigen Vorgang zu beobachten; sie werden auch im gegebenen Augenblicke sicher ihre Schuldigkeit thun, und nur eins wünschen wir ihnen von Herzen: ein recht klares, heiteres Wetter!

„Aber welchen Werth,“ wird wohl mancher Leser fragen, hat denn für uns die genaue Ermittelung der Entfernung der Erde von dem Leben und Kraft spendenden glühenden Centralkörper unseres Planetensystems?“

Die Antwort lautet: Sobald wir die Erde verlassen und im Geiste die unermeßlichen Himmelsräume durchschweifen, haben wir nur ein Maß für alle uns dort begegnenden Größen, und dieses Maß ist der Halbmesser der Erdbahn oder mit anderen Worten die Entfernung der Erde von der Sonne; sie ist der gewaltige, Millionen Meilen umfassende Meterstab des Weltraumes, welchen der Astronom in allen seinen Messungen verwendet. Kennen wir genau seine Länge in irdischen Kilometern, so werden wir nicht nur die annähernde, sondern auch die wahre Entfernung der einzelnen Glieder unseres Sonnensystems und einiger Fixsterne, sowie die wahre Größe der Planeten berechnen können. – Die Beobachtung des Venusdurchganges ist zwar nicht das einzige Mittel, welches uns zu diesem Ziele führen kann, aber sie giebt uns die beste Gelegenheit, etwaige Fehler anderweitiger Berechnungen zu controlliren, und darum wird ihr so hohe Bedeutung beigelegt. Es ist daher auch eine Ehrenpflicht unseres Jahrtausends, den letzten Venusdurchgang, welcher in ihm in nunmehr wenigen Tagen stattfinden wird, zu Nutz und Frommen der Wissenschaft mit der genauesten Schärfe zu beobachten.




[796]

Französische Dichter und Deutschland.

Seit dem Attentat des Herrn Deroulède auf den deutschen Turnverein in der Rue Saint-Marc, einem Attentat, das, abgesehen von der verstimmenden Absicht, allerdings einen friedlichen Verlauf nahm, fehlt es in Frankreich nicht an Symptomen, daß die nationale Erregung gegenüber Deutschland in gewissen Kreisen im Zunehmen, daß das Deutschthum besonders in einigen hervorragenden Pariser Salons, welche sonst eine internationale Bedeutung in Anspruch nehmen, geächtet ist. Deroulède ist ein lyrischer Dichter; in seiner Zeitschrift „le Drapeau“, dem Organ der patriotischen Liga, an deren Spitze er steht, finden sich viele poetische Ergüsse, in denen ein glühender Haß gegen die Sieger von Sedan sich ausspricht; er will mit seiner mäßigen Begabung der Theodor Körner des neuen Frankreichs sein; er eilt ihm voraus mit der Fackel der Dichtung, die er in die Fackel des Krieges verwandeln möchte.

Die Dichter sind ebensowohl die Herolde wie die Schöpfer der öffentlichen Meinung; ihre Gedichte sind ein Echo des nationalen Gewissens. Wer einer Nation an den Puls fühlen will, der muß auf die Herzschläge ihrer Poesie achten. Freilich, es giebt einsame Sänger, die gegen den Strom schwimmen und aus irgend einem Patmos besonderer Offenbarung lauschen; es giebt Dichter, welche Prediger in der Wüste sind, wir sprechen aber von denen, welche sich von den Wellen des öffentlichen Lebens tragen lassen, und deren Stimme ertönt aus der Mitte der tonangebenden Hauptstädte heraus; wir sprechen von denen, welche die Losungen des Tages in ihre Verse aufnehmen und mit jener akustischen Verstärkung wiedergeben, die der Poesie eigen ist. Und da ist es ein beachteswerthes Symptom der Stimmung in Frankreich, daß jetzt, nachdem bereits zwölf Jahre seit dem großen Kriege dahingegangen sind, die kriegerische Wendung gegen Deutschland in den poetischen Ergüssen der französischen Dichter immer lebhafter und stürmischer wird.

Doch ehe wir uns zu den Kleinen wenden, wollen wir die Großen zu Worte kommen lassen. Da ist der Veteran der französischen Poesie, Victor Hugo, ein politischer Lyriker ersten Ranges, der alle Weltereignisse, die er miterlebte, in schwunghaften Gedichten besungen hat. In seiner Jugend feierte er die Bourbons und das Kaiserthum; in seinem Alter widmete er dem Kaiser Napoleon dem Dritten, der ihn in die Verbannung geschickt, seine „Châtiments“ („Züchtigungen“), welche mit bitterstem Grolle, mit tiefeinschneidender und vernichtender Schärfe geschrieben sind; die Ereignisse des deutsch-französischen Krieges und des Commune-Aufstandes aber hat er in der Gedichtsammlung „L’année terible“ („Das schreckliche Jahr“) mit den elegischen Klängen seiner Lyra begleitet. Diese Sammlung liegt jetzt in der neunundzwanzigsten Auflage vor — ein Beweis dafür, welch andauernd lebhaftes Echo diese Gedichte noch im französischen Volke finden.

Victor Hugo ist ein großer Poet; es giebt zwar viele kleine Leute des deutschen Parnasses, welche dies leugnen wollen, weil ihnen alle tiefe, schwunghafte, gedankenvolle Poesie gegen den Strich geht, aber die Aquarellbildermaler und Ausschneider von Genrebildchen, die an die Neu-Ruppin’schen Bilderbogen erinnern, werden das Piedestal nicht aus dem Wege räumen, auf dem die großen Dichter aller Zeiten standen und aus dem auch Victor Hugo steht.

Es ist wahr, er erscheint als verworrener Phantast, wenn er den poetische Dreifuß mit dem politische vertauscht, und auch seine Muse hat ihre Marotte, ihre Unarten, ihre versteinerten prophetischen Gesten, eine oft verwirrende Mosaik von Bildern, welche sie aus allen Zonen und aus allen Zeiten zusammenträgt: doch wie edel und hinreißend ist ihr Schwung, wie unerschöpflich groß ihr Gedankenreichthum, welche genialen Witze umzucken sie, wenn sie ihr olympisches Haupt schüttelt! Und wie bewundernswerth ist ihre Jugendlichkeit! In den Werken des achtzigjährigen Dichters herrscht noch dasselbe Feuer, wie in den „Herbstblättern“ und „Dämmerungsgesängen“ des jungen Poeten. Wohl finden sich hier und dort greisenhafte Wendungen, eine zitterige Nachschrift der schwunghaften Züge seiner Jugend; doch wie verschwinden einige verblaßte Verse gegen die anderen, in denen ein lebensfreudiges Genie pulsirt, besonders bei der großen Fülle der gebotenen poetischen Gaben, und welchen steifen und verschnörkelten poetische Stil schrieb unser großer Dichter Goethe in dem gleichen Alter!

Victor Hugo ist früher kein Feind der Deutschen gewesen; die deutsche Sagenwelt hat ihn mächtig angezogen; hat doch die romantische Schule Frankreichs zum Theil in deutscher Poesie ihre Wurzeln geschlagen. Man lese seine „Briefe vom Rhein“ aus dem Jahre 1839: wie vertieft er sich in die geschichtlichen Erinnerungen, in die Sagenwelt des Rheins, wie giebt er sich dem landschaftlichen Zauber hin, der die Ufer des deutschen Stromes umschwebt!

Diese Briefe sind allzu sehr in Vergessenheit gerathen: es finden sich Bemerkungen darin, welche für die heutige Zeit von besonderem Interesse sind. Natürlich nimmt Victor Hugo das linke Ufer des Rheins für Frankreich in Anspruch. Doch erscheint er gleichzeitig als ein nicht unglücklicher Prophet, wenn er Preußens künftige Größe vorher verkündet: er findet es abgeschmackt, daß das alte Preußen von den Rheinlanden durch sich dazwischenschiebende Staaten getrennt wird. Das könne nur eine provisorische Lage sein.

„Preußen strebt darnach,“ sagt er, „ein großes zusammenhängendes Königreich zu werden, mächtig zu Land und Meer, und es wird dieses Ziel erreichen.“ „Für Hannover,“ heißt es weiter, „ist die Einverleibung in Preußen ein großer Schritt zur Freiheit, Würde und Größe; für Preußen bedeutet der Besitz von Hannover den Zusammenschluß des Staates, das Forträumen aller Hindernisse der Verbindung, die Vereinigung der Rheinlande mit dem alten Preußen.“

So hat Victor Hugo im Jahre 1839 das Jahr 1866 prophezeit und die Annexion gerechtfertigt; auch in der Vorrede zu den „Burggrafen“, einem Drama, zu welchem ihn seine Rheinreise begeistert hat, spricht er „von dem großen kriegerischen Messias, den Deutschland erwartet“, von dem wiedererstandenen Kaiser, während er sich darüber zu rechtfertige sucht, daß er einen deutsche Stoff für die französische Bühne behandelt. So wenig litt der junge Victor Hugo an Deutschenhaß, daß er in dem großen Monologe des „Hernani“ von dem jungen Karl dem Fünften sogar Karl den Großen einen „Kaiser Deutschlands“ nennen läßt, was man jetzt in Frankreich als eine strafwürdige Ketzerei betrachten würde.

Nach dem „schrecklichen Jahr“ unseres Dichters ist das nun freilich anders geworden; die Deutschen haben sich auf einmal in Barbaren, in Hunnen und Vandalen verwandelt, ja Victor Hugo schlägt hier Töne an, die eines großen Dichters ganz unwürdig sind, indem er Zeitungslügen in pomphafte Verse bringt. Da erscheint ihm die Gaunerei als Schwester der Eroberung: auf den Rücken des Siegers hebt man einen Bettelsack, und während man darauf wartet, Elsaß und Lothringen zu gewinnen, begnügt man sich damit, eine Uhr vom Nagel eines Uhrmachers zu stehlen. Man will unermeßlichen Ruhm sich erwerben, aber man findet, daß es schade sei, einen Spiegel zu zerbrechen, und besser, ihn fortzutragen. Gewiß zieht man die Ehre allem Andern vor, doch der Mensch braucht Tabak, und man stiehlt ihn. Mitten im Getümmel eines Krieges, in welchem der Zwerg Napoleon das große Frankreich ausliefert, auf diesen Schlachtfeldern, wo Marceau, Hoche und Condé fehlen, während Metz verkauft und Straßburg bombardirt wird, denkt man an seinen kleinen Hausstand und wie man die Geliebte ausmöblirt auf Kosten der Besiegten. Mit fünf Milliarden kehrt man in die Walhalla zurück, in Räubereien den schielenden Beduinen und den stumpfnasigen Baschkiren ähnlich; Schinderhannes setzt die falsche Nase des Gottes Mars auf. Das ist eine kleine Blüthenlese aus diesem widerwärtigsten Gedichte der Sammlung, in welchem der Ton eines an die Straßenecken angehefteten Pasquills herrscht.

Trotz aller poetischen Schmähungen kann sich der alte Victor Hugo nicht ganz verleugnen; in seinem Herzen ist noch ein Winkel, wo die jugendliche Begeisterung für den deutschen Geist nicht ganz verglommen ist, und aus dieser glühenden Asche schlägt wie eine Flamme ein Hymnus auf Deutschland empor, den man mit größtem Erstaunen unter diesen Schmähgedichten findet, ein Hymnus, wie ihn schöner und schwunghafter kaum ein deutscher Sänger gedichtet hat und dessen einziger Fehler in der Ueberschwänglichkeit der [797] Ausdrucksweise besteht. Doch die Begeisterung für Deutschland ist für uns Deutsche selbst in ihren Übertreibungen nur schön und herzerhebend. Einige Blüthen aus diesem Kranze, den uns der feindliche Dichter auf’s Haupt setzt, wollen wir hier zu einem kleinen Strauße zusammenbinden.

„Keine Nation ist gerechter als du. Zur Zeit, als die ganze Erde noch ein Ort des Schreckens war, warst du unter den starken Völkern das gerechte Volk. Ein dunkles Diadem schmückte deine erhabene Stirn, und dennoch glänzest du wie Indien, das Fabelland. O Land der blauäugigen Menschen, erhabene Klarheit im düstern Grund Europas, ein unnahbarer gewaltiger Ruhm hüllt dich ein. Lange, wie die Eiche, die dem Epheu ihre Arme bietet, warst du die Kämpferin für das alte Recht der Besiegten. Wie man Silber und Blei in Erz mischt, wußtest du in ein innig Herrschervolk zwanzig Völker zu verschmelzen, die Hunnen die Dacier, die Sigambern. Der Rhein bot dir das Gold, Bernstein das baltische Meer. Die Musik ist dein Hauch, deine Seele Harmonie und Weihrauch; sie läßt in mächtigen Hymnen den Schrei des Adlers mit dem Gesange der Lerche wechseln. Deutschland hat mehr Helden, als der Athos Gipfel hat. Teutonia erscheint dicht unter den erhabenen Wolken, wo der Stern mit dem Blitze sich vermählt; seine Gipfel in der Nacht sind wie ein Wald; über seinem Haupte schwebt ein Horn des Sieges, und seine Legende gleicht seiner Geschichte. Seid stolz, ihr Deutschen! Nur der Titanenfuß paßt für eure Sandale!“

Und gegenüber diesem volltönenden Lobgesang auf Deutschland, der trotz seiner vielen unklaren Bilder echte Begeisterung athmet, hat der Dichter für sein Frankreich nur drei Worte, aber Worte, in denen die ganze Inbrunst des Heimathsgefühls und der Vaterlandsliebe pulsirt. „O ma mère!“ Das ist schön und echt dichterisch, und um dieses Gedichtes willen mag man Victor Hugo die hundert galligen Lästerungen verzeihen, mit denen er Deutschland begeifert.

Die Erwartung.
Nach dem Oelgemälde von Eugen von Blaas.


Solche Milderungsgründe stehen aber den späteren Dichtern, die in dasselbe Horn stoßen, nicht zur Seite; auch sind sie an Talent dem geübten Altmeister weit untergeordnet. Der Akademiker Victor de Laprade dichtete ein Lied: „An Gretchen“, in welchem nicht nur alle thörichten Anklagen gegen die Deutschen und ihr Benehmen in dem letzten Kriege wiederholt werden, sondern in dem auch ein widerwärtiger Cynismus herrscht.

Dieses Lied scheint in Frankreich leider! sehr volksthümlich geworden zu sein; die deutschen Frauen und Mädchen werden darin in schmachvoller Weise an den Pranger gestellt. Da wird die deutsche Romantik und Gefühlsseligkeit persifliert: Gretchen sitzt nachdenklich am Fenster, entblättert poetisch eine Blume des deutschen Rheins und denkt an ihren Herrn und Meister. Er ist im Felde – Prinz oder Doctor, Fritz oder Faust – und macht in Burgund oder in der Champagne seine kleine Beute. Gretchen, die Schöne mit dem Goldhaare, hat eben geschrieben, und ihre Hand, welche noch von Tinte befleckt ist, hat Schiller, Goethe, Dante citirt, um zu beweisen, daß man nirgends außer in dem alten Deutschland die wahre Liebe in den Herzen und das wahre Genie in den Köpfen findet. Jetzt befragt sie mit Spannung das Orakel eines Maßliebchens – und warum? Die Blume soll ihr sagen, ob ihr Geliebter in den Schlössern, die er plündert, recht gute Beute macht, ob er ein wenig, ob viel oder ob übermäßig viel mit nach Hause bringen wird. Gretchen braucht ja noch einige feine Battisttaschentücher für festliche Gelegenheiten. Auch eine werthvolle Perle fehlt noch ihrer Kronenschnur: nun, man kann sie ja in Paris finden, in dem verwünschten Babylon. Das Gretchen des Herrn von Laprade ist nämlich eine deutsche Baronesse, eine Hofdame: [798] Hofdame: um so schmachvoller, daß sie, was keine französische Marketenderin thun würde, gestohlene Hemden und Schmucksachen trägt!

Wir werden daran erinnert, daß die Franzosen auch in deutschen Betten geschlafen und in Deutschland als Herren befohlen haben; doch sie haben nichts bei uns gestohlen als höchstens die Herzen, und die deutschen Frauen haben gern die ihren Reizen gebührenden Huldigungen angenommen. Am Schlusse werden die deutschen Damen ersucht, sich nicht zu beunruhigen: man wolle ja nichts zurückhaben, keine Halstücher und Jacken, keine Bänder und verblichenen Hüte. Und übrigens: ein loyaler Friede löscht unsern ganzen Goll aus: „fahrt fort, ihr guten Deutschen, unsere schmutzige Wäsche zu beschmutzen!“

Wir haben bei der Inhaltsangabe dieses unwürdigen Gedichtes noch einige Stellen fortgelassen, in denen die Muse des Akademikers allzu lebhaft den poetischen Cancan tanzt. Dieses Poem sowie viele andere dichterische Actenstücke des Nationalhasses hat Deroulède, der Held der Straße Saint-Marc, in seiner Zeitschrift „Le Drapeau“ gesammelt; er hat die Sammlung zugleich mit seinen eigenen lyrischen Ergüssen vermehrt. Das Blatt erscheint erst seit Beginn dieses Jahres: ein Beweis dafür, daß die feindliche Wendung gegen Deutschland jetzt mehr als je wieder populär geworden ist. „Le Drapeau“ ist das Organ der patriotischer Liga, welche gegen den deutschen Turnverein mit um so größerem Unrecht in’s Feld rückte, als sie ja nichts ist als eine freie Uebersetzung desselben in’s Französische. In der That will jener französische Verein sich im Turnen, Fechten und Schießen üben und hat zugleich das freiwillige Samariterthum in sein Programm aufgenommen.

Das sind jedenfalls berechtigte Tendenzen, und die Freunde der Turnkunst müssen sich freuen, daß auch Paris jetzt seine Hasenhaide bekommt. Ebensowenig wird man gegen die Verherrlichung des nationalen, besonders des militärischen Ruhmes einwenden können, wenn nur das goldene Buch des „Drapeau“, das ihn feiert, nie in Conflict geräth mit der geschichtlichen Wahrheit, und nie in den Ton des „Horribiliscribifax“ verfällt. Dagegen ist das eifrige Schüren der nationalen Feindschaft gegen Deutschland, wie es dieses Blatt betreibt, durchaus verwerflich. Eine Blüthenlese aus der deutschen Kriegslyrik von 1870 ist dazu auserlesen die französische Kampfeslust von Neuem anzustacheln; selbst alte Gedichte von Rückert aus der Zeit der Befreiungskriege werden zu diesem Zwecke hervorgesucht; jedenfalls ist dies eine eigenthümliche Methode, die Franzosen mit unserer Nationalliteratur bekannt zu machen. Bringt dagegen irgend ein deutsches Witzblatt eine satirische Caricatur über die „große Nation“, so wird dieselbe von französischer Seite sofort in gehässigster Weise als eine Probe deutscher Frechheit, mit den nöthigen Glossen versehen, im „Drapeau“ zum Abdruck gebracht. Zahlreiche Illustrationen stellen die Kämpfe in Bazeilles dar; denn wer in Frankreich den deutschen Vandalismus an den Pranger stellen will, braucht blos dieses Wort in den Mund zu nehmen.

Dazwischen läßt nun Deroulède selbst den kriegerischer Hörnerruf erschallen; er ist zwar ein Hitzkopf, aber jedenfalls ein talentvoller Lyriker, durchsichtiger in seinen Gedankengängen, volksthümlicher in seinen Refrains als Victor Hugo. In einem seiner Gedichte: „La Diane“ läßt er den Weckruf ertönen für das „schlummernde, von Räubern überwachte“ Frankreich. „Eine schwere Last ist der Haß,“ ruft der Dichter aus, „und Vergessenheit, der Friede des menschlichen Gemüthes, führt zur Verzeihung; aber Metz weint, aber Straßburg wacht. O töne, töne, Horn, daß bei deiner Fanfare das große Frankreich, das sich verirrt hat, wieder seinen alten Ton anschlage! Oeffnen wir Herz und Ohren, und möge die Sprache Corneille’s uns die Seele Cato’s einhauchen!“ Die Seele Cato’s! Das können wir abwarten; bis dahin wird Metz noch lange weinen müssen. Einen ähnlichen Geist athmen die anderen Gedichte des „Drapeau“; doch die Prosa schlägt einen ruhigeren Ton an, und es giebt unter den Mitarbeitern Pessimisten, welche nicht zögern auszusprechen, daß bei dem unglücklichen Ausgange eines neuen deutsch-französischen Krieges Frankreich werde fürchten müssen, aus der Reihe der europäischen Großmächte gestrichen zu werden.

Oft sind die Gesänge der Dichter die Sturmvögel, welche großen Ereignissen vorausfliegen; ebenso oft aber verrauschen sie spurlos als der Ausdruck persönlicher Empfindungen, welche nicht die Nation zu ergreifen vermögen. Möglich, daß der Revanchegedanke noch einmal in Frankreich zur Herrschaft gelangt … wir würden es bedauern; denn die beiden großen und hochbegabten Völker diesseits und jenseits der Vogesen sind berufen, in schönem Bunde die höchsten Aufgaben der Cultur zu lösen, ein Streben, bei welchem sich ihre Vorzüge ergänzen; leider hat der letzte Krieg eine Kluft zwischen ihnen aufgerissen, die sich wohl so bald nicht wieder schließen wird.

Rudolf von Gottschall. 


Herbstschauer.

  1.
Ueber dem südlichen Höhenzuge
Leuchtet schon der erste Schnee;
Schwäne rauschen mit mächtigem Fluge
Ueber den neblig dämmernden See.

5
Wie mir bangt vor den kommenden Tagen!

Ach, was hilft uns inneren Streit
Und die lastende Sorge tragen
In der traurigen Winterszeit?

Was versöhnt uns, hilft uns verzeihen,

10
Was belebt uns den sinkenden Muth,

Wenn nun der Wald und die Luft im Freien,
Alles in Todesschlummer ruht?


  2.
Wie oft ein Freudestrahl in banger
Und schwerer Zeit ihr Grau’n durchbricht,

15
Flammt durch Gewölk, vom Regen schwanger,

     Ein mächtig Abendlicht.

Es scheinen Blitze drin zu sprühen;
Ein Regenbogen schimmert hold,
Und Blumen scheinen aufzublühen

20
     In Roth und Strahlengold.


In diesem Licht, o schöne Sage,
Glüh’n wie auf einem Scheiterhauf’
Des hingeschiednen Sommers Tage
     In Todesflammen auf.

25
Verlangen, Hoffen, ausgesponnen

Zu süßen Stunden — Flor
Von tausend Freuden, tausend Wonnen,
     Flamm’ noch einmal empor!


  3.
Durch welkes Laub im dunklen Forste

30
Streift Wild, das noch der Jagd entrann;

Um Wipfel und verlass’ne Horste
Krächzt noch ein Rabe dann und wann.

Betraure, wen es rührt, dies Sterben,
Dies Klagelied in Feld und Flur —

35
Für mich bringt’s nach so manchem Herben

Erweckung und Erhebung nur.

Ergieb dich nicht, sagt dies Ermatten,
Und aus den Blätten rauscht es laut:
Das düstre Weh’n, die tiefen Schatten

40
Sind deinem Herzen längst vertraut.


 Hermann Lingg.




[799]

Mohammedanische Friedhöfe.

Von Adolf Ebeling.


Auch die Mohammedaner ehren ihre Todten, und die Strenggläubigen unter ihnen, die genau alle Vorschriften des Korans befolgen, könnten in dieser Beziehung den Bekennern anderer Religionen vielfach zum Muster dienen. Freilich enthalten jene Vorschriften auch manches nach unseren christlichen Begriffen Verkehrte und manchen Aberglauben, aber die ihnen zu Grunde liegenden Hauptideen sind doch zumeist wohlthuend und erhebend.

Mit dem Glauben an die Unsterblichkeit der Seele verbindet der Moslim den Gedanken an die verheißenen Freuden des Paradieses, die allerdings sehr materieller Natur sind, ihm aber die Schauer des Todes weniger schrecklich erscheinen lassen. „Der Gläubige geht ein durch die Himmelspforte,“ sagt der Koran, „nur der Ungläubige wird zurückgestoßen in das ewige Feuer.“ Auch der dem Mohammedaner von frühester Jugend an eingeprägte Fatalismus (der Glaube an das Kismet, das unwiderruflich vorherbestimmte Fatum) macht ihn mit dem Tode vertrauter, an den er noch außerdem, nach dem Gebote des Propheten, jeden Morgen bei Anlegung des Turbans zu denken hat; denn das Turbantuch muß vorschriftsmäßig „sieben Kopflängen“ haben, d. h. siebenmal um den Kopf herumgehen, weil es später als Leichentuch seines Trägers dienen soll.

Ein eigentlicher priesterlicher Beistand des Sterbenden ist nicht vorgeschrieben und wird auch nur selten verlangt, aber gewöhnlich nähert sich ihm doch einer der Umstehenden mit der Frage: „Bekennst Du, daß es keinen Gott giebt außer Allah?“ worauf dann die Antwort, wenn sie überhaupt noch gegeben werden kann, lauten muß: „Ich bekenne.“ Daß sofort nach dem Hinscheiden die Leiche gewaschen wird, ist wohl kaum nöthig zu erwähnen; gehört doch schon für den Lebenden die tägliche mehrmalige Waschung vor dem Gebet zu den Hauptvorschriften des Korans, und dies geht so weit, daß an Orten, wo es kein Wasser giebt, oder wo man es doch wegen seiner Kostbarkeit sparen muß, wie z. B. auf Pilgerfahrten oder Karawanenreisen durch die Wüste, der Sand die Stelle des Wassers vertritt, nur damit man dem Gesetz genüge. Bei den Reichen und Vornehmen wird dann oft noch die Leiche mit Rosenwasser besprengt, bevor man sie in die Grabtücher hüllt, die auch, je nach dem Range und Vermögen des Verstorbenen, sehr einfach (oft nur das obenerwähnte Turbantuch) oder sehr kostbar sind. Mittlerweile haben sich auch schon die Klageweiber eingestellt, die vor dem Hause oder im inneren Hofe desselben ein ohrbetäubendes Geschrei anstimmen, oft aber auch wirkliche Klagelieder singen, monotone Melodien, die sie mit der Tarabukka (dem arabischen Schellentamburin, aber bei dieser Gelegenheit ohne Schellen) begleiten. Einige dieser Weiber bleiben gewöhnlich im Trauerhause zurück; die anderen folgen der Leiche nach dem Friedhofe, und zwar in dunkelblauen Gewändern, der allgemeinen Trauerfarbe des Orients, nachdem sie sich vorher noch Kopf und Schultern mit Asche oder Erde bestreut haben. Sonst sind helle Farben, roth, gelb und grün, bei allen Begräbnissen vorherrschend, und die Bahre selbst, auf welcher die Leiche ruht, wird stets mit einem schimmernden hochrothen Shawl bedeckt. Särge kennt man nämlich im Orient nicht; der Körper wird von der Bahre, auf der man ihn hinausgetragen hat, herabgenommen und in seiner Umhüllung in die Gruft gelegt, wobei man namentlich Sorge trägt, daß das Gesicht in der Richtung nach Mekka hin zu liegen kommt. Auch geht Alles schnell von Statten; denn wenn der Tod Vormittags eingetreten ist, so muß die Beerdigung noch am Abend desselben Tages geschehen, wenn Nachmittags, am nächsten Morgen.[1] Auch darf keine Leiche gefahren, sondern sie muß getragen werden, gleichviel ob eines Königs oder eines Bettlers, und zwar immer mit dem Kopfe voran, was ebenfalls sehr gewissenhaft beobachtet wird.

Alsdann setzt sich der Zug in Bewegung, und ob groß oder klein, ob vornehm oder gering, stets wird die Leiche in die nächste Moschee getragen und vor dem Imam (Geistlichen) niedergesetzt, der die Angehörigen fragt:

„War der Todte während seines Lebens ein treuer Bekenner Allah’s? War er gerecht und war er mildthätig gegen die Armen?“

„Er war es; er war es,“ antwortet man von allen Seiten, und die Ceremonie ist beendigt. Nur bei vornehmen Leichen wird sie durch Gebete und Koranlectüre sehr verlängert, und für solche wird dann auch noch am Abend ein besonderer Gottesdienst abgehalten, bei dem alle Lampen der Kuppel, oft viele hundert an der Zahl, angezündet sind, was einen feierlichen Eindruck macht.

Wer es irgend erschwingen kann, nimmt einen Fiki (einen gewöhnlichen Schulmeister), der zwei oder drei Knaben mitbringt, von denen der eine einen Koran, der andere ein Rauchfaß und der dritte eine Schüssel mit Salz trägt (das Salz wird umhergestreut, um die bösen Geister zu bannen), und ebenso einen Moscheediener, der mit einer grünen Fahne voraufgeht. Blinde und Bettler schließen sich immer von selbst an; sie beklagen den Todten und preisen seine Tugenden, auch wenn sie ihn gar nicht gekannt haben, und die Vorübergehenden reichen ihnen oft eine kleine Gabe. Die nachfolgenden Klageweiber heulen unaufhörlich, und die übrigen Leidtragenden singen, gleichfalls ununterbrochen und in schnellem, fast lustigem Tact, den üblichen Begräbnißvers: „La illah ill Allah, Mohammed rassuhl Allah!“ (Es giebt keinen Gott außer Gott, und Mohammed ist sein Gesandter.)

Auf dem Friedhof angelangt, wird die Leiche sofort und ohne weitere Ceremonien in die für sie bestimmte Gruft gelegt. Diese Grüfte sind immer längliche, aus Ziegelsteinen gemauerte Gewölbe, in Aegypten, in Arabien und Syrien einige Fuß über der Erde und selten mehr als ein Meter tief, in der europäischen Türkei und in Kleinasien tiefer und gewöhnlich mit einem einzigen großen flachen Stein bedeckt; dort sind sie auch mit aufrechtstehenden und oft reichverzierten Steinen geschmückt, voll Koransprüche und Sentenzen, während sie in den ersteren Ländern nur am Kopfende eine kleine steinerne Säule tragen, auf welcher oben ein Turban ausgemeißelt ist. Werden Frauen in der Gruft des Mannes beigesetzt, was nicht immer der Fall ist, da man ihnen besondere Gräber baut, so wird der Raum durch eine kleine Mauer abgetrennt; denn auch im Tode will der Mohammedaner keine Gleichberechtigung der Frauen, die er im Leben immer als tief unter sich stehend betrachtet. Giebt es doch noch heutzutage gelehrte Koranausleger in der Ashar-Moschee zu Kairo, die höchst ernsthaft die Frage erörtern, ob die Frauen wirklich eine Seele wie die Männer und dadurch ein Anrecht auf ein jenseitiges Leben haben.

Begraben werden übrigens die Frauen im Orient auf ganz ähnliche Weise wie die Männer, und in den höheren Ständen oft mit großer Pracht.[2]

Eigenthümlich ist die Sitte, auf der Bahre der weiblichen Leichen eine Stange zu errichten, die mit bunten Tüchern umwunden und mit allerlei Schmuck, sogar mit goldenen Uhren und Ketten behängt wird und auf der Spitze auch wohl noch eine goldene Krone trägt.

Ein schöner Gebrauch herrscht aber bei allen mohammedanischen Begräbnissen, das ist die Armenspende, und wenn auch der Todte selbst noch so arm war, ein Korb voll Datteln und Brod wird doch immer an seiner Gruft vertheilt. Sind die Ueberlebenden nicht im Stande, die Gabe zu erschwingen, so findet sich stets ein bemittelter Nachbar oder Freund, der die wenigen Piaster dazu schenkt, „denn das Grab des Gläubigen soll gesegnet sein durch den Dank der Armen“.

Die Reichen lassen ihren Leichenzügen oft mehrere mit Lebensmitteln aller Art beladene Kameele folgen, auch wohl [800] einen Büffel und eine Anzahl Hammel. Die Thiere werden an einem bestimmten Platz des Friedhofes geschlachtet, zerlegt und mit den anderen Eßwaaren unter die Armen vertheilt, die sich bei solchen Gelegenheiten aus allen Gegenden der Stadt in großer Menge einfinden.

Die Mohammedaner haben auch einen Feiertag im Jahr, der, ähnlich wie der Allerseelentag der Katholiken, dem Andenken der Verstorbenen ganz besonders gewidmet ist, nämlich den zweiten Tag des Beiramfestes nach Schluß des Ramadan, des allgemeinen Fastenmonats. Alsdann ziehen schon am Vorabend jenes Tages viele Tausende, aber fast nur Frauen, nach den Friedhöfen hinaus; alle tragen Palmenzweige, Brod und Früchte, die begleitenden Kinder aber große Papierlaternen; der Zug dauert die ganze Nacht hindurch und hat etwas ungemein Feierliches und Ergreifendes. Auf dem Friedhofe begeben sich die Theilnehmer zu den Gräbern ihrer Angehörigen, um dort zu beten und den übrigen Theil der Nacht mit Besuchen ihrer Bekannten auf anderen Gräbern zu verbringen. Vornehme Damen ziehen wohl auch auf Eseln oder Kameelen hinaus und lassen sich ein Zelt aufschlagen, in welchem sich alsdann eine zahlreiche Gesellschaft versammelt und oft mehrere Tage zusammen bleibt. Für die Mohammedanerinnen, die bekanntlich sonst streng überwacht werden, ist jenes Fest ein Freiheitsfest, das viele von ihnen auch sehr gut zu benutzen wissen, vorzüglich in großen Städten, wie in Kairo, wo Liebesabenteuer bei solchen Gelegenheiten nichts Seltenes sind.

Eigenthümlich, aber den Sitten des Orients vollkommen entsprechend, sind auch die vor dem Friedhofe an jenen Tagen errichteten russischen und gewöhnlichen Schaukeln mit lautem Schellengeklingel, ferner die Kaffeezelte mit Märchenerzählern, die Buden mit Eßwaaren und Zuckerwerk, auch die Schaustellungen von Equilibristen und dem beliebten „Karagös“, dem türkischen Hanswurst, dessen derbe Späße nirgends fehlen dürfen.

Im Allgemeinen machen aber die mohammedanischen Friedhöfe einen tristen und monotonen Eindruck, schon durch die schmucklose Gleichheit der Gräber, die sämmtlich einander fast zum Verwechseln ähnlich sehen. Von Blumenschmuck, wie auf christlichen Friedhöfen, ist vollends keine Rede; selbst Bäume sind selten, obwohl einige Friedhöfe in Syrien und Palästina und vornehmlich ein berühmter bei Constantinopel, den wir weiter unten noch besonders beschreiben werden, davon eine Ausnahme machen. Jene Einförmigkeit wird jedoch in etwas durch die sogenannten Schechgräber unterbrochen, deren man auf großen Friedhöfen sehr viele antrifft. Es sind dies viereckige, würfelförmige Bauten von ziemlicher Höhe, deren Bedachung eine Kuppel bildet, unter welcher der „Heilige“ oder sonst ein angesehener Bekenner des Islam, ein Schech, begraben liegt. Heilige giebt es nämlich im Orient eine unzählbare Menge, wenn auch die meisten derselben so absonderlicher Art sind, daß man sie nach unseren Begriffen weit eher Verrückte nennen möchte, aber in ihrer mohammedanischen Heimath stehen sie, sowohl bei Lebzeiten wie auch nach dem Tode, in großer Verehrung.

Je toller sie sich geberden und je nackter und schmutziger sie umherlaufen, um so „heiliger“ erscheinen sie dem Volke, und die Frauen der unteren Classen wallfahren, in lange Schleier gehüllt, an bestimmten Tagen zu ihrem Grabe und singen dort bei angezündeten Kerzen halbe Nächte lang ihre disharmonischen Klagelieder, welche sie mit dem unaufhörlichen Getrommel der Tarabukka zu begleiten pflegen.

Einzelne Derwischorden haben bestimmt abgegrenzte Plätze auf den Friedhöfen, wo nur Mitglieder ihrer Genossenschaft begraben werden dürfen. Diese Derwische ziehen gleichfalls an bestimmten Abenden in langen Reihen, unter Vorantragung ihrer mit Koransprüchen gestickten grünen Fahnen und mit ihren großen weißen Papierlaternen auf jene Gräber hinaus, um dort einen sogenannten „Zikr“ abzuhalten, eine seltsame Art von Gottesdienst, bei welchem sie im Kreise sitzen und unter beständigem Hin- und Herschaukeln des Oberkörpers nichts wie „Allah, Allah!“ rufen und zuletzt wie Besessene toben, daß man meint, eine Gesellschaft von Verrückten vor sich zu haben. Das sind die im ganzen mohammedanischen Orient bis weit nach Indien hinein verbreiteten heulenden Derwische, zu denen sich oft noch die tanzenden gesellen, die sich minutentang mit weit ausgestreckten Armen und erstaunlicher Geschwindigkeit wie Kreisel drehen. (Vergl. „Gartenlaube“ Nr. 28, Jahrg. 1871.)

Doch wenden wir uns von diesen kläglichen Auswüchsen des Islam, die übrigens auch von allen verständigen und gebildeten Mohammedanern streng verdammt werden, ab und einem würdigeren Bilde zu, das uns die Ruhestätte mohammedanischer Todten in ihrer vollen Schönheit zeigt! Es ist dies der türkische Friedhof von Kadi-Kjoï bei Constantinopel, der unweit Skutari, also auf asiatischem Boden liegt und den Lord Byron den „schönsten Friedhof der Welt“ genannt haben soll; er ist die größte und auch wohl erhabenste Gräberstadt der Mohammedaner und der Hauptfriedhof von Stambul, weil die gläubigen Türken ihn als einen ganz besonders geheiligten Ort ansehen. Dies beruht auf einer alten Prophezeiung, nach welcher die Herrschaft des Halbmondes in Europa nur vierhundert Jahre dauern und dann untergehen soll, freilich um in Asien und Afrika dann nur desto glänzender fortzuleben.[3] Dieser Zeitpunkt war eigentlich schon im Jahre 1853 eingetreten; denn gerade vierhundert Jahre früher (1453) erfolgte die Eroberung Constantinopels durch die Türken und mit ihr der Untergang des oströmischen (byzantischen) Kaiserreiches. Als daher im Jahre 1854 der Krimkrieg ausbrach, meinten die Türken bereits, die gefürchtete Stunde habe geschlagen, was auch wohl der Fall gewesen, wenn nicht die Franzosen und Engländer ihnen gegen die Russen zu Hülfe gekommen wären. Trotzdem lebt die Prophezeinng im türkischen Volke fort, und mehr als zuvor läßt sich heute jeder gute Mohammedaner, wenn er die Kosten irgend erschwingen kann, in Kadi-Kjoï, also in asiatischer Erde, begraben, um nicht etwa später bei den Ungläubigen zu ruhen.

Einen ernsteren und erhabeneren Friedhof als diesen dürfte es aber auch wohl kaum auf der Welt geben. Viele christliche Gottesäcker – und namentlich manch berühmter Campo santo in Italien mögen schöner und durch ihre Denkmäler und Mausoleen prächtiger sein, aber die eigentliche Friedhofsruhe, die einsame und stille Majestät des Grabes findet sich nirgends so wie in Kadi-Kjoï. Uralte Cypressen, deren Alter nach Jahrhunderten, ja oft nach halben Jahrtausenden zählt, bilden stundenlang ein dunkles Schattendach, und wo die kolossalen Stämme einen Durchblick gestatten, sieht man nichts als den glänzenden Meeresspiegel, der seine hellen Lichter auf die meist nur schlichten weißen Grabsteine wirft. Unzählige dieser Steine sind verwittert und zerfallen, aber die Ruhe der darunter Schlafenden wird dadurch nicht gestört; denn der Islam verbietet streng die Rückgabe der Gräber, gleichviel nach welcher Reihe von Jahren, zur Bestattung neuer Geschlechter.

Vom jenseitigen Ufer des Bosporus sieht man häufig und meist in den Abendstunden die mit grünen Tüchern verhangenen Boote herübergleiten, in denen die Leichen nach Kadi-Kjoï befördert werden; Stand und Vermögen der Verstorbenen machen natürlich auch hier einen Unterschied. In jüngster Zeit versehen sogar kleine Dampfer die Ueberführung vornehmerer Leichen, doch der strenggläubige Mohammedaner zieht hier die einfachere Weise des Transports mittelst des gewöhnlichen Leichenbootes vor, wie er ja auch auf seiner Pilgerfahrt nach Mekka Dampfschiffe und Eisenbahnen vermeidet. Oft folgen aber in einem zweiten Boote die Leidtragenden, und Andere sind schon voraufgefahren, um den Todten auf dem Friedhofe zu empfangen und ihm die letzten Ehren zu erweisen.

Ich habe oft solchen abendlichen Leichentransporten über den Bosporus zugesehen. Es ist ein feierlicher Anblick. Die im Marmarameere versinkende Sonne sendet noch einmal ihre Strahlen auf die Riesenstadt und übergießt die vielen hundert Kuppeln und Gebetthürme und alle Dächer der höhergelegenen Paläste und Gebäude mit rother Gluth; die zahllosen Fenster der Landhäuser auf den Terrassen von Pera und Galata funkeln wie flüssiges Gold, und hoch am Himmelsgewölbe schwimmen helle Rosenwolken – nur der Cypressenwald von Kadi-Kjoï steht dunkel und ernst da, ein lautmahnender Gegensatz der schweigsamen Stätte der Todten zu der gegenüberliegenden daseinsfrohen Welt der Lebendigen.



[801]

Türkischer Friedhof in Kadi-Kjoï bei Skutari.0 Nach einer Photographie.

[802]

Blätter und Blüthen.

Literarische Weihnachtsneuigkeiten. Anknüpfend an unsere neuliche Besprechung poetischer Novitäten des Weihnachtsbüchertisches, werfen wir heute im Nachstehenden einen flüchtigen Blick auf besonders beachtenswerthe Neuigkeiten der Prosadichtung.

Dem Herzen unserer Leser am nächsten dürfte das Werk einer ihnen längst vertrauten Dichterin stehen: „Waldblumen“ von W. Heimburg (Leipzig, J. M. Gebhardt’s Verlag). Das ist ein Strauß duftiger Noveletten-Blumen, wie ihn eben nur die liebenswürdige Verfasserin von „Lumpenmüllers Lieschen“ in dem Garten ihrer Dichtung zu pflücken vermag – acht jener zart gewobenen, bei aller Einfachheit so inhaltschweren Herzensgeschichten, wie unsere Freunde sie als specifisch „Heimburgisch“ seit Jahren kennen: „Sommerfäden“, „Melanie“, „Friede auf Erden“, „Hermann und Dorothea“, „Ein treues Frauenherz“, „Johannes“, „Ihr Heinrich“ und das unsern Lesern bekannte „Unterm Schlosse“. Was die Heimburg’schen Erzählungen vor anderen ähnlichen Erzeugnissen so vortheilhaft auszeichnet, Innigkeit und Wärme der Empfindung bei großer Schlichtheit des Ausdrucks, Sicherheit und Natürlichkeit in der Führung der Handlung bei anspruchsloser Ursprünglichkeit in der Wahl der Motive – das giebt auch diesen „Waldblumen“ das charakteristische Gepräge. Es ist nichts Gemachtes, nichts Manierirtes in den Menschenbildern, welche unsere Erzählerin uns zeichnet; sie sind alle erlebt, beobachtet und in warmer Dichterseele gehegt und groß gezogen, diese Jünglinge und Greise, diese Backfische und alten Jungfern, diese thatkräftigen Männer und wackeren Hausfrauen; sie bewegen sich wie wirkliche Menschen, und wir verkehren mit ihnen, als hätten wir lange unter ihnen gelebt, als wären sie unsere Freunde von Alters her. Ein auch nur oberflächliches Eingehen auf die in dem neuesten Sammelwerke W. Heimburg’s zusammengefügten Erzählungen müssen wir uns an dieser Stelle leider versagen und uns damit begnügen, den im „Walde“ echtester Herzenspoesie gewachsenen „Blumen“ die besten Wünsche mit auf den Weg in’s große Publicum zu geben; ihr würziges Aroma wird keinen Leser berauschen oder betäuben, jeden aber erquicken und erfrischen, wie alle wahre Poesie, die zugleich Natur ist.

Neben die warmblütige Idyllenpoesie W. Heimburg’s stellen wir das Erstlingswerk einer Feder, welche sich in ganz anderen Bahnen bewegt. Hier tritt uns nicht, wie dort, das einfach und unmittelbar sich gebende Gefühl als schaffendes und bewegendes Element entgegen – hier steht vielmehr der reflectirende Gedanke im Mittelpunkte der Dichtung. Wir meinen A. Leschivo’s zweibändigen Roman „Der Ring der Wahrheit“ (Leipzig, Julius Klinkhardt). Ein Werk, das vorwiegend aus Reflexion geflossen, hat an und für sich etwas Kühles. Das ist hier aber nur in bedingter Weise der Fall; denn zu der kühlen Abstraction tritt im „Ring der Wahrheit“ ein halbwegs ausgleichendes Moment hinzu, das dem Geiste gewissermaßen sein Fleisch verleiht: die Leidenschaft – aber es ist die Leidenschaft nicht des Herzens, sondern eben des reflectirenden Geistes – und so bleibt trotzdem eine gewisse „Blässe des Gedankens“ in dem Romane zurück. Zu viel Gedachtes, zu wenig Gestaltetes! Leschivo bekundet ohne Frage ein höchst beachtenswerthes Talent, das weit über das romanschriftstellerische Mittelmaß hinausragt. Er ist ein Seelenkenner von ungewöhnlicher Spürkraft: „Der Ring der Wahrheit“ ist ein durchaus psychologischer Roman, oft edel in der Sprache, in einzelnen Details sehr interessant und seiner ethischen Grundidee nach – wir wollen sie nicht verrathen – fein angelegt und geistvoll durchgeführt. Nur hätten wir, wie bereits angedeutet, der dichterischen Veranschaulichung dieser Grundidee etwas mehr Körperlichkeit, wir hätten ihr außerdem etwas weniger Aufwand von Personal und Decoration gewünscht. Was wir bei den künftigen Werken des noch nicht voll ausgereiften Dichters zum Durchbruch gelangt sehen möchten, das ist: in der Charakterzeichnung mehr Fleisch und Blut des wirklichen Lebens, im Aufbau der Handlung schärfere und knappere Linien und vor Allem ein größeres Zurücktreten der Idee zu Gunsten der Plastik und des Realismus in Gestaltung und Darstellung.

Plastik und Realismus sind in hohem Grade einem andern zweibändigen Romane eigen: „Auf ewig gebunden“ von C. del Negro (Leipzig, Ed. Wartig). Wir haben hier ein Sittengemälde aus dem modernen Rom vor uns, ein nach dem Leben entworfenes Zeitbild, welches in seinen Consequenzen auf eine erbarmungslose Verurtheilung des Clerus und der römischen Aristokratie hinausläuft. Der Schilderung der verkommenen Gesellschafszustände im neuen Rom stellt der Roman mit richtigem Tactgefühl in einer Nebenhandlung ein rührendes und ergreifendes Bild aus dem römischen Volksleben versöhnend gegenüber, und diese Contrastirung bildet den Hauptreiz und den poetischen Hebel der geschickt erfundenen und sicher durchgeführten Fabel der Erzählung. Wir lernen die in Kabalen und Intriguen verstricte, in Wollust und Ehrsucht versunkene Aristokratie der „ewigen Stadt“ verachten und richten uns auf an jenen anderen Charakteren, welche dem Leben der vornehmen Salons der italienischen Residenz fern stehen und das Ideal des Guten und Schönen repräsentiren. Die Verkettung der Gestalten dieser beiden Gesellschaftskreise durch ein fein ersonnenes Bindeglied der Handlung ist eine höchst geschickte. In „Auf ewig gebunden“ lebt alles und bewegt sich alles – alles interessirt; es entrollt sich vor uns ein buntes, reizvolles Nebeneinander interessanter Charaktere und lebhaft anschaulicher Situationen; es entrollt sich auf einem künstlerisch ausgeführten Hintergrunde von frappant wirkendem Local- und Zeitcolorit. Aber hinter diesem plastischen Leben des Romans steht groß und schön die social moralische Tendenz desselben, die in dem knapp und effectvoll zusammengefaßten Schlußaccorde ihren präcisen Ausdruck findet. Die sterbende Heldin spricht diese Tendenz aus: „Nur die Arbeit adelt und bringt Segen“ – und diese einfache Schlußtendenz wirkt um so überzeugender, als wir den ganzen Roman hindurch Blicke gethan haben in das üppige, sittenverderbte Rom und somit um so empfänglicher sind für die eindringliche Wahrheit, welche der Schluß predigt. – Der del Negro’sche Roman hat seine unverkennbaren Schwächen: er hat Incorrectheiten in der Composition, Längen in der Darstellung. Unwahrscheinlichkeiten in der Motivirung, Unebenheiten im Stil; auch hält er in den Schilderungen der sybaritischen Tiberstadt vielleicht nicht immer jene Schönheitslinien maßvoller und kühler Darstellung inne, welche wir Deutschen – zumal unsere Frauen – nun einmal von der Romanliteratur fordern, ob mit Recht oder Unrecht fordern, möge hier unentschieden bleiben. Jedenfalls wird „Auf ewig gebunden“ allen Denen eine willkommene Lectüre sein, welche einen Blick thun wollen in das heutige vornehme Leben der einstigen Weltmetropole, und ihnen sei das geistvolle Buch warm empfohlen!

Lebt in den Romanen von Leschivo und del Negro ein gewisser Kriticismus, der das Menschenherz und die menschliche Gesellschaft unter sein scharfes Secirmesser nimmt, so betreten wir mit den „Novellen“ von Marie Landmann (Berlin, Alexander Duncker) wieder den Boden jener stimmungsvollen Erzählungen, jener „stillen Geschichten“, in denen W. Heimburg’s anmuthiges Talent wurzelt. Die Landmann’schen Novellen, sieben an der Zahl, sind die Erzeugnisse eines feinsinnigen Talentes, das ohne jede kokette Effecthascherei in ansprechender und ausgereifter Form tief empfundene und edel gedachte Seelengemälde entwirft: diese Novellen verdienen die Beachtung der deutschen Leserwelt in vollem Maße, und es ist namentlich die weibliche Jugend, an welche sie sich wenden.

Hier schließt sich ungezwungen ein Hinweis an auf drei durch gediegenen Inhalt und einschmeichelnde Darstellungsform ausgezeichnete Publicationen des Karl Krabbe’schen Verlages in Stuttgart: auf die gesammelten Erzählungen: „Wollt Ihr’s hören?“ von Adelheid Wildermuth und „Was das Leben bringt“ von Therese Devrient, sowie auf die Novelle „Die Erbin von Roseneck“ von Agnes Wilms – sämmtlich für Töchter des deutschen Mittelstandes bestimmt und sich auf jenem etwas nüchternen Niveau der moralisirenden Erzählung bewegend, welches man von der pädagogischen Belletristik nun einmal fordern muß. Hohen Flug der Gedanken und hinreißende Leidenschaft wird man hier vergebens suchen, aber man wird in den theils recht anmuthigen kleinen Erzählungen desto mehr gesundes Denken und einfache Herzenstöne finden – und das ist auch etwas werth.

Hierher gehören ferner, wenngleich sie im Stilgeschmack auf einer höheren Stufe stehen, die „heiteren und ernsten Silhouetten“ des häuslichen Lebens: „Er, Sie und Es“ von Helene Stöckl (Leipzig. C. A. Koch’s Verlag) und Emil Peschkau’s Novellen „Friedburg“ und „Zwei Tanten“ (Frankfurt a. M., C. Koenitzer), sowie desselben Verfassers „Ein- und Ausfälle“ (Frankfurt, ebendaselbst), drei beachtenswerthe Büchlein, welche wir zu dem Besten rechnen dürfen, das in diesem Genre jüngsthin auf dem Büchermarkte erschienen ist.

Eine Reihe von theils höchst bedeutsamen und originellen Geschichten und Skizzen veröffentlicht Ferdinand Groß unter dem Titel „Heut’ und gestern“ (Wien, Karl Konegen) – ein Quodlibet von bunt durch einander geworfenen Federzeichnungen, Studien, Einfällen, Portraits und Essays, welche die Feder des gewandten Feuilletonisten und feinen Beobachters verrathen. Möchte das amüsante Buch recht viele Freunde finden!

Zum Schlusse unserer heutigen Uebersicht registriren wir noch zwei Publicationen, die sich an allbekannte Namen knüpfen, aber nicht als Novitäten im eigentlichen Sinne des Wortes betrachtet werden können: F. W. Hackländer’s „Ausgewählte Werke“ (Stuttgart, Karl Krabbe) fanden mit dem soeben ausgegebenen neunzehnten und zwanzigsten Bande („Der Roman meines Lebens“) nunmehr ihren Abschluß, und Ernst Wichert’s imposanter und brillanter Geschichtsroman „Heinrich von Plauen“ (Leipzig, Karl Reißner) liegt in zweiter Auflage vor. Es möge hier genügen, diese beiden elegant ausgestatteten neuen Ausgaben der bekannten Werke unsern Lesern in Erinnerung zu bringen.

(Schluß folgt.)

Franz von Kobell, der „Naturforscher und Volksdichter“, welchem wir zu seinem fünfzigjährigen Doctorjubiläum in Nr. 15 des Jahrgangs 1878 eine Gedächtnißtafel zu errichten versucht haben, ist, beinahe achtzig Jahre alt, am 11. November dieses Jahres zu München ohne Todeskampf aus Altersschwäche sanft und ruhig entschlafen. Freilich waren auch ihm die Gebrechen des Alters nicht ferne geblieben, und er hat sie in gewisser Beziehung sogar mehr als Andere gefühlt, wenn ihn auch peinigende Krankheiten gänzlich verschonten. Sein Herz wie seine Phantasie waren jugendfrisch bis zuletzt – ein Vorrecht gottbegnadeter Dichter und Künstler –; realistisch und objectiv fühlte er darum doppelt das stetige Sinken der Körperkräfte. Am schmerzlichsten wohl war es ihm, daß die Füße den Dienst versagten, wenn es galt, im Hochgebirge des edlen Waidwerks zu pflegen und dem Gemsenvolke nachzupürschen. Vor ein paar Jahren ließ er sich noch die steileren Stellen, wenigstens bis zu den untersten Höhen, wo Gemsen wechseln, hinauftragen. In einem Gedichte bat er St. Hubertus, ihm hierher noch einen Gemsbock zu schicken. Das Gebet ward auch erhört. Als sechsundsiebenzigjähriger Greis schoß er hier noch seine „letzte Gemse“. Man erzählt sich nach gut verbürgten Quellen, Kobell habe, abergläubisch, wie wohl jeder echte Jäger, fest daran geglaubt, daß er, wenn er einmal ein Jahr hindurch keine Gemse mehr schieße, im nächsten Jahre sterben werde – ein Gedanke, welcher ihm stets ein unangenehmer war und blieb.

Gefürchtet aber hat er den Tod nie, wie er überhaupt nichts gefürchtet, sondern im Gegentheil Gefahren gesucht und überall, auch mit der Feder, derbe „Schneidigkeit“ und rücksichtslose Muthigkeit bis in seine letzten Lebenstage geübt hat. Zeuge dessen ist eine Reihe von Gedichten,

[803] welche er noch in den letzten Jahren verfaßt und mit ungedruckten älteren Dichtungen erst jüngst herausgegeben hat.

Nicht allein die geistige Kraft aber ist ihm treu geblieben (erst vor etwa Jahresfrist stellte er seine Collegien über Mineralogie an der Universität ein) – auch seine durch nichts dauernd zu trübende Heiterkeit, sein unverwüstlicher Humor, ja auch seine harmlos spottende Schalkhaftigkeit verließen ihn nicht bis zuletzt. Als die Siebenziger herangekommen waren, begrüßte er sie unehrerbietig genug, indem er den fatalen Monsieur Sieben als „Galgenfigur“ charakterisirte und es ganz offen aussprach, er traue „dem Kerl“, welcher nun sein Begleiter sein solle, nur „mit Rückhalt“. Jedoch ließ er der Zahl die eine Möglichkeit offen, daß sie statt eines Galgens ein Krahn sei, welcher (wenn auch noch lieber in die Achtzig hinein) wenigstens sanft in die Ewigkeit hinüberdrehe. „In letzterem Sinne“ (so schließt er das Gedicht)

 „will ich’s interpretiren
Und grübeln nicht weiter und sinniren;
Nur soll der Krahn in freundlichen Gnaden
Sich nicht beeilen bei’m Ueberladen
Und nicht sich umdreh’n vor der Zeit;
Denn da ohne Ende die Ewigkeit,
So braucht’s keine Hast, zu leeren den Krug –
Ich komm’ ja doch immer noch früh genug.“

Der „dickbauchige Achter“ war ihm freilich lieber, als der „Galgensiebener“, ja wir sind fest überzeugt, daß ihm unter allen Umständen am allerliebsten gewesen wäre, „auf neunzig eingeschrieben“ zu sein (um was sich die köstliche Geschichte des – dem Dichter congenialen – Brandnerkaspers dreht); denn Kobell hat im höchsten Alter sich seines Lebens mit demselben kindlichen Gemüthe gefreut, wie in glücklichster Jugend.

Mit wahrhaft jugendlicher Lust gewann er selbst dem Gebrechen des höchsten Alters eine heitere Seite ab. Gerade Kobell wurde vom Alter im Verhältniß zu anderen wetterharten Jägernaturen früh gebeugt. Er widmete dem Alter ein besonderes Gedicht: „Der Rucksack“ (jener für alle Bergsteiger unübertrefflich praktische Reisebegleiter). In diesen Rucksack, welchen Jeder trägt, sagt Kobell, kommen nämlich die Jahre hinein. In der Jugend trägt man leicht daran, allein es kommen dann Jahre, welche schwer niederdrücken:

„Schaug’s an die alten Kraxler, gel’!
Wie müssen die sich plag’n
Mit so an’ Sack, wenn’s d’rinn amal
An achtzgi ebba tragn’!

Der Buckl allwei’ krummber werd;
Der Sack wird allwei’ schwaarer,
Und Koaner hat’s no’ zweg’n bracht,
Wie daß er’n machet laarer.

Dees is ja recht a’ zwidri Gschicht,
Und kannt’ ’ma wohl studir’n:
Für was denn trag’n die dumme Jahr,
Die kunnt’n zu Fuß marschir’n!

No! ’s werd schon müssen a so sein,
Und dees ist halt das Beßti,
Daß’s Oan wie dem Andern geht –
Schau Bua und mit dem tröst’ Di’!“

Dies die Lebensweisheit eines Mannes, welcher – wissenschaftlich tüchtig wie Wenige – bis zum höchsten menschlichen Lebensalter heiter und glücklich gelebt, welcher allerdings auch bescheiden wie wenige über Vieles sich gefreut hat, was Andere als pflichtschuldigsten Tribut für ihre Verdienste kalt hinnehmen. Wie herzlich freute er sich in seinem dankbaren Sinne noch über die ihm zu Theil gewordenen Ehrenbezeigungen der letzten Zeiten, besonders bei Gelegenheit der im December 1876 gefeierten goldenen Hochzeit! Freilich Eins ist hierbei nicht zu vergessen und von gar Wenigen nachzumachen. Er lebte sein an Arbeit und Genuß, an Enttäuschungen und Freuden reiches Leben zugleich als Dichter von Gottes Gnaden, welcher Alles, was das Menschenherz bewegt, im verklärten Lichte schaut. Drum war sein heißestes Gebet auch das, daß ihm dieser Blick nie getrübt werde. Die lieblichste Seite war seine Dichterliebe zur Natur.

„O lieber Mai, wie grüß ich dich
Mit der singenden Nachtigall,
Und daß du wieder blühst für mich,
Wie dank’ ich’s tausendmal!“

So sang er noch in der letzten Zeit.

Wie rührend hatte er denselben Gedanken in jüngeren Jahren ausgeführt! Er sprach damals dem Frühling sein Mitleid aus, weil dieser über die Unbilden seitens der Menschen traurig war. „Gelt, rupfen thun sie dich,“ so sagte er zu ihm – die frühlingsheiteren Menschen nämlich, welche es in ihrer Freude nicht lassen können, Blumensträuße zu pflücken. Von sich aber singt er dann:

„Versteh’ mi’ recht! I’ nimm koa Bliemi,
I’ laß dir s’ gern – bleib g’rad bei mir;
Geh’ bleib’ bei mir a bisl länger;
I’ dank dir tausendmal dafür.“

Und auch dieses sein Gebet, es ist erhört worden. Der Frühling blieb bei ihm bis in sein achtzigstes Jahr. Danken jetzt wir, denen er sein unsterblich Theil in Gedichten hinterlassen, tausendmal dafür.
D. E. B.

Denselben Dank schulden wir dem Dichter, der uns nur drei Tage nach Franz von Kobell, aber um zwölf Jahre jünger als dieser, plötzlich entrissen wurde: Gottfried Kinkel. Ein Schlagfluß, der ihn am 13. November traf, legte ihn schon am folgenden Tage auf die Bahre, einen Tag vor dem 15. November, der ihm vor vierundzwanzig Jahren im Exil zu London seine Johanna geraubt.

Wenn auch die „Gartenlaube“ diesem Dichter und Patrioten ihre Anerkennung in einer Reihe von Artikeln bereits bethätigt und ihm selbst die Gelegenheit geboten hat, die Erinnerung an seine „Kindheit“ und seine „Schuljahre“ (Jahrgang 1872 und 1873) in ergreifenden Schilderungen dem deutschen Volke darzulegen, so kann uns doch diese Hinweisung allein nicht genügen, um das Andenken eines so hervorragenden deutschen Mannes, Dichters und Kämpfers zu feiern. Wir werfen heute im Geiste eine Hand voll Erde auf seinen Sarg – den Nachruf an seinem Grabe aber wird die „Gartenlaube“ ihm nicht lange schuldig bleiben.
D. Red.




Unheimliche Schlafgenossen. „Die Noth bringt Einen zu seltsamen Schlafgesellen,“ sagt Shakespeare im „Sturm“, und dieser Ausspruch gilt nicht blos für die Menschen, sondern auch für die Thiere. Auf den Pampas Südamerikas haust die Kaninchen-Eule, welche sich in den Erdlöchern der Viskache einnistet, bisweilen mit dieser zusammen, und in den Prairien Nordamerikas wohnen Erdeule, Prairiehund und Klapperschlange nicht selten in demselben Loche friedlich bei einander, sodaß es nach Dr. Fintsch ein beliebter Vorwurf für Ausstopfer ist, diese „glückliche Familie“ zu einer Gruppe zu vereinigen. In dem unlängst ausgegebenen neuesten Bande der Publicationen des Neuseeland-Institutes hat Professor v. Haast nach den Beobachtungen eines zuverlässigen Naturkenners, Namens Reischek, einen weiteren und wo möglich noch groteskeren Fall solcher Schlafgenossenschaft mitgetheilt: Auf den kleineren Inseln rings um Neuseeland lebt ein auf den Hauptinseln längst ausgerottetes großes Reptil, von dem die Eingeborenen schon dem Capitain Cook unheimliche Geschichten erzählt haben, die Tuatara- oder Stacheleidechse (Sphenodon punctatus), die auch noch heute in den dortigen Volkssagen dieselbe unheimliche Rolle spielt, wie der Lindwurm oder Höhlendrache in den germanischen Sagen. Das äußere Aussehen dieses Thieres ist in der That nicht sehr vertrauenerweckend, da es zum Theil wie ein Krokodil gepanzert ist und außerdem in der Mittellinie seines Rückens vom Kopfe bis zur Schwanzspitze eine nur an wenigen Stellen unterbrochene, mehr oder weniger dichte Reihe spitzer Dornen und stumpfer Höcker trägt. Dieses große, dickleibige, mit gelben und weißen Tüpfeln auf olivengrünem Grunde übersäete Mittelding zwischen Molch und Drachen, welches auch in seinem anatomischen Bau einen uralten, in der heutigen Lebewelt sonst nicht weiter vertretenen Typus darstellt, fand Reischek noch in Menge auf den kleinen Inseln der Mangarei-Bai im Osten der Nordinsel Neuseelands, welche man ihrer Kleinheit wegen die Kücken („the chickens“) genannt hat, am Leben, und hier könnte man glauben, diese Drachenbrut habe wirklich, wie erzählt wird, alle menschlichen Bewohner aufgefressen; denn es fanden sich nur noch Küchenmüllhaufen vor, die von der einstigen Anwesenheit der Menschen auf diesen kleinen Eilanden zeugen. Aber die Tuatara-Eidechse ist im Gegensatze zu ihrer drohenden Rüstung ein sehr friedfertiges Thier, welches sich zu seiner Wohnung unterirdische Höhlen gräbt und dieselben freundlich mit Sturmvögeln (Procellaria Gouldi und Cooki), sowie mit Sturmtauchern (Puffinus gavius) theilt, die mit ihm die hauptsächlichste Bevölkerung der Inseln bilden. Meistens wohnt auf der einen Seite des Eingangs, und zwar gewöhnlich auf der rechten, der gefürchtete Drache, und auf der linken der Sturmvogel; mitunter wohnen auch zwei Sturmvögel bei einander, während nebenan der Drache, um seiner Rolle wenigstens darin getreu zu bleiben, immer allein haust.

Bisweilen soll auch umgekehrt der Sturmvogel die Wohnung aushöhlen und der Drache bei ihm in Kost und Logis ziehen, sofern er von den Fischen und Krebsen, welche der Sturmvogel zu Neste trägt, mitzehrt. Er selbst verläßt erst nach Sonnenuntergang seine Höhle und geht seither nicht mehr auf die Menschenjagd, sondern begnügt sich mit kleinen Würmern und Insecten; auch soll er beim Umherwandern wie ein Schwein grunzen. Man kann ihn dann leicht fangen; in den letzten Jahrzehnten ist das Schreckensthier der Neuseeländer wiederholt nach London gebracht worden, wo es sich im Käfig sehr zahm und gutmüthig benahm.

C. St.




Am Kreuzwege.
(Mit Abbildung S. 792 und 793.)

Was steht Ihr voll Verlegenheit
Im frisch beschneiten Haine?
Beherrscht Ihr doch zu jeder Zeit
Des Volkes Herz und Beine!

Das ist ein schlechter Musikant,
Ein Männlein zum Erbarmen,
Der, ist der Weg ihm unbekannt,
Sucht nach des Weisers Armen.

Braucht Eure Instrumente nur
Flottauf mit Mund und Händen –
Und freudig sucht nach Eurer Spur
Das Volk von allen Enden.




Zu unserem „ältesten Soldaten der deutschen Armee von 1870 bis 1871“ (vergl. Nr. 44) hat sich noch ein gleich alter gefunden, und zwar ein Baier, welcher zwei Jahre älter an Dienstjahren, aber nahezu zwei Jahre jünger an Lebensjahren ist als der preußische Husar Ferdinand Roggisch. Dieser Zeit- und Kampfgenosse desselben ist Peter Göttling, der Stabstrompeter vom 6. Chevauxlegers-Regiment in Bayreuth. [804] Am 1. November 1815 in Bamberg geboren, trat er 1834 als Trompeter bei dem Regimente ein, dem er heute noch in voller Kraft angehört und dessen Musikcorps er siebenundzwanzig Jahre geleitet und zu anerkannt hohen Leistungen emporgehoben hat. Auch seine kriegerische Laufbahn ist eine sehr interessante; sie ließ ihn 1850 in einer tragikomischen Scene unserer Geschichte eine Rolle spielen; denn er war es, der als Ordonanztrompeter des Generals von Heilbronner die Signale blies, die dem Schimmel von Bronnzell zu seiner Berühmtheit verhalfen. Im Kriege von 1866 schmetterte seine Trompete zu dem gelungenen Sturmangriffe der baierischen Kürassiere und Chevauxlegers auf die preußische Cavallerie bei Hettstädt. Den Feldzug in Frankreich machte er vom Anfang bis zum Ende mit und erwies sich in demselben trotz seines hohen Alters so frisch und kräftig, daß er keinen Tag krank war.

Aber nicht blos als ausgezeichneter Musikmeister, sondern auch als charaktervoller und gemüthreicher Mann wurde er ein Liebling seines Regiments, und als am 23. October dieses Jahres der Tag seines fünfzigjährigen Dienstjubiläums erschien, zeigte ganz Bayreuth, wie hoch es in Göttling den Trompeter und Helden, den echten Kernbaiern, schätzte; sein Ehrentag war ein Freudentag für die ganze Stadt.

So können wir uns also zweier deutscher Männer erfreuen, welche sich rühmen dürfen, die ältesten Soldaten unserer Armee im großen Kriege von 1870 und 1871 gewesen zu sein, und es ist gewiß doppelt erfreulich, daß der Eine von ihnen Nord-, der Andere Süddeutschland vertritt. Eben deshalb sind wir gesonnen, unsern Lesern die Bildnisse dieser beiden Ehren-Alten der deutschen Armee vorzuführen. Sollte noch ein dritter Altersgenosse derselben vorhanden sein, so muß die Meldung desselben möglichst beschleunigt werden; denn wir können durchaus nicht unserem Soldatenpaare später noch Jemanden nachmarschiren lassen.



Kleiner Briefkasten.

R. G. in Riga. Die Titel der von Ihnen zur Lectüre gewünschten beiden Bücher von Hermann Semmig lauten wie folgt: „Das Kind. Tagebuch eines Vaters“. Zweite Auflage (Rudolstadt, H. Hartung und Sohn) und „Das Frauenherz. Lebensbilder und Dichtungen“ (Leipzig, E. Kempe). Ersteres, ein deutsches Familienbuch in der besten Bedeutung des Wortes, behandelt die Entwickelung des Kindes in den fünf ersten Lebensjahren; letzteres, nicht minder beachtenswerth, schildert das weibliche Leben in allen Lagen und Verhältnissen.



Als Weihnachtsgeschenke empfohlen!

Verlag von Ernst Keil in Leipzig.


Gerstäcker, Eine Gemsjagd in Tirol. Brosch. 10 ℳ. 0 Eleg. geb. mit Goldschn. 12 ℳ. 50 ₰.

Godin, Mutter und Sohn. Roman. 2 Bände Eleg. brosch.0 6 ℳ. –– ₰.

Gottschall, Rudolf von, Friedens- und Kriegsgedichte. 2. Auflage des „JanusPrachtband.0 4 ℳ. 50 ₰.

Heimburg, Lumpenmüllers Lieschen. Roman. Eleg. brosch.0 5 ℳ. –– ₰.

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Horn, Georg, Bei Friedrich Karl. Bilder und Skizzen aus dem Feldzuge der zweiten Armee. 2 Bde. Eleg. brosch.0 9 ℳ. –– ₰.

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v. Meyern, Teuerdank’s Brautfahrt. Romantisches Zeitbild. Eleg. brosch.0 4 ℳ. 50 ₰.

Meyr, Gleich und Gleich. Erzählung aus dem Ries. Eleg. brosch.0 2 ℳ. 70 ₰.

Michael, Vernünftige Gedanken einer Hausmutter. Eleg. brosch. 3 ℳ. Eleg. geb.0 4 ℳ. –– ₰.

Rittershaus, Emil, Neue Gedichte. 4. Auflage Prachtband.0 6 ℳ. 50 ₰.

Schefer, Leopold, Für Haus und Herz. Gedichte. Eleg. geb. mit Goldschnitt0 5 ℳ. 70 ₰.

Scherenberg, Ernst, Gedichte. 2. Auflage. Prachtband.0 5 ℳ. 25 ₰.

–––– ––––– Neue Gedichte. 2. Auflage. Eleg. geb. mit Goldschnitt0 2 ℳ. 60 ₰.

Scherr, Johannes, Goethe’s Jugend. Eleg. geb. 0 4 ℳ. 50 ₰.

Schmid, Herman von. Gesammelte Schriften, in 69 Heften (à 30 ₰.) 20 ℳ. 70 ₰.

––––––– Gesammelte Schriften, Neue Folge. Heft 70 u. folg. à 30 ₰.

––––––– Gesammelte Schriften, Neue Folge. Band I (der ganzen Reihe 33. Band.) à 75 ₰.

Steub, Altbaierische Culturbilder. Eleg. brosch.0 3 ℳ. –– ₰.

Stolle, Palmen des Friedens. Gedichte. 5. Auflage. Eleg. geb. mit Goldschn.0 4 ℳ. 50 ₰.

––––––– Deutsche Pickwickier. Komischer Roman. 3. Auflage. 3 Bände. Brosch.0 3 ℳ. –– ₰.

Temme, Erinnerungen. Herausgegeben von Stephan Born. Mit Temme’s Bildniß. Eleg. brosch.0 4 ℳ. 50 ₰.

Traeger, Albert, Gedichte. 14. Auflage. Eleg. geb. mit Goldschn.0 5 ℳ. 25 ₰.

v. Weber, Carl Maria von Weber. Ein Lebensbild. 3 Bände. Brosch. 20 ℳ. 50 ₰.

Werber, Feuerseelen. Erzählungen. Brosch.0 5 ℳ. –– ₰.

Werner, E., Gartenlaubenblüthen. Inhalt: Ein Held der Feder. – Hermann. 2. Auflage. 2 Bde. Eleg. brosch.0 6 ℳ. –– ₰.

––––––– Am Altar. Roman. 3. Auflage. 2 Bände. Eleg. brosch.0 6 ℳ. –– ₰.

––––––– Glück auf! Roman. 3. Auflage. 2 Bände. Eleg. brosch.0 7 ℳ. 50 ₰.

––––––– Vineta. Roman. 3. Auflage. 2 Bände. Eleg. brosch.0 7 ℳ. 50 ₰.

––––––– Gesprengte Fesseln. Roman. 3. Auflage. 2 Bände. Eleg. brosch.0 7 ℳ. –– ₰.

––––––– Um hohen Preis. Roman. 2 Bände. Eleg. brosch.0 8 ℳ. –– ₰.

––––––– Frühlingsboten. Roman. Eleg. brosch.0 4 ℳ. 50 ₰.

Ziel, Ernst, Gedichte. 2. vermehrte Auflage. Eleg. geb. mit Goldschnitt0 5 ℳ. 25 ₰.


Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Wir sprachen oft mit türkischen und arabischen Aerzten darüber, schon wegen der Möglichkeit des Scheintodes und des Lebendig-begraben-werdens, hörten aber stets dasselbe, daß nämlich das Gesetz es so vorschreibe und daß die eben erwähnten Eventualitäten nicht vorkämen. In allen größeren Städten sind übrigens auch Leichenbeschauer angestellt, die den Tod vorher constatiren müssen. Eine große Autorität auf diesem Gebiete, H. Petermann („Reisen im Orient“), ist freilich anderer Meinung und behauptet, daß sehr viele Mohammedaner lebendig begraben würden.
  2. Die „Gartenlaube“ brachte in Nr. 38 des Jahrg. 1875 von demselben Verfasser eine Schilderung des Leichenbegängnisses der Lieblingstochter des Khedives, bei welchem ein ganz außerordentlicher Pomp entfaltet wurde. D. Red. 
  3. Was Afrika betrifft, so sieht es dort wegen der französischen Suprematie in Tunis und mehr noch wegen der englischen in Aegypten augenblicklich mit dieser Prophezeiung bös aus, und auch die asiatische Türkei erweckt in dieser Beziehung keineswegs sehr günstige Aussichten. D. Red.