Zum Inhalt springen

Die Gartenlaube (1883)/Heft 18

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1883
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[285]

No. 18.   1883.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis Bogen. 0 Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Alle Rechte vorbehalten.

Gebannt und erlöst.

Von E. Werner.
(Fortsetzung.)


Paul fuhr zurück, er hätte alles Andere eher erwartet, als die junge Frau hier zu sehen, die wie eine plötzlich auftauchende Vision in dem Rahmen der Thür stand. Raimund dagegen zeigte keine besondere Ueberraschung bei diesem Zusammentreffen. Er verneigte sich und sagte mit kühler Höflichkeit:

„Ich bedaure, wenn wir stören, gnädige Frau.“

„Ich bin nur Gast hier,“ entgegnete Anna in demselben Tone, „aber ich höre, daß Sie eine Besichtigung des Hauses vornehmen, Herr von Werdenfels, und wollte bitten, dabei keine Rücksicht auf meine Anwesenheit zu nehmen. Das Zimmer, das ich bewohne, steht gleichfalls zur Verfügung.“

Sie trat etwas zurück, um den Eintritt frei zu lassen. Paul fand das Anerbieten sonderbar, und noch sonderbarer, daß es angenommen wurde. Was konnte denn an diesem Giebelzimmer liegen, wenn der Bau des neuen Forsthauses einmal beschlossene Sache war? Raimund schien indessen anderer Meinung zu sein, denn er trat ein, wandte sich aber auf der Schwelle zu seinen Begleitern.

„Die Wirthschaftsgebäude werden kaum in einem besseren Zustande sein,“ bemerkte er. „Willst Du die Besichtigung übernehmen, Paul? Hofer wird Dich führen, und ich verlasse mich darin ganz auf Dein Urtheil.“

Der junge Mann stutzte, und es wurde ein unbestimmter Argwohn in ihm rege. Seine Augen schweiften langsam von dem Freiherrn zu Frau von Hertenstein hinüber, aber er vermochte nichts in dem schönen ernsten Antlitz der jungen Frau zu lesen, und Raimund’s Züge blieben ihm vollends verschlossen.

„Wie Du wünschest,“ entgegnete er. „Du – willst inzwischen hier bleiben?“

„Ja,“ sagte Werdenfels kurz und bestimmt, indem er vollends eintrat.

Paul’s Blick flog mit einem seltsamen Ausdrucke zurück, während der Förster die Thür schloß, aber er schwieg. Erst als er mit seinem Begleiter am Fuße der Treppe angelangt war, blieb er plötzlich stehen und fragte hastig, aber mit gedämpfter Stimme:

„Seit wann ist Frau von Hertenstein bei Ihnen?“

„Seit gestern Abend,“ war die unbefangene Antwort des Försters. „Wir waren sehr erfreut, daß sie sich einmal entschlossen hat, meine Tochter zu begleiten und die Försterei zu besuchen.“

„So? Und wie lange denkt die Dame zu bleiben?“

„Sie will uns leider schon heute Nachmittag wieder verlassen, da sie nach Rosenberg zurück muß.“

„Das ist in der That ein kurzer Besuch; er lohnt ja kaum die weite Fahrt in dieser Winterszeit. – Frau von Hertenstein wußte natürlich nichts von der Absicht meines Onkels, heute die Försterei zu besichtigen?“

„Keine Silbe! Ich selbst habe ja erst gestern die Nachricht erhalten, und auch die gnädige Frau erfuhr es erst bei ihrer Ankunft. Sie würde sonst wohl einen anderen Tag gewählt haben.“

„Vermuthlich!“ sagte Paul kurz. „Lassen Sie uns jetzt gehen!“

Der Förster kam der Weisung nach, aber er konnte nicht umhin, sich zu wundern, daß der junge Baron plötzlich so schweigsam und zerstreut geworden war. Paul hörte gar nicht auf die Erklärungen und Auseinandersetzungen, die ihm gegeben wurden, er sah sich kaum um in den Wirthschaftsräumen und kürzte die Besichtigung so viel als möglich ab. Er schien große Eile damit zu haben.

Die beiden Zurückgebliebenen waren allein. Raimund stand der jungen Frau gegenüber, aber es lag eine kalte, ernste Zurückhaltung in seinem Wesen, als er fragte:

„Du hast mich gerufen, Anna?“

„Ja,“ erwiderte sie leise. „Ich mußte Dich sprechen. Du hast mein Billet erhalten?“

„Die drei Zeilen von Deiner Hand, die mir die Försterei zur Zusammenkunft bestimmten – ja.“

„Mir blieb kein anderer Ausweg. Du begreifst, daß ich Dich nicht nach Rosenberg rufen konnte.“

„Weshalb nicht? Weil Gregor Vilmut Dir diese Zusammenkunft verboten hätte?“

„Verboten? Glaubst Du, daß ich so vollständig von seinem Willen abhängig bin?“

„Ich glaube, daß er in allem, was mich betrifft, Deinen Willen vollständig in Fesseln geschlagen hat. Ich habe Proben davon.“

Anna schwieg, sie mochte die Wahrheit dieses Vorwurfes empfinden, aber ihre Augen ruhten fragend und erstaunt auf dem Freiherrn. Erst jetzt, wo er vor ihr stand, sah sie, wie tief und mächtig jene Veränderung war, die sie schon beim ersten Anblick entdeckt hatte.

Raimund’s Antlitz war noch bleich, und es lag noch der [286] alte düstere Ernst darin, aber die Müdigkeit, die tödtliche Gleichgültigkeit war verschwunden und mit ihnen auch die starre, todte Ruhe, die so unheimlich und erkältend berührte. Es stand jetzt ein Zug tiefster Bitterkeit dort, aber auch ein Zug unleugbarer Energie. Die Augen waren noch träumerisch verschleiert, aber trotzdem leuchtete etwas darin, wie der Wiederschein einer Flamme, die sich hinter dem Schleier barg. Man sah es, der Mann hatte sich emporgerafft aus seinem Hinbrüten; er war erwacht, vielleicht zu Qual und Kampf, zu Schmerz und Bitterkeit, aber doch zum Leben erwacht.

„Du siehst, ich bin gekommen,“ nahm er wieder das Wort. „Was hast Du mir zu sagen?“

„Ich habe eine Bitte an Dich!“ sagte Anna hastig und gepreßt. „Ich fürchtete, daß ein Brief allein Dich nicht bewegen würde, deshalb bin ich selbst gekommen – verlaß Werdenfels!“

Raimund schien gerade diese Bitte am wenigsten erwartet zu haben, aber ohne nur einen Augenblick zu zögern, antwortete er mit voller Bestimmtheit:

„Nein.“

„Aber Dein Leben ist dort in Gefahr,“ mahnte Anna dringender. „Bis jetzt sind die Anschläge mißglückt, aber wenn Du fortfährst, Dich ihnen so auszusetzen, werden sie ihren Zweck erreichen. Kehre nach Felseneck zurück, geh’ auf Reisen, geh’ wohin Du willst, nur verlaß Werdenfels!“

„Um mich wieder als Feigling verachten zu lassen? Nein, diesmal bleibe ich und fechte den Kampf durch, bis zum Ende. Die Furcht war es nicht, die mich das erste Mal zwang, ihn aufzugeben, das solltest Du am besten wissen. Jetzt habe ich nichts mehr zu gewinnen, aber auch nichts zu verlieren, als höchstens das Leben, und der Verlust wiegt wahrlich leicht genug.“

„Aber wenn ich Dich bitte, Raimund! Wirst Du auch meine Stimme nicht hören? Ich habe Dich gerufen, ja, aber ich konnte ja nicht ahnen, daß Dir das bereitet war, als ich Dich zu der Welt und den Menschen zurückrief. Ich hoffte auf Versöhnung, ich glaubte wenigstens an einen offenen ehrlichen Kampf. Jetzt flehe ich Dich an, zu weichen, den Mordanschlägen zu weichen, die Dich auf Schritt und Tritt bedrohen. Wozu willst Du Dich dem wahnsinnigen Hasse dieser Menschen preisgeben, Du siehst es ja, wessen sie fähig sind. Sie werden nicht ruhen, bis Du ihnen wirklich zum Opfer fällst.“

Es war eine leidenschaftliche, angstvolle Bitte, aber sie schien abzugleiten an der kalten Bitterkeit, womit Werdenfels sich gewaffnet hatte.

„Nun, und wenn ich falle!“ fragte er. „Wen kümmert das? Vilmut und seine getreue Gemeinde werden darin nur die Vollstreckung eines verdienten Urtheils sehen. Paul wird durch meinen Tod Herr von Werdenfels. Ich glaube, daß er wahre Anhänglichkeit für mich hegt, aber das reiche Erbe wird ihn bald genug über meinen Verlust trösten, und Du – athmest vielleicht auf, wenn mit mir die Erinnerung an eine Vergangenheit erlischt, die sich bisweilen noch mahnend und quälend in Dein Leben drängt.“

„Raimund!“

Es war ein halb zürnender, halb vorwurfsvoller Ausruf. Raimund hielt inne, und seine eben noch so herbe Stimme verschleierte sich, als er fortfuhr:

„Oder würdest Du um mich weinen? Hättest Du wirklich noch eine Thräne für mich übrig?“

Die junge Frau hob das Auge zu ihm empor, und die heiß aufquellenden Thränen darin gaben ihm die Antwort, noch ehe die Lippen sie aussprachen:

„Dir liegt nichts mehr an dem Leben? Nun denn, so denke an mich und meine Angst! Schütze Dich – um meinetwillen!“

Eine leichte Röthe floß über das Antlitz des Freiherrn, es flammte darin auf, wie ein Wiederschein der Jugend und des Glückes, er trat rasch einen Schritt vor, als wolle er diesen thränenumschleierten Blick und diese bebenden Worte festhalten.

„Um Deinetwillen, Anna? Kennst Du Deine Macht so gut? Und Du weißt es doch nicht ganz, was Du mir einst gewesen bist. Der einzige Sonnenstrahl in einem Leben voll Nacht und Verzweiflung, das einzige Glück, das sich zu mir herniederneigte, um wie ein Traum zu verschwinden, als ich es in die Arme schließen wollte. Ich wähnte, das Alles sei untergegangen in der Bitterkeit unserer Trennung, und doch ist es bei mir gewesen in all den Jahren meiner Einsamkeit, und doch hat es mich allein im Leben festgehalten. Du hast es auch nicht überwunden, Du kannst auch nicht loskommen von der Vergangenheit. Anna – muß der Traum denn zu Ende sein? Kann er uns nie zur Wirklichkeit werden?“

Es war ein längstverschollener Klang, der aus diesen Worten hervorwehte, verschollen, aber nicht vergessen! Mit diesem Tone hatte einst Raimund um die Geliebte geworben, und das waren auch wieder seine Augen, mit der alten schwärmerischen Gluth, mit jenem strahlenden Aufleuchten, das die düsteren Tiefen auf einmal sonnenhell erscheinen ließ. So hatte er sich damals den Weg gebahnt zu dem Herzen des jungen Mädchens, dem man gelehrt hatte, das Leben nur als eine Kette harter, strenger Pflichten anzusehen, und das nun zum ersten Male die Seligkeit dieses Lebens kennen lernte. Wohl war der Traum kurz gewesen, aber er schloß doch ein grenzenloses Glück ein, und die stolze, willensstarke Frau erlag noch jetzt seinem Zauber. Widerstandslos lauschte sie den alten süßen Klängen und hatte weder die Kraft noch den Willen zu einem harten Nein.

Raimund war an ihre Seite getreten, jetzt beugte er sich leise nieder und ergriff ihre Hand, um sie in die seinige zu schließen, aber diese Berührung löste den Bann. Anna zuckte zusammen, als habe sie ein glühendes Eisen getroffen, mit einer unzweideutigen Bewegung des Schauders, des Entsetzens stieß sie die Hand von sich und wich zurück.

Werdenfels war todtenbleich geworden, das Leuchten in seinen Augen erlosch, und die alte Starrheit legte sich wieder schwer und kalt über seine Züge.

„Du hast Recht!“ sagte er dumpf. „Ich vergaß – was uns trennte.“

Die junge Frau schien sich jetzt erst bewußt zu werden, wie tief ihre Zurückweisung getroffen hatte.

„Vergieb,“ sagte sie tonlos. „Ich wollte Dich nicht kränken, es geschah unwillkürlich –“

„Daß Du mich zurückstießest! Gewiß! Die Regung war unwillkürlich und eben deshalb wahr. Ich weiß genug – lassen wir die Vergangenheit in ihrem Grabe.“

Anna strebte sichtbar, sich zu fassen, und es gelang ihr auch die verlorene Selbstbeherrschung wiederzufinden, sie wurde ruhiger, und jetzt war sie es, die dem Freiherrn nahte.

„Sei offen gegen mich, Raimund!“ sagte sie ernst und bittend. „Was enthielt jener Brief, den Du mir bei der Trennung sandtest? Du hast mir die Auskunft verweigert, und doch fühle ich, daß es eine Erklärung, eine Vertheidigung war. Vielleicht war ich ungerecht gegen Dich, vielleicht habe ich zu schnell verurtheilt. Sage mir die Wahrheit, ich – will nicht mehr davor zurückbeben.“

Sie machte eine Bewegung, wie um die Hand auszustrecken, aber Werdenfels hob die seinige nicht und seine Haltung blieb starr und eisig, als er antwortete:

„Das ist zu spät! Deine Empfindung hat zu deutlich gesprochen, ich täusche mich nicht mehr darüber, auch wenn Du selbst Dich täuschen wolltest. Du würdest Dich vielleicht überwinden und mir die Hand reichen, wenn Du alles wüßtest, aber ich würde in jedem Lächeln, in jedem Händedruck den Schauder und das Entsetzen fühlen, das nur Deine Willenskraft niederzwingt, und das wäre mir eine Hölle, schlimmer als all der Haß, den ich ertragen habe. Du wolltest mich damals nicht hören, als ich alles daran setzte, von Dir gehört zu sein, Du rührtest nicht einmal die Hand, als Vilmut mein Bekenntniß den Flammen überlieferte – nun denn, so laß es auch darin begraben sein!“

Die Worte trafen, Anna senkte das Haupt, aber sie machte keinen ferneren Versuch, ihm das Geheimniß zu entreißen, erst als er sich zum Gehen wandte, fragte sie mit wieder erwachender Angst:

„Und Du willst Werdenfels nicht verlassen?“

„Nein! Du hast mich auf den Kampfplatz gerufen, jetzt werde ich ihn behaupten. Mag Vilmut die ganze Bevölkerung gegen mich hetzen, mögen sie das Aergste versuchen, ich will ihnen nicht weichen, und ich weiche nicht, verlaß Dich darauf!“

Er ging und die Thür fiel hinter ihm zu. Das war nicht [287] mehr der haltlose „Träumer“, auf den Gregor so verächtlich herabsah, der mit krankhafter Scheu jede Berührung mit den Menschen floh. Es hatte einen eisernen Klang, dies „Ich will nicht weichen“, es gab Zeugniß davon, daß der Mann kämpfen und leben gelernt hatte.

Anna stand regungslos da, das Auge auf den Boden geheftet. Also war der Schritt umsonst, zu dem sie sich nach schwerem Kampfe entschlossen hatte. Raimund blieb und die Gefahr blieb, die ihn bedrohte. In der heißen Angst, die sie bei dem Gedanken überfluthete, gingen alle anderen Empfindungen unter. Sie hatte es ja erreicht, den Gebannten, Verfehmten in das Leben zurückzuführen, aber um welchen Preis!

Da wurde die Thür von Neuem geöffnet, und Paul Werdenfels erschien, aber er blieb auf der Schwelle stehen, und es lag eine ungewohnte Zurückhaltung und Fremdheit in der Art, wie er sich verneigte.

„Mein Onkel ist im Begriff, fortzufahren. Ich wollte mich Ihnen empfehlen, gnädige Frau.“

Anna sah auf, und plötzlich reifte ein Entschluß in ihrem Innern, sie gab dem jungen Manne ein Zeichen, einzutreten.

„Herr von Werdenfels, nur auf einige Minuten! Bitte, kommen Sie näher.“

Paul gehorchte, aber seine Augen hafteten forschend und unruhig auf den Zügen der jungen Frau; er sah es nun nur zu gut, wie bleich und erregt sie war.

„Ich war kürzlich ungesehen und unfreiwillig Zeuge Ihrer Unterredung mit dem Pfarrer Vilmut,“ begann sie. „Sie sprachen damals die Absicht aus, bei den jetzigen drohenden Verhältnissen in Werdenfels Ihrem Onkel zur Seite zu bleiben. Sie werden Wort halten, nicht wahr?“

„Gewiß, gnädige Frau. Zweifeln Sie nicht daran.“

Anna fühlte die Kälte in diesen Worten – trotzdem fuhr sie fort:

„Der Freiherr bedarf jetzt eines Freundes und vielleicht noch mehr eines Schützers. Er kennt die Gefahr, die ihn bedroht, in ihrem vollen Umfange, trotzdem will er Werdenfels nicht verlassen und denkt nicht einmal daran, die nöthigen Vorsichtsmaßregeln zu nehmen.“

„Hat er Ihnen das selbst gesagt?“ fragte Paul mit einer Bitterkeit, die er nicht zu unterdrücken vermochte. „Ich sah allerdings, daß eine Unterredung ohne Zeugen gewünscht wurde.“

„Herr von Werdenfels,“ die Stimme der jungen Frau klang in rührender Bitte, „Sie haben mich geliebt, Sie haben um meine Hand geworben, und wenn ich auch glaube, daß diese Liebe mehr in Ihrer Phantasie als in Ihrem Herzen wurzelt, so weiß ich doch, daß ich jetzt Schweres von Ihnen verlange. Aber als Sie so muthig und energisch meinem Vetter Vilmut gegenüberstanden, da habe ich erkannt, daß Sie mehr werth sind, als Andere, und das giebt mir den Muth zu meiner Bitte. Bleiben Sie an Raimund’s Seite, denn ich fürchte, man wird noch ärger auf ihn einstürmen, als bisher. Wachen Sie über ihn, schützen Sie ihn, so weit es in Ihrer Macht steht.“

Es entstand eine Pause.

Paul war sehr bleich geworden und schien keine Antwort zu finden, endlich fragte er:

„Sie haben meinen Onkel in früheren Zeiten gekannt?“

„Ja,“ sagte Anna leise.

„Und er hat Ihnen – nahe gestanden?“

„Ja!“

Die Lippen des jungen Mannes zuckten schmerzlich.

„Dann begreife ich die Zurückweisung, die mir zu Theil wurde.“

„Herr von Werdenfels –“

„O, das soll keine Bitterkeit sein. Ich habe Raimund in diesen letzten Monaten kennen gelernt und weiß, daß er mit all seiner Düsterheit und Verschlossenheit, mit all seinen Seltsamkeiten doch einen Zauber ausübt, über den ich nicht gebieten kann. Es liegt etwas in seiner Persönlichkeit, das wider Willen zwingt, und es muß unwiderstehlich gewesen sein, als er noch dem Leben und dem Glücke angehörte.“

Anna schüttelte leise das Haupt.

„Dem Glücke hat er nie angehört, auch damals nicht, als ich ihn kennen lernte, und das Leben, in das er jetzt zurückkehrt, zeigte sich ihm feindlich von allen Seiten. Paul, ich lege Raimund’s Schutz in Ihre Hände. Wenn Sie mich je geliebt haben – wachen Sie über ihn!“

„Ich werde es thun!“ entgegnete Paul fest. „Ich weiche nicht von seiner Seite, und so weit ich ihn schützen kann, wird er sicher sein!“

Anna streckte ihm die Hand entgegen.

„Ich danke Ihnen, danke Ihnen von ganzem Herzen!“

Es war ein Dank, der wirklich aus Herzensgrunde kam. Die Stimme, die dem jungen Manne immer so kalt, so ruhig erschienen war, bebte jetzt in weichen, rührenden Lauten. Er vernahm zum ersten Male diesen Ton tiefster Innigkeit, der – einem Andern galt, und wortlos beugte er sich über die dargereichte Hand und drückte seine Lippen darauf.

Wenn Paul auch bereits angefangen hatte, seine hoffnungslose Leidenschaft zu überwinden, in diesem Augenblicke empfand er doch voll und ganz, was er verlor, und der heiße, bittere Schmerz des Verlustes preßte ihm das Herz zusammen. Seine Augen schimmerten feucht, als er seine Jugendliebe begrub.

Wenige Minuten später fuhr der Schlitten fort, in dem sich der Freiherr und sein Neffe befanden, und einige Stunden später kehrte auch Frau von Hertenstein nach Hause zurück. In der Försterei ahnte Niemand, daß dies Zusammentreffen kein bloßer Zufall gewesen war.




Es war bereits gegen Abend, als die beiden Herren in Werdenfels anlangten. Sie hatten die Fahrt größtentheils schweigend zurückgelegt, Raimund schien seine ganze ehemalige Verschlossenheit wieder aufgenommen zu haben, und Paul seinerseits war froh, des Sprechens überhoben zu sein. Er empfand es als eine Erleichterung, daß der Freiherr sich unmittelbar nach der Ankunft in sein Zimmer zurückzog, denn die heutige Entdeckung hatte ihn doch tiefer getroffen, als er sich eingestehen wollte.

Als der junge Baron in sein Wohnzimmer trat, übergab ihm Arnold einen inzwischen angelangten Brief, indem er bedeutsam sagte:

„Aus Rosenberg!“

Paul erkannte Lily’s Handschrift auf dem Couvert und griff hastig danach. Er trat mit dem Briefe zur Lampe, öffnete ihn und begann zu lesen.

Es war die Antwort auf sein eigenes sehr ausführliches Schreiben, in welchem er der jungen Dame seine Reformpläne hinsichtlich Buchdorfs aus einander gesetzt hatte. Lily ging mit vollem Eifer darauf ein, und wenn sie auch bisweilen noch sehr naive Ansichten entwickelte, so war sie doch in der Hauptsache mit dem künftigen Reformator einig, daß dem Vetter Gregor energisch Opposition gemacht werden müsse.

Dabei war der Ton des Briefes so frisch, so herzlich und kindlich, daß Paul in seiner tiefen Verstimmung wirklich wie von einem hellen Sonnenstrahl berührt wurde. Er fühlte erst jetzt, wie hoch und fern Anna von jeher über ihm gestanden hatte, wie tief die Kluft zwischen ihnen war, die all seine Leidenschaft nicht ausfüllen konnte. Seit heute wußte er freilich, daß er nur das Wort des Zaubers nicht besessen hatte, der das schöne kalte Bild belebte. Ein Anderer hatte dies Wort lange vor ihm ausgesprochen, und diesem Anderen galt jener thränenumschleierte Blick, jener weiche, süße Ton aus dem stolzen Munde: bei der Erinnerung daran zuckte es noch immer bitter und schmerzlich in dem Herzen des jungen Mannes.

Aber gerade in dieser bitteren Enttäuschung trat das Bild seiner kleinen Trösterin um so deutlicher und lieblicher hervor. Er dachte an ihre herzliche Theilnahme bei seiner Liebe und seiner Werbung um ihre Schwester, an ihre rührende Angst um sein Leben, als sie das vermeintliche Mordgewehr aus seinen Händen nahm; mit ihr war er gleich in der ersten Stunde vertraut gewesen, wie fremd und eisig hatte Anna dagegen von jeher ihm und seiner Liebe gegenüber gestanden!

„Herr Paul, ich glaube, jetzt haben Sie den Brief sechsmal durchgelesen,“ bemerkte Arnold, der sich inzwischen im Zimmer zu thun gemacht hatte und äußerst ungehalten darüber war, daß man gar keine Notiz von ihm nahm. Paul schien sich in der That erst jetzt seiner Gegenwart zu erinnern.

„Du kannst gehen,“ sagte er, zerstreut aufblickend. „Ich brauche Dich heute Abend nicht mehr, laß mich allein!“

[288] Arnold zeichnete sich bekanntlich vor anderen Dienern dadurch aus, daß er stets das Gegentheil von dem that, was ihm befohlen war; da er gehen sollte, so blieb er natürlich, und da sein junger Herr ungestört zu sein wünschte, so begann er eine freundschaftliche Unterhaltung mit der Frage:

„Wie steht es denn mit der Verlobung, Herr Panl?“

Der junge Mann runzelte die Stirn.

„Ich habe Dir ein für alle Mal Deine Einmischung in diese Angelegenheit verboten, das weißt Du doch.“

„Deshalb kommt sie auch nicht von der Stelle,“ meinte Arnold. „Sie haben gar kein Vertrauen mehr zu mir! In Italien erfuhr ich Alles, wenn Sie auch leider nie auf meine Ermahnungen hörten, hier aber zerbreche ich mir schon den ganzen Winter den Kopf darüber, weshalb Sie keinen Fuß nach Rosenberg setzen, während doch die Correspondenz mit der gnädigen Frau immer lebhafter wird.“

Paul hatte es nicht für nöthig befunden, den alten Diener darüber aufzuklären, mit wem er die Correspondenz führe, er hörte auch jetzt kaum auf die Worte; denn er war soeben beschäftigt, Lily’s Brief zum siebenten Male durchzulesen. Arnold, den diese Verschlossenheit unbeschreiblich ärgerte, änderte daher seinen Angriffsplan, indem er die Bemerkung hinwarf:

„Ich war heute Vormittag in Rosenberg.“

Das that endlich seine Wirkung, Paul erwachte aus seiner Träumerei und wurde aufmerksam.

„Wie kommst Du nach Rosenberg? Hast Du etwa dort spioniren wollen?“

„Herr Paul, Sie beleidigen mich!“ erklärte Arnold, indem er eine tiefbeleidigte Miene annahm. „Ich kam zufällig bei dem Landhause vorüber, und zufällig stand am Eingangsthore der Gärtner, den ich ebenfalls ganz zufällig vor einiger Zeit kennen gelernt habe.“

Diese lange Kette von Zufällen hatte eigentlich einen ganz logischen Zusammenhang. Der alte Arnold war zwar für gewöhnlich sehr exclusiv und hielt dergleichen Bekanntschaften tief unter seiner Würde; er verkehrte in vertraulicher Weise sonst nur mit den Kammerdienern des Freiherrn von Werdenfels und mit dem Haushofmeister, diesmal aber hatte seine Neugier doch den Sieg davon getragen. Er war nämlich fest überzeugt, daß sein junger Herr trotz alledem Besuche in Rosenberg mache, und daß die Verlobung noch geheim gehalten werde, weil man in Werdenfels mit dem Pfarrer Vilmut, dem nahen Verwandten der Frau von Hertenstein, verfeindet war. Um Gewißheit darüber zu erlangen, hatte er sich zu der Bekanntschaft mit dem alten Ignaz herabgelassen, bisher aber noch ohne jedes Resultat.

(Fortsetzung folgt.)




Die Retterin und der Stolz von Orleans.

Zur Jahresfeier der Jeanne d’Arc am 8. Mai.
Von Herman Semmig.

Der heldenhafte Widerstand, den die Stadt Orleans im fünfzehnten Jahrhundert den Engländern geleistet hat, hat die französische Nationalität gerettet. Am 12. October 1428 erschien Graf Salisbury auf dem linken (südlichen) Ufer der Loire vor der Stadt; am 24. October bemächtigten sich die Engländer des befestigten Brückenkopfes, le fort des Tourelles genannt, und brachen sofort zwei Joche der Brücke ab, um sich den Besitz der Veste zu sichern. Am selben Abend untersuchte Salisbury das erstürmte Fort und trat an ein Fenster, um Brücke und Stadt zu überschauen; im selben Augenblicke krachte eine Steinkugel gegen das Fenster an, und der Graf stürzt tödtlich verletzt zusammen; man trug ihn noch bis zum Städtchen Meun unterhalb Orleans, wo er bald starb. Niemand in der Stadt wußte, wer das Geschütz auf dem zur Ringmauer gehörigen Thurme Notre-Dame abgebrannt hatte; der dazu bestellte Kanonier hatte sich entfernt gehabt; als er auf den Donner herbeieilte, sah er ein Kind davonlaufen, man hat es indessen nicht auffinden können. Die Bürger aber sahen darin ein Zeichen des Himmels; es war offenbar der Schutzheilige der Stadt, der ehemalige Bischof Aignan († 453), der ihnen beigestanden hatte.

Der wunderbare Vorfall war nur das Vorzeichen eines anderen größeren Wunders; eine kaum der Kindheit entwachsene Jungfrau, das achtzehnjährige Mädchen Jeanne d’Arc aus dem Dorfe Domremy in der Champagne, sollte die Stadt wirklich retten, die eben begonnene Belagerung aufheben. Aber diese Belagerung dauerte sieben tödtlich lange Monate, von allen Seiten umringte das feindliche Heer die Stadt und setzte sich in Bastillen fest. Großartig ist, was die Bürger von Orleans an Heldenmuth, Aufopferung und Ausdauer bei ihrer Vertheidigung bewiesen; aber die Macht der Feinde war zuletzt stärker als die sinkende Kraft der eingeschlossenen Stadt, die vom Könige keine Hülfe zu erwarten hatte; sie mußte unterliegen. Da geschah das in der Geschichte wohl einzige Wunder, daß ein Mädchen, das bisher einfach und fromm nur bei ihren Eltern in gehorsam fleißiger Erfüllung ihrer häuslichen Pflichten aufgewachsen war, plötzlich durch den festen Glauben an ihre göttliche Sendung, durch den unerschütterlichen Glauben an den Sieg der gerechten Sache das entmuthigte Volk aufrichtet, den verzagenden König und seine frivole Umgebung mit fortreißt, sich mit ihrer heiligen Fahne in der einen Hand und dem durch wunderbare Eingebung aufgefundenen Schwerte Karl Martell’s in der andern an die Spitze des ganzen Heeres Frankreichs stellt und den entscheidenden Sieg über die Engländer gewinnt, der dem einheimischen Könige, dem Vertreter des französischen Volksthums, die Thore seiner Krönungsstadt öffnet.

Die Geschichte der Befreiung der Stadt setzen wir als bekannt voraus. Am 7. Mai 1429 ward der entscheidende Schlag gegen die Engländer gerichtet und das Fort der Tourelles von der Jungfrau eingenommen. Vierzehn Stunden hatte der blutige Kampf gedauert. Von den sechs- bis achthundert Engländern der Besatzung waren kaum zweihundert übrig geblieben, gering war der Verlust auf Seiten der Franzosen. Siegreich zog nun das Heer über die Brücke heim in die Stadt, Fackeln leuchteten zum Zuge, die Trompeten schmetterten, das Volk jauchzte und segnete die Jungfrau, die das Heldenwerk vollbracht hatte, als den Schutzengel des Landes. Zu ihrem Wirth heimgekehrt, legte sie die Rüstung ab und ließ sich ihre Wunde verbinden; statt der Mahlzeit nahm sie nur einige Schnitten Brod in etwas Wein mit Wasser vermischt. Dann theilte sie das Lager der Tochter des Hauses und schlummerte ein, ein kindliches Mädchen in den Armen der Freundin.

Am andern Morgen – es war ein Sonntag – zogen die Engländer ab, stromabwärts nach Meun zu. Angesichts des Feindes ließ die Jungfrau vor dem Stadtthor einen Altar errichten und zweimal die Messe lesen. Gegen Mittag zog die Geistlichkeit in feierlicher Procession aus der Kathedrale, es gingen darin der Bastard von Orleans, die Feldherren und Hauptleute, die Schöffen und Bürger, unter ihnen, begleitet von Bürgerfrauen, Jeanne, ihrer Wunde wegen in leichtem Panzerkleid, ihre Fahne in der Hand. Der Zug ging die Rue des Hôtelleries hinunter über die Brücke unter der Wölbung des Forts der Tourelles hindurch auf den Kampfplatz, von hier nach gesprochenem Gebete wieder zurück.

Diese Procession hat nun seit jener Zeit mit seltenen Ausnahmen alljährlich in Orleans stattgefunden, ihr geht stets eine sinnbildliche Feier des Kampfes und eine Gedächtnißrede zu Ehren der Jungfrau voraus. Betrachten wir vor der Hand noch einmal den Schauplatz; unsere Abbildung, obgleich aus einem späteren Jahrhundert, giebt noch immer das alte befestigte Orleans mit der Brücke wieder, wie sie zur Zeit der Belagerung war. Die eigentliche Stadt nahm 1429 jedoch nur ein starkes Drittel von dem hier abgebildeten ein, die Brücke bezeichnete etwa die Mitte, die Theile links und rechts (westlich und östlich) bestanden zwar in der Hauptsache schon, befanden sich aber noch außer der Ringmauer. Die viereckige Form der letztern, die mit fünfunddreißig Thürmen versehen war, deutete noch den römischen Ursprung an. Trat man aus der Rue des Hôtelleries (der Name besteht noch) heraus, so kam man auf die Brücke, welche neunzehn ungleiche, meist enge

[289]

Die Stadt Orleans im Jahre 1690.
Nach einer Lithographie aus der Sammlung des Professors Herman Semmig in Leipzig.

[290] Bogen zählte; an einigen der letztern waren Mühlen angebracht, auf den Pfeilern standen hier und da Thürme oder Häuser; der erste und letzte Bogen war eine Zugbrücke, Die Widerlage des fünften Bogens ruhte auf einer (nun längst verschwundenen) Insel, die mit Häusern bebaut und mit Bäumen bepflanzt war; auf der Hälfte stromaufwärts, Motte-Saint-Antoine genannt, stand eine Capelle, zu welcher ein Hospiz gehörte, das fremde Bettler nur vierundzwanzig Stunden beherbergte, bei Strafe des Stranges, wenn sie nicht weiter zögen; das Hospiz stand auf der andern Seite der Chaussee und war mit der Capelle durch ein befestigtes Thor, die Bastille Saint Antoine, verbunden; die untere Hälfte der Insel hieß Motte-des-Poissonniers und war von Fischern bewohnt. Zwischen dem elften und zwölften Bogen erhob sich auf der östlichen Seite ein Kreuz von vergoldeter Bronze, la Belle-Croix genannt, mit vier Basreliefs, das ein Bürger 1407 auf seine Kosten hatte errichten lassen. Auf dem Platze, wo hier die Brücke ausmündete und den 1429 das von Jeanne erstürmte Bollwerk einnahm, wurde am 8. Mai 1817 ein monumentales Kreuz, la Croix des Tourelles, errichtet; es ist die vorzugsweise heilige Stätte, denn hier war es, wo die Jungfrau im Kampfe verwundet worden war. Bis hierher geht noch alljährlich die Procession.

Von diesem Tage an, wo Jeanne Orleans befreit und den übermüthigen Feind zum ersten Mal so tief gedemüthigt hatte, erhielt sie durch den Mund des Volkes, der die Kunde ihres Sieges von Ort zu Ort trug, den Namen, der ihr seitdem in der Geschichte geblieben ist: die Jungfrau von Orleans, la Pucelle d’Orléans nach mittelalterlicher Redeweise (die Jungfer), wie auch die Stadt seitdem oft la ville de la Pucelle genannt wird; in der Poesie erhielt sie zuweilen nach ihrem Geburtsort den idealeren, unserem „Jungfrau“ entsprechenden Namen la Vierge de Domremy.

Als Jeanne auf dem Scheiterhaufen zu Rouen am 31. Mai 1431 ihr reines dem Vaterlande geweihtes Leben geendet hatte und die Kunde von ihrem Tode nach Orleans gedrungen war, ergriff Entsetzen die Bürger; am Jahrestage desselben ließ die Stadt ein feierliches Todtenamt für die Ruhe ihrer Seele halten. Dieser Gottesdienst wurde bis zum Jahre 1439 alljährlich erneuert. Im Jahre 1440 kam Jeannens Mutter, Isabelle Romée (ihr Vater war bald nach ihrer Hinrichtung vor Gram gestorben), nach Orleans, wo sie bis zu ihrem Tode (28. November 1458) verblieb; sie erhielt von der Stadt eine Pension. Jeanne war als Zauberin und Ketzerin verurtheilt worden; im Jahre 1450 richteten daher ihre Mutter und Brüder an den Papst das Gesuch, eine Revision des Processes zu verordnen. Dies geschah; unter den Zeugen, die zur Vertheidigung der Märtyrerin aussagten, war auch Charlotte, die Tochter des Schatzmeisters, Jeannens Bettgenossin, jetzt sechsunddreißig Jahre alt und mit Guillaume Havet verheirathet; 1456 wurde endlich die Rehabilitation der Jungfrau in Rouen und am 28. Juli auch in Orleans verkündet.

Mit der Ehre ihrer Retterin erkannten die Bürger die Ehre ihrer eigenen Stadt gerechtfertigt, und sie beschlossen voll dankbarer Begeisterung der Märtyrerin in ihrer Stadt ein Denkmal zu errichten. Frauen und Jungfrauen von Orleans beraubten sich zur Bestreitung der Kosten all ihrer Kleinodien und Ersparnisse, um das Gedächtniß des verehrten Mädchens zu verherrlichen, und so erhob sich denn im Jahre 1458 auf dem dritten Brückenpfeiler von der Stadt aus auf der linken Seite das erste Monument der Jungfrau. Wir geben eine Abbildung davon. Es war für jene Zeit nichts Geringes, auf einem Sockel vier Personen in fast Lebensgröße in Bronzeguß herzustellen; auch ist dies Denkmal eines der ersten dieser Art in Frankreich. Die Figuren hatten in künstlerischer Hinsicht etwas Steifes, Unbeholfenes, aber der naive Sinn der gläubigen Menschen dieser Epoche begnügte sich mit dem symbolischen Ausdruck. Da die Jungfrau als Gotteslästerin verbrannt worden war, so mußte auch das Denkmal zu Ehren der Rehabilitirten einen religiösen Charakter tragen; in der Mitte ragte das Kreuz mit dem Erlöser empor, bei ihm weint seine Mutter Maria, zu seiner Rechten kniet König Karl der Siebente, zu seiner Linken die Jungfrau.

Aber gerade dieser religiöse Charakter war dem Denkmal im folgenden Jahrhundert gefährlich. Die Hugenotten, die in allen kirchlichen Kunstgebilden nur Götzendienerei sahen, stürzten im October 1567 das Crucifix um und verstümmelten die Figuren, von der Jungfrau blieben nur die Beine, Arme und Hände übrig. Im Jahre 1571 beauftragten die Schöffen von Orleans einen Gießer der Stadt, Hector Lescot, mit der Restauration des Monuments, das jetzt insofern eine Veränderung erlitt, als Maria, am Fuße des Kreuzes sitzend, den Leib ihres Sohnes auf dem Schooße haltend dargestellt wurde. Erst jetzt wurde auf dem Kreuze der Pelikan angebracht, den das mitgetheilte Bild schon auf dem ursprünglichen Denkmal darstellt.

Nach und nach drohte die alte Brücke den Einsturz, so brach man denn 1755 das Denkmal ab und legte es in einem Winkel des Stadthauses nieder. Erst sechszehn Jahre später, 1771, wurde es wieder aufgerichtet, diesmal aber nicht auf der neuen, 1760 vollendeten Brücke, sondern auf einem kleinen Platze der von der Brücke auslaufenden Rue Royale oder Nationale, ungefähr der Kathedrale gegenüber.

Da brach die große Revolution aus, die alle Denkmäler und Sinnbilder der Kirche und des Königthums vom französischen Boden wegfegen wollte. Auch das Denkmal der Jungfrau fiel dem Hasse des Volkes gegen alles Königliche zum Opfer, denn „le monument des Charles VII“ wurde es genannt; umsonst machte der Gemeinderath geltend, daß es „kein Sinnbild der Feudalität, sondern ein Zeichen der Dankbarkeit gegen das höchste Wesen, ein Zeugniß der Tapferkeit der Vorfahren wäre, welche die französische Nation von dem Joche befreit hatten, das die Engländer ihnen auferlegen wollten“; ein Gesetz vom 14. August 1792 hatte vorgeschrieben, daß alle Denkmäler und Inschriften aus Bronze zum Guß von Geschützen verwandt werden sollten, und so mußte auch der Gemeinderath am 21. September verordnen, daß die Figuren des Denkmals der Jungfrau von Orleans in Kanonen umgeschmolzen werden sollten, daß aber, „um das Andenken zu wahren“, eine dieser Kanonen den Namen „Jeanne d’Arc, zubenannt die Jungfrau von Orleans“ tragen sollte. Die Eisenstäbe des Gitters wurden zu Piken umgewandelt.

Im Jahre 1824 hatten die Missionäre, die in Orleans predigten, den Gedanken, eine Subscription zu eröffnen, um das alte Denkmal wieder aufzubauen, er kam aber nicht zur Ausführung.

In dieser Zeit der Umwälzung, wo die Retterin der französischen Nationalität in Frankreich selbst vergessen war, schuf Schiller in Deutschland sein Drama, um das Bild des heiligen Mädchens von dem Schimpfe zu reinigen, den der witzigste Geist Frankreichs, Voltaire, ihm angethan hatte. Nur in Orleans selbst war die Jungfrau nie vergessen, und so beschloß denn der Gemeinderath 1803, das alte Denkmal durch ein neues auf einem öffentlichen Platze der Stadt zu ersetzen. Der General Bonaparte als erster Consul genehmigte das ihm vorgelegte Gesuch, der Kampf zwischen England und Frankreich war ja damals auf’s Neue entbrannt, und der Bildhauer Gois wurde mit der Ausführung beauftragt.

Aber konnte jene Epoche den mittelalterlichen Geist begreifen? Von der religiösen Begeisterung der Jungfrau erkennt man in dem Denkmal, das 1804 im Hintergrunde des Hauptplatzes der Stadt errichtet wurde, keine Spur; auch das Costüm entspricht nicht der geschichtlichen Wahrheit. Die vier Basreliefs des Piedestals sind einfach, doch nicht ohne künstlerischen Werth.

Am getreuesten von allen Künstlern hat eine Prinzessin von Orleans, Maria, Tochter Ludwig Philipp’s, die mit einem Prinzen von Württemberg sich vermählte, das Bild der Jungfrau getroffen, es ist, als ob nur ein weibliches Herz dies weibliche Heldenthum voll religiöser Innigkeit hätte verstehen und wiedergeben können. Das Original dieser Statue in Marmor steht in Versailles, Ludwig Philipp schickte 1841 eine Copie in Bronze an die Stadt Orleans; nach der Restauration des Stadthauses wurde sie hier 1851 zwischen dem Geländer der Ehrentreppe aufgestellt.

Das Werk des Bildhauers Gois genügte zuletzt der geschichtlichen Erkenntniß eines späteren Geschlechtes nicht mehr. Als 1840 die neue effectvolle Straße eröffnet ward, die den vollen Anblick der Façade der Kathedrale gewährt und die den Ehrennamen Jeanne d’Arc erhielt, wurde im Gemeinderath der Wunsch laut, das Gedächtniß der Jungfrau durch ein Denkmal geehrt zu sehen, das der Dankbarkeit der Bürgerschaft einen würdigen Ausdruck leihe.

Der Bildhauer Foyatier erbot sich 1845 dasselbe auszuführen, aber sein Modell ward zu einfach befunden; nicht zu Fuß, sondern zu Pferd sollte die Befreierin dargestellt werden. Demgemäß wurde auch ein Beschluß gefaßt; da aber die Kosten die Mittel der Stadt überstiegen und „in Erwägung, daß ein solches [291] Denkmal zugleich ein städtisches und ein nationales ist“, schlug man vor, die nöthige Summe durch eine Nationalsubsciption zu beschaffen.

Die Regierung gab ihre Genehmigung, der Kriegsminister gab die Bronze zum Guß der Statue, wobei die Hälfte von Kanonen herrührte, die den Engländern abgenommen worden waren. Die Kosten des Piedestals und der Basreliefs wurden durch eine Lotterie bestritten. Auf diese Weise erhielt die Reiterstatue, die von Foyatier ausgeführt wurde, gewissermaßen auch den Ausdruck des nationalen Dankes; sie stellt die Jungfrau dar, wie sie nach dem Siege die Augen gen Himmel erhebt, um Gott zu dauken.

Man hat die zehn Basreliefs mit Kupferstichen verglichen, es soll diese Kritik ein Tadel sein; sie machen indessen auf den Beschauer einen tieferen Eindruck als die Statue, und verdienen, statt photographirt, wirklich in Kupfer gestochen zu werden.

Die Einweihung dieses letzten Denkmals der Jungfrau von Orleans fand am 8. Mai 1855 statt und war, besonders durch den Festzug in der malerischen Tracht der Zeit, von großartiger Wirkung. An diesem Tage hielt der Bischof Dupanloup die Festrede, er hatte sich gewiß vorher an der Gluth des anticlericalen Historikers Michelet begeistert, aber seine Rede war nur um so ergreifender, erschütternder; als er nach der Schilderung der Siegeslaufbahn nach einer Pause die vier Worte sprach: „Nous sommes à Rouen“ („Wir sind zu Rouen!“), da durchlief ein eisiger Schauer die ganze Versammlung.

Das erste zu Ehren der Jeanne d’Arc in Orleans errichtete Denkmal.
Nach einer alten Lithographie aus der Sammlung des Professors H. Semmig.

Eines Denkmals müssen wir noch gedenken, eines Vermächtnisses desselben Bischofs; auf seine Veranlassung wird das Leben der Jungfrau in der Kathedrale in Glasmalereien dargestellt.

Neben den Denkmälern aus Stein und Erz hat die Jungfrau ein lebendes Denkmal in der Gedächtnißfeier, die alljährlich am 7. und 8. Mai in Orleans abgehalten wird. Die Feier des 7. hat einen halb militärischen Charakter und versinnbildlicht die Erstürmung des Forts der Tourelles. Zu Mittag wird das Fest eingeläutet. Abends sechs Uhr schmettern kriegerische Fanfaren vom Thurme des ehemaligen Stadthauses herab, um acht Uhr wird auf dem alten Kampfplatze ein Feuerwerk abgebrannt, alle Glocken läuten, und aus der Caserne auf dem linken Loire-Ufer, in die das 1429 von den Engländern befestigte Augustinerkloster umgewandelt ist, zieht ein kriegerischer Zug mit Fackeln über die Brücke vor die Kathedrale. Hier wartet der Bischof mit seinem Clerus, um ihn die Banner der Heiligen der Stadt und die der heiligen Katharina und Margarethe, deren Stimme einst Jeanne in ihrer frommen Begeisterung vernahm. Dann tritt der Maire mit dem Stadtrath aus dem nahen Stadthause und überreicht dem Bischof das Banner der Jungfrau, das die Nacht in der Kirche zubringen soll. Darauf Segensspruch des Bischofs, Erleuchtung der Kathedrale (Schiff und Thürme) durch bengalische Flammen, Musikfanfaren, Volksjauchzen; es ist eine erhebende Feier.

Am anderen Tage findet die religiöse Feier in der Kathedrale statt, wobei ein Priester, meist Bischof, von hervorragendem Rednertalent die Lobrede auf die Jungfrau hält; darauf folgt die feierliche Procession zum Kreuze auf dem Platze, wo Jeanne ihr Blut vergossen und den Sieg errungen hat.

Ausgenommen die Zeit der Religionskriege im sechszehnten Jahrhundert ist dieses Fest seit 1430 ununterbrochen gefeiert worden, erst 1793 wurde es, zum Schmerz der Stadt, aufgehoben, und im Jahre 1803 genehmigte der erste Consul auf Gesuch des Gemeinderathes die Wiederherstellung. Ursprünglich indessen war die Feier nicht sowohl zu Ehren der Jungfrau, als überhaupt zur Erinnerung an die Befreiung der Stadt eingesetzt worden. Eine Bulle des Cardinals d’Estouteville vom 9. Juni 1452, sowie die Hirtenbriefe der Bischöfe von 1453 und 1474 schrieben das Verdienst der Befreiung nächst Gott nicht der Jungfrau, sondern den Schutzheiligen der Stadt, den Bischöfen Euvert und Aignan zu.

Erst im Jahre 1772 sprach eine bischöfliche Verordnung von „der Befreiung der Stadt durch die Vermittlung von Jeanne d’Arc“, 1803 aber gaben Maire und Bischof dem Feste den Namen: „Fest der Befreiung von Orleans durch Jeanne d’Arc.“

Es war herkömmlich in Orleans, daß bei jeder Procession eine Predigt gehalten wurde. Dies war also auch bei dieser Feier der Fall, anfangs nach der Procession, erst später hielt man sie, wie noch jetzt, vor derselben. Man dankte darin Gott für die Rettung. Selbstverständlich mußte man dabei die Jungfrau erwähnen und ihr Lob verkünden. Allmählich wurde dies Lob nun der Hauptgegenstand der Predigt und so gestaltete sich dieselbe zu einer Lobrede auf die Jungfrau, weshalb sie heute „der Panegyrikus auf Jeanne d’Arc“ genannt wird. Sie erscheint stets in Druck, die älteste aufbewahrte stammt aus dem Jahre 1759, mit der von 1760 zusammen gedruckt.

Seit der Revolutionszeit nahm diese Lobrede gewöhnlich einen politischen Charakter an, das Fest selbst erlitt zuweilen ein politisches Gepräge; zum Beispiel nahm nach der Julirevolution 1830 bis 1840 die Geistlichkeit nicht Theil an der Procession, ebenso nicht von 1848 bis 1852, die bürgerlichen und militärischen Behörden hielten allein den feierlichen Umzug ab. So gab mir denn, dem Schreiber dieses, das Studium der Geschichte und des Charakters dieser Feier den Gedanken ein, in meiner noch zu Lebzeiten Dupanloup’s erschienenen Biographie dieses Bischofs der Bürgerschaft von Orleans vorzuschlagen, den Panegyrikus, statt nur von Priestern, auch von Laien (Historikern, Aerzten, Advocaten, Officieren) abwechselnd halten und so das edle Bild der Märtyrerin von den verschiedensten Standpunkten aus beleuchten zu lassen. Der Kaufmann Eugen Fousset in Orleans, radikaler Deputirter und Protestant, sowie der aufgeklärte, freisinnige Maire, Sanglier, nahmen meinen Vorschlag auf und beauftragten den Archivar der Stadt, Herrn Doinel, den von einem Deutschen gefaßten Gedanken zur Ausführung zu bringen. Herr Doinel that dies am 7. Mai 1882 und pries sich glücklich, zuerst in Orleans die „bürgerliche“ Lobrede, le Panégyrique civique, auf Jeanne d’Arc gesprochen zu haben.

Es war ein deutscher Gedanke, der hier zu Ehren der Jungfrau verwirklicht wurde. Hat doch auch ein deutscher Dichter die Retterin Frankreichs verherrlicht, als sie in Frankreich vergessen war! Ist doch seitdem die Jungfrau dem deutschen Volke so theuer geworden, wie außerhalb Orleans nicht überall dem französischen!

[292]

Compaßpflanzen.

„Schau’ dieses zarte Gewächs, was über die Wiese sein Haupt hebt
Gleich dem Magnete getreu die Blätter nach Norden gerichtet,
Compaßpflanze genannt, von Gottes Händen gepflanzet,
Um dem Wandrer den Weg durch die einsame Wüste zu zeigen,
Die sich öd’ wie die See und pfad- und grenzenlos ausdehnt.“

Longfellow, „Evangeline“.

In der Schule wurde uns gelehrt, daß man sich im Walde, wenn man irre gegangen sei, leicht orientiren könne, wenn man beachte, daß die Baumstämme stets auf der Südwestseite am stärksten mit Moosen und Flechten bewachsen seien. Dieser Wegweiser ist in der That ziemlich zuverlässig, wenn man dickere Stämme in nicht allzu dichten Beständen vor sich hat, denn dann zeigt sich die nach Westen gerichtete Seite, von welcher bei uns die feuchten Winde und Regenschauer des Frühjahrs und Herbstes kommen, wirklich am stärksten mit diesen Feuchtigkeit liebenden Gewächsen besetzt, während die trockenere Nordostseite gänzlich von denselben frei ist. In dichteren Beständen mit feuchtem Untergrunde läßt aber diese schon von Rousseau empfohlene Regel im Stiche. Natürlich gilt sie in obiger Form überhaupt nur für solche Länder, welche, wie der größte Theil Mitteleuropas, den West- und Südwestwinden ihre häufigsten Niederschläge verdanken.

Von einer in anderer Weise leitenden „Compaßpflanze“, welche dem Wanderer in den unendlichen baum- und pfadlosen Prairien Nordamerikas an trüben Tagen wie in sternlosen Nächten die Weltrichtung anzeige, wußten die Prairiejäger und Ansiedler seit langer Zeit zu erzählen, nannten das merkwürdige Gewächs Pol- oder Compaßpflanze (Polar Plant, Pilot Plant) und berichteten Wunderdinge von seiner Zuverlässigkeit. Aber die Botaniker und Nichtbotaniker schüttelten den Kopf dazu und hielten die Angabe, daß die Blätter dieser Pflanze stets unverrückt nach Norden zeigen sollten, für ein Märchen. Erst 1842, als General Alvord der amerikanischen Gesellschaft zur Beförderung der Naturwissenschaften auf ihrer Jahresversammlung zu Washington einen Bericht über die Pflanze vorlegte, vernahmen weitere Kreise Näheres über das sagenreiche Gewächs.

Es zeigte sich nun, daß diese aus den Prairien von Texas im Süden, bis nach Iowa im Norden und von Michigan im Osten bis nach Missouri und Arkansas im Westen verbreitete Pflanze eigentlich ein alter Bekannter war, denn schon im vorigen Jahrhundert (1781) hatte sie der Botaniker Thouin nach Europa gebracht, und man hatte sie ihrer stattlichen Erscheinung und ihres harzigen Geruches wegen, der ihr den Volksnamen „Terpentinpflanze“ und den wissenschaftlichen Namen der Silphiumpflanze (Silphium laciniatum) nach dem hochberühmten Silphium der Alten eintrug, in mehreren botanischen Gärten Europas gezogen, ohne zu ahnen, welches Mysterium dieser Pflanze außerdem noch innewohnt.

Compaßpflanzen.
A Die amerikanische Compaßpflanze (Silphium laciniatum) stark verkleinert.
B Eine deutsche Compaßpflanze (Lactuca Scariola) natürliche Größe.

Wenn Longfellow in seinen oben von uns nur theilweise angeführten Versen die Compaßpflanze ein „zartes Gewächs mit zerbrechlichem Stengel“ genannt hat, so beweist dies eben, daß er dieselbe niemals selbst in ihrer Kraft und Fülle gesehen, und den General Alvord, der ihn direct zu dieser Verherrlichung veranlaßt haben soll, falsch verstanden hat. Es ist vielmehr eine robuste, rauhbehaarte, über Manneshöhe erreichende Pflanze mit großen doppelt fiedertheiligen Blättern und ansehnlichen tiefgelben Blüthenköpfen, die nicht sehr viel kleiner sind, als die unserer bekannten Sonnenblume, kurz eine der vielen gelbblühenden Korbblumen oder Compositen der nordamerikanischen Prairien. Am meisten fällt in ihrer allgemeinen Erscheinung auf, daß die Blätter der Pflanze nicht wie gewöhnlich horizontal, sondern senkrecht wie die Hände oder Tafeln eines Wegweisers nach zwei entgegengesetzten Richtungen ausgebreitet stehen.

Machen wir uns diese eigenthümliche Erscheinung etwas klarer. Die meisten der im freien Felde wachsenden Pflanzen breiten bekanntlich ihre Blätter wagerecht aus, sodaß ihre Oberseite mit vollen Zügen das von oben herabstrahlende Licht trinken und mit ganzer Fläche auffangen kann. Darnach unterscheidet man bekanntlich eine Oberseite und eine Unterseite der Blätter, die schon äußerlich dadurch auffallen, daß ihre Oberseite gewöhnlich ebener und glänzender, meist auch tiefer grün gefärbt erscheint, als die Unterseite, während auf dieser die Adern und Nerven stärker hervortreten, wozu häufig eine stärkere Behaarung oder Filzbildung hinzutritt. Als typisch mag hier auf das oben dunkelgrüne, unten schneeweiße Blatt der Silberpappel verwiesen werden, welches den classischen Völkern deshalb als das Symbol der beiden Welten, der Ober- und der Unterwelt, oder sagen wir besser: der Licht- und Schattenwelt galt, denn die Blätter dieses Baumes richten sich nicht immer einfach mit der Oberseite nach oben, sondern vielmehr, wie wir bald sehen werden, senkrecht zum einfallenden Licht.

Mit dem Mikroskope kann man zwischen Ober- und Unterseite der Blätter noch einen andern lehrreichen Unterschied wahrnehmen, der darin besteht, daß die Unterseite kleine, von zwei bohnenförmigen Zellen begrenzte Oeffnungen in viel größerer Zahl aufweist, als die Oberseite. Diese sogenannten Spaltöffnungen vermitteln den Gasaustausch (Ernährung und Athmung) der Pflanze, sodaß also eine wirkliche Polarität und Arbeitstheilung zwischen Licht- und Schattenseite der Blätter ausgebildet ist; die eine läßt das Licht in ihren Zellen arbeiten, und die Nahrungsstoffe aus den luftförmigen Stoffen scheiden, welche die Unterseite durch ihre Spaltöffnungen [293] aufnimmt. Ein Gewächs, welches am hellen Tage sein grünes Gewand sozusagen über den Kopf zusammenschlagen und die Kehrseiten der Blätter zeigen wollte, würde uns „nicht recht bei Troste“ erscheinen, nur der Wind treibt solche Scherze, wenn er zur Freude der Maleraugen die Wipfel der Weißpappeln und Weiden aufwühlt.

Die Compaßpflanze gehört aber zu der viel beschränkteren Anzahl von Pflanzen, welche ihre Blätter auch auf offenem Felde nicht wagerecht gegen den Himmel ausbreiten, sondern sie mehr oder weniger scharf senkrecht stellen, sodaß die Strahlen der glühenden Mittagssonne machtlos an ihren beiden Flächen hinabgleiten. Daß nun aber die Spitzen dieser senkrecht stehenden Blätter, und namentlich der Wurzelblätter, theils nach Norden und theils nach Süden zeigen sollten, während die Flächen der Blätter theils nach Osten und theils nach Westen gerichtet wären, wollten die Botaniker vom Fach anfangs nicht zugeben. Ein im botanischen Garten zu Cambridge (Massachusetts) gezogenes Exemplar zeigte diese Haupteigenthümlichkeit der Pflanze, auf welcher doch ihr ganzer Ruhm ruhete, nicht, und ebenso wenig konnte sie der berühmte Botaniker Hooker an Exemplaren bemerken, die im Garten zu Kew gezogen worden waren. Der General Alvord ließ sich indessen durch alle diese gegen seinen Liebling geäußerten Zweifel und Einwendungen nicht irre machen. Er stellte von Neuem in der Prairie Hunderte von Messungen an und ließ sie durch den Stab seiner Officiere und Feldmesser wiederholen, die mit dem Compaß in der Hand feststellten, daß die weitaus größte Zahl aller von ihnen auf den heimathlichen Gefilden untersuchten Pflanzen streng in der Mittagslinie (Meridianebene) gewachsen waren, sodaß die eine Hälfte ihrer Blätter nach Norden, die andere nach Süden zeigte, keines nach Osten oder Westen, welchen Himmelsgegenden vielmehr stets die abwechselnden Flächen der Blätter zugewendet waren. Der General Alvord brachte diese glänzende Rechtfertigung seines Schützlings und die Bestätigung des Indianerglaubens 1849 vor die Versammlung der amerikanischen Naturforscher zu Cambridge, und seitdem ist der Ruf der Compaßpflanze nicht mehr angetastet worden.

Damit hatte sich zu dem alten noch ein neues Mysterium gesellt; es blieb nun nicht blos zu erklären, worin die richtende Macht der Pflanze überhaupt bestehe, sondern auch, weshalb sie dieselbe anscheinend bei der Cultur verliere. Man stellte mancherlei Untersuchungen darüber an, die aber meist nur über nebensächliche Fragen Auskunft gewährten. So wurde z. B. durch Edward Burgeß festgestellt, daß bei den Blättern der Compaßpflanze, ähnlich wie bei andern senkrecht gestellten Blättern und blattartigen Zweigen, der anatomische Bau von Ober- und Unterseite viel weniger verschieden ist, als bei wagerecht ausgebreiteten Blättern, und daß namentlich die Zahl der Spaltöffnungen auf beiden Seiten fast völlig gleich war; es giebt ja hier keine Ober- und Unter-, keine Licht- und Schattenseite, sondern nur eine Ost- und eine Westseite.

Vergebens suchte F. W. Whitney (1871) und noch später ein amerikanischer Gärtner, Namens Meehan, die Ursache der Orientirung nach den Himmelsrichtungen zu ermitteln, ohne dieselbe völlig aufzuklären. Diejenigen, welche sich mit Worten begnügen, faselten von einer eigenthümlichen magnetischen Richtkraft, wie sie einst Middendorff zur Erklärung des Orientirungssinnes der Wandervögel herbeigerufen hatte – und worin ihm noch heute unklare Köpfe nachbeten – und Andere träumten gar von dem Einflusse der elektrischen Erdströme, denen die Pflanze ihre Polarität verdanken sollte. –

Erst ein deutscher Botaniker, Professor Dr. C. Stahl in Jena, hat in jüngster Zeit das Räthsel der Compaßpflanzen ergründet und zwar an einer durch ganz Deutschland verbreiteten Compaßpflanze, dem wilden Lattich (Lactuca Scariola) unserer Triften und Wegränder, einer nahen Verwandten unseres allbeliebten Kopfsalats. Er fand, daß dieser wilde Lattich (und noch einige andere bei uns einheimische Pflanzen) ebenso genau

Deutschlands merkwürdige Bäume: 2. Die tausendjährige Linde in Puch bei Fürstenfeld.
Nach der Natur gezeichnet von Th. Grätz.

[294] wie die vielgefeierte Blume der Prairien die Himmelsgegenden mit seinen senkrecht gestellten Blättern bezeichnete, was man bis dahin vollständig übersehen hatte. Eine Anzahl von geistreich abgeänderten Versuchen zeigte ihm, wie er im Voraus vermuthet hatte, daß die genaue Einstellung der Blätter dieser Pflanzen in die Mittagsebene einzig durch das Verhalten der Blätter gegen das Licht bedingt wird, ohne daß dabei irgend welche magnetische oder elektische Kräfte in Betracht kommen. Professor Stahl hat darüber in einer Abhandlung berichtet, die auch als besondere kleine Schrift („Ueber sogenannte Compaßpflanzen“, Jena) erschienen ist und der wir einzelne der hier mitgeteilten Thatsachen, sowie die Abbildung der deutschen Compaßpflanze entnommen haben.

Wie Jedermann und besonders die schöne Leserin aus den Erfahrungen der Zimmerpflanzenzucht weiß, wachsen die meisten Pflanzen dem Lichte entgegen, und viele von ihnen, z. B. die Bocksbartarten unserer Wiesen, wenden ihre Blumen stets der Sonne zu, sodaß sie ihrem Laufe am Himmelsgewölbe folgen und Abends ihre nach Westen gerichtete Blüthe schließen, um sie des Nachts aufzurichten und beim ersten Frühscheine wieder nach Osten zu wenden. Eine ähnliche Eigenschaft, wie sie von so vielen Blumen bekannt ist, beobachtete Dr. Fritz Müller in Brasilien kürzlich an den jungen Blättern einer schönen gelben Schmetterlingsblume aus der Ginstergruppe (Crotolaria cajanaefolia) welche die ganze Nacht hindurch so auffällig nach der Stelle hindeuteten, wo die Sonne untergegangen war, daß sich ein Wanderer darnach fast noch bequemer als nach der Compaßpflanze hätte orientiren können.

Man bezeichnet diese Eigenschaft der Stengel, Blumen und Blätter, sich nach dem Lichte hinzuwenden, allgemein als Sonnenwendigkeit (Heliotropismus) und die umgekehrte Eigenschaft einzelner Pflanzen, das allzu grelle Licht zu fliehen und den Halbschatten zu suchen, als negativen Heliotropismus oder Apheliotropismus.

Während nun die meisten Stengel die Eigenschaft haben, dem Lichte entgegenzuwachsen, besitzen die meisten Blätter die Fähigkeit, sich gegen die auf sie treffenden Lichtstrahlen senkrecht zu stellen, das heißt also auf offenem Felde, wo das Licht von oben kommt, wagerecht, im Gebüsch und in der Baumkrone den veränderten Umständen gemäß. Man bezeichnet diese Eigenschaft der Blätter, sich stets quer gegen das einfallende Licht zu stellen, der zu Liebe sie an wagerechten Zweigen und im dichten Baumwipfel mancherlei Drehungen ausführen, um stets den größten Lichtgenuß zu haben, als Diaheliotropismus, und von diesem giebt es eigentlich weniger Ausnahmen als vom Heliotropismus.

Indessen finden wir namentlich in den lichtempfindlichen Familien der fiederblätterigen Pflanzen, zu denen die echten Akazien und Mimosen gehören, eine Anzahl von Pflanzen, welche ihre Blätter für gewöhnlich zwar ebenfalls senkrecht zum herrschenden Licht stellen, das heißt sich vorwiegend horizontal ausbreiten, dagegen der intensiven Mittagsgluth der Sonne zu entfliehen suchen, indem sie ihre Blätter zusammenfalten und geradezu in die Richtung der Sonnenstrahlen stellen, um möglichst wenig von denselben bestrichen zu werden.

Zu dieser Classe von Pflanzen, welche die Mittagssonne fürchten, gehören nun offenbar auch die Compaßpflanzen mit ihren dauernd senkrecht gegen den Himmel aufgerichteten Blättern. Bei der deutschen Compaßpflanze, dem wilden Lattich, stehen die leierförmig eingebuchteten Blätter ihrem natürlichen Wachsthum nach eigentlich, wie bei den meisten Pflanzen, gleichmäßig rings um den Stengel vertheilt, sodaß ihre Spitzen von rechtswegen nach allen Himmelsgegenden zeigen müßten. Allein die Südrichtung bietet im Sommer ebenso wenig Lichtreiz als die Nordseite, denn die Sonne geht dann nicht wie im Winter rings am Horizonte herum, sondern ihr Lauf schneidet die Mittagslinie beinahe in senkrechter Ebene, sie steht am Mittag mehr oder weniger im Scheitel des Beobachters, sodaß für die seitliche Belichtung der Sommerpflanzen eigentlich nur Osten und Westen in Betracht kommen. Solche Pflanzen, welche, auf freiem Felde wachsend, die Mittagsgluth scheuen, werden daher eine Anregung erhalten, sich streng nach der Mittagslinie zu richten, die Blattoberflächen ein für allemal gegen Osten und Westen zu kehren, um sowohl die Morgensonne wie die Abendsonne zu genießen, und so zu einem lebendigen Compaß aufzuwachsen.

Von den ursprünglich gleichmäßig rings um den Stengel vertheilten Blättern unseres wilden Lattichs werden daher die auf der Süd- und Nordseite des Stengels hervorwachsenden Blätter eine Drehung des Blattstiels um circa neunzig Grad ausführen, um ihre Flächen abwechselnd nach Osten und Westen zu richten, während sich die schon durch die natürliche Wachsthumsrichtung nach Osten und Westen gerichteten Blätter nur einfach gegen den Stengel zu erheben brauchen, um ihre Blattflächen nach Osten und Westen zu kehren, wobei sie sich nur seitlich ein wenig ausweichen. Die Pflanze wächst also erst in Folge des auf sie wirkenden Sonnenscheins sozusagen in die senkrechte Mittagsebene hinein, ähnlich wie die rings um die Achse vertheilten Blätter vieler wagerechten Baumzweige erst durch mannigfache Drehungen und Biegungen der Blattstiele in die vorherrschende, zweizeilig wagerechte Anordnung hineinwachsen, und daher kann es kommen, daß, wenn die Sonne in der Hauptwachsthumsperiode hinter den Wolken bleibt, dber die Pflanze ihren Strahlen nicht von allen Seiten frei ausgesetzt ist, diese dann auch die erwähnten Stellungseigenthümlichkeiten nicht scharf zur Ausprägung bringen wird.

In solchen Verhältnissen liegt offenbar die Erklärung der verblüffenden Erscheinung, daß die Compaßpflanzen in den botanischen Gärten ihre geheimnißvollen Fähigkeiten nicht entwickeln wollten, wahrscheinlich weil sie der Sonne nicht nach allen Seiten frei ausgesetzt, sondern im ein- oder mehrseitigen Schatten von Bäumen oder Gebäuden aufgewachsen waren. Vielleicht war auch die Witterung während des Aufwachsens ungünstig gewesen, sodaß die Sonne nicht stark und häufig genug während ihres Wachsthums auf die jungen Blätter einwirken konnte, denn nur die jungen, noch wachsenden Theile folgen den Anregungen des Lichtes leichter. In solchen Fällen ist dann die Meridianstellung der Blätter nicht vollständig erreicht, man sieht viele halb oder schiefgewendete Blätter, zuweilen ist das Blatt dann gekrümmt. Professor Stahl hat über die Einflüsse einer theilweisen Beschattung auf das Wachsthum der deutschen Compaßpflanze eine Anzahl von Versuchen angestellt, die sehr lehrreich waren, insofern als die Lattichpflanzen ganz verschiedene Gestalten annahmen, je nachdem sie in Gruben aufgezogen wurden, in denen sie nur Oberlicht bekamen, oder unter Gestellen, die sie vor der Mittagssonne schützten etc.

Die frei gewachsenen Exemplare zeigten dagegen, selbst als Gruppe gezogen, die schönste gleichmäßigste Orientirung nach der Mittagsebene, sodaß sie dem in derselben stehenden Beobachter die schärfste Profilansicht darboten. Man sieht leicht ein, daß solche Eigenthümlichkeiten sich nur bei solchen Pflanzen herausbilden werden, die gewohnt sind, nicht im Schatten höherer Gewächse, sondern stets auf offenen, baumlosen Ebenen zu wachsen, und namentlich bei solchen, die auf etwas trockenerem Boden gedeihen, weil diesen der Schutz gegen die Wasserverdunstung in der Mittagssonne am nöthigsten ist. Daß die amerikanische Compaßpflanze eines Schutzes gegen die erbarmungslose Sonne der Prairie bedurfte, scheint auch ihr Reichthum an harzigen Duftstoffen zu verrathen, denn nach den Versuchen Tyndall’s kann nichts eine Pflanze besser vor der strahlenden Wärme der Sonne schützen, als die Duftwolke, die sie wie einen Schutzmantel um sich verbreitet. Einem unsichtbaren Sonnenschirme gleich, verschluckt diese Duftatmosphäre den größten Theil der Wärmestrahlen und läßt sie nicht bis zu der Pflanze gelangen, und deshalb bedecken sich die trockenen Berglehnen der Mittelmeerländer, die den glühendsten Sonnenstrahlen ausgesetzt sind, vorwiegend mit starkwürzigen Kräutern, Lavendel, Thymian, Dossen etc., welche die Sonnengluth eben aushalten können. Der wilde Lattich hat sich, wie wir in dem Bilde sehen, noch einen anderen ungewöhnlichen Schutz nach außen zugelegt, er hat nicht blos seine Blattränder, was ja gewöhnlich vorkommt, sondern auch die stets nach außen gekehrte Mittelrippe der Blattunterseite mit scharfen Dornen bewaffnet. Es galt, da sich die dornigen Blattränder alle nach Norden und Süden richten, auch lüsternen Thieren, die von Osten oder Westen kommen konnten, ein wenig die Zähne zu weisen, daher diese eigenthümliche Bewaffnung.

So hat sich nun das Geheimniß der Compaßpflanzen in ziemlich einfacher Weise und ohne Zuhülfenahme verborgener magnetischer Kräfte oder elektrischer Strömungen lösen lassen, als die einfache Folge des Bogens, welchen der scheinbare Lauf der Sonne am Sommerhimmel beschreibt. Demgemäß muß man erwarten, [295] jetzt, nachdem einmal die Aufmerksamkeit darauf gelenkt ist, noch andere, mehr oder weniger ausgeprägte Compaßpflanzen zu finden, wie denn in der That noch verschiedene andere Latticharten, namentlich der weidenblätterige Lattich, der Giftlattich und Sonnenwirbel, deutlich annähernde Eigenschaften zeigen. Der Botaniker wird gewiß mit der Zeit noch manche andere dazu finden, und auch für den Laien wird es von Interesse sein, alle Pflanzen, die schon im Leben so aussehen, als ob sie für das Herbarium platt gepreßt wären, auf ihre Orientirung nach den Himmelsrichtungen hin zu untersuchen.

Carus Sterne.




Ein Spaziergang durch das Thüringer Spielwaarenland.

(Schluß.)

Wir steigen von Lauscha nun thalabwärts und gelangen aus dem Lauschagrund, an der „Wiesleinsmühl“, mit einer Bierwirthschaft, an welcher ein durstiger Mann nur schweren Herzens vorüber geht, und an Unterlausche vorbei in den Steinachgrund. Nachdem wir mehrere Märbel- und Mahlmühlen passirt, verengt sich derselbe so, daß selbst im Hochsommer die Sonne nur wenige Stunden bis zu der Poststraße herabdringt und ehedem bei der Nacht die Feuer eines Eisenwerks am Ende dieser Schlucht prachtvoll an den steilen Bergwänden leuchteten. Endlich treten die Wände zurück, und wir stehen vor einem breiten, von Waldhergen begrenzten Thal, das uns wirklich anlacht, und vor einer so freundlich daliegenden größeren Ortschaft, daß wir unwillkürlich an die im Vergleich damit düstere Lausche und ihre heiteren Menschen zurückdenkend, ausrufen: wie müssen sie erst hier lachen können, wo die Natur selbst so offenbar dazu auffordert!

Allerdings hat die Natur hier, und zwar auf und unter dem Boden, Alles gethan, um den Fleiß des Menschen mit Glück und Freude zu lohnen: das Holz auf den Bergen, in den Bergen ein besonders segensreiches Gestein, und außerdem nach Ocker, Umbra und Eisenstein in Fülle.

Das genannte Gestein ist ein wahrhaft gottgesegnetes, denn als nach dem Beispiele von Luther und Melanchthon die Männer der Reformation überall in Deutschland, und meist auf Kosten der aufgehobenen Klöster, Volksschulen gründeten, wie schlimm würde es da, bei der Kostspieligkeit des Papiers zu jener Zeit, mit dem Unterricht im Schreiben und Rechnen bestellt gewesen sein ohne das steinerne Papier und die steinerne Feder, die ohne Tinte schreibt!

Der Schiefertafel und dem Schiefergriffel verdankt die deutsche Nation ihren frühzeitigen Aufschwung in der Volksbildung. Der Marktflecken Steinach aber, vor welchem wir hier stehen, ist nicht nur der Hauptsitz der Schachtelmacher im Meininger Oberlande, sondern auch der der Griffelmacher und ist’s lange Zeit ganz allein für die ganze Welt gewesen. Warum aber der Segen, den diese Arbeit verbreitete, nicht auch auf die jetzt etwa 4000 Bewohner von Steinach selbst zurückwirkt, das haben wir unseren Lesern bereits ausführlich aus einander gesetzt in dem Artikel „Zwei Hauptwerkzeuge der Elementarbildung“ (Jahrg. 1878, Nr. 20), dem wir auch die Abbildung eines Schieferbruchs (bei Lehesten im Meininger Verwaltungsamt Gräfenthal, nicht Oberland) beifügten.

Der Weg van Steinach bis zum nächsten Schieferbruch ist nicht so weit, daß man die Kinder nicht dahin führen könnte; die Brüche bieten einen selbst älteren Augen überraschenden Anblick dar, und auch die Herstellungsweise der Griffel werden die Kinder gern kennen lernen wallen. Dürfen doch, wo man den Weihnachtstisch für kleine ABCschützen herrichtet, die mit buntem Papier überzogenen Griffel so wenig fehlen, wie die verschiedenen Schachteln, deren Deckel so viel ersehntes Spielzeug verbergen. Somit arbeiten die Steinacher ganz vorzüglich für die Freuden und für den Nutzen unserer Kinderwelt. Auch die Steinacher sind ein originelles, erfinderisches und mit Kunstsinn begabtes Völkchen, außerordentlich fleißig und auch gern einmal fröhlich, nur daß nicht viele von ihnen auch, wie die Lauschaer, dabei auf einen grünen Zweig kommen.

Und nun schlagen wir den Gang zur Hauptstadt des Meininger Oberlandes, nach Sonneberg, ein. Wir haben zwei Straßen vor uns, die alte Poststraße, die rechts hin über den Berg, und die neue, die gerade aus durch den sogenannten „Hüttengrund“, an einer Reihe industrieller Anlagen und mehreren Industriedörfern vorüber, eine Tour voll Leben und Naturreiz, zum Ziel führt.

Was ist es, das dem Namen dieser Stadt einen so guten Klang und ihrem Wachsthum solches Gedeihen gebracht hat? Die Ueberschrift unseres Artikels giebt bereits die Antwort: „Sonneberger Spielwaaren“ das ist das Zauberwort, das uns im Herzen lacht, so oft wir einen Christabend erleben. Mag den Bescheerungstisch noch so viel Kostbares und Nützliches bedecken, die wahre Welhnachtsstimmug bringt doch erst das Spielzeug. Nach ihm greifen die Kinderhändchen zuerst, nach ihm suchen die Eltern am liebsten auf dem Christmarkt, und es ist die höchste und letzte Freude der Großeltern, wenn sie’s ihren Enkeln bescheeren können. Dieser Zusammenhang der Sonneberger Arbeit mit den Herzen aller Kinderglücklichen läßt auch den Namen der Stadt mit einem Weihnachtsschimmer beleuchten. Darum haben wir auch unsere Abbildung (auf Seite 281 der vorigen Nummer) mit einem Weihnachtsbaum geschmückt, er ist das richtige Wappen des Spielwaarenlandes. Wollen wir uns aber von der unendlichen Inhaltsfülle dieses Industriegebiets überzeugen, so müssen wir uns die Waarenvorräthe eines größeren Geschäfts zeigen lassen.

Ein solcher „Mustersaal“ wirkt für den ersten Blick verblüffend. Wir wissen nicht, wohin wir die Augen zuerst richten sollen. Haben wir doch nicht weniger als zwölf- bis achtzehntausend einzelne Stücke Spielzeugs vor uns, von denen jedes für sich eine große Kinderfreude werth ist. Selbst mit der kühnsten Phantasie ausgerüstet steht man überrascht vor den Erzeugnissen üppigster Gestaltungskraft. Was das Auge nur irgend in Leben und Natur erschauen kann, hier haben wir’s im Kleinen nachgemacht, eine neu erschaffene Welt für die Kinder.

Wie ist’s möglich, all diese Gegenstände, und wieder viele davon oft in vielen hundert, ja tausend Dutzenden für jede Christbescheerung neu herzustellen? Der größte Theil der Einwohnerschaft von Sonneberg und von zwanzig bis dreißig Dörfern in den nächsten Thälern und auf den Bergen des „Waldes“ ist mit dieser Arbeit beschäftigt. Sie geschieht theils in Manufacturen um bestimmten Lohn bei bestimmter Arbeitszeit, zum großen Theil aber in den Häusern als Famlienerwerb, und auch da wird derselbe insofern fabrikmäßig betrieben, als jeder Gegenstand durch so viel Hände geht, als die Familie zur Arbeit aufzuwenden hat. Nehmen wir das einfachste und billigste Pferdchen von Holz zum Beispiel. Der Vater schnitzt die Körper, alle in gleicher Größe und gleich haufenweis, ein Sohn schnitzt ebenso viele Köpfe, ein Anderer oder mehrere die Beine und die kurzen Schwänze, ein Paar andere Hände leimen die Theile zusammen, wieder andere befestigen sie auf die Brettchen, und nun kommen die jüngsten Kinder aus der Schule und setzen sich sogleich zu den Großeltern an die Farbentöpfe und bemalen die Pferdchen, und wenn sie nun getrocknet und zu vielen Dutzenden eingepackt sind, werden sie zu dem Kaufmann getragen, der sie bestellt hat und sofort bezahlt.

Die Preise sind sehr schwankend, je nach der Nachfrage und den Zeitumständen, aber immer gering genug, um Massenlieferungen nöthig zu machen. Feinere Arbeiten, die sich schon den Kunstleistungen nähern, oder diese selber, lohnen natürlich besser. Die Arbeitstheilung erstreckt sich im Großen wieder auf ganze Ortschaften, in einem Orte werden zum Beispiel vorzugsweise Trommeln, in anderen Trompeten, Pfeifen, Posthörnchen, wieder in anderen Geigen gemacht, und von diesen sagt man, daß sie fast siebenzig Mal durch die Hände laufen müssen, ehe sie fertig sind. Viele Arbeiten sind an den Ort gebunden, der ihnen das Material dazu liefert, wie wir das bei den Porcellan-, Glas- und Schieferarbeiten gesehen haben. Denn das ist ein Vorzug des Meininger Oberlandes, daß der Boden fast Alles liefert, was die Industrie braucht.

Interessant ist die Entwicklungsgeschichte dieser Industrie. Sonneberg mußte dazu von den Nürnbergern erst entdeckt werden. Es lag in seiner Thalenge abseits von allem Verkehr, trieb vorzüglich [296] Ackerbau und Viehzucht (es hielt drei Hirten), und nebenbei Pechsieden und Kienrußbrennen, als schon Jahrhunderte lang die große Heer- und Handelsstraße von Nürnberg nach Sachsen über Coburg und das Bergdorf Judenbach, anderthalb Stunden östlich von Sonneberg, dahinzog. Den lebhaften Straßen- und Ortsverkehr von Judenbach haben wir im Jahrg. 1874, S. 486 ausführlich geschildert. Hier wurden die Nürnberger eines vorzüglichen Wetzsteines ansichtig, forschten nach dessen Ursprung, kamen so nach Sonneberg und knüpften sofort Geschäftsverbindungen an. Kienruß, Pech und Wetzsteine waren somit die ersten Artikel, mit welchen Sonneberg durch Nürnberg auftrat. Als erst die Nürnberger die Anstelligkeit der Leute und den Reichthum des Bodens in diesem Lande genauer kennen gelernt, machten sie beides sich immer mehr dienst- und nutzbar, und auch die Spielwaren-Industrie verpflanzten sie dorthin. So wurde Sonneberg in der That die „Tochter Nürnbergs“ und blieb es getreulich, bis Zeiten kauten, wo die Mutter schwach wurde, während die Tochter sich schon stark genug fühlte, um auf eigenen Füßen zu stehen. Diese Zeiten kamen mit dem Kipper- und Wipperunfug der Münzverfälschung und dem Dreißigjährigen Kriege, die Nürnbergs Handel vollständig lahm legten. Die Sonneberger mußten den Selbstvertrieb ihrer eigenen Waare wagen, und da sie nicht vergeblich in die Nürnberger Schule gegangen waren, so ist ihnen dies auch im ausgiebigsten Maße gelungen.

Den Gesammtwerth aller deutschen jährlich producirten Spielwaaren schätzt man auf 70 Millionen Mark. Auf das Meininger Oberland allein kommen für etwa 20 Millionen, von denen Sonneberg für nahezu 15 Millionen in das Ausland, in Europa und in alle übrigen Erdtheile versendet.

Wenn man nun bedenkt, daß noch zu Anfang dieses Jahrhunderts die Holzspielwaaren die unterste Rangstufe im Sonneberger Handel bildeten – daß sie als Luxusgegenstände galten, für die es außer der Weihnachtszeit nur selten einen Markttag gab – und daß der Gesammtwerth ihrer Produktion noch nicht den der Nägel, auch nicht den der Wetzsteine und Schiefer- oder der rohen und bemalten Holzwaaren erreichte, so muß man wohl fragen: wie war es möglich, gerade diese Industrie auf einen solchen Stand zu erheben?

Das hat der schon damals hochangesehene Sonneberger Handel gethan.

„Nur dadurch, daß die Kaufleute es nicht versäumten, ihren Sendungen Muster von all den neuen Handelsartikeln hineinzupacken, die jetzt im Spielwaarenfach rasch hinter einander auftauchten, ward bald auch dem Spielzeug der Weg in alle Welttheile angebahnt, und mit dem Begehr darnach wuchs die Zahl der Verfertiger.“[1]

Schon vor zwanzig Jahren hatte sich der Versand auf etwa 5 Millionen Mark gehoben; heute hat er den dreifachen Werth erreicht.

Diese unleugbare Thatsache berechtigt uns zu dem Ausspruch, daß der eigentliche Heber und Förderer des Sonneberger Geschäfts in erster Reihe der Kaufmann, der Exporteur ist, der den Vertrieb der Waaren in der Hand hat. Wie weit aber der Kreis reicht, für welchen Sonneberg den Mittelpunkt des Spielwaaren-Exportgeschäftes bildet, ist jedes Jahr acht bis zehn Wochen vor Beginn der Leipziger Ostermesse an Ort und Stelle am anschaulichsten. Da stellen sich die Einkäufer aus Nordamerika bis nach San Francisco, aus Frankreich, Italien, Spanien etc. in Sonneberg so zahlreich ein, daß sich ein geschäftliches Leben und Treiben entwickelt, wie man es nur an den größeren Handelsplätzen gewöhnt ist. Da wird gehandelt, gefeilscht, gemessen, gekauft. Und nicht genug an den Einheimischen, eilen auch andere deutsche Geschäftsleute herbei, um den Ausländischen, die sie hier an einem Orte vereinigt finden, ihre Waaren vorzulegen. Da kann man englische, französische, italienische, spanische und auch andere Zungen und viele deutsche Mundarten durch einander hören, und überall ist es der sprachenkundige Sonneberger Kaufmann, der die vermittelnde Rolle übernimmt. Den Abschluß des Geschäfts bildet dann die Leipziger Messe, die selbstverständlich auch von Sonneberg aus stark besucht wird.

Dagegen muß nach England, Oesterreich-Ungarn, auch nach Frankreich und besonders in Deutschland der Sonneberger Kaufmann selbst reisen ober reisen lassen, wenn er sein geschäftliches Interesse wahren, die Concurrenz nicht aufkommen lassen, wohl aber neue Kundschaft erwerben will. In der Hauptsache werden die Geschäfte mit Grossisten, nur in seltenen Fällen auch mit Kleinhändlern abgemacht. Gegenwärtig sind es fünfzig bis sechszig kaufmännische Firmen, welche den Vertrieb der Erzeugnisse der Fabrik,- und Hausindustrie Sonnebergs und seiner Umgebung besorgen. Die großen Firmen sind in aller Welt dem Geschäftsmann bekannt, sodaß wir es unterlassen können, hier eine Anzahl der hervorragendsten derselben namentlich aufzuführen, auch abgesehen von der Schwierigkeit, diese Anzahl gerecht zu bestimmen.

Wie die Entwicklung der vielgestaltigen Hausindustrie des Meininger Oberlandes unmöglich gewesen wäre ohne die Rührigkeit des Sonneberger Großhandels, so würde dieser jetzt unmöglich sein ohne die Hausindustrie. Beide sind aus das Engste ebenso auf einander angewiesen, wie der im Gebirge wohnende Theil der Bevölkerung wiederum auf die Ausbeutung der Gaben des Gebirges durch diese Industrie angewiesen ist, um sich zum Leben die Mittel zu erwerben, die ihm Ackerbau, Viehzucht und andere Arbeit nicht bieten können. Man muß daher annehmen, daß beide sich gegenseitig nach allen Kräften zu stützen und zu heben suchen.

Daß dies nicht stets und früher oft noch weniger als in unseren Tagen immer der Fall war, wird durch den Umstand verschuldet, daß einen besonderen Einfluß auf den Arbeitspreis der „Kampf der Concurrenz“ beim Verschleiß sowohl als auch in der Fabrikation durch größeren Fabrikbetrieb oder Hausarbeit ausübt, und dies wirft oft einen tiefen Schatten ganz besonders auf einzelne Theile der Hausindustrie und ist in jüngster Zeit zu heftigem öffentlichem Ausspruche gekommen. Die Klagen der Arbeiter sind, wie die immer von Zeit zu Zeit ausbrechenden Nothzustände aus dem Thüringerwalde, schon oft Gegenstand öffentlicher Verhandlungen gewesen, doch so scharf, wie jetzt, noch nie auf den Kampfplatz gezogen worden. Wie sehr aber diese wichtige Angelegenheit uns auch mit aufregt, so dürfen wir dem Versprechen, das wir an dem Eingange dieses „Spaziergangs“ gestellt, nicht untreu werden. Die Darlegung dieses Kampfes gehört auf ein anderes Blatt, als auf dieses friedliche, das wir der Freude unserer Kinder gewidmet haben. Die Vernünftigen jeder Partei werden uns darin Recht geben.

Wir werden es daher vorziehen, wenn wir die Kinder in einige Mustersäle, Fabriken und namentlich einige Puppenmachereien der Hausindustrie geführt und wenn sie eine Anschauung von der Vielgestaltigkeit und Großartigkeit des Spielwaarengeschäfts gewonnen haben, mit ihnen an der zweithürmigen neuen Stadtkirche vorbei am Schönberg bis zu dem sogenannten „Luther-Wirthshaus“ hinaufzusteigen. Dieses alte Haus hat Jahrhunderte lang zu Judenbach an der Heerstraße gestanden und Kaisern und Fürsten, und auch dem Dr. Luther als Herberge gedient. Als es abgebrochen werden sollte, kaufte es Ad. Fleischmann, ließ es auf dieser Höhe wieder aufrichten und im Innern genau so ausstatten, wie es zu Luther’s Zeit gewesen. Und da im November dieses Jahres das vierhundertjährige Geburtsfest Luther’s gefeiert wird, so ist’s für die Kinder gewiß anziehend und lehrreich, zu sehen, wie einfach sich damals die mächtigsten Herren auf ihren Reisen oft behelfen mußten, und wie ein Haushalt für die Männer der Reformation eingerichtet war (vergl. übrigens auch hier den schon oben citirten Jahrg. 1874, Nr. 30 der „Gartenlaube“).

Vor diesem Wirthshause wird es den Kindern auch klar, welch reizender und gesunder Lage sich die Stadt Sonneberg erfreut. Gegen Norden von den südlichsten Ausläufern des Thüringerwaldes, an die sie sich anlehnt und zwischen die sie einst hineinkroch, geschützt, und gegen Süden die gesegneten Fluren Frankens vor sich und von der herrlichsten Waldluft umgeben, war diese Stadt von Anbeginn zum Luftcurort berufen, der sie auch wirklich in diesem Jahrhundert[2] noch geworden ist. Nicht weniger anlockend ist von jeder der umliegenden Höhen der Blick in die Ferne: dort ist in der That „wie ein Garten das Land zu schauen“, geschmückt mit Wäldern und Höhen, belebt von Städten und Dörfern und begrenzt von Gebirgszügen vom Fichtelgebirge bis zur Rhön, aus denen Schlösser, Capellen und Burgen emporragen; [297]


Mutterklage.

Gedicht von Wilhelm Buchholz, illustrirt von J. Kleinmichel.

Leer ist dein Bett, mein Knabe;
Du schlummerst nun im Grabe,
In kalter schwarzer Truh,
Mein holder Liebling du.

Dein Spielzeug ruht im Schreine,
Das Pferdchen steht alleine,
Kein Laut, kein Jubel mehr –
Stumm Alles um mich her.

Wie oft hat beim Erwachen
Mich sonst dein heit’res Lachen
Versöhnt mit dem Geschick;
Mein Himmel war dein Blick.

Wer wird mit sanftem Schmeicheln
Die Wangen nun mir streicheln?
Wer scheucht mit Einem Wort
All’ meine Thränen fort?

Wer wird beim Abendläuten
Die Arme nach mir breiten?
Wer ruft, schlief kaum ich ein,
Im Traum sein Mütterlein?

Leer ist dein Bett, mein Knabe;
Du schlummerst nun im Grabe,
In kalter schwarzer Truh,
Mein holder Liebling du.





dort winkt die Veste Coburg mit ihrem hohen Mauernkranz und weit zur Linken vom Maingrund her Schloß Banz und die Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen, lauter Perlen des Frankenlandes.

Noch aber liegt uns die Spielwarenhauptstadt näher, und wir möchten gern auch einen raschen Blick in ihre Vergangenheit werfen. Den ältesten Theil derselben zeigt unsere Abbildung nicht; er verliert sich in die Schlucht, welche die Berge des Hintergrundes bilden: dort hat die enge lange Gasse sich in den „Grund“ versteckt. Dieser am frühesten angebaute Theil hört jetzt da auf, wo die heute blühende Stadt anfängt.

Sonneberg ist keine alte Stadt von geschichtlicher Denkwürdigkeit. Erst zu Anfang des vierzehnten Jahrhunderts wird es als [298] „Städtlein an der Röthen unter dem Haus Sonneberg“ genannt. So hieß das feste Schloß, an das jetzt noch der „Schloßberg“ erinnert (unsere Abbildung zeigt uns die neue thurmgeschmückte Vergnügungsanlage auf demselben), und zwar hat es seinen Namen von der freien sonnigen Lage, nicht nach einem angeblichen fabelhaften Erbauer, der ein Frankenkönig Suno gewesen sein soll. Trotz der versteckten Lage fanden sowohl die Hussiten (1430 bis 1432), wie die Wütheriche des Dreißigjährigen Krieges das Städtchen, das von 1628 bis 1653 dreimal niedergebrannt und elfmal ausgeplündert wurde. Die Burg war schon 1505 durch Feuer zerstört und der Name längst auf das Städtchen übergegangen, das nach dem Krieg etwa 600 Seelen zählte. Bis 1735 gehörte es zu Coburg. Nachdem der beste Theil desselben sammt der alten Kirche am 27. August 1840 abgebrannt war, erhob es sich um so stattlicher und genießt seitdem eines so steigenden Wachstums, daß es jetzt über 10,000 Einwohner zählt und nahe daran ist, aus der zweiten an Einwohnerzahl die erste Stadt des Herzogtum zu werden.

Und nun scheiden wir vom ganzen waldesprächtigen Spielwaarenland und von seiner Hauptstadt. Wenn wir aber noch einmal an all die Berge und Thäler voll erfrischender Schönheit und die Menschen mit ihrem Fleiß, ihrem rastlosen Schaffen zurückdenken, so will in den Herzen der Alten und der Kinder ein tief empfundener Wunsch sich laut machen:

Möge dieser Industrie, die so recht einzig und allein im Dienste des höchsten Festes der Liebe und des Friedens steht, es beschieden sein, daß ein hochherziges Zusammenwirken von Vaterlands- und Menschenliebe den alten Kampf der Interessen mildere, wo nicht endlich beseitige! Möge diese herrliche Industrie immer frischer aufblühen, und wie sie am Weihnachtsabend bis in die ärmste Hütte Licht und Freude trägt, so möge Licht und Freude auch bei den Tausenden wohnen, die ihr tägliches Brod durch die Arbeit für unser beglückendstes Fest erwerben! Mögen nie in diesem Lande arme Eltern trauern und arme Kinder weinen müssen am heiligen Christfest! Möge eine dunkle Weihnacht unmöglich sein im Thüringer Spielwaarenlande! Friedrich Hofmann.     




Der chaldäische Zauberer.

Ein Abenteuer aus dem Rom des Kaisers Diocletian.
Von Ernst Eckstein.
(Fortsetzung.)


Drei Tage später empfing der chaldäische Zauberer ein dreifach gesiegeltes Schreiben folgenden Inhalts:

„Lydia an den glorreichen Olbasanus, den Vertrauten der Götter.

Ich weiß nicht, ob Du meiner Dich noch erinnern wirst. Ich betrat Deine Schwelle in Begleitung der blonden Syracusanerin, die durch Deine göttliche Weissagung vor dem schrecklichsten Unheil bewahrt blieb. Ihr Name ist Hero, und eine Tochter ist sie des würdigen Heliodorus, der im vorigen Jahr herüberkam nach dem Strande des Tiberis. Von Bewunderung erfüllt für Deine unerfaßliche Kunst, bittet Lydia um den Rath des Allweisen in einer ebenso schwierigen als wichtigen Angelegenheit. Diesem Brief kann ich die Einzelheiten nicht anvertrauen; Dein Haus aber aufzusuchen verbietet mir ein Fieber, das, ohne gefährlich zu sein, mich an’s Bett fesselt. Nimm also, würdiger Olbasanus, zum Entgelt für Deine Bemühung die dreihundert Denare, welche der Knabe Dir gleichzeitig mit dem Schreiben hier übermitteln wird, und komm, so eilig Deine Zeit es gestattet, in die Wohnung der Wißbegierigen. Du kennst das Haus mit dem korinthischen Portikus am Nordhange des cälischen Hügels. Laß mich durch den Sklaven erfahren, ob und wann mein ungeduldiges Herz Dich erwarten darf.“

Olbasanus nahm das Gold in Empfang und schrieb drei Worte auf einen der zahlreichen Pergamentstreifen, die zierlich zurechtgeschnitten und auf einander geschichtet in einer Wandblende seines Gemaches lagen. Es war noch früh an der Zeit – kaum eine Stunde nach Sonnenaufgang; die Arbeiten des Beschwörers jedoch begannen für die Regel erst nach dem sogenannten Prandium, dem zweiten Frühstück; ihre größte Ausdehnung fiel in die Abendstunden. So konnte er also „Ich komme gleich!“ antworten; – „denn“ – fügte er in höflicher Wendung hinzu – „Olbasanus weiß, daß doppelt giebt, wer da schnell giebt.“

Zwanzig Minuten später hielt die gold- und purpurstrotzende Sänfte des Chaldäers, von vier kohlschwarzen Nubiern getragen, vor dem Vestibulum des Heliodorus. Solche Besuche der Wahrsager und Beschwörer bei den vornehmen Römerinnen waren weder selten noch auffallend. Olbasanus allerdings verfuhr im Bewilligen dieser Gunst ziemlich wählerisch.

Der Caldäer ward am Thürgang von dem Obersclaven des Atriums ehrerbietig empfangen. Er möge verzeihen, daß Niemand von der engeren Familie des Hausherrn zur Stelle sei; Heliodorus aber halte sich seit mehreren Tagen, dringlicher Geschäfte wegen, zu Antium auf, und Hero, die Tochter, sei spät zur Ruhe gegangen und schlafe noch.

Olbasanus nickte mit der ruhigen Förmlichkeit eines Mannes, der solche Phrasen gewohnt ist, und ließ sich nach dem großen Wohnraum unter den Säulen des Peristyls führen, wo Lydia, auf einem ehernen Langstuhle ruhend, seiner gewärtigte.

Da er die Schwelle betrat, stand die junge Sicilianerin auf, begrüßte ihn mit großer Verlegenheit und lud ihn ein, ihr zu folgen.

Hinter dem Wohnraum befand sich eine fensterlose, eirunde Exedra (Salon), die ihr Licht von oben empfing – der eigentliche Raum für die plaudernde Geselligkeit, die so sehr von den Römern, auch von den späteren, gepflegt und geschätzt wurde.

In dieses traulich verschwiegene Gemach fuhrte Lydia den lächelnden Orientalen, der aus ihrer bangen Verwirrung die Bestätigung des errungenen Sieges und neue Triumphe für die Zukunft herauslas.

Kaum jedoch hatte die Flügelthür sich hinter Olbasanus geschlossen, als aus der gegenüberliegenden Pforte drei handfeste Germanen hereinstürzten, die ihn packten, wie die Meute den Wolf packt. Trotz seines verzweifelnden Sträubens ward er gefesselt; ein Knebel, den die flachshaarigen Friesen ihm zwischen die Kiefern schoben, ermöglichte ihm gerade zur Not noch das Athmen.

Gleichzeitig traten von der Seite her Cajus Bononius und der Centurio Philippus in die Halle der Exedra.

„Was rollst Du so die Augen, Beschwörer der Hekate?“ sagte Bononius. „Dem Vertrauten aller Geister der Ober- und Unterwelt wird es ein Leichtes sein, diese Stricke aus einander zu sprengen und die Missethäter, die ihn berührt haben, entseelt auf den Boden zu werfen.“

Trotz des herausfordernden Hohnes, den diese Worte bekunden sollten, hatte die Stimme des jungen Mannes gebebt. Die Blitze, die dem Orientalen unter den Wimpern hervorlohten, waren in der That so wild und dämonisch, und die Erinnerung an die Vorgänge in dem Zauberhaus am quirinalischen Hügel so frisch, daß Bononius den Ueberwältigten nicht ohne Erregung zu seinen Füßen erblickte; denn Olbasanus war im Ringen mit den Sclaven in die Kniee gesunken.

Auf einen Wink des Centurio Philippus traten die flachshaarigen Friesen jetzt durch dieselbe Thür zurück, durch die sie hereingekommen. Er selbst aber näherte sich dem Gefesselten, zog das Schwert aus der Scheide und sagte kurz und bestimmt:

„Du hast Dich eines fluchwürdigen Verbrechens schuldig gemacht. Erkenne in mir einen Führer jener bewaffneten Körperschaft, die berufen ist, über dem Wohl und Wehe der Bürger Wache zu halten. Ich könnte Dich jetzt ohne Weiteres in Haft nehmen. Dein Schicksal wäre unzweifelhaft; denn abgesehen von Deiner Missethat wider Lucius Rutilius und die Tochter des Heliodorus sind auch heute noch jene Edikte früherer Imperatoren [299] in Kraft, die den Chaldäern und Mathematikern den Aufenthalt in der Siebenhügelstadt bei Todesstrafe verbieten. Daß die Behörden lässig gewesen sind in der Ausführung dieser Edicte, daß eine Nachsicht gewaltet hat, für deren schädliche Folgen Du der beste Beweis bist, das thut wenig zur Sache. Dennoch – trotz all Deiner Ruchlosigkeit will ich Gnade üben, dafern Du zwei Bedingungen, die ich stellen werde, pünktlich erfüllst. Willst Du sie hören, wohlan, so gieb mir ein Zeichen!“

Olbasanus, der schon bei den Worten des Cajus Bononius gemerkt hatte, daß seine Rolle hier ausgespielt war, senkte nach einigem Zögern das Haupt, wie ein Mann, der sich in das Unvermeidliche fügt. Die Art und Weise des ruhig entschlossenen Kriegers ließ ihm keinen Zweifel darüber, daß Philippus seine Drohung verwirklichen würde.

Jetzt kam auch Lydia, die sich bis dahin abseits gehalten, einige Schritte näher und beschaute mit zaghafter Neugier das Antlitz des Zauberers, den sie trotz der hundertfältigen Zureden des Cajus Bononius noch immer für eine Art von übernatürlichem Wesen hielt.

Allerdings – die klägliche Unterwürfigkeit, die jetzt an Stelle der bisherigen Wildheit getreten, war ganz geeignet, diese abergläubische Bangigkeit zu erschüttern.

„Gut,“ sagte Philippus zu Olbasanus. „Ich befreie Dich von dem Knebel, auf daß Du reden kannst. Solltest Du schreien oder etwa versuchen, durch Zaubersprüche oder sonstige Narrheit dem jungen Mädchen hier Furcht zu erregen, so soll die Klinge Dir’s gehörig verleiden.“

So sprechend nahm er ihm den hemmenden Knäuel aus dem Munde.

„Meine Bedingungen,“ fuhr er fort, „sind einfach genug. Du merkst, Olbasanus, daß wir Deine unglaublichen Betrügereien in ihrem wahren Wesen erkannt haben. Gleichwohl fehlt uns noch für einzelne Deiner frevelhaften Künste der Schlüssel. Dieser Jüngling hier, der schon damals Deine Schwelle nur in der Absicht betrat, den volksbethörenden Tand Eurer Beschwörungen hinter dem Vorhang zu sehen, heischt für Alles, was Du angewandt hast, um die Tochter des Heliodorus und späterhin den Lucius Rutilius zu täuschen, eine vollständige und wahrheitsgemäße Aufklärung. Weigerst Du Dich, oder lügst Du, so schleppen unsere drei Germanen Dich heute noch nach dem Kerker. Desgleichen wirst Du uns den benennen, der Dich so zu verwerflichem Gaukelspiel ruchloser Weise erkauft hat. Die Leistung dieser Geständnisse ist meine erste Bedingung. Die zweite aber ist die: Noch vor Ablauf des Jahres verlässest Du Rom. Wende Dich meinetwegen nach Nicomedia oder Alexandria; wenn diese Städte Dich dulden wollen – und ein Mann von Deinem Auftreten bleibt ja nicht unbemerkt – so ist das ihre Sache. Hier aber in Rom, wo Du nicht nur eine mir gleichsam anvertraute Bevölkerung, sondern mehr noch: meine besten Freunde betrogst, hier stell’ ich Dir mein drohendes Schwert entgegen, und wehe Dir, wenn Du diese Drohung mißachten wolltest! Erfüllst Du nun, was ich Dir aufgebe, so sollst Du ungekränkt wieder entlassen sein. Erwäge Dir’s rasch und antworte ohne Umschweif!“

Olbasanus hatte mit dem Scharfblick des Orientalen die Situation alsbald überblickt. Er fühlte, daß es nicht Haß und Rache sei, was diese Männer wider ihn aufreizte, sondern einerseits die freundschaftliche Gesinnung für den schwer betrogenen Lucius Rutilius, andererseits die fiebernde Neugier, die Ursachen jener räthselhaften Wirkungen zu erkennen, die – er wußte selbst nicht, wie und auf welchem Wege – für Cajus Bononius den Charakter des Uebernatürlichen plötzlich eingebüßt hatten. So glaubte er denn, die Bedingungen, die man ihm stellte, mit Aufbietung einiger schauspielerischer Talente zu seinem Vortheil umgestalten zu können. Die Siebenhügelstadt zu verlassen, dünkte ihm kein allzu schmerzliches Opfer, denn seit lange schon hatte er in Erwägung gezogen, ob es nicht an der Zeit wäre, seine Reichthümer endlich zusammenzuraffen und der immer drohenderen Gefahr, die ihm aus den alten kaiserlichen Edicten erwuchs, durch ein Zurücktreten in die Stille des Privatlebens ein für allemal zu entgehen. Nur so lange mußte er unbehelligt bleiben, bis ihm dies Zusammenraffen, insbesondere auch die Verwertung seines beträchtlichen Grundbesitzes, seiner Güter und Landhäuser, in Muße geglückt sein würde. Er besann sich daher nicht lange.

„Alles will ich bekennen,“ sagte er mit halb ironischem Lächeln, „dafern Ihr Alle mir schwört, daß Ihr mein Geständniß ein halbes Jahr lang geheim haltet. Nur dem Lucius Rutilius und der Tochter des Heliodorus dürft Ihr’s enthüllen, falls auch diese Euch Schweigen geloben. Auch will ich die Siebenhügelstadt meiden, wie es der Centurio verlangt; doch erbitt’ ich als Gunst eine Zusatzfrist von einigen Monaten. Weigert Ihr’s“ – hier ward seine Stimme plötzlich ernst und grollend wie ferner Donner – „bei allen Schrecken des Todes – dann biet’ ich lieber meinen Nacken dem Beil des Lictors.“

„Gewähr’s ihm!“ sagte Bononius, der vor Ungeduld brannte.

Philippus war einverstanden. Er sowohl wie der junge Weltweise und Lydia leisteten einen heiligen Schwur. Dann hieß Bononius den Chaldäer, der sich nur mühsam bewegen konnte, auf einer polsterbelegten Ruhebank niedersetzen, um dem Frager streng der Wahrheit gemäß zu antworten. Er selbst stellte sich mit gekreuzten Armen der Ruhebank gegenüber. Philippus, das Schwert in der Faust, trat dem Chaldäer zur Seite, während sich Lydia athemlos über die Rücklehne eines bronzenen Armsessels beugte.

„Vor allem Anderen,“ hob Cajus Bononius an, „künde uns Eins: glaubst Du an die Existenz einer unterweltlichen Macht, eines Wesens, das verwandte Züge mit der Schreckensgestalt der vom Volke geglaubten Hekate hat? Eine Antwort auf diese Frage erscheint mir um deswillen werthvoll, weil ich erfahren möchte, ob Du’s gewagt hast, eine Gottheit, von deren Walten Du überzeugt warst, durch den Trug Deines Gaukelwerkes zu beleidigen.“

Olbasanus lächelte. Jetzt, da er sich einmal gefügt hatte, schien er die ganze Sache leicht zu nehmen und weltmännisch, dem Epikuräer vergleichbar, der auf dem Speisesopha des glanzerfüllten Tricliniums über den Tod plaudert.

„Herr,“ sagte er vornehm gelassen, „ich glaube, wenn nicht an Hekate, so doch an das Vorhandensein der gewaltigen Lücke, welche sie ausfüllt. Ich, der ich die Menschen kenne, wie ein Gärtner die Blumen, ich versichere Dich: Gewisse Dinge müßten von uns, den Begabteren, systematisch erfunden werden, wenn die Phantasie des Volkes sie nicht selber erschüfe. Inzwischen könntest Du die Güte haben, meine Fesseln zu lösen. Unsere beschworne Vereinbarung, Eure Ueberzahl und das Schwert dieses Centurionen lassen diese Gefälligkeit unbedenkich erscheinen, und es philosophirt sich angenehmer, wenn man körperlich kein Mißbehagen erduldet.“

Cajus Bononius nahm keinen Anstand, diesem Wunsch zu willfahren.

„Wohl,“ hub er wiederum an, da er den Magier aus der Verschnürung befreit hatte, „so leugnest Du überhaupt das Dasein überirdischer Wesen?“

„Ich leugne Nichts und behaupte Nichts. Diese Welt ist so räthselhaft, das Wesen der Dinge für unsere Geisteskräfte so unerforschlich, daß es Wahnsinn wäre, über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines Dinges, das nicht unmittelbar in unserer Erfahrung liegt, ein bestimmtes Urtheil zu fällen.“

„Das lasse ich gelten. Jetzt zu den Einzelheiten!“

„Frage nur!“

„Was bewog Dich, jene erste Botschaft an die Tochter des Heliodorus zu senden? Wer erkaufte Dich?“

„Erkaufte?“ wiederholte der Orientale. „Das klingt so unschön, Cajus Bononius! Das Prophezeien war mein bürgerliches Geschäft. Wer da zahlte, dem stand ich mit meiner Kunst zur Verfügung, wie jeder Andere, der ein Gewerbe treibt.“

„Wer also bezahlte Dich?“

„Agathon, der Sohn des Philemon.“

„Du aber trugst kein Bedenken, um des gleißenden Goldes willen das Glück zweier Menschen mitleidslos zu Grunde zu richten!“

Olbasanus zuckte die Achseln.

„Wenn Hero glaubte, daß es vom Schicksal also bestimmt sei, so war dies ein starker Trost für allen Schmerz der Entsagung. Uederdies – weißt Du denn, ob diese Verbindung ihr Glück war? Schob mein Orakelspruch sich dazwischen, trennte er die Beiden, die sich vereinigen wollten: nun, so war dies vom Schicksal in der That so gewollt: denn Alles, was da geschieht, ist streng nothwendig, und die Dinge reihen sich durchweg am unzerreißbaren Faden der Causalität auf. Sagst Du mir, mein Wahrspruch würde ihr Glück zerstört haben, so versetze ich Dir mit gleicher Zuversicht: er hätte sie vor Unglück behütet.“

[300] „Eine treffliche Logik, beim Hercules!“ fiel Bononius ihm in die Rede. „Aber streiten wir nicht! Agathon also erkaufte – oder bezahlte Dich. Gab er Dir seine Gründe an?“

„Ich fragte ihn nicht; aber da der Mann mir bekannt war, errieth ich sie. Ich wußte, daß Agathon seit mehreren Monden am Rande des Abgrundes steht, und da ich erfuhr, daß Hero eine der reichsten Erbinnen der Siebenhügelstadt ist …“

„Wie erfuhrst Du das?“

„Was Hunderte wissen, sollte das mir unbekannt bleiben? Nicht umsonst halte ich mir besoldete Kundschafter in allen vierzehn Regionen …“

„Gut. Du willfahrtest ihm also, schriebst an Hero und legtest ihr jenes geheimnißvolle Blatt bei, das sich auf so räthselhafte Weise mit schwarzer Schrift bedeckte. Wie erklärt sich das?“

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.


Deutschlands merkwürdige Bäume: 2) Die tausendjährige Linde in Puch bei Fürstenfeld. (Mit Abbildung (S. 293.) Es ist ein wenig bekannter Ort, den wir heute aufsuchen, um unseren Lesern wieder einen der merkwürdigen Bäume Deutschlands in Bild und Wort vor Augen zu führen. Das Dörflein Puch, auch Buch genannt, dürfte für viele unserer Leser ein „böhmisches Dorf“ sein, von dem sie nur das eine wissen zu müssen glauben, daß es irgendwo weit hinter den Bergen versteckt ist. Und doch liegt es in dem schönen Lande Baiern, und von dem, was in seiner Umgebung geschehen ist, erzählt uns nicht nur die Geschichte der Heiligen, sondern auch unsere deutsche Geschichte. Ueber die Wunder, die einst bei und in Puch sich zugetragen haben sollen, werden wir später berichten. Aus den Chroniken der weltlichen Ereignisse haben wir aber zunächst mitzutheilen, daß in der Nähe von Fürstenfeld Kaiser Ludwig der Baier am 11. October 1347, vom Schlagflusse getroffen, auf freiem Felde während einer Bärenjagd starb. Die denkwürdige Stelle ist leicht zu finden, denn auf ihr ist in späterer Zeit eine marmorne Spitzsäule errichtet worden.

Puch selbst ist dagegen durch seine tausendjährige Linde und die „selige Jungfrau Edigna“ in weiterer Umgebung bekannt. Wie man sich im Volke erzählt, hat die genannte Jungfrau, eine Tochter des Königs Heinrich von Frankreich, „die Reichthümer und Ehren dieser Welt verlassen, und nachdem ihr Gott den Ort ihres zukünftigen Aufenthaltes durch Stillstehung der an ihrem Wagen angespannten Ochsen, Läutung eines Glöckleins und Krähen des Gogelhahns wunderbar eröffnet, allhier in Puch, nächst dem Kloster Fürstenfeld, Cisterzienser-Ordens, in Baiern gelegen, unter einer Linde, welche noch zu sehen ist, ihre Lebenstage in höchster Armuth und Strenge des Lebens zugebracht, wo sie nach ihrem ritterlichen Kampfe den 26. Februar 1109 starb.“

Diese Legende veranlaßte wohl einen Unbekannten, im Jahre 1875 ein Schild an die Linde befestigen zu lassen, auf dem folgende Inschrift zu lesen ist

„Tausendjährige Linde

in deren Stamm die selige Edigna, Tochter des König Heinrich von Frankreich 351/2 Jahr lang ein Gott geweihtes Einsiedlerleben führte und am 26. Februar 1109 starb. Ihre Gebeine sind in dieser Kirche zur Verehrung aufbewahrt.“

Nach dem Tode der Einsiedlerin soll die alte Linde eine Eigenschaft besessen haben, die, wenn sie wahr wäre, den Baum nicht allein zu dem merkwürdigsten Deutschlands, sondern sogar zu dem wunderbarsten der Welt stempeln würde. Wir lesen nämlich gedruckt, daß unter den vielen Wunderzeichen, mit welchen die selige Jungfrau nach ihrem Tode leuchtete, eins besonders verdient angemerkt zu werden: „ein heilsames Oel, welches aus eben dieser Linde als ein allgemeines Mittel für unterschiedliche Umstände geflossen ist, aber wegen dem Geize derjenigen, die selbes verkauft haben, ausgeblieben ist“.

Diese Wundergeschichte wird, auf einem Blättlein in Bild und Wort gedruckt, unter dem Volke der Umgegend verbreitet, und so fehlt es nicht an Gläubigen, die andächtig zu der Kirche in Puch, zu der tausendjährigen Linde und zu der seligen Jungfrau Edigna wallfahren.

Wenn auch die runde und vollklingende Zahl Tausend nicht verbürgt ist, so kann man doch sicher annehmen, daß der Baum auf manches Jahrhundert herabgeschaut hat, und doch grünt und blüht der ehrwürdige Riese noch in jedem Frühlinge und in jedem Sommer – in seiner unverwüstlichen Kraft ein wahres Wunder in Gottes Natur.


Emil Denhardt, der bekannte Leiter der seit etwa zwanzig Jahren bestehenden Heilanstalt für Stotterer in Burgsteinfurt in Westfalen, ist am 22. März dieses Jahres im Alter von siebenundsiebenzig Jahren gestorben. Nur zu oft muß der Stotterer wohlfeilem Spotte als Zielscheibe dienen. Die vielen Hunderte, welche der Heimgegangene vom Fluche der Lächerlichkeit befreit hat, werden ihm daher gewiß ein dankbares Andenken bewahren. Die „Gartenlaube“ hat bei der Darlegung der ebenbürtigen und erfolgreichen Bestrebungen seines Sohnes Rudolf auf diesem Gebiete auch des Vaters (Jahrg. 1878, S. 215) ehrend gedacht.




Für die Ueberschwemmten am Rhein gingen nach Schluß der Sammlung noch ein: Von der kleinen Erna M. 16,05 (20 Franken); S. L. aus Wien in London M. 106,57 (5 Pfund Sterling 5 Schilling).



Kleiner Briefkasten.

L. Br. in Berlin. Die Frage, welche Sie hinsichtlich des in Nr. 10 der „Gartenlaube“ abgedruckten Artikels „Ueber Erziehung der Kinder zum Gehorsam“ an Herrn Dr. med. Schildbach hier gestellt haben, wünscht derselbe Ihnen brieflich zu beantworten, weil er den Gegenstand zur Behandlung in der „Gartenlaube“ nicht geeignet findet, und bittet Sie deshalb um Ihre Adresse.

P. A. in Hildburghausen. Sie haben Recht, bei der Anführung des Benton’schen „Dort ist der Osten“ (S. 262) an einen noch älteren vorhandenen Ausspruch zu erinnern. „Die Sonne der Freiheit geht im Westen auf“, so sagte schon in den ersten dreißiger Jahren Joseph Meyer in seinem „Volksfreund“, einer freisinnigen Zeitschrift, deren geharnischten Geist er später in seinem seiner Zeit weltbekannten „Universum“ fortwirken ließ.

J. B. in B. Daß Ihre Anfrage nicht beantwortet wurde, liegt nur daran, daß wir sämmtliche an uns aus allen Welttheilen gerichtete Anfragen unmöglich in unserem „Kleinen Briefkasten“ beantworten können und auch Ihre directe Adresse uns nicht bekannt war. Wiederholen Sie also gütigst Ihren Wunsch, aber nicht anonym, sondern unter Angabe Ihrer vollen Adresse!

E. K. in M. a. d. R. Gut gebaute Verse, aber als Inhalt die tausendmal dagewesene allegorische Spielerei über den Sieg des Lenzes.

J. E. in G. Wozu mit Ihrem geheimen Privatschmerze, der unerklärt bleibt, folglich Niemanden interessirt, Anderen das Frühlingsbild verdüstern?

Abonn. O. M. in C. Ihr Gedicht ist unwahr. Wer mit seinem Herzen und dessen Schmerzen so geschickt heineln kann, scheint sein Leid mit Plaisir zu ertragen.

Abonn. Verden. Im Wechsel des Metrums sehr frei, aber frischer und ehrlicher als die Vorgänger. Wir müssen wohl auch die allgemeine Frühlingsschilderung aushalten, aber die letzte Strophe lautet doch:

Wirf ab, was dich auch quälet,
Und laß den Lenz herein;
Alte Wunden heilen wieder
Maienglück und Sonnenschein.




manicula Einladung zum Abonnement manicula
auf die soeben erscheinende
Romanbibliothek der „Gartenlaube“
ca. 130 halbmonatlich: Lieferungen von 5–7 Bogen. 0 Elegant broschirt à 1 Mark 20 Pfennig.

In der „Romanbibliothek der ‚Gartenlaube‘“ empfängt das deutsche Publicum eine Muster-Unterhaltungs- und Hausbibliothek von bleibendem Werthe. Dieselbe wird enthalten:

E. Marlitt’s Erzählungen: Goldelse, Das Geheimniß der alten Mamsell, Die zweite Frau, Haideprinzeßchen, Reichsgräfin Gisela, Thüringer Erzählungen (Inhalt: Die zwölf Apostel, Blaubart), Im Hause des Commerzienrathes, Im Schillingshof, Amtmanns Magd;
E. Werner’s Erzählungen: Am Altar, Gartenlaubenblüthen (Inhalt: Ein Held der Feder, Hermann), Gesprengte Fesseln, Glück auf, Um hohen Preis, Vineta, Frühlingsboten;
W. Heimburg’s Erzählungen: Aus dem Leben meiner alten Freundin, Lumpenmüllers Lieschen, Kloster Wendhusen;
A. Godin: Mutter und Sohn; W. v. Hillern: Aus eigener Kraft; G. v. Meyern: Teuerdank’s Brautfahrt und E. Werber: Feuerseelen (Inhalt: Der Aërolith, Eine Leidenschaft, Ein Meteor, Der canadische Achilles, Charlotte Venloo, Pater Gregor).
Die Verlagshandlung von Ernst Keil in Leipzig. 


manicula Alle soliden Buchhandlungen Deutschlands, Oesterreich-Ungarns, der Schweiz und des weiteren Auslandes nehmen Bestellungen an und können eine Probe-Lieferung zur Einsicht vorlegen.



Unter Verantwortlichkeit von Dr. Friedrich Hofmann in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Vergl. „Gewerbe, Industrie und Handel des Meininger Oberlandes in ihrer historischen Entwickelung.“ Von Commerzienrath A. Fleischmann. (Hildburghausen 1878, S. 156)
  2. Durch Sanitätsrath Dr. Richter, dessen Anstalt die Curen auch im Winter fortsetzt.