Die Gartenlaube (1887)/Heft 20

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1887
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[321]

No. 20.   1887.
      Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.



Götzendienst.
Roman von Alexander Baron v. Roberts.
(Fortsetzung.)


„Famoses Plätzchen das!“ begann Mühüller zum Grafen Nachewski. „Eigentlich die richtige Seufzerecke und ich wundere mich, daß sie nicht à deux besetzt ist. Wie geht’s Ihnen denn?“ Das Letztere fügte er mit gedämpfter, fast zärtlicher Stimme hinzu.

„Danke! Danke! sehr gut! ausgezeichnet!“ stammelte der Gefragte hastig und ganz verwundert.

„Tanzen natürlich nicht? Wissen Sie, wenn man nicht müßte und die Leute es nicht verlangten – aber von einem Boxer weiß man es nicht anders, als daß er seine königlich preußischen Gliedmaßen zappeln läßt wie ein tollgewordener Hampelmann.“

Und wieder mit der zärtlichen Stimme: „Sie haben Pech gehabt, Herr Graf?“

„Scheußlich! Entsetzlich! – Zweiundvierzigtausend …“

Erschreckt fuhr er zusammen vor seinen eigenen Worten. Die Zahl war ihm entfahren, wider Willen einfach von den Lippen


Der Niagara im Dienste der Industrie.
Nach einem amerikanischen Entwurf gezeichnet von Rudolf Cronau.

[322] gefallen, wie einem Betrunkenen ja auch wohl ein Stock oder dergleichen aus der Hand gleitet. Er hatte die Zahl auf dem Herwege öfter vor sich hergemurmelt, und ihre Ziffern waren, während er sich mit den Andern unterhielt, wie eine gespenstische Verkörperung vor seinen Augen hin und her gehuscht. Jetzt war sie heraus – nun, aber auch das ist jetzt einerlei! Sie werden doch davon hören. Er wird die Spielschuld ja doch nicht bezahlen können und es wird – ja es muß etwas geschehen, was Allem ein Ende macht!

Mühüller machte mit dem Oberkörper eine suchende Wendung nach Jenem hinüber. Wieso? Was soll die Zahl? Was hat sie mit dem Unfall auf dem Eis zu thun? Aber gleich begann ihm eine Aufklärung zu dämmern. Mit einem angenommenen wichtigen Ton der Besorgniß sagte er:

„Sie dürfen dergleichen nicht vernachlässigen, Herr Graf; eine solche Verstauchung muß man ernst nehmen, sonst können Sie Monate daran leiden. Wir von der Turnerei verstehen uns darauf. Am besten ist Massage. Massage ist vorzüglich. Wir haben einen alten Sergeanten – ein geborener Doktor, er streicht Ihnen das Ding spielend weg. Er hat einen Daumen so breit wie ein Eßlöffel, aber er schafft Wunder damit. Darf ich Ihnen den Mann zuschicken – wo wohnen Sie doch noch?“

„Danke, danke, es wird schon von selbst vergehen.“

„Sonst recht gern!“

Plötzlich warf Mühüller in übertrieben gleichgültiger Weise die Bemerkung hin:

„Verzeihen Sie, Herr Graf, Sie nannten vorhin eine Zahl, etwas wie vierzigtausend; ich kann mich aber auch verhört haben …“

Nachewski grinste mit einem verschämten Lächeln, dabei erröthend wie ein junges Mädchen, dem man ein Liebesgeständniß ablocken will; seine runden Kinderaugen waren ängstlich gespannt.

Mühüller war neugierig, und er ließ seine Leute nicht leicht umverrichteter Dinge los. Er setzte also das Messer an und schnitt herzhaft zu.

„Gejeut? Hm?“

Und er drückte verschmitzt ein Auge zu und machte mit der hin- und herschlagenden Hand das bekannte Zeiehen für Hazardspiel.

Nachewski zuckte mit der einen Schulter.

„Und vierzigtausend? Wieso vierzigtausend?“

Nachewskt’s Augen flackerten auf; das Renommirgelüste eines Knaben flog ihn an, der einen besonders großartig gerathenen dummen Streich vollführt hat. Er nickte kurz.

Mühüller’s zugespitzten Lippen entfuhr ein lang aushaltender, gedämpfter Pfiff; er zog das rechte Bein mit beiden Armen hoch in den Schoß empor; dann das Bein immer noch festhaltend, die Lippen immer noch gespitzt, wiegte er sich mit dem Oberkörper nach vorn.

Nachewski saß wie zusammen gesunken, mit schlaff herabhängendem Kopf. Einen Augenblick nur – dann schnellte er empor – der verschämte Kinderausdruck war einer finsteren, unheilbedeutenden Verzerrung gewichen.

„Vierzigtausend,“ lachte er heiser, „hübsche Summe, wie? – Nicht die erste – derart. Vierzigtau…“ (sein Kopf wollte von Neuem herabsinken, er schien sich aber innerlich einen Stoß zu geben). „Heut’ – heut’ gerade – verteufelter Schneid, wie? – wie? – wie? (Er wiederholte das mit sich steigerndem Nachdruck.) Gerade heut’ die Vierzigtau… zu verpuffen! (Bei den ‚tausend‘ überfiel ihn jedesmal ein stoßartiges Schluchzen.) Erwarten ihn hier zu seiner Verlob… sitzt in einer Höhle und – und – Vierzigtau… Famose Ueberrasch… für den Herrn Schwieger… wie? – wie? – Wäre im Stande – auch die Vierzigtau… Vierzigtau… zu bezahlen – ein guter Kerl – vor drei Tagen hat er – erst – eben so viel – thut mir leid – thut mir wirklich leid –“

Und nach ein paar heftigeren Schluchzern, die ihm weh zu thun schienen: „Ach, genug der Scherze! – Es ist gut! Gut, daß der Teufel so fix war! (Das brachte er für seinen Zustand merkwürdig sicher heraus.) Hätte doch eines Tages kommen müssen! Es ist das Blut, wissen Sie – das Blut – es ist das Blut! Unser Verhängniß. Es ist das Blut, das Blut! Mein Großvater hat fast sein ganzes Vermögen in drei Tagen – heidi! Schoß sich eine Kugel vor den Kopf. Und ich glaube – ich glaube – ich thäte – ich könnte –“

„Herr Belzig ist ein sehr reicher Mann und sie haben Alle ein gutes Herz, diese Belzigs,“ fiel Mühüller gedehnt ein.

„Unmöglich! – Es ist gut so! es ist aus –“ stöhnte Nachewski.

„Sie müßten Jemandem, einem Ehrenmanne, der es gut mit Ihnen meint, das Versprechen geben, nicht mehr zu spielen. Ihr Wort meinetwegen – dann ließe sich ja noch ein Arrangement treffen.“

Eine Redensart, aber der brave Mühüller dachte wirklich einen Augenblick daran, was man wohl, thun müßte, was wohl die Menschenpflicht geböte, diesen Versinkenden mit seinen „Vierzigtau…“ doch noch zu retten.

Nachewski wiegte stumm und müde den Kopf, und seine Augen verschwanden fast gänzlich unter den düsteren Faltenwulsten seiner Brauen.

„Mehr als einmal – kann man – doch ein – solches – Wort – nicht geben –“ murmelte er dumpf mit gebrochener Stimme in sich hinein. „Ein Wort – ein Wort – es giebt deren, die keinen Sechser werth sind …“

Wieder entfuhr Mühüller’s Lippen ein pfeifender Ton, aber tiefer und kürzer diesmal.

Wieder fuhr Nachewski erschreckt empor. Was hatten seine Lippen soeben verrathen? – Doch nicht etwa das mit dem Ehrenwort?

„Ist es das?!“ sagten die sehr hochgezogenen, wagerechten Falten auf Mühüller’s Stirn. „Dann freilich …“ rief er und stockte.

Nachewski starrte ihn wie hilfeflehend an.

„Dann freilich!“ hub Mühüller von Neuem an, nachdrücklich, mit einem eisigen Ausdruck, der einem Dritten wohl einen Schauder erregt hätte. „Dann freilich thun Sie am besten …“

Nochmals hielt er inne. Es rauschte eben ein Paar durch das Boudoir, auf die Töne des beginnenden Walzers hin, der im Ballsaal angestimmt wurde. Eine blühende Frauengestalt, ganz in glänzendes Weiß gekleidet, und ein hübscher Herr mit einem glückseligen Lächeln. Sie unterhielten sich fröhlich und lebhaft. Nun verschwanden ihre Stimmen in dem allgemeinen Gesumme des Tanzsaales. Eine Engelserscheinung, die lichtvoll durch die gewitterschwüle Dunkelheit dieses Gespräches geschritten war.

Doch diese Erscheinung vermochte nicht, das, was Mühüller auszusprechen hatte, auf seinen Lippen zurückzudrängen. Er zögerte nur, und während dem schoß eine Erinnerung unheimlicher Art aus seinem Lieutenantsleben an ihm vorüber. Vor Jahren war von einem Kameraden des Regiments irgend eine Unehrenhaftigkeit begangen worden, die ihm die Epauletten verwirken mußte. Es stand ein Skandal für das Regiment bevor. Da beschlossen einzelne der Officiere in später Abendstunde, den Verbrecher zu veranlassen, sich selbst zu richten und so den häßlichen Makel von dem Officierkorps abzuwenden. Mühüller wurde dazu bestimmt, die sehr peinliche Ausführung dieses Beschlusses zu übernehmen Und er ging am Frühmorgen hin, trat in die dämmernde Schlafstube des Verbrechers und legte, nachdem er ihm den Beschluß der Officiere mit einer energischen Anrufung an das Restgefühl von Kameradschaft mitgetheilt, den geladenen Revolver mit einer feierlichen Verbeugung auf das Tischchen.

Und hier war es die große Kameradschaft aller Ehrenmänner, von der sich Mühüller beauftragt glaubte. Ganz trocken, in dienstmäßiger Nüchternheit, ohne mit den hellen Wimpern zu zucken, aber auch ohne Jenen anzusehen, sagte er:

„Dann freilich kann ich Ihnen nur dringend rathen, das zu thun, was Ihr Herr Großvater gethan. Pardon, daß ich auf diesen Herrn Bezug nehme …“

Und als Begleitung zu diesen Worten die schwungvollen Takte eines der bestrickendsten und poetischsten Strauß’schen Walzer, der da drinnen die junge Welt in Entzücken versetzte.

Als Nachewski nach einer guten Weile die Augen von den gepreßten Figuren der bronzeglänzenden Ledertapete gegenüber losriß, war Mühüller verschwunden. Er meinte gesehen zu haben, wie dieser eben an der Thüröffnung des Saales, eine Dame im Arm, mit lächelndem Gesicht vorübergeschwebt. Aber das, was Mühüller ihm vorhin gesagt, klang doch für einen [323] Scherz verteufelt ernsthaft. Und der Mann hat Recht – man kann nichts Besseres thun, als seinem Rathe folgen!

Darauf sah man Graf Nachewski sich noch mit verschiedenen Gästen unterhalten, ein paar Mal noch mühte er sich um Lolo, die von einer wahren Tanzwuth besessen schien. Er hatte sich einen Stoß gegeben, und er wollte seinen Abgang wenigstens äußerlich als Gentleman nehmen.

Mühüller hatte ihn nicht aus den Augen verloren: er fand ihn, als er einen Blick in das von blauen Rauchwolken erfüllte Herrenzimmer that, vor der einen Wand stehend, die Cigarre in der Hand und die dort aufgehängten Waffen sehr aufmerksam betrachtend. Er stutzte nur ganz kurz – es war ja nicht denkbar – das! – was denn? Nun, es hingen dort auch ein paar kostbare Prachtexemplare von Pistolen. Eine Dummheit – die alten eingerosteten Dinger sind höchstens gut dazu, einem Andern mit der Kolbe den Schädel einzuschlagen! Aber wie er ihn, der gekommen war, den Frieden dieses Hauses zu zerreißen und Schmach und Thränen über ein edles liebes Wesen zu verhängen, dort stehen sah, mit der Gluth seiner Cigarre die Waffen beleuchtend, da erfaßte ihn ein wilder Grimm, und mit aller Grausamkeit ausgerüstet, deren dieses enfant terrible fähig war, trat er hinter den Verbrecher und raunte ihm zu:

„Sind nicht geladen, die Dinger da – würden auch einen zu höllischen Lärm machen – und – die Damen können das Knallen nicht vertragen ...“

Bald darauf ward Graf Nachewski nicht mehr im Hause gesehen. Er mußte sich unbemerkt davon geschlichen haben.




11.0 Das Götzenopfer.

Eff ging in dieser Nacht nicht zu Bett. Es war ein gewisser Schuß, der das nicht duldete, ein Schuß, der vielleicht schon gefallen war hinter einem Busch des Thiergartens oder sonst irgendwo – die Schmach des Hauses Belzig, die vielleicht schon von sensationsgierigen Reportern aus irgend einem Winkel hervorgezerrt war, die vielleicht schon die hexenhaft schnellen Hände der Setzer durchglitten und in wenigen Stunden an dem vielarmigen Pranger der Tagesblätter aller Welt offenkundig zu lesen stände.

Das Fest war in einer gedrückten Stimmung versickert. Als Eff und Mühüller in nicht zu später Frühstunde nach Hause gingen, unterbrach Letzterer das Schweigen.

„Lieber Eff, möchte übrigens nicht versäumen, Sie zu avertiren. Thäte mir leid, wenn Sie und die dort überrascht würden.“

Er wies mit der Hand über die Schulter nach dem Belzig’schen Hause hin, vor dessen erleuchteten Fenstern sich scharfabgeschnittene fächerförmige Lichtstreifen in dem dichten Nebeldunst zeigten. Und Mühüller hatte dem Kameraden Alles ohne Umschweife offenbart.

Der Hauptmann blieb stehen.

„Sind Sie denn des Teufels?“ und er starrte seinen Begleiter ganz entsetzt an.

„Er braucht sich ja nicht todtzuschießen, wenn er nicht will,“ warf Mühüller trocken hin. „Mein Rath ist ja nicht maßgebend.“

Eff machte eine rasche Bewegung, er wollte sofort umkehren, sie dort im Hause benachrichtigen. Sein Platz war jetzt dort. Aber nach ein paar Schritten stutzte er wieder – besser doch, daß ein Versuch gemacht würde, dem Selbstmörder in den Arm zu fallen und ihm die Pistole zu entreißen. Vielleicht war es noch Zeit und der Schuß noch nicht gefallen. Vielleicht ließ sich irgend ein anderer Ausweg finden, der einem solchen Skandal vorbeugte.

Bald darauf befand er sich auf dem Wege nach dem kleinen Hôtel in der Jerusalemerstraße, wo Nachewski wohnte. Der aus dem Schlaf aufgetaumelte Hausknecht stand wankend, mit zufallenden Lidern vor dem Schlüsselbrett. „Nr. 38 nicht da!“ brummte er nach einer Weile.

Eff beschloß, draußen auf der Straße zu warten. Und er begann auf dem Trottoir der anderen Seite auf und ab zu patrouilliren, das Hôtel scharf im Auge behaltend.

Es war Thauwetter eingetreten; eine unbarmherzige eisige Nässe, die Alles einhüllte und Alles durchdrang.

Eff fröstelte und er rannte schneller auf und ab. Allerlei Gedanken stürmten mit ihm, aber das, was nicht zum Zweck dieses Patrouillirens gehörte, warf er immer wieder von sich. Schmach und Schande und Schreck und Schmerz drohen ihnen dort, mit deren Geschick das seinige durch unauflösliche Bande der Liebe und Treue verknüpft ist. Man muß sie retten vor dem Aergsten, vor dem Entsetzlichen! Sie sollen den Schuß nicht zu hören bekommen!

Einmal rief er laut vor sich hin: „Nein, er darf nicht fallen!“ – ein Ausbruch der Ungeduld über die Ohnmacht seines Beginnens. Denn das, was Jener vollführen will, kann er überall thun, und er braucht deßhalb nicht des Morgens zwei Uhr die drei Treppen zu seiner Zimmernummer hinaufzusteigen.

Aber es muß doch etwas geschehen! Die Grenze, die er sich für seinen Patrouillengang gesteckt, wurde immer mehr eingeengt durch die wachsende Dichtigkeit des Nebels. Nun rannte er nur noch die Länge von fünf, sechs Häusern ab, damit er das Thor des Hôtels nicht aus dem Auge verlor. Er horchte immer gespannter. Thüren und Thore wurden geöffnet und mit dumpfem Dröhnen zugeschlagen, er hörte den Nachtwächter in der Ferne pfeifen und dann wieder in der Nähe mit dem Schlüsselbunde klirren. Lauthallende Gespräche kamen näher und verschwanden wieder in der grauen Nacht.

Wie unsinnig dieser Patrouillendienst! Es ist zu spät – und die unselige That bereits vollbracht! So muß man die Folgen wenigstens abzuschwächen suchen, so muß es erreicht werden, daß dieser Schuß nicht in allen Tagesblättern wiederhallt! Und Eff beschloß, nach dem Molkenmarkt zu eilen und an der Centralstelle, wo die Meldungen der Unglücksfälle und Missethaten einmünden, ein gutes Wort anzubringen.

Das Ansuchen in dem betreffenden Bureau wurde selbst ihm, der doch an die richtige Fassung solcher Dinge gewöhnt war, nicht ganz leicht, und der Wachtmeister, der sich bei dem Klirren der Sporen von dem grellbeschienenen Pulte, an dem er schrieb, aufrichtete und vor der imposanten Erscheinung des Hauptmanns zu einer militärischen Haltung zusammenzuckte, sah ihn unter seinen buschigen Augenbrauen hervor groß an. Und sie sind hier doch gegen jede Art von Ueberraschung abgehärtet.

„Ich wollte also gebeten haben,“ wiederholte Eff etwas bestimmter, „daß, wenn es angängig, eine gewisse Meldung über den plötzlichen Tod eines gewissen Herrn, falls sie eingeht, so lange wie möglich geheim gehalten werde. Ich habe Ursache anzunehmen, daß der Betreffende – und es lag nicht in der Macht seiner Freunde, ihn daran zu hindern …“

Der Beamte nickte – er verstand schon.

„Herr Hauptmann müßten freilich die Güte haben, uns den Namen anzugeben, damit wir uns orientiren können.“

Es klang ganz geschäftsmäßig, als handele es sich um eine veränderte Wohnungsadresse.

Eff stutzte kurz und ein schwerer Athemzug hob die breite Wölbung seines Brustkastens. Dann trat er näher an das Pult heran und flüsterte den Namen.

„Graf Na – c – h, nicht wahr? –chewski,“ wiederholte der Wachtmeister, indem er den Namen auf einen abgerissenen Fetzen Papier warf.

Da erhob sich Lärm im Flur. Irgend ein betrunkener Uebelthäter, der sich dem gewaltsamen Transport mit heiseren Flüchen und Drohungen widersetzte. Nun erschütterte die Thür unter dem heftigen Anprall eines Körpers.

Der Beamte ging um nachzusehen, kam aber gleich mit einem verständnißvoll lächelnden Nicken seines rauhbärtigen Gesichtes, die Feder in Brusthöhe erhoben, zurück.

Eff starrte den Namen auf dem Papierfetzen an, der mit so erschreckend deutlichen Zügen dort stand. Auf einem Leichenstein konnte der Name nicht deutlicher prangen. Und es war ja noch nicht einmal gewiß …

Der Wachtmeister unterbrach ihn in seinen Gedanken.

„Herr Hauptmann müßten auch noch die Güte haben, das Signalement näher anzugeben. Mit dem bloßen Namen ist es eine unsichere Sache, wir möchten doch eine Verwechselung vermeiden.“

Eff sah das sofort ein, dennoch zögerte er wieder. Ein Schauder überlief ihn: eine Art Steckbrief, der Jenem über die verhängnißvolle Grenze, Tod genannt, ausgestellt werden sollte – und man weiß doch nicht einmal, ob der muthmaßliche Flüchtling [324] wirklich schon die Grenze überschritten, ob er überhaupt die ernstliche Absicht hatte, dies zu thun.

Aber die Vorsicht gebot also, und der Beamte setzte, ganz nach der bureaumäßigen Schablone, Statur, Gesicht, besondere Kennzeichen u. s. w., das ganze Signalement auf den Leichenstein des Papierfetzens.

Eff fand die Luft in dem Raume plötzlich zum Ersticken schwül und eilte hinaus.

Um die neunte Morgenstunde fand er sich bei den Belzigs ein, um diese auf Alles vorzubereiten.

Das Haus war noch weit in seiner Toilette zurück. Eine trübe Katzenjammerstimmung erfüllte seine Räume. Die Bedienung war unter Friedrich’s Oberkommando mit Putzen und Räumen beschäftigt, große Stöße von Geschirren und Körbe voll Gläsern wurden geschleppt; mitten auf dem verkratzten Parquet des Vorsaales lag ein Haufen von allerlei Herrlichkeiten zusammengekehrt: vergessene und zerzauste Blumensträuße, abgerissene Ranken künstlicher Blumen, Fetzen von Spitzen und Rüschen, Bänderchen und Flitter, zerfaserte und aufgerollte Menükarten, ein Ordensstern vom Kotillon – fährt nicht so das Schicksal mit seinem großen Besen in die Illusionen und Ideale der Menschlein hinein, die Bruchstücke und Fetzen im Vorsaal auf einen Haufen zusammenkehrend? Die Fenster standen offen und die eisig feuchte Luft wehte herein, ein unangenehmer Duft von verwelkten Blumen und Staub und abgestandenen Getränkresten zog umher.

Friedrich geleitete den Hauptmann in ein eiligst aufgeräumtes Boudoir, die Kälte des Raumes entschuldigend, aber die Luftheizung hätte am Morgen ihren Dienst versagt.

Endlich erschien Frau Belzig. Sie war gegen die Kälte in einen Pelz gehüllt, wie zum Ausgehen bereit, und sie sah darin unförmlich aufgedunsen aus, das Antlitz trug das rücksichtslose Negligé einer in Kummer und Thränen verbrachten Nacht, und die zerzauste Unordnung der sonst so peinlich korrekten Koiffüre war nur nothdürftig durch ein in der Hast aufgestülptes Häubchen verdeckt.

Sie kam mit ausgebreiteten Armen auf den Hauptmann losgewankt, blieb aber dicht vor ihm stehen, ohne die Umarmung auszuführen.

„Welch’ eine Geschichte – welch’ eine Nacht!“ rief sie jammernd; der sonore Alt ihrer Stimme schien in der Nacht vom Roste gelitten zu haben. „Mein lieber Herr Lieutenant, welch’ eine Geschichte!“

Sie dachte weder an den Hauptmann, noch an den Schwiegersohn.

Er erschrak – war es denn geschehen? Hatten sie schon Nachricht?

„Ich bin ganz krank, ich bin ganz elend –“ und sie ließ die erhobenen Arme schwer und schlaff herabfallen. „Wir haben kein Auge zugethan. Es ist zuviel! Es ist mehr, als man ertragen kann!“

Sie ließ sich in einen Fauteuil sinken, und zwischen den Wimpern funkelten große Thränen.

„Daß auch uns dergleichen passiren mußte! Welch’ ein Skandal! Welch’ eine fürchterliche Blamage!“

Sie schluchzte in die Höhlung ihrer Hände hinein und sprach dann, sich fassend, das Taschentuch gegen die Augen tupfend:

„Verzeihen Sie, daß man Sie so empfängt! Mein Mann ist im Thiergarten, das Laufen ist seine einzige Rettung – aber woher wissen Sie denn? … Es ist aus! Es ist Alles vorbei – diese Blamage, o diese Blamage!“ jammerte sie von Neuem in sich hinein, ohne Eff’s Antwort abzuwarten.

Dann, in einem heftigen Bedürfniß nach Trost, streckte sie ihm die Hand hin. Er bückte sich und erhob sie zu seinen Lippen. Die Hand war weich und schlaff und ohne Halt.

„Theuerste Mama …“ stammelte er.

Das Wort rüttelte sie auf.

„Theuerste Mama …“ ah, sie besaß ja noch einen Schwiegersohn! Ihre in Thränen schwimmenden Augen flehten ihn an: nicht wahr, er würde Alles wieder gut machen? Ihre Hand schien plötzlich wieder Knochen bekommen zu haben, und sie hielt Eff’s Rechte damit krampfhaft, wie hilfesuchend, umklammert.

„Wie gut Sie sind! Kommen Sie! Bleiben Sie! Setzen Sie sich! Gehen Sie nicht fort! Sie müssen uns beistehen! Sie sind unsere einzige Zukunft jetzt. Ich bin schlecht gegen Sie gewesen – wollen Sie mir verzeihen …?“

Daß er nicht wüßte! Er wollte sich jetzt gar nicht erinnern, nicht eines Momentes, wo sie schlecht gegen ihn gewesen sein sollte.

„Ich habe schon Schritte gethan, um dem ersten Skandal vorzubeugen,“ sagte er, um sie zu beruhigen. Uebrigens war die Aufregung seiner Schwiegermama nicht derart, als wenn das, was geschehen sein sollte, schon geschehen war und sie hier im Hause etwa schon Kunde hätten. Es schien nur der Mißklang des gestrigen Abends, der in ihrem Jammer austönte.

„Aber woher wissen Sie denn schon? Sie ahnten es wohl und da sind Sie schon! Natürlich, es läuft Nichts schneller herum, als ein Unglück.“ Und Frau Belzig begann zu erzählen: „Die Gäste waren schon fort, wir berathschlagten mit Perkisch, was zu thun sei. Mein Mann sagte: nein! man müßte diesem – diesem – ah, ich bringe den Namen nicht mehr über die Lippen! – man müßte ihm die Thür weisen, wenn er sich nochmals zeigte. Perkisch suchte ihn noch zu vertheidigen. Ich war ganz außer mir. Man muß doch retten, was zu retten ist, und wenn man eine Blamage vermeiden kann … Da war aber plötzlich Lo herangetreten, zieht den Ring vom Finger, sagt kein Wort und legt ihn einfach dort auf den Deckel des Flügels. Sagt kein Wort und sieht uns nur groß an – wahrhaftig, die Sache kommt ihr fast komisch vor. ‚Aber Lo! Lo, was thust Du?‘ ruf’ ich vor Schreck. Doch nur eine lustige Miene und ein stummer Blick auf den Ring. Dann ging sie hinaus. Erst hätte ich sie züchtigen können; nun geb’ ich ihr Recht – sie ist brav und stolz, wir können von ihr lernen. Aber dies impertinente Gesicht von Friedrich, als er uns eine Stunde darauf, da wir uns ins Schlafzimmer begeben wollten, den Ring auf dem Silberteller präsentirt – er wäre wohl vergessen worden auf dem Klavier und würde leicht beim Aufräumen verloren gehen. Ich hatte Lust, den Ring zu nehmen und … und …“

Sie schlug den Pelzmantel aus einander und warf ihn dann mit einer wüthend ausholenden Gebärde um den Leib.

„Die Auseinandersetzung mit Perkisch gab mir natürlich den Rest. Sie ahnen nicht, Sie glauben nicht, welcher Behauptungen dieser Herr fähig ist. Es ist besser, daß Sie nie erfahren, welche Art Freundschaft diesen Herrn mit dem – nun mit ihm! (heftig ausstoßend) verbunden. Ich war harmlos wie ein Kind gewesen. Wahrhaftig, das hatte ich mir nicht träumen lassen! Und nun die Unverschämtheit, zu behaupten, daß ich, ich selbst … ah, genug davon! Ich darf nicht daran denken, ich komme noch von Sinnen. Natürlich wird Perkisch unsere Schwelle nicht mehr betreten. Natürlich ist er lachend abgezogen – natürlich haben wir ihm ein Pflaster von ein paar Tausend auflegen müssen; er wäre im Stande, das tollste Märchen über diese Grafenaffaire in Umlauf zu setzen.“

Da öffnete sich die Thür und Herr Belzig trat ein, athemlos vom Laufen, er schien ebenfalls seit der Nacht zusammengefallen zu sein, sein fahles Antlitz leuchtete auf, als er Eff’s ansichtig wurde.

„Ah! Sie hier!“

Gottlob, ein Halt in dem zusammenstürzenden Jammer dieser Stunden! sagte sein langer und kräftiger Händedruck.

„Lieber Otto – Du bist sehr lange geblieben. Du solltest doch nicht zuviel laufen,“ klang Frau Belzig’s weinerliche Stimme.

Es war ein Anfall von zärtlicher Weichheit, der sie selbst zu überraschen schien. Aber sie streckte die Hand, die sie ihm hinreichen wollte, wirklich aus. All’ ihre Festigkeit hatte sie verlassen, und sie tastete überall nach Hilfe und Trost umher.

„Hast Du Dich ein wenig beruhigt, liebe Bella?“ fragte Belzig dankbar, mit dem zärtlichsten Ton, dessen er fähig war. „Schlafen die Mädchen noch?“

„Wir wollen sie schlafen lassen, die armen Dinger. Schlafen ist das Beste. Ich wollte, ich könnte Alles, Alles verschlafen. Aber es muß überlegt werden. Lieber Walther, nicht wahr, Sie helfen uns? Sie verlassen uns nicht?“

„Lieber Walther“ – es war das erste Mal, daß Frau Belzig den Bräutigam ihrer Tochter beim Vornamen genannt. Sie hatte bisher eine Schranke zwischen sich und ihm gefühlt, die ihn von ihrem Herzen trennte, aber jetzt war diese gefallen. Mit solchem unerhörten Fanatismus betrieb sie den Götzendienst, daß sie jetzt in dieser Stunde, da die Grafenkrone eben hinter dem Horizont ihres Ehrgeizes hinabgeschossen war, schon ein anderes Krönchen, eines von dauerhafterem Glanz und soliderer Arbeit aufschimmern sah. Und Eff, der brave Eff würde nicht zögern, ihr das Krönchen darzureichen.

[325]

Nach langer Trennung.
Nach dem Oelgemälde von Hermann Papst.

[326] Man überlegte, was zu thun war, wie diese Entlobung zu insceniren sei. Und man kam überein, daß ein Luftwechsel für Lo jetzt am leichtesten über die erste Verlegenheit hinüberhelfe. Eff bot ein mehrwöchiges Asyl bei seiner guten Mama an. Er wollte die Schwägerin selbst bis nach Erfurt geleiten, so dringend auch sein Dienst ihn an Berlin fesselte. Mühüller solle inzwischen der Familie als Beistand bleiben.

Zuvor hielt er jedoch eine Andeutung dessen, was kommen könnte, für geboten.

„Ich hoffe,“ sagte er, ein wenig kleinlaut, mit erkünstelt ruhigem Ton, als gälte es nur eine eigene schwarzseherische Vermuthung zu beschwichtigen, „ich hoffe, wir werden keine Ueberraschungen zu erwarten haben. Aber man muß auf das Schlimmste gefaßt sein.“

„Wieso?“ fuhr Frau Belzig aus ihrem Pelz empor. „Was soll denn noch …? Was könnte nun noch geschehen?“

Sie zuckte mit einer entrüsteten Geste die massiven Schultern. War denn das nicht schon des Welterschütternden genug?

„Nach einer Andeutung, die – er fallen gelassen haben soll, ist ihm Alles gleichgültig – auch das Leben – gerade das! Und ich fürchte, ich fürchte – wir könnten jeden Augenblick durch etwas sehr Unangenehmes überrascht werden …“

„Nun – nun! Was denn?!“ brauste Herr Belzig auf. „Es geht ihm ja doch ungeheuer gut. Man hat ihm seine Schulden bezahlt (er lächelte bittersüß, mit einem raschen Seitenblick auf seine Gattin). Er steht ja groß da! Ich dächte, er hätte keine Veranlassung, sich gerade jetzt todtzuschießen – das meinen Sie doch?“

„Todtzuschießen – was? Hahaha!“ rief Frau Belzig ganz empört, daß Jemand ihm den Muth zu solchem Entschluß zutrauen könnte. „Er hat nicht die Kourage! Der!“

Der ganze Haß platzte mit der Silbe heraus. „Er hat einfach nicht die Kourage – hahaha!“

Es war wieder der frühere sonore, rostfreie Alt. Und Eff zog es vor, einstweilen die Gründe zu verschweigen, die einen Kavalier, oder Jemanden, der es gewesen, veranlassen könnten, sich todtzuschießen.

Am Abend, als der Hauptmann mit Lo schon nach Erfurt abgefahren war, trat Frau Belzig, von einer Ausfahrt kommend, in Belzig’s Allerheiligstes. Sie fand den Unzerreißbaren auf dem hohen Drehschemel sitzend und die Beine mit einer Künstlichkeit, die einem Gummimenschen in den Reichshallen Ehre gemacht hätte, um das Bein des Schemels verschlungen. Er hatte beide Ellenbogen aufgestützt auf ein Kontobuch und nur das Gesicht hob sich bei ihrem Eintritt empor, während die Ellenbogen in ihrer Stellung verharrten. Ein so eigenthümliches Grinsen belebte die zahlreichen elastischen Falten seiner Züge.

„Nun, Belzig?“

Er nickte ihr zu, sie möchte einmal näher treten. Zögernd folgte sie. Er klopfte mit den Knöcheln der geschlossenen Faust auf die Seite des Kontobuches.

„Hier!“

„Was denn?“

„Ich habe nur einmal einen kleinen Ueberschlag gemacht – was uns denn eigentlich Dein Graf gekostet. Hier –“

Er griff eine der Probefiguren eines neuen Puppenspiels, die stets auf seinem Pulte Parade standen, und strich mit dem Ding die Zeilen entlang – „hier die Schulden, Perkisch und Alles.“

Dann die Ziffernreihen mit der Figur herabklopfend, als wären es die Stufen einer Treppe, blieb er auf der Endsumme halten. Diese war besonders kräftig geschrieben: man sah den Federzügen die Wuth an, mit der sie hingemalt worden waren.

„Summa Summarum acht – und – fünfzig – tausend hat uns der Scherz mit dieser Grafenkrone gekostet!“

Mit dem grimmigsten Lächeln, mit einem ganz widersinnigen Ausdruck schadenfrohen Triumphes buchstabirte er ihr die Summe, die sie für den Namensgötzen bereits als Opfer gebracht, ins Antlitz.

(Fortsetzung folgt.)




Der Schiffer von altem Schrot und Korn.

Ein Lebensbild von Eduard Mehl.

Zu denjenigen Menschentypen, welche durch die fortschreitende Kultur und besonders durch den Nerv des Jahrhunderts, durch „Meister Dampf“, verdrängt werden, gehört auch der „alte Schiffskapitän“. Nicht als ob es künftig keine Schiffskapitäne und zwar tüchtige Schiffskapitäne geben werde! Aber der moderne Dampfschiffskapitän ist doch zu sehr das Kind der Alles nivellirenden Gegenwart, als daß er sich durch auffällige charakteristische Züge von andern Menschenkindern unterscheiden sollte. Anders der alte Segelschiffskapitän. Wer in unseren großen Hafenplätzen ist ihnen nicht begegnet, den wettergebräunten, breitschulterigen Gestalten mit dem selbstbewußten, derben, etwas schroffen Auftreten! Meist aus den einfachsten Verhältnissen hervorgegangen, ohne eine nennenswerthe Schulbildung aufgewachsen, ist der alte Schiffskapitän der richtige selbstgemachte Mann, der Alles, was er ist und besitzt, sich selber zu danken hat: eine Figur von so markirtem Gepräge, daß es sich wohl der Mühe verlohnt, dieselbe zu zeichnen und festzuhalten, bevor sie von der Bildfläche ganz verschwindet. Der geneigte Leser mag bei dieser Gelegenheit zugleich einen Blick thun in das eigenartige Leben und Treiben der Bewohner jener weltabgeschiedenen Küstenstriche, wohin sich bis noch vor einem Jahrzehnt nur höchst selten der Fuß eines Touristen verirrte. In jenen äußersten Vorlagerungen der Ostsee, auf der Insel Zingst, der Halbinsel Dars, dem mecklenburgischen Fischlande, ist der Schiffer von altem Schrot und Korn zu Hause. Dort findet ihn noch heute der jene Gegenden aufsuchende Badegast, meist freilich als einen Mann, der des Lebens Kämpfe bereits hinter sich hat und von seinen Renten lebt.

Schon bei der Geburt unterscheidet sich der künftige Weltumsegler von den meisten übrigen Sterblichen insofern, als bei derselben in der Regel nur die eine elterliche Hälfte, die Mutter, zugegen ist, während der Vater fern der Heimath seinem Berufe nachgeht. Erst nach Wochen, vielleicht erst nach Monden, findet derselbe bei seiner Ankunft im Bestimmungshafen die briefliche Nachricht von dem erfreulichen Familienereigniß vor. Der junge Weltbürger zu Hause muß sich ohne väterliche Pflege behelfen, gedeiht aber trotzdem in der Regel vortrefflich. Er durchschreitet alle Stadien der kindlichen Entwicklung unbeirrt, allein von mütterlicher Hand geleitet, und wenn der Vater, oft erst nach jahrelanger Abwesenheit, die Heimath und die Seinen wieder aufsucht, so findet er einen ganzen fertigen Burschen vor, dessen nähere Bekanntschaft er freilich erst zu machen hat. Auf ein Eingreifen in die Erziehung verzichtet der Vater, der vielleicht nach wenig Wochen die Seinigen wieder verläßt, grundsätzlich, da ihm das Nutz- und Erfolglose einer solchen Maßregel einleuchtet. Aber auch die Mutter beeilt sich durchaus nicht, die Natur zu verbessern; ihre Erziehungsprincipien sind die denkbar liberalsten. So wächst der Junge in einer Ungebundenheit und Naturwüchsigkeit heran, wie es anderswo bei den heutigen Kulturvölkern kaum noch vorkommen dürfte. Auch bei der körperlichen Pflege wird jeder Luxus vermieden. Hemd, Hose und Jacke sind diejenigen Bekleidungsstücke, welche trotz des rauhen Seeklimas für den größten Theil des Jahres ausreichen. Erst wenn der erste Schnee fällt, findet eine Bekleidung der Füße mit Strümpfen und Holzpantoffeln statt.

Der Spielplatz der heranwachsenden Jugend sind die großen freien Dorfplätze mit ihren Wassertümpeln, auf denen der Knabe seine selbstgebauten Schiffchen segeln läßt, und der Meeresstrand, wo er Muscheln und Bernstein sucht. So wird der Junge sechs, sieben Jahre alt, und es kommt für ihn die Zeit, wo mit dem Eintritt in die Schule die Lebensplage ihren Anfang nimmt. Die Mutter überweist ihn – einer alten Frau, die sich mit „Schulhalten“ abgiebt und an welche, was Kenntnisse und pädagagische Einsicht betrifft, keine besonderen Ansprüche gemacht werden. Mit neun Jahren hat der Schüler es bis zu einiger Uebung im Buchstabiren und Zusammenzählen gebracht; die Lesefertigkeit und die Kenntniß des Einmaleins sollen in der eigentlichen Dorfschule, der er nun überwiesen wird, erworben werden. – Diese Klasse wird von [327] hundert und mehr Kindern beiderlei Geschlechts besucht und begnügt sich mit den allerbescheidensten Leistungen.[1] Unser Freund zeichnet sich vor seinen Altersgenossen keineswegs aus, wie er denn überhaupt wenig geneigt ist, den Werth von Schulkenntnissen hoch anzuschlagen. Er hält es für ersprießlicher und unterhaltender, sich durch praktische Uebungen auf seinen künftigen Beruf vorzubereiten. Er benutzt alle freie Zeit, um Schiffe zu schnitzen, dieselben mit Takelage, deren Bestandtheile und Zusammensetzung ihm bereits genau bekannt sind, zu versehen und mit diesen Fahrzeugen zu manövriren. Er unternimmt auch wohl auf den Böten der Fischer und Fährleute mit seinen Kameraden selbständige Segelpartien, bei denen Unglücksfälle selten sind. So kommt der Zeitpunkt der Einsegnung heran, mit welchem er die Schule verläßt. Die Wahl eines Berufs macht ihn nicht verlegen. Daß der Junge zur See geht, ist selbstverständlich. Eines guten Tages kommt er nach Hause mit der gleichmüthigen Mittheilung, daß er sich bei dem Schiffer N. N. „festgemacht“, d. h., daß er sich bei demselben als Schiffsjunge verheuert habe. Was anderswo Sache des Vaters oder des Vormundes ist, nämlich die Aufsuchung eines geeigneten Lehrherrn, das besorgt unser angehender Seemann allein, schon frühzeitig stellt er sich auf eigene Füße. Die Mutter hat nun für eine passende See-Ausrüstung zu sorgen, welche aus einigen derben wollenen Anzügen, je einem Paar starken Stiefeln und Schuhen und dem „Oelzeug“ (einem in Oel getränkten Leinenanzug zum Ueberziehen bei Regenwetter und stürmischer See) besteht und je nach den vorhandenen Mitteln mehr oder weniger komplet ausfällt.

Endlich ist Alles „klar“ (in Ordnung); der Schiffer „mustert“ (nimmt kontraktlich in Dienst) bei der zu diesem Zwecke in jedem Hafenorte eingesetzten Musterungsbehörde seine Besatzung, als deren letztes Mitglied unser Schiffsjunge aufgeführt ist. Dieser bekommt eine „Monatsheuer“ (Lohn) im Betrage von 9 bis 12 Mark vorausbezahlt und trinkt sich, um seine Mannhaftigkeit zu dokumentiren, den ersten Rausch. Im Hafenorte, wo das Schiff in Winterlage gelegen, angekommen, begiebt sich die ganze Besatzung sofort an Bord, um das Schiff in seefertigen Zustand zu setzen; unser Schiffsjunge erhält seine „Koje“ (Schlafstelle) angewiesen und wird vom Steuermann mit seinen Obliegenheiten bekannt gemacht.

Es beginnt nun für unsern Helden eine Zeit, während welcher er nicht gerade gut gebettet ist. Das Los eines Schiffsjungen ist kein beneidenswerthes. Jeder an Bord, vielleicht mit alleiniger Ausnahme des Kapitäns, glaubt das Recht zu haben, sein Müthchen an dem Jungen zu kühlen. Wo etwas nicht in Ordnung ist, der Junge hat die Schuld, wo etwas vermißt wird, der Junge hat’s verlegt. Da giebt es Knüffe und Püffe ungezählt, und leider liegen die „Enden“ (Schiffstaue) überall auf Deck bei der Hand, und mit einem solchen Ende läßt sich von geübter Hand ein recht empfindlicher Hieb austheilen. Dabei werden dem armen Kerl alle möglichen und unmöglichen Dienstleistungen und Handreichungen zugemuthet. Bald wird er „oben“ (im Mast), bald unten, bald vorne, bald „achter“ (hinten auf Deck) verlangt. „Viel Arbeit, viel Schläge,“ so lautet für ihn die Devise. Den Knaben aus dem Binnenlande dürfte eine solche Lage verzagt und muthlos machen; der Sohn der Küste läßt’s mit stoischem Gleichmuth über sich ergehen. Er ist aus anderem Holze geschnitzt, er kann schon einen Hieb, und zwar nicht bloß in figürlichem Sinne, vertragen. Der Trost, der nach einem bekannten lateinischen Ausspruch in dem Besitze von Leidensgefährten enthalten sein soll, erweist sich auch bei ihm wirksam. Er weiß, seinen Kameraden, den übrigen Schiffsjungen, ergeht es nicht besser. Er tröstet sich, wenn’s Hiebe hageldicht setzt, mit dem Vorsatz: du wirst es heimzahlen. Diese Drohung ist aber nicht an seine Peiniger adressirt. Keineswegs! Seine Rachegefühle sind mehr auf die Zukunft gerichtet. Er denkt dabei an seine Nachfolger, an die Jungen, die später unter seine Finger gerathen werden, und er hält Wort.

Aber wie überall im Leben, so gehen auch hier die guten wie schlechten Tage vorüber, und die Lehrzeit nimmt ein Ende. Das Schiff kehrt nach mehrjähriger Abwesenheit, während welcher unser Held Gelegenheit gehabt hat, eine Anzahl großer Hafenstädte in fernen Landen und fremden Erdtheilen zu sehen, in den Heimathshafen zurück. Die Besatzung wird „abgemustert“ (amtlich aus dem Schiffsdienst entlassen), bekommt ihre rückständige Heuer ausgezahlt und kehrt nach Hause zurück.

Was ist während dieser mehrjährigen Abwesenheit aus unserem Helden geworden?

Daß junge Leute in der Uebergangsperiode vom Knaben zum Jüngling, in den sogenannten Flegeljahren, sich durch Anmuth und liebenswürdiges Betragen in der Regel nicht auszeichnen, ist männiglich bekannt. Was du aber, verehrter Leser, an Unart und Tölpelhaftigkeit auch erlebt haben magst, unser Schiffsjunge läßt Alles weit hinter sich. Stelle dir einen strammen Jungen vor mit sonnverbranntem Gesicht, in dem einzelne Bartspuren den künftigen Mann verrathen, stelle ihn dir vor, wie er dir mit wiegendem Gange entgegenkommt, mit der Mütze auf einem Ohr, die kurze Thonpfeife im Munde, die von der Theerarbeit schmutzigen Hände tief in die Hosentaschen vergrabend, gelegentlich ausspuckend und den „Priem“ (Kantabak) in auffälligster Weise von einer Seite des Mundes nach der andern schiebend, und du hast das nicht gerade sympathische Bild unseres jungen Freundes. Geh’ ihm, ich rathe es dir, aus dem Wege! Er weiß, daß eine Kollision auf dem Lande bei Weitem weniger gefährlich ist als eine solche auf See; auch ist ihm nicht unbekannt, daß bei einer gelegentlichen Karambolage der rücksichtsvollere Theil den Kürzeren zieht. Er geht gerade aus und gerade durch. Seine Stimme ist rauh, seine Sprache das Plattdeutsche in abgerissener Form. Und was beginnt unser Freund? Womit vertreibt er sich die Zeit? Nun, er erholt sich von den Strapazen des Seelebens, er hat das Nichtsthun zu seiner vorläufigen Lebensaufgabe gemacht. Den auch in ihm liegenden Thätigkeitstrieb befriedigt er durch mehr oder weniger argen Unfug, den er mit seines Gleichen während der langen Winterabende auf der Straße anstiftet. An den sonntäglichen Tanzvergnügungen nimmt er, so lange die mitgebrachten Groschen reichen, regelmäßigen und lebhaften Antheil, und wenn bei einer solchen Gelegenheit, was in der Regel geschieht, eine kleine Prügelei in Scene gesetzt wird, so betheiligt er sich unfehlbar an derselben, und bekommt er dabei etwas ab, ein blaues Auge oder eine angeschwollene Nase, so ist er darauf andern Tages nicht weniger stolz als der Studiosus auf seinen Schmiß. Das ist unser Schiffsjunge; so sieht er aus, und an diesem Bilde ändern die nächsten Jahre nicht eben viel.

Da plötzlich – er ist wieder einige Jahre fortgewesen und unterdeß an die 20 Jahre und darüber alt geworden – geht eine merkwürdige Umwandlung mit ihm vor. Wir erblicken ihn nämlich eines guten Tages in sauberem seemännischen Anzuge mit einigen Büchern unter dem Arme. Am Halse stiehlt sich ein weißer Hemdkragen hervor, und die Mütze sitzt fast gerade auf dem Kopfe. Was ist geschehen? Hat er den Beruf gewechselt? O nein, der Ehrgeiz hat ihn gepackt; er will einmal Schiffskapitän oder doch wenigstens Steuermann werden. Die Sturm- und Drangperiode liegt hinter ihm.

Es dürfte auch in denjenigen Kreisen, welchen Seefahrt und Küstenleben fernab liegt, bekannt sein, daß der Staat sowohl vom Schiffer wie auch vom Steuermann den Nachweis der Qualifikation zur Ausübung seines Berufs verlangt. Die praktische Befähigung wird durch eine 45monatliche Fahrzeit als nachgewiesen angesehen, zum Nachweis der theoretischen Befähigung muß sich der junge Seemann einer Prüfung, der Steuermannsprüfung, und wenn er als Schiffer fahren will, einer zweiten Prüfung, der Schifferprüfung, unterziehen. Die verlangten Kenntnisse erwirbt er sich auf einer Navigationsschule. Da nun die in der Jugend erworbenen Kenntnisse den jungen Seemann nur in seltenen Fällen befähigen, an dem Unterricht in diesen Schulen, der zum Theil ganz komplicirte astronomische Rechnungen umfaßt, mit Aussicht auf Erfolg theilzunehmen, so muß er zunächst eine Vorschule, wie solche in den großen Küstendörfern eingerichtet sind, besuchen.

Es ist nun doch ein eigen Ding, wenn ein junger Mann in den Zwanzigern so ganz von vorn, so zu sagen mit dem ABC wieder anfangen soll. So geht’s nämlich unserem Freunde. Er ist genau in derselben Lage wie Hans Bendix im „Abt von St. Gallen“. Er kann weder lesen noch schreiben, ganz zu geschweigen vom Latein. Es wird ihm herzlich sauer. Bis spät in die Nacht brennt auf seinem Stübchen die Lampe, doch in seinem Kopfe will es nicht hell werden. Aber unser Freund ist zähe, und welche Schwierigkeiten lassen sich nicht durch ernsten [328] Willen überwinden! Die Vorschule wird absolvirt, eben so der Steuermannskursus, und es geht in die Prüfung. Wer kennt sie nicht, die Schrecknisse einer Prüfung? Auch unsern angehenden Steuermann ergreift das Prüfungsfieber. Wie viel wird verlangt, und wie wenig weiß er! Doch unser Steuermannskandidat und wir mit ihm haben uns umsonst geängstigt. Fleiß und gute Führung sind hei der Feststellung des Gesammtresultats mit in Anrechnung gebracht. „Bestanden“, so lautet der Ausspruch der Prüfungskommission. Er ist jetzt Steuermann. Da er sich „freigefahren“ hat[2], so braucht er nicht bei der Marine zu dienen, sondern kann sich nach einer Heuer (Stellung an Bord) umsehen. Dieselbe ist bald gefunden. Jeder Schiffer weiß, was er an ihm hat, einen ganzen Mann nämlich, auf den er sich in allen Lagen verlassen kann. Seine Heuer (hier Gehaltseinnahme), welche gleich der doppelten Matrosenheuer ist, setzt ihn in den Stand, in wenig Jahren nicht bloß die gemachten Schulden abzuzahlen, sondern auch eine Summe zu erübrigen, welche zur Bestreitung der durch den Besuch der Schifferschule entstandenen Kosten ausreicht. Unser Steuermann wird, nachdem er 24 Monate als solcher gefahren, zur Schifferprüfung zugelassen. Dieselbe wird ebenfalls glücklich bestanden, und die Lehrjahre überhaupt sind beendigt.

Doch welches Aussehen hat jetzt unser Freund? Ist es noch gerathen, ihm aus dem Wege zu gehen? Nun freilich, allzuviel Spaß versteht er auch heute nicht, und einige Vorsicht dürfte sich im Verkehr mit ihm immerhin empfehlen. Aber kaum etwas erinnert noch an den früheren Schiffsjungen. Du siehst vor dir einen jungen Mann, dessen kräftige Gestalt und gebräuntes Gesicht von Gesundheit strotzen, und der in seiner kleidsamen Schiffertracht einen fast eleganten Eindruck macht. Seine Manieren haben durch den längeren Aufenthalt in der Stadt gewonnen, und auch die Sprache hat sich zu ihrem Vortheil verändert. Wenn er sich auch mit Vorliebe des niederdeutschen Idioms bedient, so geschieht es doch in mehr gebildeter Weise. Die auffälligste Veränderung aber ist mit seiner gesellschaftlichen Stellung vor sich gegangen: er gehört jetzt dem Honoratiorenstande an, gleichviel welches Herkommens er ist. Auch der schöneren Hälfte der Bevölkerung gegenüber sind natürlich seine Aussichten und Ansprüche bedeutend gestiegen. Er darf überall anklopfen und ist in jeder Familie, auch der angesehensten, als Schwiegersohn willkommen. Unser Freund hat denn auch bald seine Wahl getroffen und sich mit der Tochter eines wohlhabenden Schiffers verlobt. Die Verwandtschaft der Schwiegereltern ist zahlreich und gut situirt, was für das schnelle Vorwärtskommen des angehenden Schiffskapitäns besonders ins Gewicht fällt.

Wir müssen bei dieser Gelegenheit einer eigenthümlichen Einrichtung gedenken, die vorzugsweise an demjenigen Theil der Küste, dem das vorstehende Lebensbild entnommen ist, angetroffen wird. Unsere Küstenleute haben nämlich schon früh die Vortheile der Association erkannt und praktisch verwerthet. Man baut die Schiffe auf Aktien, von denen jede in der Regel auf ein sechzigstel Antheil lautet und ein Schiffspart genannt wird. Sämmtliche Antheilbesitzer bilden die Rhederei, welche Eigenthümerin des Schiffes ist und die durch den Korrespondentrheder vertreten wird. (Diese Stellung wird in der Regel durch einen angesehenen Kaufmann der nächsten Hafenstadt bekleidet, der für seine Mühwaltung gewisse Procente der Frachteinnahme bezieht.) Da nun wohlhabende Verwandte sich selten weigern, ein Schiffspart zu zeichnen, so leuchtet ein, daß ein möglichst großer Kreis von Angehörigen dem jungen Mann sehr zu Statten kommt. Er wird eben die Parten des von ihm zu erbauenden Schiffes um so leichter und schneller an den Mann bringen. Mitunter gelingt es auch, einen Fremden zur Uebernahme eines Antheils zu bereden; denn das Rhedereigeschäft ist, oder richtiger war, ein gewinnbringendes. Was zuletzt noch an Parten übrig bleibt, übernimmt der junge Schiffer auf eigene Rechnung; an Kredit fehlt es jetzt nicht mehr. Nachdem so Alles vorbereitet ist, wird mit einem Schiffsbaumeister ein Kontrakt abgeschlossen und der „Kiel gestreckt“ (der Bau begonnen). Da es an den nöthigen Mitteln nicht fehlt, rückt der Bau munter vorwärts, und vielleicht schon nach Verlauf weniger Monate kann das Schiff vom Stapel laufen.

Bis dahin verlebt unser Freund die schönsten Tage seines Lebens, er theilt seine Zeit zwischen Schiff und Braut. Während er den Tag auf der Baustelle zubringt, um darauf zu sehen und darüber zu wachen, daß der Bau seinen Angaben und Wünschen entsprechend ausgeführt wird, widmet er den Abend der Liebsten und den Angehörigen. Des Sonntags macht er mit der Braut bei den Verwandten die üblichen Visiten, und bei dieser Gelegenheit sehen wir ihn zum ersten Mal mit dem ehrbaren Cylinder, der späteren ständigen Kopfbedeckung des verheiratheten Schiffers. Nachdem das Schiff unter großer Feierlichkeit und lebhafter Betheiligung des Publikums vom Stapel gelaufen ist, wird die letzte Arbeit an demselben, die Takelung, in Angriff genommen. Unterdessen ist die Mutter der Braut mit der Aussteuer fertig geworden, und die Hochzeit kann mit mehr oder weniger Pomp, je nach Geschmack und Vermögen, gefeiert werden. Das Schiff ist fertig, eine Fracht ist an- und eingenommen und fort geht’s einer ungewissen Zukunft, einem Leben voll Mühseligkeit und Gefahr entgegen. Sein junges Weib begleitet ihn. Für das Kind der Küste, für die Tochter des Seemanns hat das Meer keine Schrecken; sie ist bereit, Noth, Gefahr und Tod mit dem Mann zu theilen.

Wir dürfen in dem Leben unseres Helden einen Zeitraum von zwanzig und einigen Jahren überspringen. Er hat sich nur selten und immer nur auf kürzere Zeit in der Heimath sehen lassen. Dieselbe ist ihm und er ihr fast fremd geworden. Er hat den Ocean nach den verschiedensten Richtungen hin durchkreuzt und weit entlegene Hafenplätze aufgesucht. Er hat ein Leben geführt voll Mühe und Entbehrung und mehr als einmal dem Tode ins Auge geschaut. Aber sein Ringen ist nicht erfolglos geblieben. Er hat, von seiner wackeren Hausfrau unterstützt, die, als die Familie sich vergrößerte, zu Hause geblieben ist und des Hauswesens treulich gewaltet hat, etwas vor sich gebracht; er denkt daran, sich in Ruhestand zu begeben. Sobald der Sohn sein Schifferexamen gemacht hat, wird er sein Schiff demselben abtreten.

Sehen wir uns nun zum Schluß den in Ruhestand getretenen Schiffskapitän etwas näher an. O, er macht einen ganz respektablen Eindruck, unser alter Freund in seinem, wenn auch nicht modischen, so doch feinen schwarzen Anzug mit dem glänzend gebürsteten Cylinder und der schweren goldenen Uhrkette. Das Haar ist wohl ergraut, und Sturm und Unwetter haben ihre Spuren in seinem Antlitz hinterlassen, aber nichts sonst läßt auf Alter und Hinfälligkeit schließen. Im Gegentheil, die breite feste Gestalt mit der deutlichen Anlage zum Embonpoint deutet auf Kraft und Rüstigkeit hin. Aber womit beschäftigt er sich? Er hat ein Grundstück angekauft, sich ein hübsches Wohnhaus erbaut, einen Garten angelegt und später einige Aecker und Wiesen dazu erworben. In dieser kleinen Wirthschaft legt er Hand mit an, hier findest du ihn im einfachsten Anzuge Tag ein Tag aus beschäftigt. Des Abends begiebt er sich in den „Krug“ (Gasthof), um in der Zeitung nach Abgang und Ankunft der Schiffe sowie nach dem Stande der Frachten zu sehen und mit einem alten Kameraden zu plaudern. Des Sonntags besucht er mit seiner stattlichen Ehehälfte regelmäßig das Gotteshaus. Seine Lebensbedürfnisse sind, trotzdem es ihm seine Mittel erlauben, einen gewissen Aufwand zu treiben, höchst einfache geblieben. Von seinem elegant eingerichteten Wohnhause benutzt er meist nur ein Stübchen, und nur bei festlichen Gelegenheiten, wenn er seine Freunde und Verwandten bei sich sieht, werden auch die übrigen Räume geöffnet. Dann aber geht’s hoch her, dann wird nicht gespart, dann läßt er den reichen Mann sehen. Die alte deutsche Tugend der Gastfreundschaft wird überall und zu jeder Zeit gern geübt. Selbstredend hat mit dem zunehmenden Wohlstande auch die äußere Stellung unseres Freundes an Ansehen gewonnen. Er wird in die Gemeinde- und Kirchenvertretung gewählt, sein Rath wird von kleinen Leuten und Anfängern vielfach nachgesucht und materielle Unterstützung, wo es noth thut, von seiner Seite bereitwillig gewährt.

So steht er da, schlecht und recht in seinem Wesen, angesehen und geachtet bei seinen Mitbürgern, ein selbstgemachter Mann, eine Zierde jedes Gemeinwesens, der „Schiffer von altem Schrot und Korn“.




[329]
Ein irrsinniger poëta laureatus.


Albert Lindner.

Es ist ein ziemlich weit verbreiteter Glaube, daß das hehre Feuer, welches den Dichter beseelt, eigentlich eine Brandfackel sei, die nur zu leicht das Gebäude, in welchem die großen und schönen Gedanken und Pläne wohnen, zerstören könne. Nichts ist irriger! Die Flamme, welche das Genie, das Talent entzündet, ist keine verzehrende, sondern eine erhaltende Kraft, welche sogar im Stande ist, den bereits dem Tode verfallenen Leib des Dichters noch über die Verfallzeit hinaus für die Welt zu retten, wie wir an Schiller hierfür ein großes Beispiel besitzen. Man sollte daher endlich aufhören, davon zu sprechen, daß „das Mal der Dichtung“ ein „Kainstempel“, daß der Poet so zu sagen für das Irrenhaus bestimmt sei und nur durch besonders glückliche Umstände vor diesem Schicksal bewahrt werden könne. Wenn einige Dichter dem Irrsinn verfielen, so lag das nicht daran, daß sie Dichter waren, sondern theils an einer krankhaften Veranlagung, die sich neben ihrer dichterischen Begabung verhängnißvoll entwickelte, theils daran, daß der Kampf mit der gemeinsten Noth des Lebens die geistige Kraft, die obendrein vom Dichter übermäßig angestrengt wurde, um aller Sorge zu begegnen, nothwendiger Weise brechen mußte; ja diese zweite Ursache wird in den meisten Fällen allein das Unglück bewirkt haben, für das die theilnahmlose Welt so gern die Verantwortung von sich abwälzt, um sich in einem wohlfeilen Bedauern über die unabwendbare Tragik des Dichterschicksals ergehen zu dürfen.

Ein Beispiel dafür, welchen Einfluß die gemeine, zur Verzweiflung führende Noth auf einen reichbegabten Dichter zu haben vermag, liefert auch der unglückliche Mann, mit dem sich die nachfolgenden Zeilen beschäftigen sollen.

Als im Februar 1886 die Nachricht durch die Zeitungen verbreitet wurde, daß der Dramatiker Albert Lindner geisteskrank geworden sei und in der Heilanstalt zu Dalldorf bei Berlin untergebracht werden mußte – da gab es gewiß nicht nur viele Bewohner der Hauptstadt, welche seinen Namen zum ersten Male hörten, sondern auch einem großen, vielleicht dem größten Theile des deutschen Volkes wird er völlig fremd gewesen sein; und diejenigen, denen er hätte bekannt sein können, werden sich auch nur mit Mühe desselben erinnert haben; denn die Menschen besitzen ein kurzes Gedächtniß und wollen immer wieder auf den Mann, den sie nicht vergessen sollen, aufmerksam gemacht sein. Und doch hatte dieser dem Irrsinn Verfallene dem litterarischen und gebildeten Deutschland eine Zeit lang recht ernsthafte Theilnahme abgenöthigt – aber freilich, nicht gestern, auch nicht vorgestern, sondern – es ist wirklich fast ein Menschenalter darüber hingegangen!

Es war im Kriegsjahre 1866, als die Welt plötzlich von der Nachricht überrascht wurde, daß in dem halb und halb klassischen Rudolstadt ein neuer Klassiker entdeckt worden, ein Dramatiker, der des großen Schiller-Preises für würdig befunden – man horchte auf. Damals war dieser Schiller-Preis noch von größerer Bedeutung als heut zu Tage; Hebbel war der erste Gekrönte gewesen – Hebbel, der merkwürdige Meister, dessen von der Parteien Haß und Gunst entstelltes Charakterbild zwar in der Geschichte des Tages bedeutend schwankte, dem an die Seite gestellt zu werden jedoch für ein hohes, vielleicht das höchste Maß der Ehren, welche einem Dramatiker zu Theil werden konnten, angesehen werden mußte – und dieser Genosse des Nibelungendichters war ein Gymnasiallehrer in Rudolstadt, ein Mann, von dem noch Niemand etwas gehört hatte, der zwar bereits einen „Dante Alighieri“ (1855) und einen „William Shakespeare“ (1864) gedichtet, aber die Welt noch niemals auf sich aufmerksam gemacht hatte!

Man erfuhr jetzt, daß der aus dem Dunkel hervorgehobene Mann am 24. April 1831 in Sulza geboren worden, daß sein Vater ein Obersteiger, seine Mutter eine Bauersfrau sei, welche mit anderen Frauen ihres Standes den Weimarer Wochenmarkt mit Butter und Käse versorgte, daß er als zehnjähriger Knabe das Gymnasium in Weimar bezogen, von den Eltern zum Pfarrer bestimmt wurde, aber seinem innern Drange folgend in Jena und Leipzig Philologie und Aesthetik studirt hatte und nun, wie bekannt, in Rudolstadt als Gymnasiallehrer thätig sei. Also eine ganz gewöhnliche kümmerliche Vergangenheit – nichts von Sturm und Drang, nicht einmal irgend ein „genialer“ Streich! Selbst der Name klang nicht recht: Albert Lindner – ein weichlicher Name. Aber der Titel des gekrönten Werkes tönte desto gewaltiger: „Brutus und Collatinus“ – zwei Helden auf einmal! Man war begierig auf das Werk – es wurde aufgeführt – gefiel nicht, und die Verleiher des Preises mußten sich von allen Seiten den Vorwurf gefallen lassen, daß sie sich geirrt, daß sie einen Dichter aus dem Dunkel hervorgezogen, welcher den Glanz des Ruhmes nicht, oder wenigstens noch nicht verdiene. Gewiß ein harter Vorwurf; aber die Welt liebt es bekanntlich, das Strahlende zu schwärzen – und warum konnte sie sich nicht eben so mit ihrer Verurtheilung geirrt haben, wie die Preisrichter sich mit ihrer Anerkennung geirrt haben sollten? Schon im „Hamlet“ steht zu lesen, daß ein gutes Drama „Kaviar fürs Volk“ und deßhalb vom Erfolg ausgeschlossen sei – warum könnte dieser Mißerfolg des gekrönten Werkes nicht gerade dafür sprechen, daß die Richter das Richtige getroffen? Selbstverständlich stand der über Nacht berühmt gewordene Dichter auf Seiten der Preisrichter und bestätigte ihr gutes Urtheil dadurch, daß er seine Stellung als Lehrer aufgab, nach Berlin, wo man, wie er wähnte, den Laureatus mit Jubel empfangen und auf Händen tragen würde, übersiedelte und fortan als Dichter zu leben gedachte. Seine Braut, mit der er sechs Jahre verlobt war, und andere Freunde hatten es versucht, ihn von dem gefahrvollen Entschluß abzubringen – umsonst: der verschlossene, stets nur beschaulich dahinlebende Dichter schwärmte von seinem Gottesgnadenthum und schmeichelte sich sogar mit der Hoffnung, Vorleser der Königin von Preußen zu werden, die als weimarische Prinzessin und Litteraturfreundin den thüringischen Nachfolger Schiller’s gewiß unter ihren hohen Schutz nehmen würde. So traf er in Berlin ein, und – Niemand bekümmerte sich um ihn; ja Diesem und Jenem war es höchlichst unbequem, den aus der Ferne gekrönten Dichter sich plötzlich so nahe gerückt zu sehen. Der aus allen Himmeln gefallene Besitzer des Schiller-Preises klopfte dort und hier an und fand alle Thüren verschlossen – man wollte nichts von ihm wissen. Die 3000 Mark, welche der unselige Schiller-Preis ihm verschafft hatte, waren allzunächst den Weg alles Geldes gegangen – was thun? Nach Rudolstadt konnte und wollte er wohl auch nicht zurückkehren – glücklicher Weise fand er eine Anstellung an einer Realschule Berlins, wo er für die Stunde fünfzehn Silbergroschen (1 Mark 50 Pfennig) erhielt; und auf diese Stellung hin heirathete er das Mädchen, welches beinahe sieben Jahre seine Braut gewesen war. Vor dem Aeußersten war er nun wohl geschützt; aber der Schlag, der ihn getroffen, war nicht zu verwinden; er wurde seitdem noch scheuer und verschlossener, hörte jedoch nicht auf, sich an großen Stoffen abzuarbeiten, nur immer nach dem Höchsten zu trachten, ohne nach links und nach rechts zu blicken und zu fragen, was der Welt etwa gefällig sei.

Ein neues Drama „Katharina II.“ ging spurlos vorüber. Endlich gelang es ihm, in der „Bluthochzeit“ (1871) ein Stück zu schaffen, das auch der Menge zusagte und mit dem Erfolg zugleich größere Einnahmen brachte. Nun durfte der vielgeprüfte Mann doch wieder hoffen, um so mehr, als ihm auch die Stellung als Bibliothekar des Reichstages einen festen Halt gab. Leider zeigte er sich dieser Stellung nicht gewachsen; Ordnungssinn und Uebersicht mangelten ihm, und als [330] er sich gelegentlich eine Vernachlässigung des Dienstes zu Schulden kommen ließ, erhielt er seinen Abschied. Er war nun wieder auf seine Feder allein angewiesen; der Erfolg der „Bluthochzeit“ war von kurzer Dauer und blieb der letzte seines Lebens. Selbst ein so hervorragendes Werk wie „Marino Falieri“ (1875) blieb unbeachtet, und fortan wollte dem Dichter nichts Rechtes mehr glücken. Die Nothwendigkeit verurtheilte ihn dazu, sich der Lohnschreiberei in die Arme zu werfen; er wurde Novellist und Journalist und versank allmählich in dem rauschenden Strome des Tages. Der Kampf, den er in diesen letzten Jahren durchmachen mußte, spottet beinahe der Beschreibung: drückendste Noth im Hause, wo es oft an der kärglichsten Speise mangelte; das Wesen des Unglücklichen wurde scheuer und unheimlicher; die Bekannten zogen sich mehr und mehr von ihm zurück; wenn er zuweilen ein Wirthshaus im Südwesten der Stadt besuchte und hier, seine Pfeife rauchend, vor einer „großen Weißen“ in sich versunken saß, dann wichen die andern Gäste seinem Tische weit aus. Und wie die Welt ihm kalt gegenüber stand, so stand er schließlich den Seinen gegenüber; nur an dem jüngsten Sohne hing sein Herz mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit, und oft sah man ihn über die Straße schwanken, die Hand auf das Haupt des Knaben gelegt.

Grillparzer sagt einmal: „Das ist des Unglücks eigentlichstes Unglück, daß selten sich der Mensch drin rein bewahrt“ – Lindner stand zu hoch, als daß er in die Zunft der unehrlichen Biedermänner hätte treten können; aber die Noth mochte ihm gelegentlich das Gewissen trüben – und so führte vor einigen Jahren eine Winkelbühne Berlins die Uebersetzung eines Lustspiels von Gogol auf, die sich in hohem Grade von einer früheren Uebersetzung abhängig zeigte. Daraus entwickelte sich ein Proceß, der den Dichter nicht nur um eine, wenn auch kümmerliche, amtliche Stellung brachte, die ihm so zu sagen aus Barmherzigkeit verliehen worden war, sondern auch des Allernothwendigsten beraubte – kaum daß ihm die unentbehrlichsten Möbel und Kleidungsstücke verblieben. Sein Schicksal war jetzt für immer besiegelt.

Schon damals zeigten sich die ersten Spuren der Krankheit: Unruhe und Gleichgültigkeit gegen Alles. Nur zuweilen wachte die Sorge für seinen Dichterruhm in ihm auf; dann verlangte er Geld von der Frau, damit er an Redaktionen und einflußreiche Personen Postkarten senden könne, um sich ihnen wieder in Erinnerung zu bringen. Was noch zu versetzen war, mußte dann von der hungrigen Frau versetzt werden. Des Nachts fand er keinen Schlaf; er stand des Oefteren auf, schritt durch die Zimmer, zündete die Lampe an, schrieb eine Weile, weckte die Frau oder die Töchter auf und verlangte Kaffee von ihnen. So ging es eine geraume Zeit, ohne daß die Familie aufmerksam wurde. Da geschah es, daß der Herzog von Meiningen im Januar 1886 nach Berlin kam und den Dichter zu sich befahl. Große Aufregung. Der arme Dichter besaß weder Geld, noch die für diesen Besuch nöthigen Kleider; die Frau mußte zu den wenigen Bekannten eilen, welche der Familie treu geblieben waren, und um ihre Hilfe bitten; ein halbwegs passender Frack und Mantel wurden gefunden; das Geld für eine Droschke zweiter Klasse kam auch zusammen – und hoffnungsfreudig wie damals, als er von Rudolstadt nach Berlin reiste, fuhr er nach dem „Kaiserhof“, in welchem der Herzog abgestiegen war. Ungefähr nach einer Stunde sah die Frau ihn vom Fenster aus heim kommen, aber zu Fuß und ganz niedergebeugt; sie eilte hinunter und fragte, ob er etwas beim Herzog erreicht habe.

„Alles, Alles!“ rief er. „Ich bin so froh, so glücklich; ich möchte Dich in meinem Mantel die drei Treppen hinauftragen!“

Zu Hause angelangt, erzählte er nun, daß der Herzog ihm eine Villa bei Meiningen bauen wolle, daß er fortan sorgenlos und nur seiner Kunst leben solle. Er schwärmte in den überschwänglichsten Worten von dem edlen Mäcen und forderte die Seinen auf, mit ihm in ein gutes Gasthaus zu gehen und sich einmal recht satt zu essen.

Jetzt endlich schien der Familie das Verhalten des Vaters und Gatten doch bedenklich; ein dem Hause befreundet gebliebener Arzt wurde ins Vertrauen gezogen – und dieser konnte nur feststellen, daß Lindner in hohem Grade gestört sei; wenige Tage später fand dann die Ueberführung des Kranken nach Dalldorf statt, wo er sich auch jetzt noch befindet und wo er voraussichtlich sein Leben beschließen wird. Er ist ein ruhiger und bei Allen beliebter Kranker, hält sich für einen Millionär, der mit Gold und Juwelen um sich werfen kann, bettelt sich aber von den Wärtern Geld und Briefmarken zusammen. An seine Krankheit glaubt er nicht, obschon er auch körperlich sehr heruntergekommen ist. Am glücklichsten fühlt er sich, wenn er, seine Pfeife rauchend, in einem gepolsterten Lehnstuhl sitzen darf, den seine Frau ihm geschenkt hat; dann streichelt er wohl die Lehne zärtlich und denkt weder an Essen noch an Trinken. Der Schriftstellertrieb ist in ihm sehr lebendig, er füllt jeden Tag einige Blätter mit unzusammenhängenden, aber stellenweise an ganz reale Verhältnisse anknüpfenden Aufzeichnungen.

Am Tage nach der ersten Neu-Aufführung der „Bluthochzeit“ (22. Januar d. J.), mit welcher das „Deutsche Theater“ sich ein unleugbares Verdienst erworben hat, besuchte Frau Lindner den Kranken, erzählte ihm von dem großen Erfolg und gab ihm den Theaterzettel zu lesen – aber der Theaterzettel selbst ließ ihn gleichgültig; nur die Rückseite mit den geschäftlichen Anzeigen fesselte ihn lebhaft, und überall, wo er das Wort „Kaviar“ las, machte er ein Bleistiftzeichen. Er war übrigens fest davon überzeugt, daß ihn die Frau nach Berlin mitnehmen und ins „Deutsche Theater“ führen werde; als sie sich dann von ihm trennen mußte und die Thür zu seiner Zelle geschlossen hatte, drang ein entsetzlicher, aus Wuth und Schmerz gemischter Schrei an ihr Ohr, der sich, wie sie mir sagte, nicht beschreiben, aber auch nie vergessen läßt.

Das Unglück, welches über den Dichter hereingebrochen, hatte ihn der Welt für kurze Zeit wieder in unliebsame Erinnerung gebracht; aber selbst jetzt waren die Theaterdirektoren nicht zu bewegen, seine Dramen aufzuführen. Erst eine außergewöhnliche Veranlassung hatte das „Deutsche Theater“ in Berlin dazu gereizt, wenigstens die einst so erfolgreiche „Bluthochzeit“ wieder aufleben zu lassen – und der wieder eintretende Erfolg, so vorübergehend er auch wahrscheinlich sein wird, dürfte vielleicht auch der einen oder andern Bühne den Muth verleihen, noch in letzter Stunde nachzuholen, was die herzlose Lässigkeit versäumt hat.

Wie man den Preisrichtern der Schiller-Kommission 1866 einen Vorwurf daraus machte, daß man ein so unvollkommenes Werk wie „Brutus und Collatinus“ habe krönen können, so machte man es ihnen jetzt zum Vorwurf, daß sie den Dichter aus der Enge seines Berufslebens herausgelockt und so den Grund gelegt hätten zu der Tragik dieses Dichterschicksals. Es ist so bequem, Andere für etwas verantwortlich zu machen, was wir bis zu einem gewissen Grade selbst verschuldet haben. Kein Zweifel, daß es eine Uebereilung des Dichters war, den festen Boden, auf dem er stand, zu verlassen – aber wer darf es dem Unglücklichen verübeln, daß er die scheinbar so günstige Gelegenheit benutzte, um in größere und, wie er glaubte, sein Schaffen mehr begünstigende Verhältnisse zu kommen? Hatte dieser Mann, dieses Talent nicht auch höhere Ansprüche an das Leben? Sollte er es nicht versuchen, sich in der Welt, die für so viel Unwürdige Gold und Lorbeeren bereit hat, ein höheres Dasein zu erkämpfen? Und hätte man für einen Dichter, der von gebildeten Männern seines Volkes für würdig erachtet wurde, vor vielen Berufenen ausgezeichnet zu werden, der dann nicht selbstgefällig auf seinen Lorbeeren ausruhte, sondern unausgesetzt danach rang, sich dieser Auszeichnung immer würdiger zu machen – hätte man für einen solchen Dichter nicht ein Herz haben müssen? Jeder Arbeiter ist seines Lohnes werth, und Lindner hat gearbeitet, sehr ernstlich gearbeitet, wie seine Dramen beweisen, die zwar keine fehlerlosen Meisterwerke, aber doch immerhin Schöpfungen sind, wie wir deren nicht viele aufzuweisen haben. Sein „Brutus und Collatinus“ krankt an einer Zwiespältigkeit der Handlungsführung; seine „Bluthochzeit“ leidet stellenweise an Unklarheit und entbehrt eines greifbaren dramatischen Mittelpunktes; und selbst sein „Marino Falieri“[3] läßt dort und hier Manches vermissen – aber in allen diesen Stücken lebt so viel wirkliche Kraft, so viel theatralische Sicherheit und künstlerisches Feingefühl, daß sie, wenn man die geschichtliche Gattung des Trauerspiels überhaupt gelten läßt, verdienten, von allen bedeutenderen Bühnen wieder und wieder gespielt zu werden. Wohl ist auch Lindner ein Epigone und steht zuweilen mehr als ihm [331] dienlich unter dem Einfluß der Shakespeare-Dramen, an deren Nachahmung so viele unserer hoffnungsvollsten Talente zu Grunde gegangen sind; aber wo er sein Bestes und Eigenstes giebt, da ist er nicht selten wirklich bedeutend und bei aller Mäßigung in der Anwendung von Mitteln hinreißend in der Wirkung. Er wendet sich nie an das Ohr und die Nerven der Zuschauer; er bleibt immer der Künstler, der gestalten und, so gut er es vermag, einen Plan mit Besonnenheit zur Durchführung bringen will, und seine Sprache, wenn sie auch nicht immer makellos ist, zeichnet sich durch Kraft und Sicherheit aus.

Zwecklos und unberechtigt ist das Streiten darüber, ob Lindner dem und jenem berühmten Vorgänger ebenbürtig sei, ob seine Stücke der Vergessenheit über kurz oder lang anheimfallen werden oder nicht. Kein ehrlicher Arbeiter auf dem Gebiete der Kunst ist verpflichtet, ein auserlesener Genius zu sein; die Phönixe sind selten und kaum alle hundert Jahre steigt einmal dieses Wundergeschöpf aus der Asche des Gewöhnlichen empor; aber wo bei so viel ernster Arbeitsfreudigkeit wirkliche Begabung vorhanden ist, wo sich diese Begabung in nicht gewöhnlicher Weise bewährt hat, da geziemt es den Mitlebenden, Antheil zu nehmen, sich ihrer Verpflichtung gegen das Talent bewußt zu bleiben.

Es ist hier nicht der Ort, sich in Klagen zu ergehen – und wen sollte man auch anklagen? Das Publikum gewiß nicht; denn dieses ist gern bereit, sich von einem edlen Dichter erheben zu lassen; der Erfolg der neuaufgeführten „Bluthochzeit“ hat es bewiesen. Und in diesem Erfolge liegt zugleich etwas Versöhnliches: man wollte gut machen, was man versäumt, weil man nichts von dem Jammer des Dichters gewußt hatte. Die Vernunft wird man ihm freilich nicht wiedergeben können; aber wenn jetzt nur dafür gesorgt wird, daß der Kranke nichts entbehren muß, daß die Familie vor der drückendsten Noth bewahrt bleibt, so ist das Versäumte doch in etwas wieder gut gemacht.

Eugen Reichel.




„Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen.“
Eine Lieder-Legende des 9. Jahrhunderts.
Von Ernst Pasqué.


Wer von dem Städtchen Rorschach am Bodensee auf der alten Straße nach St. Gallen wandert, gelangt etwa eine Stunde vor letzterer Stadt an die nach Heiden abzweigende Landstraße und dieser abwärts folgend nach dem Martinstobel, der wilden Schlucht des Goldachs. Eine eiserne Brücke verbindet heute die fast senkrecht emporstrebenden Felsenwände; vor noch nicht vielen Jahren nahm ihre Stelle die hölzerne „Martinsbrücke“ ein, die, 1468 erbaut, das älteste Hängewerk der östlichen Schweiz bildete. Doch auch diese hölzerne Brücke war die Nachfolgerin einer weit älteren gewesen.

Es mögen jetzt wohl gerade tausend Jahre her sein, da versuchte man an gleicher Stelle, etwa 100 Fuß über den schäumenden Fluthen des Bachs die beiden Felsenufer durch gewaltige Baumstämme mit einander zu verbinden und so einen Uebergang zu gewinnen. Es war ein für die damalige Zeit schweres und gefährliches Unternehmen, wo die Menschen, besonders diejenigen, welche jene Berge bewohnten, noch weit davon entfernt waren, die zu solchen Bauten nöthigen Hilfsmittel zu kennen und in Anwendung zu bringen, dafür in erster Linie auf ihre Körperkraft, ihren Muth angewiesen waren. Die Gegend war damals noch immer eine Wildniß, wenn auch nicht mehr eine so unwirthliche und öde, wie etwa zwei Jahrhunderte früher der heilige Gallus sie angetroffen hatte, als er von dem alten Arbon aus hinauf in diese Wüstung, nur von Bären und anderen wilden Thieren bewohnt, gezogen war, um hier nur Gott und seinem Glauben zu leben. Sie lag nicht weit von der Stelle, wo der glaubenseifrige Gottesbote in die Dornen fiel und in seiner frommen Einfalt zu seinen beiden Gefährten sagte: „Laßt mich liegen! Es ist Gottes Wille, hier soll ich bleiben!“ wo er dann, der Sage nach, sein Brot mit einem zahmen Bären theilte, in Wirklichkeit aber das nach ihm benannte Kloster gründete, dem dann die Stadt St. Gallen ihren Ursprung verdankte. Das Kloster gedieh rascher als die Gegend zu schöner Blüthe, sowohl durch mildthätige Schenkungen wie durch den Eintritt frommer Männer, die sich in stiller Zelle neben geistlichen Uebungen gelehrten Forschungen widmeten. Bereits im 9. Jahrhundert erhob sich an Stelle der einfachen Kapelle des heiligen Gallus die stattliche Klosterkirche mit den weitläufigen Bauwerken für die Mönche, unter deren Schutze sich Leute aus dem Volke Wohnstätten errichtet hatten und nun versuchten, die Berglehnen und Thäler ur- und nutzbar zu machen. Die von St. Gallus eingeführten Klosterregeln seines Lehrers und Gefährten, des heiligen Columban, hatten die Mönche mit den Jahren gegen die des heiligen Benedikt von Nursia vertauscht, welche weniger strenge, ihrer geistigen Thätigkeit förderlicher waren. Hierdurch sollte das Kloster mit der Zeit die Pflanzschule der Gelehrsamkeit für die ganze gebildete Christenheit werden, was für die entstehende Stadt wie für die Entwickelung der Kulturverhältnisse der ganzen Seegegend von den tiefgreifendsten, wohlthätigsten Folgen sein mußte. –

Es war nun die Zeit jenes ersten Brückenbaus, also wohl gerade vor tausend Jahren; da schritt an einem sonnigen Tage ein junger Mönch aus den Zellen des heiligen Gallus über die Höhen in der Richtung nach der Seegegend und der Goldachschlucht hin. Er war von kleiner Gestalt, und die weiße Kutte hing faltig um den schmächtigen Körper nieder, der durch das schwarze Oberkleid nur noch unscheinbarer werden mußte. Der Kopf mit der kahlen Platte und dem lang niederhängenden Haarkranz war für das Mönchlein viel zu groß; doch die Augen blickten, wenn der sinnend Dahinschreitende sie hob, mit einem kühnen Selbstbewußtsein und einer überlegenen Geisteskraft in die Weite und kündeten zugleich, daß dem schmächtigen Körper volle Manneskraft innewohnen mußte. Er hieß Notker, mit dem Beinamen „Balbulus“, der Stammler, weil er mit der Zunge anstieß und ihm die Rede höchst unbeholfen floß. Erhob er aber seine Stimme zum Gesang, so ertönte sie, als ob ein Wunder ihm geschehen sei, voll und klar, und ohne Stockung hallte sie durch das Gotteshaus, besonders bei den frommen Chorgesängen, die nach der Ordensregel in jeder Nacht zweimal angestimmt werden mußten. Seines sprachlichen Uebelstandes halber liebte und suchte er auch die Einsamkeit, welche zugleich seinen ernsten Gedanken und Studien eben so förderlich war, wie seinem Triebe, das in Tönen auszudrücken, was ihm in der Redeform nicht möglich werden konnte.

Notker stammte aus dem adeligen Geschlecht derer von Elk. Um 850 zu Heiligau in der Nähe von St. Gallen geboren, trat er schon als Knabe in die Klosterschule ein, und die Kunst der Musik erlernte er von den Mönchen, die wiederum solchen Unterricht von einem Römer erhalten hatten, der von Karl dem Großen nach Metz berufen worden, doch auf seiner Reise im Kloster des heiligen Gallus erkrankt und dann dort geblieben war. Zu jener Zeit war den Laien, nach den strengen Regeln des vom Papst Gregor dem Großen eingeschränkten Kirchengesanges, kaum gestattet, beim Gottesdienste die Stimme zu erheben. Auf die letzte Silbe des „Hallelujah“, sang das Volk Tonreihen ohne Text, also nur auf dem Vokal a, die man „Jubilos“ nannte. Dieser Folge von Tönen, „Sequenzen“, hatte Notker lateinische Textworte untergelegt, wie er auch die prosaischen Antiphonen, Wechselgesänge nach Bibelstellen, mit einem neuen metrischen Text versah. Diese Neuerungen des St. Gallener Mönchs, welche sich rasch verbreiteten und von den Laien freudig angenommen wurden, gaben dem Kirchengesange allmählich eine gefälligere und wirksamere Form, wodurch der Gottesdienst nur gewinnen konnte und einen tieferen Eindruck auf die betende Gemeinde auszuüben im Stande war.

*           *
*

Nur mit seinen Gedanken beschäftigt, war Notker auf der Höhe angelangt, wo die steil abfallenden Felsen der Goldachschlucht bald seinen Schritten Halt gebieten mußten. Jetzt erst schaute er auf, und das große klare Auge strahlte, als nun der [332] See sich in seiner ganzen majestätischen Weite mit den bewaldeten Ufern und den einzelnen, entstehenden Ortschaften vor seinen Blicken ausbreitete. Doch auch das Bild, welches sich ihm an seiner rechten Seite zeigte, entlockte dem frommen Manne einen Ruf heiliger Freude. Der wellenförmig sich in weiter Ferne nach dem Rheinthal abflachende Höhenzug war bereits zum größten Theil gerodet und an Stelle der Waldungen breiteten sich frische grüne Matten aus, auf denen Kühe und Ziegen, einzeln und in kleinen Herden weideten; ein Zeichen, daß St. Gallus’ Segen sichtlich auf der Gegend ruhte, welche der Heilige als Wildniß und Oede betreten hatte. In seiner frommen Herzensfreude stimmte Notker leise eine seiner Sequenzen an, in der er Gott den Herrn, seine Güte und Allmacht mit begeisterten Worten lobte. Da mischte sich in seinen geistlichen Sang unerwartet ein heller Freudenjauchzer, den in der Ferne auf einer der grünen Bergwiesen eine frische Frauenstimme hervorstieß. Unwillkürlich wandte der Mönch den Kopf zur Seite, da erblickte er eine der jungen Hirtinnen, welche ihr weltliches Singen und Jauchzen, ohne erkennbare melodische Folge, aus voller Brust ertönen ließ. Doch die Singende war nicht allein; ein Mann, den ärmellosen Wildkoller auf der Achsel, stand bei ihr und versuchte nun auch gleich freudig in ihren Sang mit einzustimmen. Nun umfing er sogar mit nicht zu mißdeutender Gebärde seine junge Gefährtin. Da kehrte der Mönch seinen Blick wieder von der Gruppe ab, und sein Singen endend sagte er leise vor sich hin: „Siehe da! das Volk singt der Kirche Sequenzen auf seine Weise – mit Jauchzern untermischt. Wie lange wird’s dauern, und es hat auch die ihm passend dünkenden Worte für die Weise gefunden und – der weltliche, der Natur- und Volksgesang steht dem Kunstgesange der Kirche gegenüber – mit der Zeit vielleicht als ein gefährlicher Gegner. Wäre dem nicht vorzubeugen? Thor!“ tönte es nach einer Pause zwischen den halbgeschlossenen Lippen vorwurfsvoll hervor, „wähnest Du vermessen, dem Drang eines ganzen Volkes, seine Freude in Tönen auszudrücken, Fesseln anlegen zu können? Es wäre Sünde, dies zu wollen. Doch solchen Trieb in die rechte Bahn zu lenken, ihn für den Ernst des Lebens der Kirche unterthan zu machen, das wäre ein gottgefälliges und auch der Menschheit nutzbringendes Werk. Das darf und – will ich unternehmen und mit Gottes Hilfe auch zu verwirklichen suchen“

Notker war weiter vorgetreten und nun am Rande der Schlucht angelangt. Hier ließ er sich auf einen bemoosten Stein nieder und blickte hinab in die Tiefe, wo der Wildbach schäumend über mächtige Felsblöcke und steiniges Gerölle dahinschoß. Er sah eine Anzahl Männer, die damit beschäftigt waren, gewaltige Baumstämme zu einem Uebergang über die Schlucht mit dem wildtosenden Bergwasser zusammenzufügen. Die Arbeit war schon ziemlich weit vorangeschritten. Aus der Tiefe stiegen Streben auf, die, von allen Seiten gestützt, ein zweites Balkengerüste trugen, das der eigentlichen Brücke als Unterlage dienen sollte. Eben waren die Leute dabei, die längsten der Stämme als Quer- und Verbindungsstücke in die richtige Lage zu bringen, was nur mit größter Anstrengung und gleicher Vorsicht zu ermöglichen war. Des Mönches zarte Gestalt schauerte bei diesem Anblick zusammen, dann murmelte er. „Dort, mir zur Seite, ein Paradies – hier, vor mir, die Unterwelt mit ihren Schrecken! – Dort das frische, fröhliche Leben, die Freude an der herrlichen Gotteswelt – hier unten ein Ringen mit dem Tode!“ Dann fügte er, wieder in den psalmodirenden Ton verfallend, hinzu. „ Kyrie eleison! Christe eleison – Herr, erbarme Dich ihrer!“

Da ertönte plötzlich in seiner Nähe eine Männerstimme, die wohl ehrerbietig, doch auch mit einer unverkennbaren freudigen Erregung rief. „Unser Herregott sei gelobt und gedankt! Seine Gnade läßt mich gerade Euch am Wege finden, frommer Vater, um von Euch den Segen zu erhalten,“ und vor dem Mönche stand derselbe Mann aus dem Volke, der vorhin mit der Hirtin um die Wette gesungen hatte. Es war eine jugendliche kraftstrotzende Gestalt, mit gebräunten Zügen und blitzenden Augen. Auf dem dunklen krausen Haar saß eine Wollmütze mit dem schmucken Federspiel eines wilden Berghahns geziert, und der ärmellose Koller, den er über die Schulter geworfen trug, war das Fell eines jungen Bären, den er mit seinen Händen erwürgt hatte.

In nomine Dei sei gegrüßt, Hilty!“ entgegnete Notker, mühsam die Worte hervorbringend, doch mit einem freundlichen Blick auf den jungen Bauer. „Und nun sage mir, zu was der Segen eines armen Mönches Dir frommen soll?“

„Das Anneli auf dem Geißbühel drüben und ich, wir sind soeben einig geworden. Morgen, am Sonntag, nach dem Hochamt, kommen wir zu dem hochwürdigsten Herrn Abt, auf daß er uns zusammengebe für das Leben. – O, für Alles ist gesorgt, frommer Vater! Mein Anneli bleibt bei der Herde des gestrengen Herrn Klostervogts; ich zimmere uns drüben auf der Alm eine Hütte und schaffe weiter für das Kloster, wie jetzt bei der Brücke dort unten. Zwei Geißen hat das Anneli, die geben uns Milch und Käse; und ich verdiene das Brot dazu. Da werden wir leben wie im Paradiese! – Ju -!“

In einem Athem hatte der Bursche dies Alles hergesagt; die Freude gestattete dem glücklichen Menschenkinde kein ruhiges Reden, wie sich dies wohl geziemt hätte. Doch den Jauchzer unterdrückte er denn noch glücklicher Weise zu rechten Zeit.

„Das erklärt und entschuldigt auch Dein spätes Erscheinen bei der Arbeit, die von den Männern dort unten schon längst wieder aufgenommen wurde – und doppelt gerechtfertigt ist Dein Wunsch nach dem Segen eines Dieners des Herrn und der Kirche. Kniee nieder, Hilty!“ So sprach Notker zu dem jungen Manne, der bereits die Mütze abgenommen hatte und nun niederkniete. Der Mönch legte ihm die Hände auf das Haupt, und den Blick nach oben gerichtet, sprach er mit einer solchen heiligen Ueberzeugung und Innigkeit, daß sein Stammeln der Feierlichkeit des Augenblicks keinen Abbruch zu thun vermochte, also: „Der Herr segne Dich, und seine Gnade sei mit Dir bis an Dein Lebensende! Der Herr beschütze Dich und wehre von Dir ab Gefahr und Noth, wie sie in seinem Berufe jedem Menschen droht. Amen! – Und nun, mein Sohn, gehe mit Gott an Dein Werk und denke, was Er thut, ist wohlgethan!“

Dem jungen Menschen mußten die Segensworte des Mönches einen tiefen Eindruck gemacht haben; denn in seinen Augen glänzten Thränen, die auf die Hand Notker’s niedertropften, als er sich darüber beugte, sie mit ehrfurchtsvollem Dank zu küssen. Dann erhob er sich. Da erklang in der Ferne das helle Jauchzen und Singen der Frauenstimme wieder, und Alles um sich her vergessend, nur seines lieben Anneli’s gedenkend, das ja schon morgen ihm als Weib für das ganze Leben angehören sollte, stieß Hilty einen gleich fröhlichen, dabei urkräftigen Jauchzer als Antwort aus und eilte dann auf dem Wege davon, der ihn in die Tiefe der Schlucht, zu den arbeitenden Genossen führen mußte.

*           *
*

Fast eine Stunde war vergangen, die Sonne dem Scheiden nahe, und Notker, der Stammler, saß noch immer wie festgebannt auf seinem Steine, die Augen nicht abgewendet von den tief unter ihm arbeitenden Männern. Im Grunde folgte er doch nur dem Thun des jungen Hilty; denn dieser hatte in seiner Jugendkraft, in seiner augenblicklichen Ueberfülle an sonnigem Lebensglück den gefährlichsten Theil der Arbeit übernommen. Auf dem förmlich in der Luft schwebenden Ende eines der Querhölzer saß er und arbeitete daran, den zweiten Stamm, der ihm zugeschoben wurde, in die richtige Lage zu bringen. Besorgt wie ein Bruder um den Bruder – bald mit steigender Angst, sah Notker dem wohl allzu kühnen Mühen des jungen Mannes zu, dem mitten im vollen Leben der Tod so nahe war. Da ertönte plötzlich aus der Tiefe, von dem schwanken Balkengerüste her, ein schriller Schrei zu ihm hinauf. Dann folgte ein Krachen und Prasseln, das donnerartig und im Verein mit dem Aufkreischen und Rufen vieler Männerstimmen auch unheimlich die Schlucht durchhallte.

Ein Blick hatte dem Mönche das Entsetzliche gezeigt, das da so urplötzlich vorgegangen war. Durch die fast übermenschlichen und unbedachten Anstrengungen der Männer, und besonders Hilty’s, den riesigen Baumstamm in die richtige Lage zu bringen, waren die unteren Streben ins Wanken gerathen und, jäh ihren Halt verlierend, zusammengebrochen. In ihrem Niederstürzen hatten sie den armen Burschen mit sich in die Tiefe gerissen.

Notker war sofort aufgesprungen, die weiße Kutte zu zusammenraffend, flog er den Abhang hinunter in die Schlucht. Doch nicht bei dem Stand der Männer machte er Halt – mit der Behendigkeit einer Gemse kletterte er weiter hinab in die Schlucht,

[333]

Unter den Linden.
Originalzeichnung von Friedrich Stahl.

[334] dorthin, wo jetzt die Wasser des Baches noch wilder tosten und schäumten, dorthin wo der Körper Hilty’s unter den Baumstämmen sichtbar war, regungslos wie diese, welche sich zwischen den Felsen fest eingeklemmt hatten. Als Erster war der Mönch zur Stelle, und als die Gefährten des Verunglückten auch nach und nach anlangten, da hatte Notker, des Wassers nicht achtend, das ihm die Kutte, die nackten Beine netzte, bereits den Körper untersucht und den Tod des Armen erkannt. Einer der Querbalken hatte ihn an der Schläfe getroffen; denn dort rieselte ein schmaler Blutstreifen unaufhörlich dem Nacken zu und färbte das schäumende Wasser an dieser Stelle mit einem leichten Roth. Der Tod mußte augenblicklich eingetreten sein; denn die Züge lächelten noch: mit einem frohen Gedanken an sein armes Liebchen, wohl auch beruhigt durch den empfangenen Segen des Priesters, war er hinübergegangen.

Den kurz und bestimmt gegebenen Befehlen Notker’s gehorchend, schafften die Arbeiter den Baumstamm, welcher den leblosen Körper gefangen hielt, bald zur Seite, und mit einer Kraft, die man der kleinen, schmächtigen Gestalt des Mönches nimmer zugetraut haben würde, lud dieser den Todten sich auf die Schulter. Die anderen Männer, welche tief ergriffen kaum eine laute Klage wagten, halfen nach, und unter Anspannung aller Kräfte erreichte die Gruppe mit ihrer schweren Bürde auch glücklich die Höhe – von neuen herzzerreißenden Klagen empfangen. Das arme Anneli war, von dem Krachen und Poltern der in die Tiefe stürzenden Balken aufgeschreckt, in einer wahren Todesangst herbeigeeilt, um hier den Mann, den sie eben noch in voller Lebenskraft geschaut, der sie in Liebe umfangen gehalten hatte und morgen schon ihr Gefährte für das Leben werden sollte – todt und verstümmelt zu ihren Füßen zu sehen. Ein Augenblick hatte ihr Jauchzen und Singen in Weinen und Klagen, ihr Hoffen auf ein sonniges Lebensglück in Trauer und Oede gewandelt!

Notker tröstete die Jammernde, so gut er es vermochte; dann ordnete er an, daß die Leiche nach dem Kloster gebracht werde, und bald setzte sich der Trauerzug, nur von dem Weinen des armen Mädchens begleitet, nach dem Hause des heiligen Gallus, dem der Todte als Werkmann angehört hatte, in Bewegung.

*           *
*

Noch bis spät in der Nacht saß Notker, der Stammler, in seiner Zelle und dachte nach über das Schreckliche, was er am Tage erlebt, über die Lehre, welche er dadurch empfangen hatte. „Freude und Trauer, Leben und Sterben reichen sich die Hand: mitten im Leben ist der Mensch vom Tod umfangen!“ Also sagte er sich mit tiefernstem Sinnen. Dann ergriff er Pergament und Stift, gab seinen Gedanken Worte, Rhythmus und Töne und schrieb:

Media vita in morte sumus.
Quem quaerimus adjutorem, nisi te Domine?
Qui pro peccatis nostris juste irasceris,
Sancte Deus, sancte fortis, sancte et misericors salvator:
Amarae morti ne tradas nos.

Nun malte er über die Worte allerlei seltsame Zeichen, Striche, Punkte, Häkchen und kleine Schnörkel, die damalige Schrift der Noten, Neumen genannt. Er benutzte dazu einzelne Theile eines orientalischen, von der griechischen Kirche der lateinischen übermittelten Gesanges, im 4. Jahrhundert von dem heiligen Ambrosius, Bischof zu Mailand, bei dem Gottesdienste eingeführt, und über das Ganze schrieb er:

Antiphona de morte.

Am folgenden Sonntagmorgen, nach dem feierlichen Hochamt, wurden die sterblichen Ueberreste des Verunglückten auf dem stillen Klosterfriedhofe unter Beistand des Abtes und sämmtlicher Mönche des heiligen Gallus zu ewigen Ruhe bestattet. Alle Dienst- und Werkleute des Klosters, alle Bewohner und Bewohnerinnen der Wohnstätten, welche um das Gotteshaus entstanden waren, wie auch die aus Nähe und Ferne Herbeigeeilten, wohnten tief ergriffen der Grablegung bei. Die Mönche intonirten im Chor die von Notker Balbulus in der Nacht gesungene Antiphona de morte. Mit einer Mark und Bein durchdringenden Gewalt wirkten auf die beim Grabe Versammelten die Nothschreie. „Heiliger Herre Gott! Heiliger starker, heiliger und barmherziger Heiland! Laß uns nicht Gewalt anthun des bittern Todes Noth!“ von den Mönchen mit tiefer Ueberzeugung und Ergriffenheit ausgestoßen, und die Menge vermochte nur zagend, mit gedämpfter Stimme das gewohnte „Kyrie eleison, Christe eleison!“ als Antwort hervorzubringen. Wie auf das Volk, so übte der Todtensang auch auf die Mönche eine erschütternde Wirkung aus, und im Innersten ergriffen verließen Alle den Friedhof des heiligen Gallus.

*           *
*

Das „Media vita“ des St. Gallener Mönches sollte noch ganz andere folgenschwere Wirkungen erzielen und die seltsamsten Schicksale erleben. Wie Notker es geahnt und wohl auch bezweckt, hatte das Volk sich des Sanges bemächtigt; er verbreitete sich mit der Zeit immer mehr – durch ganz Deutschland, und wurde ein Schlachtgesang, dem man Wunder-, sogar Zauberkraft zuschrieb. Durch sein Anstimmen vor dem Kampfe sollte der Sieg gebannt werden, und wer ihn zuerst intonire, der sei gefeit, hieb- und stichfest, also glaubte man. Bekannt ist, daß schon 933 bei der Schlacht im Merseburger Lande unter Kaiser Heinrich I. die Priester und Mönche ihn sangen und die deutschen Heerscharen mit dem „Kyrie eleison, Christe eleison!“ die wilden Ungarn schlugen; wie ferner 1233 in dem Kreuzzug wider die armen Stedinger die Priester des Erzbischofs von Bremen sich auf eine Anhöhe stellten und das „Media vita“ intonirten, während die Ritter und Knechte des Bischofs die schuldlosen Feinde, Männer und Frauen, erschlugen. 1315 sangen es die Eidgenossen in der Schlacht am Berge Morgarten wider den Herzog Leopold von Oesterreich (Sohn des erschlagenen Kaisers Albrecht I.), dessen Ritter dabei den Tod auf dem Schlachtfelde fanden, indeß der Herzog sein Leben nur mit Mühe durch die Flucht zu retten vermochte. Dieser Sieg des einfachen Hirtenvolkes über ein Heer von Fürsten und adeligen Herren, damals unfaßbar und wie ein Wunder erscheinend, das nur mit Hilfe eines im Grunde geistlichen Sanges hatte erreicht werden können, sowie der Mißbrauch, der anderwärts mit dem „Media vita“, als vermeintlichem Zaubersang getrieben wurde, mögen wohl die Hauptursache gewesen sein zu dem Beschluß der im Jahre nach der Schlacht 1316, zu Köln abgehaltenen Synode, daß von nun an Niemand die Antiphona des St. Gallener Mönches ohne Erlaubniß seines Bischofs singen dürfe. Doch die Eidgenossen kehrten sich nicht an diesen geistlichen Befehl, oder sie umgingen ihn mit einer naiven Geschicklichkeit, indem sie Notker’s lateinische Verse in ihre deutsche Sprache übersetzten, wodurch der fromme wunderthätige Sang erst recht Gemeingut des Volkes werden mußte.

Im Laufe des 14. Jahrhunderts entstand diese erste Verdeutschung; sie mag nicht viel anders als die aus dem folgenden 15. Jahrhundert gelautet haben.

„In mittel unsers Lebens zeyt, im tod seind wir umbfangen.
wen suchen wir, der uns Hilffe geyt, von dem wir Huld erlangen?
dann dich Herr alleine,
der du umb unsre missethat rechtlich zürnen thuest.
Heiliger Herre got, heiliger starker got!
Heiliger und barmhertziger, heiligmacher Got!
laß uns nit gewalt thun des bittern todes not!“ –

Mit diesem Sang und „Kyrie eleison!“ griffen 1386 die Schweizer Herzog Leopold III. von Oesterreich, Enkel Kaiser Albrecht’s, bei Sempach an. – Sie hatten sich vorher auf die Kniee geworfen und gebetet. Da sollen mehrere Ritter des Herzogs spöttisch gerufen haben. „Die zagen Leute fallen auf die Kniee und wollen um Gnade bitten!“ worauf ein Klügerer antwortete: „Wohl bitten sie um Gnade, aber nicht uns, sondern Gott, und was das bedeutet, werden wir bald erfahren.“ Und es bedeutete: Sieg den Schweizern, Tod und Untergang dem stolzen Herzog und seiner ganzen glänzenden Ritterschar.

Etwa hundert Jahre später, 1476, im März und Juni, bei Granson und bei Murten, kämpfte das „Media vita“ wiederum mit den Schweizern gegen den mächtigen und prunkliebenden Karl den Kühnen, Herzog von Burgund. Bei Granson verlor der Stolze seine Ehre, bei Murten seine reichste Habe – wie er bald darauf bei Nancy sein Leben verlieren sollte. Ulrich Barnbühel, der Hauptmann und Anführer der Schweizer von St. Gallen in beiden Schlachten, wird wohl nicht der Letzte gewesen sein, der den feierlichen Schlachtgesang seiner engeren Heimath mit einer frommen Begeisterung gesungen.

Am Abend der Schlacht bei Murten erklang auch zu Freiburg das „Media vita“, doch nicht als Schlachtgesang, sondern als [335] wirkliche „Antiphona de morte“. Nach dem Siege hatte ein junger Freiburger die drei Wegestunden, welche Murten von seiner Vaterstadt trennten, in ununterbrochenem Lauf zurückgelegt, um seinen Landsleuten die frohe Kunde zu bringen. Vor dem Stadthause brach er vor Erschöpfung zusammen und vermochte nur noch das Wort „Sieg!“ hervorzustammeln; dann verschied er. Geistlichkeit und Volk sangen dem Wackern tief ergriffen Notker’s Sterbelied; dann erst überließ man sich dem Jubel über die errungene und gesicherte Freiheit. Ein Lindenzweig, den der Bote getragen, wurde an derselben Stelle, wo der Jüngling verschieden, in den Boden gepflanzt; er wuchs zum mächtigen Baume heran, und heute noch grünen die weitausgespannten, von einem Balkengerüst gehaltenen Aeste des vierhundertjährigen morschen Stammes.

Mit dem folgenden Jahrhundert, der Reformation, begann für Notker’s Antiphona eine neue Zeit, ein neues Leben. Luther dichtete das „Media vita“ um, fügte zwei weitere Strophen hinzu, und nun begann es als protestantisches Kirchenlied:

„Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen.“

Die Urmelodie, von Notker zu seinen lateinischen Versen in Neumen notirt, hatte schon bei der ersten Verdeutschung der Antiphona eine Umwandlung erfahren müssen. Luther behielt die im 15. Jahrhundert gebräuchliche Weise bei. 1524 erschien sie mit dem Lied in Walther’s Gesangbuch.

Die letzte Umwandlung erfuhr die „Antiphona de morte“ des Mönches von St. Gallen durch unseren Schiller; denn der Gesang der barmherzigen Brüder im „Tell“ am Schluß des vierten Aktes:

„Rasch tritt der Tod den Menschen an –
Es ist ihm keine Frist gegeben“ etc.

ist ja nur eine poetische Umschreibung von Notker’s

Media vita in morte sumus.




Blätter und Blüthen.

Ueber Volkstheater. Wer dem Theaterleben der Gegenwart folgt, der wird mit großer Aufmerksamkeit auch die leisesten Symptome beachten, welche darauf hindeuten, daß man einen Anlauf nimmt, die Gleise des Schablonenwesens und der Alltagsroutine, welche allzu sehr ausgefahren sind, zu verlassen und in andere Bahnen einzulenken. Diese Symptome vermehren sich in jüngster Zeit; denn gleichzeitig von verschiedenen Orten kommt die Kunde, daß man „Volkstheater“ begründen will, welche dem Kultus der dramatischen Muse in würdiger, volksthümlicher Weise huldigen sollen, unter äußeren Bedingungen, die sie der großen Menge des Volkes zugänglich machen.

An verschiedenen größeren Bühnen werden seit längerer Zeit „Klassikervorstellungen zu wohlfeilen Preisen“ veranstaltet: es hat sich dabei ergeben, daß Schiller’s, Goethe’s und Shakespeare’s Werke, auch die einiger neueren auf den wegen unserer Klassiker wandelnden Dichter bei herabgesetztem Eintrittspreis regelmäßig das Haus mit einem empfänglichen und begeisterten Publikum füllen, während jene ernsten Dramen sonst vor leeren Rängen und einem oft gähnenden fashionablen Publikum aufgeführt werden. Die Nutzanwendung lag nahe; man kann für solche wohlfeilen Aufführungen ernster Dichtungen eine dauernde Stätte begründen und den Kreis derselben durch die Aufnahme eigentlicher Volksstücke im ernsten und heitern Genre erweitern.

Unverkennbar ist es überhaupt, daß das Publikum in letzter Zeit sich von der faden Kost der Schwänke und Schwanklustspiele immer mehr abwendet und eine wachsende Neigung bekundet, sich an Vorführungen ernster Dichtung zu erfreuen. Ernst von Wildenbruch’s Trauerspiel „Das neue Gebot“ hat am Berliner Ostendtheater eine so lange Reihe gutbesuchter Aufführungen erlebt, daß es zum Löwen der Saison an dieser Bühne geworden ist. Mag die Mode dazu viel beigetragen haben: es ist immerhin erfreulich, daß auch ein talentvoller tragischer Dichter Mode werden konnte. Und Schillers „Jungfrau von Orleans“, von dem Ensemble der Meininger aufgeführt, hat vier Wochen lang das Viktoriatheater gefüllt: diese „Jungfrau von Orleans“, für welche sich nach der Ansicht hochgelehrter Aesthetiker eigentlich nur die Schüler mittlerer Gymnasialklassen noch zu begeistern ein Recht haben. Mag die Inscenirung durch die Meininger zu diesem Erfolge wesentlich beigetragen haben: nun, das ist eben das Ei des Kolumbus! Man gebe die großen Tragödien in einer Weise, daß sie das Publikum anzuziehen und zu fesseln vermögen.

Von Berlin und Wien kommt gleichzeitig die Nachricht, daß man die Begründung von Volkstheatern ins Auge gefaßt hat. Ludwig Barnay, ein gefeierter Gastspieler, der noch jüngst unter den Bewerbern um die Direktion des frankfurter Stadttheaters genannt wurde, soll das Walhallatheater in Berlin, bisher die Stätte der Ausstattungsoperette, welche im Kostüm aller Völker und Zonen umherwandelt, für ein neu zu begründendes Volkstheater bestimmt haben, dessen Leitung er übernehmen will. Das Theater ist eines der größten Berlins, faßt bei Weitem mehr Personen, als Schauspielhaus, Wallnertheater und selbst Viktoriatheater, von dem räumlich etwas beschränkten Deutschen Theater gar nicht zu sprechen. Daß unter Ludwig Barnay’s Direktion das höhere Drama eifrige Pflege finden wird, dafür bürgt der Name des Künstlers und der Charakter seiner Kunstleistungen.

In Wien ist von mehreren Unternehmungen einer Volksbühne die Rede. Wie es scheint, will auch das Burgtheater, vielleicht um einer entstehenden Konkurrenz die Spitze zu bieten, eine derartige Filiale gründen, unter Betheiligung und Leitung der ersten Regisseure und Schauspieler. Auch von Worms kommt die Kunde, daß dort die Bürgerschaft ein Volkstheater gründen will, auf welchem besonders volksthümliche patriotische Stücke zur Aufführung kommen sollen.

Wieviel sich von allen diesen Plänen verwirklichen wird, muß die Zukunft lehren; daß sie zu gleicher Zeit auftauchen, zeugt von einem vorhandenen Bedürfniß und scheint eine Wendung des Zeitgeschmacks anzukündigen.

Gewiß werden sich verschiedene Ansichten über das Repertoire einer Volksbühne geltend machen: man wird mit Recht zunächst an die eigentlichen Volksstücke denken, wie sie Anzengruber verfaßt und wie sie mit starker Dialektfärbung von den Münchnern, den Schauspielern des Theaters am Gärntnerplatz, bei ihren Gastreisen auch in Norddeutschland vorgeführt werden. Der Dialekt und das Lokalkolorit braucht nicht ausgeschlossen zu werden: es kommt dabei nur auf die Provinzen und die Städte an, wo Volksbühnen errichtet werden. Wird dort derselbe Dialekt gesprochen, wie in den vorgeführten Stücken, so ist er in diesen vollkommen berechtigt. Dagegen gehören Fritz Reuter’sche Stücke in Süddeutschland und oberbayerische Dorfkomödien in Norddeutschland nicht auf eine Volksbühne. Ihnen fehlt die unmittelbare Wirkung; es bedarf zu ihrem Verständniß einer künstlichen Vermittelung, des Hineinlebens in einen fremden Dialekt, sie sind daher in der Mitte einer anders gearteten, anders sprechenden Bevölkerung bloß als dramatische Delikatessen zu betrachten, die nur für eine ästhetische Feinschmeckergemeinde genießbar sind.

Unbedingt gehören die großen Tragödien im Stile Shakespeare’s und Schiller’s auf eine Volksbühne; sie werden damit aus dem Treibhause einer oft widerwilligen Kunstpflege in ihren rechten Nährboden versetzt. Dafür spricht der Enthusiasmus, welchen die klassischen Dichtungen bei dem Publikum der wohlfeilen Aufführungen erwecken. Der stiefmütterlich behandelten Tragödie der Neuzeit eröffnet sich damit eine neue glänzende Perspektive.

Die Posse, vor allem die Zauberposse im Raimund’schen Stil mit poetischem Anhauch und sittlichen Tendenzen, darf nicht ausgeschlossen sein; eben so wenig das Ausstattungsstück, wenn dasselbe nicht bloß um des dekorativen Schmucks willen geschrieben ist, sondern neben den nicht zu verschmähenden glänzenden Schaustücken für das Auge auch für Geist und Herz Nahrung bietet.

Dagegen wird unter allen Umständen von der Volksbühne auszuschließen sein die comédie larmoyante, das Salonstück im Stile der Franzosen, jede Art von Intriguenstück und, wie wir meinen, neben dem Konversationsdrama auch die heute modischen Schwanklustspiele mit ihren sich stets wiederholenden Situationen und koulissenpappenen Charaktermarionetten: es giebt ja genug Kunststätten, welche dies Genre pflegen, und wenn sich die Gebildeten an den Purzelbäumen dieser haltlosen Komik bisweilen zu ergötzen scheinen, so soll man wenigstens das Volk damit verschonen.

†      

Der Niagara im Dienst der Industrie. (Mit Illustration S. 321.) In Amerika fehlt es nicht an unternehmenden Männern, welche furchtbare Abgründe überbrücken, himmelhohe Alpenketten durchbohren, die tosendsten Wasserfälle bändigen und gewinnbringenden Bestrebungen dienstbar machen. So sind die berühmten St. Anthonyfälle, welche der jugendliche Mississippi bei Minneapolis bildet, durch gewaltige Werke auf einer inmitten des Stroms gelegenen Insel nutzbar gemacht, und zahlreiche kleine und große Industrie-Anstalten beuten seine in alle Theile der Stadt geleitete Kraft aus, welche derjenigen von 12 000 Pferden gleich geachtet wird.

Mannigfach sind die Vorschläge gewesen, wie man in gleicher Weise auch dem Stromriesen Amerikas, dem gewaltigen Niagarafalle, beikommen könne. An abenteuerlichsten Projekten und Zukunftsbildern hat es nicht gefehlt: haben doch schon einzelne Projektemacher verlauten lassen, daß sie mit der aus der Kraft der Fälle erzielten Elektricität die viele, viele Meilen entfernt gelegene Riesenstadt New-York erleuchten wollen.

Daß die Stromfälle in solcher Weise unterjocht werden können, halten wir kaum für möglich und noch weniger für wünschenswerth, da die erforderlichen Anlagen und Bauten zweifelsohne die ursprüngliche Großartigkeit des Schauspiels, welches die Niagarafälle bieten, vernichten müßten.

Die Lösung des Projektes scheint jedoch in glücklichster Weise durch einen neueren Entwurf gegeben zu sein. Nicht der Niagarafall, sondern der Niagarastrom vor Bildung der Fälle soll dienstbar gemacht werden, und dies kann in der Weise erzielt werden, daß man weit oberhalb der Fälle einen Theil der Wassermassen in einen stark abfallenden, unterirdischen Tunnel leitet, dessen Mündung unterhalb der Fälle zu Tage tritt (vergl. die mit einem Kreuz bezeichnete Stelle auf der Abbildung). Somit wäre die Ausbeutung der Wasserkraft des Niagara möglich, ohne daß seiner Schönheit auch nur der geringste Abbruch geschieht. Der Abgang der seitwärts geleiteten Wassermengen würde nicht im mindesten auffällig sein, da, wie jeder Besucher der Fälle weiß, die Massen des Niagarastromes so bedeutende sind, daß der Ausfall nicht größer sein würde, als wenn man einen Becher voll Wassers einem enormen Reservoir entnähme.

[336] Und so können wir dem allzeit aufwärts strebenden amerikanischen Volke nur wünschen, daß es auch dieses große Projekt mit demselben Geschicke zur Ausführung bringen möge, mit dem es zum Staunen der alten Welt bereits so viele zu Ende geführt hat.

Unter den Linden. (Mit Illustration S. 333.) Wir befinden uns in der Reichshauptstadt: es ist ein kalter Tag im April oder Mai; die jungen Lindenbäume zeigen die ersten Blätter, die aber die Opfer des Spätfrostes geworden sind. So verkümmert oft das junge Leben: das beweist auch der arme krüppelhafte Junge, der dort die Frühlingsboten, Maiblumen und Rosen, einer Dame zum Kauf anbietet, die im Gegensatze zu dem armen Verkäufer im vollen Reiz der Jugend prangt. Im Hintergrunde bewegt sich das großstädtische Leben der Residenz, Herren in Civil und Uniform, Damen in modischer Frühjahrstoilette, vorbei an den Litfaßsäulen, welche die stets neuen Schaustellungen und Wunder der Residenz dem vergnügungssüchtigen Publikum verkünden. †     

Beecher’s letzte Kirchstuhlauktion. Henry Ward Beecher, der allbekannte und berühmte Kanzelredner zu Brooklyn an der Plymouth Church, hat am 8. März d. J. das Zeitliche gesegnet. Er ist 74 Jahr alt geworden. Ganz Brooklyn, eine der kirchenreichsten Städte der Vereinigten Staaten, trauert um ihn und vergißt gern den berüchtigten Skandalproceß, welchen ihr bedeutendster Seelsorger mit einem Mr. Tilton gehabt, vergißt gern die zum Processe nothwendig gewesenen und von den Kirchenmitgliedern dazu beigesteuerten 100 000 Dollars.

Da dürfte vielleicht ein Rückblick auf das letzte brillante Geschäft der Plymouthkirche von Interesse sein.

Es war im Januar d. J. An dem Tisch der Plattform, unter der Orgel der Kirche, sitzt Henry Ward Beecher. Kein Talar schmückt ihn. Er trägt einen schwarzen Anzug, die altmodische breite goldene Uhrkette ruht auf der schwarzen Weste. Er blättert während des Orgelspieles, auf seine Ellenbogen gestützt, in Papieren.

Der Gesang der Gemeinde ist beendet. Beecher erhebt sich von seinem Sitz und tritt an das Stehpult, auf welches er die Bibel und das Manuskript seiner Predigt niederlegt. Die Gesichtsfarbe des alten Herrn ist blühend und jugendlich frisch. Alle seine Bewegungen sind lebhaft, trotz der vierundsiebzig Jahre. Die Stirn ist frei, wenn auch nicht hoch, das Auge nicht besonders fesselnd; die Oberlippe ist lang und gewöhnlich, das Kinn stark und breit, der große Mund unschön. Der Kopf, als Ganzes betrachtet, macht einen groben, energischen, selbstbewußten Eindruck; wer in Beecher eine geistreiche, feine, durchgeistigte Erscheinung zu sehen vermuthet hat, wird sich gewaltig enttäuscht fühlen.

Nur der Anfang seiner Rede, die er gerade acht Wochen vor seinem plötzlichen Tode hielt, ist hier von Intresse. Er kündigte den Andächtigen an, daß, wie die auf den Kirchplätzen von Jedem vorgefundenen Pläne besagten, am Dienstag Abend die Auktion dieser Kirchenstühle für das Jahr 1887 hier in der Plymouthkirche stattfinden und er diesen Akt leiten würde.

Diese „geschäftliche Mittheilung“ hatte 22 Minuten sein oratorisches Talent in Anspruch genommen.

Der erwähnte Plan zeigte den Grundriß der Kirche und die Lage der Plätze, gleichwie es bei den üblichen Plänen der Theater der Fall ist. Auf jedem Platz war der Preis notirt, welchen die Kirche verlangte, der aber in der Auktion überboten werden sollte.

Der Dienstag Abend kam. Die gutbesetzte Kirche war hell erleuchtet. Der Eintritt Beecher’s wurde mit Beifallklatschen begrüßt. Er nahm auf der Estrade Platz und ermahnte noch einmal zur lebhaften Betheiligung.

„Gerade so,“ meinte er, „wie Euch keine Arznei zu theuer sein wird, ein geliebtes Kind vom Tode zu retten, so müßt Ihr hier für das Wohl des Hauses Gottes etc.“

Fünf Herren, hervorragende Mitglieder der Gemeinde, unterzogen sich den Pflichten der Auktionatoren. Man traute seinen Ohren nicht, so hoch gingen die Gebote! Stuhl Nr. 41, taxirt im Plane auf 60 Dollars, erzielte 235 Dollars, ein anderer 596 Dollars, Stuhl Nr. 57 sogar 702 Dollars!

Das wird die letzte Auktion in der Plymouthkirche gewesen sein, denn für den eigenartigen Beecher findet die Gemeinde keinen Ersatz.

Beecher hinterläßt 200 000 Dollars Vermögen.

Bilderatlas zur deutschen Litteraturgeschichte. Es ist jetzt Mode geworden, auch die Geschichte unserer Litteratur nicht nur mit illustrativem Schmuck herauszugeben, sondern auch durch die Bilder besonders anschaulich und für weitere Kreise interessant zu machen. Mit welchem Erfolge das geschieht, beweisen die zahlreichen Auflagen von König’s deutscher Litteraturgeschichte. Jetzt wird ein „Bilderatlas zur Geschichte der deutschen Nationallitteratur“ von Gustav Koennecke herausgegeben, der gleichsam eine Ergänzung zu allen deutschen Litteraturgeschichten bildet: da finden wir alte Drucke, Litteraturdenkmäler, Miniaturen, Autographen und Portraits der Dichter und der Persönlichkeiten, die in ihr Leben eingriffen, von den ältesten bis in die neuesten Zeiten: die Portraits sind meistens wohlgetroffen, wenngleich sich einige neue Dichter über die Wahl nicht sehr günstiger photographischer Aufnahmen beschweren könnten. Für den Litteraturfreund enthält der Atlas viel Interessantes, doch auch das große Publikum wird manches irrige Bild, das vor seiner Phantasie schwebte, leicht nach den getreuen Bildern des Atlas verbessern können. †     

Allerlei Kurzweil.
Schach.
Von Fr. Dubbe in Rostock.

SCHWARZ

WEISS

Weiß zieht an und setzt mit dem vierten Zug matt.


Auflösung der Schach-Aufgabe auf S. 272[WS 1].
Weiß: Schwarz:
1. S e 4 – c 5 S h 4 – f 5
2. S e 7 – g 6 † beliebig.
3. S resp. D setzt matt.  

Varianten: a) 1. … K f 6, 2. D c 7 etc. – b) 1. … K d 4, 2. D b 4 † etc. – c) 1. … K d 6, 2. D b 8 † etc. – d) 1. … a 4 – b 3 : , 2. S d 7 † etc. – e) 1. … c 1 D (oder f 2, g 4), 2. D c 7 † etc. Eine Serie glänzender Spiele, mit wenigen Mitteln erzielt und in graziöser, ungezwungener Weise an einander gereiht!


Vorsilben-Räthsel.

Was stets mit Ver die Menschheit schändet,
Sei reich mit Vor dir zugewendet,
Wenn echtes Glück und heitern Sinn
Es in sich schließt dir zum Gewinn.

Mit Bei wird es von dir begehret,
Wo du als Weiser bist geehret,
Wogegen es mit Un vereint
Des Unterganges werth erscheint.


Kleiner Briefkasten.
(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)

Frau C. N. in Altkloster. Sie wollen eine vor 17 Jahren erschienene Novelle „Die neue Gouvernante“ dramatisiren und geben sich alle Mühe, den Verfasser zu ermitteln. Es ist dies um so lobenswerther, als manche Dramatiker nicht entfernt so gewissenhaft sind, sondern Novellen in Stücke verwandeln, ohne sich um die Verfasser der ersteren zu bekümmern, selbst wenn sie den ganzen Dialog mit der Schere herausschneiden. Leider! sind Sie in Ihren Bestrebungen nicht glücklich gewesen. Die Novelle erschien seiner Zeit in „Das Haus“, einem litterarischen Beiblatt zu dem damaligen „Hannoverschen Anzeiger und Morgenzeitung“. Der jetzige Verleger des Hauptblattes kannte den Namen des Verfassers nicht; ein Brief an den damaligen Redakteur des „Haus“, Herrn J. Pfeiffer in Berlin, kam als unzustellbar zurück. Wir wollen Ihrem redlichen Streben zu Hilfe kommen, indem wir Jeden, der etwas über den Verfasser jener Novelle weiß, bitten, die Redaktion der „Gartenlaube“ davon in Kenntniß zu setzen. Bleibt auch das vergeblich, so haben Sie Ihre Pflicht und Schuldigkeit gethan und können Ihr Drama getrost in Betrieb geben, mit dem Vorbehalt, den Gewinn mit dem Autor der Novelle zu theilen, falls er sich bei Ihnen melden würde.

M. F. in G. Sie wünschen einen Rath in Beziehung auf den Klavierunterricht Ihres Töchterchens, da Sie zweifelhaft sind, ob das Kind wirklich Talent habe. Hierauf ist sowohl in Ihrem Interesse, als in dem Unzähliger zu erwiedern: wo nicht die sicheren Zeichen eines wirklichen Talentes vorliegen, ist der Klavierunterricht als nutzlos, ja, in Anbetracht der verlorenen Zeit, als schädlich zu unterlassen. Nur talentvolle Kinder überwinden in etwa drei Jahren die erste, schwierigste Stufe und steuern dann erst dem eigentlichen Ziel des Unterrichts, der freien Kunstübung, zu. Die allermeisten Klavierschüler aber bekommen dieses Ziel niemals auch nur zu sehen, weil eben die davor liegenden Schwierigkeiten für einen Talentlosen unüberwindlich sind. Als sichere Kennzeichen des Talents können Sie betrachten: rasches Auffassen und Behalten, schnelle Fortschritte, sicheres Ohr für Richtig- und Falschspielen, Gedächtniß und die Fähigkeit, vom Blatt zu lesen; Lust und Fleiß kommen erst in zweiter Linie, denn talentvolle Kinder sind oft faul, während völlig unbegabte einen beklagenswerthen Fleiß und Eifer entwickeln. Da aber diese in späteren Jahren, wenn sie die Hoffnungslosigkeit ihrer Bestrebungen einsehen, doch das Klavierspiel aufgeben, so wäre dringend zu wünschen, man verschonte sie gleich von Anfang an damit!

Frau Juliane Grosse, früher in Werdau. Wir bitten um Ihre jetzige Adresse, da wir Ihnen Mittheilungen über den Aufenthalt Ihres verschollenen Bruders zu machen haben.

K. in Kreuznach. J. Marlitt’s Roman „Das Geheimniß der alten Mamsell“ erschien im Jahrgang 1867 der „Gartenlaube“. Die Vollendung des neuen von uns angekündigten Romans „Das Eulenhaus“ hat durch längere Krankheit der Verfasserin eine Verzögerung erlitten. Doch hoffen wir noch immer, denselben im Herbst d. J. bringen zu können.

L. G. in Budapest. Der „schöne Dichter“ ist schon verheirathet. Wir haben ihm jedoch Ihren Brief zugesandt, damit er erfahre, welche Eroberungen sein in der „Gartenlaube“ erschienenes Porträt gemacht hat.

V. G. in Westfalen. Besten Dank für Ihre freundliche Gesinnung! Sind Sie indeß nicht auch der Meinung, daß die Briefkastennotiz des betr. Blättchens sich selbst richtet? Wir hätten viel zu thun, wenn wir auf alle derartigen kleinlichen Angriffe erwiedern sollten!

J. B. C. in Buenos-Aires. Leider nicht geeignet. Besten Dank!


Inhalt: Götzendienst. Roman von Alexander Baron v. Roberts (Fortsetzung). S. 321. – Der Schiffer von altem Schrot und Korn. Ein Lebensbild von Eduard Mehl. S. 326. Mit Illustration S. 325. – Ein irrsinniger poëta laureatus. Von Eugen Reichel. Mit Portrait. S. 329. – „Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen.“ Eine Lieder-Legende des 9. Jahrhunderts. Von Ernst Pasqué. S. 331. – Blätter und Blüthen: Ueber Volkstheater. S. 335. – Der Niagara im Dienst der Industrie. S. 335. Mit Illustration S. 321. – Unter den Linden. S. 336. Mit Illustration S. 333. – Beecher’s letzte Kirchstuhlauktion. S. 336. – Bilderatlas zur deutschen Litteraturgeschichte. S. 336. – Allerlei Kurzweil: Schach. S. 336. Auflösung der Schach-Aufgabe auf S. 272. – Vorsilben-Räthsel. S. 336. – Kleiner Briefkasten. S. 336.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Wir erinnern daran, daß unsere Schilderung die Verhältnisse früherer Zeiten wiedergiebt; die heutigen Schulverhältnisse an der Küste sind wohlgeordnete und stimmen mit den oben geschilderten nicht mehr überein.
  2. Früher waren diejenigen Seeleute, welche vor dem 20. Lebensjahre 36 Monate zur See gefahren waren, vom aktiven Dienst in der Marine befreit und wurden sofort der Seewehr überwiesen. Heute müssen alle dienstfähigen Seeleute dienen, sie haben aber, sobald sie die Steuermannsprüfung bestanden haben, das Recht, als Einjährig-Freiwillige einzutreten.
  3. Diese drei Stücke sind bei J. J. Weber in Leipzig erschienen und mögen Lesevereinen ganz besonders empfohlen sein.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: S. 288