Die Gartenlaube (1899)/Heft 6

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1899
Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[164 c]

6. Heft. Preis 10 cents. 28. März 1899.

[164 d]

Inhalt.
Seite
Das Schweigen im Walde. Roman von Ludwig Ganghofer (5. Fortsetzung) 166
Erstes Grün 171
Hildesheim. Von Dr. Adolf Vogeler. 173
Didiers Braut. Novelle von A. Noël (Fortsetzung) 175
Der Wiener Rathauskeller. Von Balduin Groller. Mit Abbildungen 184
Eugenie John-Marlitt. Mit bisher ungedruckten Briefen und Mitteilungen. Von Moritz Necker (Schluß) 186
Der Goldmacher Don Manuel Caëtano 192
Ostermorgen. Gedicht von Fritz Döring. Mit Abbildung 193
Blätter und Blüten: Ein Denkmal für Gustav Freytag. S. 193. – Eine Heldenthat deutscher Seemannschaft. Von Gustav Kopal. (Mit Abbildungen.) S. 193. – Die Furcht vor dem Gewitter. S. 194. – Der Sarlophag für den Fürsten Bismarck. (Mit Abbildung.) S. 195. – Zlatorog. (Zu dem Bilde S. 177.) S. 195. – In Verlegenheit. Von Peter Anzinger. (Zu dem Bilde S. 189.) S. 195. – Unschlüssig. (Zu dem Bilde S. 181.) S. 196. – Aerztliche Mission. S. 196. – Zu unseren farbigen Bilderm imd der Kunstbeilage. S. 196.
Illustrationen: Osterblümlein. Von Frank Kirchbach. S. 165. – Im ersten Lenz. Von W. Zirges. S. 172. – Abbildungen zu dem Artikel „Hildesheim“. Von Richard Püttner. Godehardikirche. 1. Knochenhaueramtshaus. 2. Haus am Hohenwege. 3. Altdeutsche Herberge. 4. Dom. 5. Bernwardsäule. 6. Säulenhaus am Andreasplatz. 7. Michaeliskirche. 8. Eckemecker Straße mit Andreaskirche. 9. Rolandstift. Templerhaus und Haus Wedekind. S. 168 und 169. Hildesheim. Erker am Kaiserhaus. Der „tausendjährige“ Rosenstock am Dom. S. 173. Das Rathaus. S. 174. – Zlatorog. Von E. Herger. S. 177. – Unschlüssig. Von Franz Simm. S. 181. – Abbildungen zu dem Artikel „Der Wiener Rathauskeller“. Von Balduin Groller. „Der liebe Augustin“. Die Ratsherrenstube. Großer Saal. S. 184. Ecke im Großen Saal mit dem Wandgemälde „Das Veilchenfest“. Die Verleihung des Tavernenrechtes an die Stadt Wien. S. 185. – In Verlegenheit. Von J. Widnmann. S. 189. – Ostermorgen. Von R. Püttner. S. 193. – Die Führer der „Bulgaria“: Kapitän Gustav Schmidt. Erster Offizier Wilhelm Kuhls. Obermaschinist Robert Bernhardt. Die „Bulgaria“. S. 194. – Der Sarkophag für den Fürsten Bismarck. S. 195. – Im Sonntagsstaat. Von A. Raudnitz. S. 196. – Osterhasen. Von F. Reiß. S. 196.


Hierzu Kunstbeilage VI: „Osterfrieden“. Von H. Kautsky.




Kleine Mitteilungen.


Die Vorbereitung des Kindes für die Schule. Ehe Herzblättchen das sechste Jahr erreicht hat und damit schulpflichtig ist, wird in der Familie vielfach der beste, förderlichste Weg erörtert, dem Kinde die Anfangsgründe des Wissens, die sogenannten Elementarfächer zu übermitteln. Da heißt die Frage: Privatunterricht oder öffentlicher Schulbesuch? Für beide Bildungswege werden sich Vorzüge und Nachteile herausfinden lassen. Schließlich entscheidet der Vater aus nicht zu unterschätzenden erziehlichen Gründen für die Schule, die den kleinen Menschen selbständig macht, den Gemeinsinn fördert und manche Ecken und Eckchen im Wesen, die das Elternhaus aufkommen ließ, abschleift.

Wo zarte Gesundheit, weiter Schulweg oder sonstige Verhältnisse zu berücksichtigen sind, wird der häusliche Unterricht gewählt werden, in der Stadt meistens als eine Art Vorschule, mit der Absicht, das Kind später, wenn die Unterrichtsfächer sich vermehren, doch noch der Schule zu überweisen. Oft faßt das Elternhaus dafür schon eine bestimmte Anstalt ins Auge. Es dürfte sich in diesem Falle im Interesse des Kindes sehr empfehlen, sich über die Lehrziele der betreffenden Schule Klarheit zu verschaffen und sich gewissermaßen an das Klassenpensum anzulehnen. Dieses kann für ein kränkliches Kind auf zwei Jahre verteilt werden. Jedenfalls erspart dieses Verfahren dem Kinde und der Schule später viel Mühe und den Eltern manche Enttäuschung.

In Elternkreisen, die sich für den Schulbesuch ihrer Kinder entscheiden, hört man vielfach die Frage erörtern: Soll ich mein Kind für die Schule vorbereiten, soll es schon etwas gelernt haben? Lernen soll das Kind vorher so wenig wie möglich; es soll mit ganz frischen Geisteskräften in die Schule kommen, die dann mit ihren Stoffen und Methoden ganz unmittelbar wirken wird. Aber vorbereiten für die Schule kann das gebildete Elternhaus das Kind doch mehr, als häufig jetzt geschieht. Oft bringen ganz geweckt aussehende kleine Mädchen eine so wenig entwickelte Sprachfähigkeit mit, daß sie in der Schule sehr viel Mühe haben und nicht selten dadurch im Fortschreiten gehemmt werden. Die Eltern sind dann erstaunt, daß ihre Tochter geringere Fortschritte macht als andere. Wie schwer manchem Schulkind das Sprechen wird, müßten die Mütter anhören und ansehen; da arbeitet manchmal der ganze kleine Körper mit. Nun gilt es für die Schule, mit großer Geduld und Güte Laut für Laut zu bilden, unter denen einige, wie r, z, k, l, st, dem Kinde besondere Schwierigkeiten machen. Dafür muß die Zunge erst gelöst werden. Diese Uebungen sind für das Kind ermüdend und vor den anderen oft beschämend. Darum lasse die Mutter es sich recht angelegen sein, die Ausdrucksfähigkeit ihres Kindes zu fördern. Sie dulde keinen verstümmelten Laut, keine undeutliche, schlechte Sprache. Damit erweist sie ihrem Kinde und der Schule den besten Dienst. Marie Schönbrunn.     

Osterschüssel. An hohen Festtagen nimmt eine sorgliche Hausfrau ihre dienstbaren Geister nicht gern besonders in Anspruch, und doch sollte der Tisch gerade dann etwas Besonderes aufweisen. Da ist statt einer umständlichen Vorspeise eine leicht zu garnierende kalte Schüssel anzuraten, die in ihrem festlichen Schmuck sicher gern gesehen wird. Auf einer großen flachen Schüssel ordnet man allerlei Pikantes zierlich an, Wurstscheibchen, Zunge, Sardinen, Bücklinge, Käse, Pumpernickel, Butterbällchen, Radieschen etc., dazwischen halbe harte Eier, womöglich noch in der bunten Schale. In die Mitte der Platte stellt man eine Schüssel mit Fuß, die mit Salz gefüllt wird, die buntbemalten aus dem Schwarzwald eignen sich besonders dazu. In diese pflanzt man ein ganzes Gebüsch von Buchszweigen, und darin versteckt man einige Ostereier, doch so, daß die bunten Schalen überall durch das Grün leuchten. Ein paar gelbe Tazetten oben hinaus – und der höchst einfache und sehr dekorative Tafelaufsatz ist fertig. J.     

Ostergerichte. Neue Frühlingssuppe. Schon am Tage vor dem Feste kocht man eine klare gute Kraftbrühe, die man am Ostertage selbst nur zu erhitzen braucht, indes man die Kräutereinlage, die zu dieser Suppe gereicht wird, bereitet. Man nimmt je nach der Personenzahl zwei bis vier Hände voll Lattich, ebensoviel Sauerampfer, Portulak und Spinat, verliest dies, wäscht es, brüht es mit kochendem Wasser ab und preßt die Kräuter aus. Den gewonnenen Saft vermischt man mit 50 g Butter, 150 g geriebener Semmel, einer Tasse süßer Sahne, Salz, einer Prise Pfeffer und so viel Fleischbrühe, daß ein dicker Brei entsteht, der langsam 20 Minuten gekocht wird. Man häuft ihn hoch auf einer Schüssel an, legt geröstete Brotschnittchen, die mit verlorenen Eiern bedeckt werden, kranzförmig herum und giebt diese Kräntereinlage zur Suppe.

Hamburger Lammkeule. Die jungen Lammkeulen, deren Fett man ja nicht ablösen darf, sind bei folgender Zubereitung eine wahre Delikatesse. Man häutet und spickt sie und brät sie in steigender Butter unter fleißigem Begießen etwa eine Stunde. Längerer Bratzeit bedürfen sie bei guter gleichmäßiger Hitze nicht. Man nimmt eine halbe Stunde vor dem Anrichten zwei Treibhausgurken, schält sie, schneidet sie in 2 cm dicke Scheiben und blanchiert sie. Diese Scheiben schmort man dann rasch in Butter mit einer Messerspitze Liebigs Fleischextrakt, etwas Salz, Pfeffer und einigen Tropfen Citronensaft weich, ohne sie zerfallen zu lassen. Auch kleine Schalotten werden gebrüht und weich geschmort und ebenso eine kleine Büchse eingemachter Erbsen in Butter heiß geschwenkt. Wenn die Lammkeule fertig ist, wird ihr Bratensatz entfettet und mit etwas Sahne und Madeira nebst glatt gerührtem Mehl verkocht. Die Keule wird tranchiert, wieder zusammengeschoben und mit den abgetropften Gurkenscheiben, die in der Mitte abwechselnd mit den jungen Erbsen und Schalotten belegt werden, garniert. Die Sauce wird nebenher gereicht.

Französische Eier für den Osterfrühstückstisch. Recht frische Eier kocht man hart, schält sie und schneidet sie mitten durch. Zur Sauce dünstet man einen Löffel gewiegte Petersilie, ebensoviel Estragon und halb so viel Schnittlauch in Butter einige Minuten, röstet einen Löffel Mehl darin durch und verkocht alles mit Fleischbrühe und einem Guß Rotwein.

Die dünnflüssige Sauce wird mit zwei harten durchgestrichenen Eigelb dicklich gerührt, gesalzen, gepfeffert und mit etwas Citronensaft und Mostrich pikant gemacht. Die Sauce muß gerade fertig sein, wenn die Eier gekocht und geschält sind. Sie wird darüber gegossen und mit gerösteten Brotschnitten serviert.

Osterküchlein. Man vermischt 500 g Mehl mit einem Paket Oetkers Backpulver, knetet das Mehl mit 75 g Butter durch, fügt 75 g feinen Zucker, 125 g Korinthen und gut 1/3 l mit zwei Eiern verquirlter Milch dazu, so daß man einen leichten Teig erhält, den man nach Belieben mit Citronen, Vanille oder Kardamom würzt. Man legt von dem Teig kleine runde Klöße auf ein bestrichenes Backblech (weit auseinander, da sie beim Backen auslaufen), ritzt sie kreuzweise mit einer Spicknadel ein und bäckt sie in Mittelhitze 20 Minuten. Sie werden warm zum Kaffee gegessen und dabei mit Butter bestrichen.

Karola-Osterspeise. Aus vier Eiweiß wird zum Schneiden steifer Schnee geschlagen, der, mit Vanillezucker gesüßt, in Hälften geteilt wird, von denen die eine mit wenig Cochenille rot gefärbt wird. Man formt in einem Eßlöffel Schneeeier von der Masse, kocht erst die weißen, dann die roten in kochender Milch gar und legt sie zum Abtropfen auf ein Sieb. Indes rührt man von 4/10 l Milch, 6 Eigelb, 120 g Zucker eine Creme, unter die man 12 g weiße aufgelöste Gelatine giebt. Beginnt sie zu erstarren, so wird 1/2 l Schlagsahne unter die Creme gezogen. Man füllt die Hälfte in eine Glasschale, giebt die weißen Schneeeier darauf, füllt den Rest ein, legt die roten Eier darüber und bestreut die Oberfläche beim Anrichten, wenn die Speise erstarrt ist, mit gehackten Pistazien. L. H.     

[164 e]

Photogravüre im Verlag von S. Czeiger in Wien
OSTERFRIEDEN
Nach dem Gemälde von Hans Kautsky

[165]

Halbheft 6.   1899.


Osterblümlein.
Nach dem Aquarell von Frank Kirchbach.

[166]
Das Schweigen im Walde.
Roman von Ludwig Ganghofer.
(5. Fortsetzung.)


10.

Ueber den schattenschwarzen Bergwald sank schon die Sonne hinunter, als Ettingen mit dem Förster wieder im Jagdhaus eintraf.

Pepperl, der auf der Schwelle des Försterhäuschens gesessen, hatte sich, als er die beiden kommen sah, erhoben und die Füße geschüttelt, als wären sie ihm eingeschlafen. Das Viertelstündchen ausgenommen, das er um die Mittagszeit in der fürstlichen Küche verbrachte, hatte er vom Morgen bis zum Abend auf seinem Lauerposten ausgehalten, mit dem „Geheimnis von Woodcastle“ auf den Knien. In all diesen sieben Stunden war er bei der Lektüre nur um ein einziges Kapitel vorwärts gekommen aber der Miene, mit welcher er die Hefte jetzt in die Schublade warf, konnte man es ansehen, daß er mit dem Ergebnis des Tages nicht unzufrieden war. Nicht das Geringste war geschehen, was die „Verantwortigung“ seiner moralischen Seele nur im mindesten belastet hätte. Wohl hatte Martin ein paarmal recht verdächtige Spaziergänge im Umkreis der Sennhütte unternommen, aber ein freundlicher Zuruf des Praxmaler-Pepperl hatte den Kammerdiener immer wieder zur Umkehr nach dem Fürstenhaus veranlaßt.

So konnte Pepperl, als der Förster in die Hütte trat, seinen Vorgesetzten in bester Laune empfangen. „Grüß Gott, Herr Förstner! Schon wieder daheim? Das is recht! Jetzt kann ich g’rad’ noch ein bißl Dienst machen bis auf d’ Nacht … jetzt is ja der Fürst wieder da!“

Der Förster schien den Zusammenhang zwischen Pepperls Diensteifer und der Heimkehr des Fürsten nicht recht zu begreifen und blickte etwas verwundert dem Jäger nach, der, einen Ländler pfeifend, seine Büchse nahm und mit merkwürdig leichten Schritten hinauswanderte in den schattigen Wald. —

Der Abend war so lind, so still und schön mit seinem klaren Himmel und seinen funkelnden Sternen, daß Ettingen bis spät in die Nacht vor dem Jagdhaus saß, wobei er sich vom Förster und von Pepperl, der mit Einbruch der Dunkelheit von seinem Schutzgang wieder heimgekehrt war, fröhliche Gesellschaft leisten ließ. —

Zwei Tage vergingen. Ettingen hatte keine Lust, eine Birsche zu unternehmen. Er wollte ruhen, wie er sagte. Das hinderte nicht, daß er an jedem Morgen zeitig munter war und einsam einen mehrstündigen Schlendergang durch den Bergwald machte. Am Nachmittag saß er mit einem Buche im Wald, und die Abendstunden verplauderte er mit den Jägern.

Auch der Almhütte stattete er mit dem Förster einen Besuch ab und saß über eine Stunde lang bei der Sennerin, die ihm ihre Arbeit schildern mußte. Das scheu gedrückte Wesen des Mädchens fiel ihm auf, so daß er fragte: „Haben Sie eine Sorge, Burgi?“

„Ich? Und Sorgen? Gott bewahr’! ’s Vieh is g’sund … was will ich denn mehr?“

„Sie sind nicht heiter! Wenn ich Ihnen helfen kann, thu’ ich es gern. Haben Sie etwas auf dem Herzen?“

Sie wurde rot bis unter die Haare, aber gleichmütig sagte sie: „Ich? Auf’m Herzen? Den Janker! Sonst nix! Aber no, der Mensch kann net allweil lustige Fasnacht halten. Diemal muß er auch sein’ sinnierlichen Tag haben. Und so ein’ hab’ ich halt heut’ g’rad’ … weiß selber net, warum!“ –

Am dritten Morgen unternahm Ettingen mit dem Förster einen Birschgang auf Gemsen. Pepperl, der zwei Tage strengen Dienst gemacht hatte, blieb an diesem Morgen zu Hause … „man kann net wissen, ob net d’ Jungfer Köchin oder der Herr Martin wen braucht“ – und hielt auf der Hüttenschwelle in brennender Sonne mit dem „Geheimnis von Woodcastle“ bis Mittag aus. Da kam der Postbote, und den fragte er: „He! Du! Was is denn mit’m Brentlinger? Hast ihm die Botschaft ausg’richt’t?“

„Ja.“

„Warum kommt er denn net?“

„Ich hab’ dir’s ja g’sagt: der Schnaps laßt ihn net aus. Heut’ in der Fruh’ hab’ ich ihn wieder troffen im Wirtshaus … da hockt er schon den dritten Tag!“

Pepperl fuhr sich mit dem Aermel über die Stirne, denn die Sonne hatte ihm eingeheizt, und in schwüler Sorge brummte er vor sich hin: „Mar’ und Josef! Mar’ und mein! Is das ein Mensch! Ein Vatter! Und hat ein Deandl, das in der ärgsten G’fahr is!“ Dann sagte er laut: „Geh’, ich bitt dich, red’ ihm noch einmal zu, daß er kommt. Sag’ ihm: es pressiert!“

Während die beiden noch miteinander sprachen, kam der Fürst von der Birsche zurück. Der Förster trug einen schweren Gemsbock auf dem Rücken. Und „Ein zweiter liegt noch droben,“ sagte er, „tummel’ dich, Pepperl, daß du ihn ’runter bringst vor Abend!“

Aber ehe Pepperl sich „tummeln“ konnte, gab’s vor dem Försterhäuschen noch ein langes, fröhliches Erzählen und Schwatzen über den Verlauf des glücklichen Birschganges.

War es die seltene Jägerfreude, zwei gute Böcke mit einer Dublette erlegt zu haben, war es die ungetrübte Stimmung der vergangenen Tage oder die reine Luft der hohen Berge, die an dem ernsten, blassen Flüchtling der Großstadt diese freundliche Wandlung bewirkt hatte – Ettingen war in so prächtiger, von Heiterkeit übersprudelnder Laune, daß die beiden Jäger ihre Freude an ihm hatten. Seine Augen blickten so klar und leuchtend, sein sonnverbranntes Gesicht hatte so gesunde Farbe, als hätte er nie die Luft der Krankenstube geatmet und als wäre auch die letzte Erinnerung an allen Sturm und Schmerz, vor dem er in die Einsamkeit der Berge geflohen, in ihm versunken und erloschen. Und wie kräftig sein Schritt war, wie stramm und frei seine Haltung! Als hätte ihm in den Adern ein neuer und heißer Trieb des Lebens jeden Tropfen seines Blutes befeuert. Er selbst schien dieser Wandlung, die sich in ihm vollzogen hatte, mit keiner Frage nachzuspüren. Er fühlte sie nur, wie man mit geschlossenen Augen die wärmende Sonne fühlt, war heiter und zufrieden, dachte mit keinem Gedanken an das Gewesene, hatte keinen Wunsch an die Zukunft und freute sich in dieser stillen Ruhe einer jeden Stunde, wie sie kam und ging.

Der folgende Tag aber brachte ihm den Lebensgewinn, den er im Frieden des Waldes gefunden hatte, doch zum Bewußtsein. Da kam mit der Post ein Brief – und als Ettingen an der Schrift der Adresse die Hand des Freundes erkannte, an den er in der ersten Nacht hier oben jene lange Epistel gerichtet hatte, zögerte er doch einen Augenblick, den Brief zu erbrechen. Dann aber schüttelte er lächelnd den Kopf.

„Mein Wald hat mich gesund gemacht! Und frei!“

Was dieser Brief auch enthalten mochte – es konnte seine Ruhe nicht mehr stören, ihm keinen Schmerz bereiten, keine Bitterkeit in seiner Seele wecken. Er hatte überwunden und vergessen, er war geheilt und frei – und wie nun auch die häßliche Katastrophe jener Tollheit ausklingen mochte, er konnte das so ruhig und gleichgültig anhören wie das schale Ende einer Geschichte, die ein anderer erlebt hatte. Er öffnete den Brief und las:

„Wien, den 30. Juli. 

 Mein lieber Heinz!

Du weißt: so stark ich unter Umständen für andere sein kann, wenn es meine eigenen Wünsche gilt, dann bin ich ein Schwächling. Und mein Wunsch wär’ es nun, Dir für Deinen lieben langen Brief recht ausführlich zu danken, mit Dir zu plaudern, Dich zu warnen und Dir zu raten. Aber das muß ich mir für den Tag versparen, der mich wieder zu Dir führt – und ich hoffe, das wird bald geschehen. Für heute geht’s nicht, mit dem besten Willen nicht, man thut mir Gewalt an! Vor kaum einer Minute hab’ ich mich zum Schreiben gesetzt, und da trommeln sie schon wieder an meiner Thür und kichern und schreien: Onkel Goni, was machst Du? Onkel Goni, wo bleibst Du? Onkel Goni, so komm doch! – Du mußt wissen, seit drei Tagen hab’ ich ‚Familie‘. Meine Schwester – ihr Mann ist zu den Jagden nach Steiermark abgesaust – hat ihre vier Jungen in die Ferien geholt, und da ist mir nun die liebe Seele mit ihrem tollen Viergespann unvermutet ins Haus gefahren, und die Jungen stellen mir meine friedliche Hütte auf den Kopf. Aber, ich lasse mich geduldig martern. Jugend zu sehen, das ist für mich immer wie eine neue, große Entdeckung. Das stimmt mich milde, nimmt meiner Borstigkeit jeden scharfen Stachel – aber es [167] macht mich auch schwermütig. Nicht, weil ich die eigene Jugend zurücksehne – kein Kluger will ein zweites Mal leben – nur, weil ich fühle, wie wenig mir von der Jugend geblieben ist. Graue Haare, die ‚einstens‘ braun gewesen – sonst nichts. Warum ich nicht glücklich wurde? Das weiß ich. Aber warum ich nicht geheiratet habe? Das ist mir dunkel. Thu’ es, Heinz! Thu’ es! Und werde Vater! Denn mir scheint, als wäre in dieser Schmutztruhe, die man Leben nennt, die Freude am Kind das einzige Reelle, der einzig wirkliche Wert, auch wenn seine Süßigkeit sich ‚menget mit Bitterkeit‘! Oder glaub’ ich das nur, weil das am Leben das einzige ist, das mir fremd geblieben? Denn alles andere kenn’ ich – und weiß, daß es die Spesen der Erfahrung nicht aufwiegt. Aber nein! Dieser einzige Lebensglaube – der Glaube an einen Gott, zu dem ich niemals beten durfte – der soll mir bleiben für den Rest meiner Tage. Ich habe doch Deiner Mutter Freude an Dir gesehen. Und das überzeugt! Denn ich begriff, daß sie um dieser einzigen Freude willen alles andere verschmerzen konnte. Und im kleinen seh’ ich es auch an meiner Schwester. Wenn die vier wilden Fohlen sie gepeinigt haben, daß sie vor Schmerz und Verzweiflung heult – fünf Minuten später spielt sie ‚Mutter der Gracchen‘ und sagt mit Applomb und strahlenden Augen: ‚Meine Söhne!‘ Und da nasch’ ich nun ein bißchen an ihrer Freude mit, bin ‚Onkel Goni‘ und lasse mich schinden. Ich thu’ es, da ich Zeit habe, denn meiner Freundschaft für Dich sind die Hände gebunden, und ich bin in der Schlichtung Deiner ‚Affaire‘ zu einem Nichtsthun verurteilt, das mir durchaus nicht ‚süß‘ erscheint.

Ich habe wohl das Möglichste versucht, um eine Auseinandersetzung mit ihr herbeizuführen. Aber sie spielt die gekränkte Fee und macht sich unsichtbar. Ihre Villa in Hietzing hat scheinbar im Sommerschlaf die Augen geschlossen, und der Portier schwört falsche Eide, daß die gnädige Baronin ihm ‚unbekannten Aufenthaltes‘ sei. Ihr Anwalt erklärte, daß er ‚keinerlei Auftrag‘ hätte, und ‚vermutete‘, daß sie in Ostende wäre. Aber sie ist hier, in ihrer Villa. Gestern früh brachte mir mein Agent die Mitteilung, daß am 28. abends 9 Uhr ein Coupé vor der Villa angefahren wäre und eine Stunde gewartet hätte. Und weißt Du, wem das Coupé gehörte – am 28. Juli ein geschlossenes Coupé? – dem süßen kleinen Mucki! Dem Sensburg! Er brachte ihr wohl die Neuigkeit, daß er Dich in Innsbruck traf. Hoffentlich hast Du ihm nicht klipp und klar gesagt, wohin Du fährst! Na also – gestern mittag fuhr ich zu ihm, mit den vier Jungen im Wagen. Ausrede: ob er nicht einen netten Engländer wüßte, der meine Neffen im Tennis trainieren könnte. Den wußte er natürlich. Und dann fragte ich so nebenbei, ob er nicht gestern abend bei der Pranckha gewesen wäre. Er wurde rot und leugnete. Das wunderte mich – nicht, daß er leugnete – aber daß dieser Bursche noch erröten kann. Und das ist alles, was ich Dir zu berichten habe. Aber ich warne Dich, lieber Heinz! Was sie mit dieser monatelangen Zurückhaltung bezweckt, versteh’ ich nicht. Aber irgend etwas plant sie! Ich warne Dich, Heinz! Denn daß sie Dich ‚friedlich ziehen‘ läßt, das bilde Dir nur ja nicht ein. Fürst Ettingen zu Bernegg ist ein liebes Hühnchen, das allzuschöne Federn besitzt. Sie wartet nur den günstigen Augenblick ab, um Dich wieder einzufangen. Daß sie dabei mit Deinem Herzen rechnen kann, das brauch’ ich heute wohl nicht mehr zu fürchten. Aber sie wird ihren Kalkul auf Dein Blut setzen. Und ich warne Dich, Heinz! Wenn Dir die schöne Katze mit süßem Schnurren an den Hals springt – schüttle sie ab! Gleich! Denn nur in der ersten Sekunde wirst Du die Kraft dazu haben – nicht mehr in der zweiten Minute. Da hat sie Dich!

Hörst Du: sie trommeln schon wieder! ‚Onkel Goni, Du bist unausstehlich!‘ Diesen Vorwurf muß ich entkräften. Also Schluß!

Dein ‚Schweigen‘ sollst Du in wenigen Tagen bekommen. Ich habe eine herrliche Radierung aufgetrieben und einen tüchtigen Künstler beauftragt, dem Blatt einen Hauch Farbe nach dem Original zu geben. Morgen oder übermorgen wird das Bild an Dich abgehen. Am liebsten wär’s mir, ich könnt’ es Dir selber bringen. Aber sobald ich die vier Jungen wieder losbin und sehe, daß ich Deinem ‚Frieden‘ hier in Wien nicht weiter nützen kann – dann komm’ ich. Und dann wollen wir selbander schöne Klapphornverse erleben:

Zwei Knaben gingen durch den Wald,
Der eine jung, der andre alt …

die heitere Pointe wird sich finden lassen. Bis dahin mit Gruß, mit herzlicher Treu, aber auch in Sorge

Dein alter 
Goni Sternfeldt.“ 

Als Ettingen gelesen hatte, trat er, den Brief noch in der Hand, zum offenen Fenster und blickte lächelnd über den Bergwald hinaus. „Sorge? … Nein!“

Nur eine einzige Stelle des Briefes las er ein zweites Mal: „Dein ‚Schweigen‘ sollst Du in wenigen Tagen bekommen …“

Nun bemerkte er erst, daß die letzte Seite des Briefes noch eine Nachschrift hatte: „Soeben kommt Deine Depesche. Emmerich Petri? Wo hast Du nur diesen Namen so plötzlich aufgefischt? Auf der Gemsbirsche? Ist das einer, von dem die Steine reden, da die Menschen von ihm schweigen? Ich habe in einem Lexikon der ‚Kunstentwicklung des 19. Jahrhunderts‘ nachgeschlagen – der Name fehlt. Doch glaub’ ich mich dunkel zu erinnern, daß ich diesen Namen, oder einen ähnlichen, während des letzten Winters mehrmals in Künstlerkreisen nennen hörte. Aber dieser Winter! Da hatt’ ich doch meine liebe Sorge mit Dir und Deinem Wahnsinn! Wie wär’ ich da kapabel für Kunstgespräche gewesen. Emmerich Petri? Der Name klingt mir im Ohr, doch meine Erinnerung ist leer. Aber ich fahre noch heute ins Künstlerhaus, um einen Augur in moderner Kunstgeschichte zu erfragen, und dann will ich sehen, was sich erfahren läßt.“ –

Mit der gleichen Post, welche diesen Brief gebracht hatte, war auch ein anderer gekommen – an Martin. Und sein Inhalt versetzte den sonst so gemessenen Herrn in solche Erregung, daß er in der gleichen Stunde noch den Förster aus seinem Mittagsschläfchen aufrüttelte. „Herr Förster! Ich komme mit einer Bitte. Sie müssen mir helfen!“

„No also! Schießen S’ los! Was is denn?“

Es handle sich um eine „freudige Ueberraschung“ für Seine Durchlaucht, erklärte Martin. Eine hohe Dame, natürlich eine nahe Anverwandte des Herrn Fürsten, käme nächster Tage zu Besuch ins Jagdhaus – wann, das wäre noch nicht genau bestimmt – aber um Seiner Durchlaucht die „ungeahnte Freude“ nicht zu verderben, müsse die Sache so geheim wie möglich gehalten werden. Vor allem müsse für den hohen Besuch das Grafenstüberl „entsprechend“ eingerichtet werden, und da hätte er nun soeben von Innsbruck die Mitteilung erhalten, daß der Wagen mit dem Mobiliar und der Dekorateur mit seinen Gehilfen schon am nächsten Abend eintreffen würden. Jetzt müsse nun um jeden Preis ein Mittel gefunden werden, um die Durchlaucht für zwei Tage vom Jagdhaus zu entfernen – denn zwei Tage wären zur „Adaptierung“ des Zimmers unumgänglich notwendig.

Der Förster, der sich ehrlich freute, bei einer angenehmen Ueberraschung für seinen Herrn mithelfen zu dürfen, brauchte nicht lange zu überlegen. Die Sache wäre ganz leicht zu machen: man müsse eben dem Herrn Fürsten zureden, einen längeren Jagdausflug zu unternehmen, vielleicht zum Sebensee. „Denn wissen S’, der Sebensee, der g’fallt ihm arg gut … das hab’ ich schon g’merkt. Morgen um Mittag kann er mit’m Pepperl abmarschieren, in der Sebenwaldhütten bleibt er über Nacht … ’s Hütterl is sauber eing’richt’t … am ersten Tag macht er ein’ Birschgang über’n Sebensee ’nauf, und für den zweiten Tag verarranschier’ ich ein nett’s Treibjagderl! Das macht ihm schon Freud’, da geht er schon!“

Mit Eifer nahm der Förster auch gleich die „Verarranschierung“ in Angriff und schickte durch den Postboten die Nachricht an die Leutascher Jäger, binnen zwei Tagen mit sechs Treibern im Jagdhaus einzutreffen. Als er dabei hörte, daß Mazegger, den er all die Tage her nicht gesehen hatte, am Abend zuvor in Leutasch gewesen wäre, gab’s ein Gewitter mit „Blitz und Hagelschlag“. Und damit ihm Mazegger, wenn er spät am Abend in die Hütte zurückkehren würde, nicht wieder auskäme, legte er ihm einen Zettel auf den Tisch: „Morgen bleibst daheim. Ich muß was reden mit dir! … Förster Kluibenschädl.“

Beim Diner trug er dem Fürsten sein „Planerl“ vor und schilderte ihm die Weidmannsfreuden einer Gemsbirsche beim Sebensee und einer Treibjagd auf Hirsche im Gaisthal mit so

[168]

1. Knochenhaueramtshaus. 2. Haus am Hohenwege. 3. Altdeutsche Herberge. 4. Dom. 5. Bernwardsäule. 6. Säulenhaus am Andreasplatz. 7. Michaeliskirche. 8. Eckemecker Straße mit Andreaskirche. 9. Rolandstift.
Ansichten von Hildesheim.
Nach einer Originalzeichnung von Richard Püttner.

[169] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [170] verlockenden Farben, daß Ettingen sofort einverstanden war. Martin, der beim Servieren dieses Gespräch hören konnte, atmete erleichtert auf.

Pepperl aber, als er von diesem „Planerl“ hörte, schien nicht sonderlich erbaut zu sein und machte ein langes, höchst bedenkliches Gesicht.

„Was hast denn?“ fragte der Förster. „Zwei Tag’ mit’m Herrn Fürsten jagen … das muß dir doch Freud’ machen?“

„No ja, schon! Aber …“

„Was, aber?“

„Ein bißl ung’legen kommt’s mir g’rad’. Die ganze Zeit her wart’ ich schon allweil auf den Brentlinger. Und morgen oder übermorgen, hätt’ ich g’meint, müßt’ er g’rad’ kommen.“

„Ja was willst denn von dem Schnapsbruder? Sag!“

„No ja … was z’reden hätt’ ich halt mit ihm … wegen meiner Mutter, ja, und … ein bißl arbeiten sollt’ er halt!“

„Der? Und arbeiten? Laß dich net auslachen! Und auf den kannst lang’ warten! Neulich, in Leutasch drin, is er an der Straß’ im Graben g’sessen, und da hat ihm der Herr Fürst ein’ Zehner g’schenkt!“

„So is schön!“ stotterte Pepperl erschrocken. Und im stillen kalkulierte er gleich: einen Gulden bringt der Brentlinger durch im Tag, da braucht er sich nicht zu plagen; fünf Tage sitzt er bereits – also hat er noch einen Fünfer, und bevor er mit dem nicht fertig ist, kommt er nicht. „Da kann ich freilich noch lang’ warten! Derweil bin ich ja wieder daheim!“ –

Am anderen Vormittag gab’s in der Jägerhütte zwischen Mazegger und Kluibenschädl eine erregte Scene – das heißt, erregt war nur der Förster, Mazegger lächelte und schwieg.

Und je länger der Jäger mit diesem stummen Lächeln vor ihm stand, in desto heißeren Zorn geriet der Förster. „Jetzt sag’ ich dir im guten ’s letzte Wörtl, dir! Wenn von morgen an dein’ Dienst net in der Ordnung machst, so wachsen wir z’samm’. Weil in drei Wochen dein’ Kufer packen mußt, deswegen därfst net glauben, daß d’ mit deiner Zeit jetzt machen kannst, was dir einfallt! Uebrigens … was hast denn vorgestern in Leutasch draußen zum suchen g’habt?“

„Nichts.“ Das war das erste Wort, welches Mazegger sprach.

„So? Nix? Warum bist denn nachher ’naus?“

Der Jäger hob schweigend die Schultern.

„Gelt, du, kegel’ dir nur dein Züngl net aus! Aber ich kann mir schon denken, was dich ’naus’trieben hat … ich weiß ja, wer draußen is. Du bist ja rein wie der hungrige Fuchs im Winter, wo er die Hasenfährt’ gleich gar nimmer auslaßt. Ja, schau mich nur an, mit deine wällischen Guckerln!“

Mazeggers Gesicht wurde fahl wie Kalk; doch er schwieg.

„So! Und morgen gehst ’nunter nach Ehrwald und bleibst beim Jager über Nacht. Und übermorgen in der Fruh um Drei, da seids alle zwei beim Sebener Almzaun … Da haben wir ’s Randewuh zum Treibjagen. Und das sag’ ich dir, Toni … wenn ich erfahren sollt’, daß d’ ein’ andern Schritt machst, als den ich dir vorschreib’, da brauchst deine drei Wochen nimmer abz’warten. Da kannst marschieren auf der Stell’, und kannst…“

Erschrocken verstummte der Förster. Unter der Thür der Jagdhütte stand der Fürst. Bei einem Spaziergang über das Almfeld hatte er die überlaute Stimme gehört, und nun sagte er lächelnd: „Nicht ärgern, lieber Förster!“

„Ich bitt’ um Entschuldigung, Duhrlaucht,“ stotterte Kluibenschädl, während Mazegger den Fürsten mit funkelnden Augen maß, „aber wenn ich mein Gallenbinkerl gleich zubinden möcht’ mit sieben aus’glühte Dräht’ … es hilft ja nix … d’ Leut’ reißen ’s ja wieder auf!“

„Sie haben Verdruß gehabt?“

„Ja! Wieder einmal! Und weil Duhrlaucht g’rad’ dazukommen … sagen hätt’ ich’s ja doch einmal müssen … der Mazegger-Toni hat die vorig’ Wochen sein’ Dienst aufg’sagt.“

„Weshalb?“ Ettingen wandte sich an den Jäger und sagte freundlich: „Fühlen Sie vielleicht, daß Ihnen der harte Gebirgsdienst zu beschwerlich ist? Sie sind nicht in den Bergen geboren, und da kann ich begreifen, daß Ihnen der Dienst nicht so leicht fällt wie den anderen Jägern. Aber deshalb brauchen Sie die Stelle nicht aufzugeben. Der Herr Förster wird Ihnen jede mögliche Rücksicht gewähren und nicht mehr von Ihnen verlangen, als Sie ohne Ueberanstrengung leisten können. Oder haben Sie eine andere Klage? Sie können sich vor mir ganz offen aussprechen, und wenn Ihre Wünsche nicht unbillig sind, wird sich über alles reden lassen, deshalb brauchen Sie nicht gleich zu gehen! Nun? … Aber so sprechen Sie doch! … Kommen Sie vielleicht mit Ihrem Gehalt nicht aus?“

Ein paarmal hatte Mazegger die Lippen geöffnet, ohne daß ihm ein Laut von der Zunge kam. Es schien, als ertrüge er den freundlichen Blick seines Herrn nicht, und die brennenden Augen senkend, preßte er mühsam die Worte heraus: „Ich hab’ keine Klage, Herr Fürst … und Gehalt bekomm’ ich so wie so schon mehr als ich verdien’. Aber der Förster hat nicht die Wahrheit gesagt … den Dienst hab’ nicht ich gekündigt … der Herr Förster hat mir aufgesagt.“

Ettingen sah mit verwundertem Blick auf den Förster.

Dem schoß das Blut ins Gesicht. „Ja, Duhrlaucht, so verhalt’ sich die Sach’. Aber wenn ich d’ Wahrheit ein bißl übers Knie ’bogen hab’ … es is bloß g’schehen, daß ich dem Burschen da sein’ Abmarsch leichter mach’ und daß ich ihm net schad’.“

„Was hat er verschuldet?“

„Er hat sich … er hat …“ nein, daß Mazegger ungebührlich über den Fürsten gesprochen hatte, das konnte der Förster seinem Herrn nicht ins Gesicht sagen – „er hat sich unanständig geäußert … über mich … ja, über mich.“

Aber Kluibenschädl verstand sich so schlecht aufs Lügen, daß Ettingen die Wahrheit leicht erriet. Er betrachtete den Jäger, und da begegnete ihm ein so glühender Blick des Hasses, daß Ettingen befremdet zurücktrat. Was hatte er diesem Menschen angethan, um solchen Haß in ihm zu erwecken? Nichts! War das der thörichte Zorn des widerwillig Dienenden gegen seinen Herrn? Die ziellose Eifersucht des Unbemittelten gegen den Besitzenden? Oder war es etwas anderes?

Ettingen hatte sich aufgerichtet, und auch ihm war das Blut in die Stirne gestiegen. Doch ruhig sagte er: „Wenn der Jäger sich unziemlich gegen Sie benommen hat, so bitt’ ich Sie, ihm das nachzusehen. Ich hätt’ es auch gethan, wenn er sich ungebührlich über mich geäußert hätte … und würde mir gedacht haben: er weiß nicht, was er redet. Will er bleiben, so erweisen Sie mir den Gefallen, Herr Förster, und seien Sie gut mit ihm – es sollte mich freuen, wenn er sein Unrecht einsähe und seine Stellung bei mir noch einmal lieb gewänne.“ Ettingen nickte einen stummen Gruß und verließ die Hütte.

Der Förster vermochte vor Erregung kaum zu sprechen. „Da schau her, du!“ sagte er, dicht vor Mazegger hintretend. „So ist der Herr Fürst! Und wie bist du? Aber jetzt thu’, was du magst … jetzt geh’ oder bleib … ich will’s halten, wie’s der Herr Fürst von mir verlangt hat. Und meinetwegen … der gachzornige Katzensprung von neulich, der soll dir vergessen sein … ein’ Ohrfeig’, wenn ’s auch verdient is, laßt sich schließlich keiner gern g’fallen! Aber wenn ich dir noch ein letztes Mal im guten raten därf … sei g’scheit, Toni, und schlag’ dir um Gottes willen die unsinnige Narretei aus’m Kopf! Nimm Vernunft an, Bub’, und verscherz’ dir wegen nix und wieder nix net ein’ Posten, wo dir ein’ ehrenhafte Stellung fürs ganze Leben machen kannst! Mehr hab’ ich dir nimmer z’sagen. B’hüt’ dich Gott!“ Er ging.

Als er draußen am Fenster vorüberschritt, sah er, daß der Jäger noch immer mitten in der Stube stand, wie er ihn verlassen hatte. Doch Mazegger lächelte. Er durfte bleiben, wo es ihn festhielt mit allen Klammern seiner Leidenschaft … alles andere war ihm gleichgültig.

Als er die Schritte des Försters verklingen hörte, hob er das Gesicht. „Nach Ehrwald?“

Wieder lächelte er. Nach Ehrwald gab es zwei Wege, von denen der eine nicht weit am Sebensee vorüberführte – und am verwichenen Abend, als Mazegger neben der Gaisthaler Almstraße im Wald gelegen, war Lolo Petri an ihm vorübergewandert, das Grautier führend, auf dem ihr Bruder ritt.

Mit langsamen Schritten trat Mazegger an das Fenster und blickte zum Fürstenhaus hinauf. Und wieder lächelte er. –

Nachmittags, gegen vier Uhr, wanderte Ettingen mit Pepperl, der im schwer angepackten Rucksack den Proviant für zwei Tage trug, zur Jagdhütte im Sebenwald. Die beiden hatten miteinander [171] einen gar stillen Marsch. Ettingen war schweigsam – der Auftritt mit dem Jäger ging ihm nach, und immer wieder mußte er sich fragen: Was hab’ ich diesem Menschen gethan, warum haßt er mich?

Und Pepperl trug auf seinem Herzen einen Binkel Sorgen, nicht minder schwer als der Pack auf seinem Rücken. Ein Zufall hatte ihm wohl seine „Verantwortigung“ ein wenig erleichtert – von Innsbruck war am Nachmittag eine Touristengesellschaft, die zur Zugspitze wollte, auf der Tillfußer Alm eingetroffen und hatte sich für die Nacht in der Sennhütte einquartiert. Bis zum nächsten Morgen also war das „dumme Gansl“ außer Gefahr! Aber dann? Zwei unbehütete Tage! Bei dem Gedanken, was in solch einer „Ewigkeit“ alles geschehen konnte, lief es dem Praxmaler-Pepperl kalt über den Rücken und durchs Herz.

Während des stillen Marsches dieser beiden ging es im Jagdhaus laut und lebendig zu. Schon um fünf Uhr war ein mit vier Pferden bespannter Planwagen eingetroffen, der hoch mit großen Ballen und Kisten beladen war. Und während der Dekorateur und seine Gehilfen droben im Grafenstüberl schon zu hämmern und zu kleistern begannen, überwachte der Förster im Hof das Auspacken der Kisten und Ballen, aus denen so zierliche und kostbare Geräte, so zarte Seidenstoffe und so merkwürdige „Sacherln“ zum Vorschein kamen, daß Kluibenschädl und die Küchenmagd sich vor Staunen und Wundern kaum zu fassen wußten. Bis zum Einbruch der Dunkelheit ging es im Jagdhaus zu wie in einem Bienenkorb – und an diesem Hasten, Schleppen und Rennen beteiligte sich nur eine einzige nicht: die Jungfer Köchin, die wohl von Wien her in der Lage war, sich über die Bedeutung des Vorgangs die richtigen Gedanken zu machen.

Sie erschien nur manchmal unter der Küchenthür, sah mit zornrotem Gesicht dem Lärmen und Treiben eine Weile zu und nickte verdrossen vor sich hin. Als ihr Martin zumutete, ein wenig mitzuhelfen, murrte sie mit bösem Blick: „Ich dank’ schön! Mit der Arbeit hab’ ich nichts zu schaffen!“ Sprach’s und warf hinter sich die Küchenthüre zu.

„Was hat denn die Jungfer?“ fragte der Förster. „Vergunnt s’ leicht unserm guten Herrn Fürsten die freudig’ Ueberraschung net?“ Martin zuckte die Schultern und schmunzelte.

(Fortsetzung folgt.)




Erstes Grün.

Hell und mild strahlt wieder die Lenzessonne vom klaren Himmel hernieder, und laue Lüfte streifen über Feld und Flur. Da wecken Licht und Wärme schlummerndes Leben in Millionen und aber Millionen Knospen und Keimen; da schwillt und quillt es an Busch und Baum, da reckt und streckt es sich in dem aufgetauten Boden, und endlich wagen sich die ersten grünen Blätter und die ersten Blütenknospen des Frühlings hervor.

Erstes, junges Grün! Mit frohem Herzen begrüßen es die Menschen nach der langen starren Winterszeit, und nur eins beklagen sie, daß die ersten Blätter so gar langsam wachsen, so zögernd sich aus den Knospen hervorwagen. Es hat den Anschein, als ob die Pflanzen dem Frühlingseinzug nicht recht trauten. Und in der That ist nichts trügerischer als der erste Glanz des Frühlingshimmels, nichts launischer als das Aprilwetter. Da wechseln Regen und Sonnenschein, heiß brennt die Sonne um die Mittagsstunde, und in der Nacht schlägt sich frostiger Reif nieder, und diese schwankende Witterung bedroht das zarte junge Laub mit den schwersten Gefahren. Sonnenschein und warmer Wind rufen eine starke Verdunstung hervor, und so sind die frisch aus der Knospe hervorbrechenden Blätter der Möglichkeit des Ausdörrens und Austrocknens ausgesetzt, der Frost aber ist der grimmigste Feind des Pflanzenlebens. Doch die Pflanzen behaupten sich siegreich in allen den Wandlungen des Wetters, mögen auch Tausende im Kampfe eingehen, Millionen ringen sich durch. Das ist ihnen nur darum möglich, weil die Natur das zarte erste Grün mit den sinnreichsten Schutzmitteln ausgerüstet hat.

Betrachten wir zunächst die Keimlinge von Hülsenfrüchten, Gurken oder Melonen, die zwei Keimblätter oder Kotyledonen bilden. Die Wurzel ist bereits in die Erde eingedrungen, die Samenhülle abgestoßen und über der Erde stehen die beiden dicken Keimblätter auseinander geschlagen. Sie wenden der Sonne ihre breitesten Flächen zu, und zwischen ihnen sieht man die zarten Anlagen des ersten Laubs und des Stengels hervorsprießen. Das Pflänzchen steht ungeschützt am freien Orte im Felde oder im Garten. Kalte Frühlingsnächte bedrohen es in hohem Maße; durch Ausstrahlung gegen einen wolkenlosen Nachthimmel kann es sich so stark abkühlen, daß sein Dasein in Frage gestellt wird. Nun sucht es sich aber gegen die Abkühlung nach Möglichkeit zu schützen. Beobachten wir nur den Keimling nach Sonnenuntergang, die beiden Keimblätter haben sich wieder aneinander gelegt, sie zeigen dem Himmel nicht mehr ihre breiten Flächen, sondern die schmalsten Kanten, und wie eine schützende Hülle bergen sie zwischen sich die zarten hervorsprießenden Blättchen.

Aehnliche Lageveränderungen können wir auch an Blumen betrachten. Viele von ihnen heben im Sonnenschein ihre Köpfchen in die Höhe, lassen sie aber in der Nacht gegen den Erdboden sinken, um die Abkühlung durch Ausstrahlung zu vermeiden.

Eine bestimmte Stellung gewährt den zarten Blättern auch Schutz gegen zu starke Besonnung. Hier steht eine Roßkastanie in ihrem ersten Frühlingskleide. Wie sonderbar hängen die jungen noch nicht völlig entwickelten Blätter an den Zweigen; mit ihren Spitzen weisen sie senkrecht nach der Erde hin. Erst wenn ihre zarte Oberhaut erstarkt und verdickt ist, breiten sie sich wagerecht aus und bieten dem Sonnenlicht ihre vollen Flächen. Aehnlich wie die Kastanie treibt die Linde ihr erstes Grün.

Wenn die Blätter aus den Knospen herausgeschlagen sind, sehen sie zumeist recht gefaltet und zerknittert aus. Diese unscheinbare Gestalt ist gleichfalls ein wichtiges Schutzmittel. Nur die festen Blattrippen ragen hervor, das zarte, noch von einer dünnen Oberhaut bedeckte Grün liegt in den tiefen Falten. Ein solches Blatt kann durch Wind und Sonne nicht so leicht ausgetrocknet werden wie ein glattes. Benetzen wir zwei gleiche Papierblätter mit Wasser, knittern das eine zusammen und breiten das andere glatt aus und hängen dann beide im Freien auf. Wir werden sehen, um wieviel rascher das glatte trocknen wird. Aber die gefaltete Form ist auch gegen Einwirkungen der Kälte von Vorteil. Die Buchten und Falten werden nicht so rasch durch Ausstrahlung abgekühlt wie glatte Flächen. Freilich sind die Wärmeunterschiede zwischen den glatten und gebuchteten Teilen nur gering; sie betragen am Ende einer kalten Nacht nur 1 bis 2° C. Aber schon diese geringe Wärmeaufspeicherung ist von wesentlichster Bedeutung, da es sich bei Frühlingsfrösten nur um geringe Senkungen der Temperatur unter den Gefrierpunkt handelt. Bewahrt sich das Blatt die Wärme von nur + 1°, so hat es den Nachtfrost überstanden; es ist dagegen aufs ärgste bedroht, oder gar rettungslos verloren, wenn es sich auf – 1° abkühlt.

Aber damit sind die Mittel nicht erschöpft, mit denen die Natur das junge Grün gegen Wind und Wetter ausgerüstet hat.

Pflanzen, die der Gefahr übermäßiger Verdunstung besonders ausgesetzt sind, wie z. B. Alpenpflanzen, die auf nackten Felsen wachsen und stundenlang die brennende Sonnenhitze aushalten müssen, tragen ein besonderes Kleid. Ihre Blätter sind mit einem Filz von Deckhaaren überzogen, wie dies jedermann an dem Edelweiß gesehen hat. Solche Deckhaare halten aber die Wärme der Sonnenstrahlen ab und die Feuchtigkeit zurück. Mit diesem Schutzmittel sind die jungen Blätter verschiedenster Pflanzen ausgerüstet. Sehr interessant ist die Anordnung der Deckhaare an einem jungen Buchenblatt; es glänzt bei näherer Betrachtung wie mit Seide umsponnen. Alle vorstehenden Teile des noch gefalteten Laubes, die Ränder und die Rippen, sind mit feinen Seidenhärchen bedeckt. Erst wenn die Buchenblätter erstarkt sind, stoßen sie die Haare ab, entledigen sich des ihnen unnötig gewordenen Seidenkleides. Aehnlich sind die Blätter der Roßkastanie, wenn sie aus der Knospe hervorbrechen, mit wolligen Härchen umsponnen.

Wachs und Firnis sind Stoffe, welche Wasser nicht leicht durchlassen und die Verdunstung hintanhalten. Auch zu diesen Stoffen hat die Natur gegriffen, um Laub zu schützen. Manche Pflanzen, namentlich die der trockenen und heißen Steppenländer, weisen an ihren Blättern stets wachs- oder firnisartige Ueberzüge auf; viele schützen mit ihnen nur das jugendliche Laub. Das ist z. B. bei unsern Kirsch-, Aprikosen- und Pfirsichbäumen, sowie bei den Birken der Fall. Ihre Blätter glänzen und kleben, wenn sie aus der Knospe hervorgebrochen sind; nach und nach, mit zunehmender Verdickung der Oberhaut, verlieren sie die schützende Deckschicht.

Wandern wir im späteren Frühling durch einen Buchen- oder Eichenwald, so finden wir den Boden mit einer Menge kleiner Schuppen bedeckt, die von den Bäumen herabgeregnet sind. „Hinfällige Nebenblätter“ nennen die Botaniker diese Gebilde, die zu den interessantesten Schutzmitteln des jugendlichen Laubes zählen. An den Stellen, wo das Blatt am Stengel sitzt, wachsen zu seinen beiden Seiten diese bleichen Häutchen. Sie wölben sich wie Schirme über die zarten grünen Gebilde und schützen sie vor Sonnenstrahlen. Bald wächst der Schützling über seinen Schirmer hinaus, und dann fallen die unnötigen Schuppen ab. Sehr auffallend sind, wie Anton Kerner von Marilaun in seinem klassischen Werke „Das Pflanzenleben“ berichtet, diese Nebenblätter an dem in Nordamerika heimischen, jetzt aber allenthalben in Europa kultivierten Tulpenbaume. Sie erscheinen verhältnismäßig groß, schalenförmig, und je zwei derselben sind so aneinander gelegt, daß sie eine Blase darstellen. In dieser häutigen, etwas durchscheinenden Blase sieht man das junge Blatt eingeschlossen. Es wächst dort wie in einem Gewächshause allmählich aus, und wenn es dermaßen erstarkt, daß die Gefahr des Vertrocknens abgewendet ist, dann öffnet sich die Blase, die beiden schalenförmigen Blätter treten auseinander und fallen ab.

Das erste Grün, das die Dichter so oft in ihren Liedern verherrlicht haben, dessen Anblick uns so lebensfreudig stimmt, bietet dem Naturfreunde reiche Gelegenheit zum Beobachten der tausendfältigen Künste, mit denen das Leben in der Natur um sein Dasein ringt. Möge die kurze Darstellung unsere Leser anregen zur Beobachtung dieser Erscheinungen auf ihren Ausflügen im wunderschönen Lenz. Die Kenntnis der Aeußerungen des Pflanzenlebens wird die Poesie der Frühlingslandschaft nicht schmälern. Im Gegenteil, noch zaubervoller erscheinen uns der grünende Wald und die sprießende Flur, wenn wir wissen, daß in jeder Knospe, in jedem jungen Blättchen wahre Kunstwerke der Schöpfung vor dem forschenden Auge sich enthüllen. C. F.     




[172]

Im ersten Lenz.
Nach dem Aquarell von W. Zirges.

[173]

Hildesheim.

     Erker am Kaiserhaus.

Weit in den deutschen Landen ist Hildesheim bekannt. Der „tausendjährige“ Rosenstock, der an seinem Dom emporrankt, hat einen Weltruf, und die Sage, die sich an ihn knüpft, lernt die Jugend in der Schule. Die Scharen der Touristen, die den Harz durchwandern, zieht es nach Hildesheim. Hat man doch die Stadt „das norddeutsche Nürnberg“ genannt und preist die Denkmäler alter Kunst, die hier in reichster Fülle zu schauen sind.

Wo der Harz seine letzten Ausläufer gegen den Norden aussendet und die Innerste, durch keinen Gebirgszug mehr gehemmt, durch ebener gewordenes Land langsam dahinfließt, erstreckt sich eine fruchtbare und freundliche Landschaft. Mit dunklen Wäldern reich geschmückte Höhenzüge bilden ihren Rahmen, prangende Felder wechseln mit grünen Wiesen ab, und Dorf reiht sich an Dorf. Inmitten dieses friedlichen Geländes ragen die stolzen Türme von Hildesheim empor.

Der „tausendjährige“ Rosenstock am Dom.

Wir stehen hier an einer uralten Stätte menschlichen Schaffens und Wirkens; denn an diesem Punkte, in dem alle Wege sich schneiden, die von den Bergen herabführen, befand sich, wie vorgeschichtliche Funde beweisen, schon lange vor christlicher Zeit eine Ansiedelung. Berühmt sind die Ausgrabungen, die auf Spuren altgermanischen Lebens in dieser Gegend hinführen. Am Galgenberge wurde im Jahre 1868 der „Hildesheimer Silberschatz“ gefunden, kostbare Gefäße und Geräte, die als Werke der Schmiedekunst aus römischer Kaiserzeit erkannt worden sind und die vermutlich ein Beutestück aus der Varusschlacht bildeten.

Schwere Stürme zogen über das Land, als Karls des Großen wuchtiges Schwert dem Sachsenvolke tiefe Wunden schlug. Doch als die trotzigen Heiden bezwungen waren, da blühte junges, frisches Leben auf, da wurde der Keim gelegt zu Hildesheims künftiger Blüte. Karl der Große gründete im Jahre 796 ein Bistum zu Elze, und sein Nachfolger, Ludwig der Fromme, verlegte es nach Hildesheim. Das Stift wuchs mit der Zeit an Macht und Bedeutung und es wurde auch zu einer Stätte, an welcher die Kunst eifrige Pflege fand. Unvergeßliche Verdienste haben sich in dieser Hinsicht vor allem die Bischöfe Bernward (993–1022), Godehard (1022–1038) und Hezilo (1054–1079) erworben. Ihnen verdankt Hildesheim den Besitz von Bauten und Erzarbeiten, die heute zu den herrlichsten Denkmälern romanischer Kunst zählen.

In den Mauern Hildesheims wetteiferte jedoch auch der Bürgersinn mit den kirchlichen Fürsten. In den Einwohnern der Stadt lebte der Trotz der alten Sachsen fort. Sie strebten nach Unabhängigkeit, und sie schüttelten die Herrschaft der Bischöfe ab. Die Stadt trat im Jahre 1241 der Hansa bei und erfreute sich wichtiger Rechte und Privilegien. Ein wackerer, arbeitslustiger, aber auch lebensfroher Sinn belebte die Bürger, und sie bauten ihre Häuser so kunstsinnig und eigenartig, leisteten so Meisterhaftes im Holzbau, daß die alten mit Holzschnitzereien und Malereien geschmückten Häuser Hildesheims heute zu den größten Sehenswürdigkeiten zählen. Sie werden auch pietätvoll erhalten, obwohl die Stadt in fröhlichem Wachstum begriffen ist und im Laufe der letzten Jahrzehnte ein durchaus modernes Viertel in der Nähe des Bahnhofes entstand. Der Fremde wandert jedoch rasch durch die neuen Straßen; ihn locken die Altstadt und die Domfreiheit. Hat er die Häuserfluchten mit den modernen Hotels und den großen Schauläden hinter sich, so ändert sich langsam das Städtebild.

Die Straßen werden enger, hier und dort zieht ein Fachwerkhaus mit etagenweise vorspringendem Giebel die Aufmerksamkeit auf sich, man erkennt an den Balken Schnitzerei und bunte Bemalung, man dringt weiter vor und steht plötzlich vor einem Straßenbilde wie vor einer fremden Welt: die bunten Häuser, die reichverzierten Erker, die spitzen Giebel, das alles gehört der Gegenwart nicht mehr an. Man möchte beinah’ erwarten, in den Erkern holde, blauäugige Jungfrauen in altdeutschem Gewande züchtig am Spinnrocken sitzend zu schauen und würdige [174] Ratsherren in Amtstracht aus den reich mit Schnitzereien verzierten Hausthüren hervortreten zu sehen! Die Anfangsvignette unseres Artikels zeigt uns einen prachtvollen Erker des Kaiserhauses, eines aus dem 16. Jahrhundert stammenden Renaissancebaues, der mit Medaillonreliefs und Statuen römischer Kaiser geschmückt ist.

An der Altdeutschen Herberge vorbei, die zu den ansehnlichsten Fachwerkhäusern gehört, gelangen wir bald auf den Mittelpunkt der Stadt, den Marktplatz. Die eine Seite füllt ganz die wundervolle Fassade des schönen Rathauses aus, an der anderen lenken das an Farbenschmuck überreiche Wedekindsche Haus mit seinen vorspringenden Erkern und Giebeln, daneben der merkwürdige Steinbau des Templerhauses mit den beiden Türmen rechts und links und dem Rathause gegenüber das prächtige „Knochenhaueramtshaus“ die Aufmerksamkeit auf sich. Von künstlerischem Reiz ist auch der alte Rolandsbrunnen auf dem Markte.

Die größte Zierde des Marktplatzes ist ohne Zweifel das Rathaus. Es ist im spätgotischen Stil gehalten und mit Laubengängen versehen; seine Errichtung fiel in die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts. Tritt man in das Gebäude ein, so empfängt einen unten eine weite, geräumige Halle, von der eine breite Treppe zu dem sogenannten Rathaussaale emporführt, den man geradezu als eine Ruhmeshalle der Stadt bezeichnen kann, nicht nur weil der Bilderschmuck die geschichtlich großen Momente aus der Vergangenheit der Stadt vergegenwärtigt, sondern auch weil der Raum in Anlage und Ausstattung einen glänzenden Beweis liefert, daß man den Künsten hier bis auf den heutigen Tag die größten Opfer zu bringen bereit ist. Die getäfelte Decke mit ihrem reichen Bilderschmucke, der in der zarten Harmonie der milden Farben so wohlthuend auf Auge und Gemüt wirkt, an den Wänden die weltberühmten Fresken von Prell, dazwischen die kleinen allegorischen Darstellungen, die Porträts verdienter Männer, die köstliche Schnitzerei der Thüren … das alles wirkt so überwältigend, daß man nicht satt wird, zu sehen und in sich aufzunehmen.

Tritt uns so im Innern des Rathauses die neue Zeit in ihrem künstlerischen Können entgegen, so zeigt das gegenüberliegende Knochenhaueramtshaus den Fachwerkbau des 16. Jahrhunderts in seiner Vollendung. Das Haus diente der Schlächterzunft als Verkaufs- und Versammlungshaus. Unser Bild Seite 168 und 169 zeigt die dem Marktplatze zugekehrte Fassade, aber ebenso bemerkenswert ist die Seite, die nach der Straße zu liegt. Ueberaus reich ist der Bilderschmuck des Hauses; jeder Raum ist mit bunten, humoristischen oder allegorischen Bildern geziert, die zum Teil Beziehung zur Zunft haben; in ihnen spielt besonders Gott Amor in den allerverschiedenartigsten Situationen eine hervorragende Rolle. Aber nicht nur die freien Felder des Hauses, auch die Balken sind aufs reichste verziert, ja selbst die Backsteine sind so eingesetzt, daß sie allerlei prächtige Muster bilden. Man staunt über die hingebende Liebe des Künstlers, der das alles zu Ehren seiner Vaterstadt geschaffen hat, und wenn man dann selbst an den bescheidensten Privathäusern denselben Spuren künstlerischen Strebens begegnet, so muß man gestehen, daß unsere Vorfahren weit mehr Liebe und Kosten auf den äußeren Schmuck ihrer Häuser verwandt haben, als es jetzt geschieht, nicht weil sie reicher waren, sondern weil sie ein viel ausgeprägteres Heimatsgefühl und in ihren kleinen, selbständigen Gemeinwesen ein starkes Selbstbewußtsein besaßen, das uns heute in der beständigen Bewegung der Bevölkerung vielfach abhanden gekommen ist. Verlassen wir den Marktplatz und wenden uns an der alten Ratsapotheke vorbei, nach einem Blicke auf den Hohenweg, die Hauptverkehrsstraße der Stadt, wo die alten Fachwerkbauten mehr und mehr verschwinden, unter dem Säulenhaus hindurch dem Platze an der Andreaskirche zu, so stehen wir wiederum in einem berühmten Viertel Alt-Hildesheims. In der Mitte die Kirche mit ihrem gewaltigen Turme, ringsherum ein Kranz hübscher Fachwerkbauten, die überall durch den eigenartigen Schmuck der Schnitzerei und Bemalung das Auge erfreuen, auf allen Seiten die Ausgänge enger Gassen und Gäßchen, in die das Sonnenlicht kaum eindringt. In eine dieser Straßen, die Eckemecker, treten wir ein. Hier fesselt uns der Anblick der von Godehard erbauten Andreaskirche, die neuerdings restauriert wurde; wir gehen dann am Rolandsstift vorbei und wenden uns durch die Poststraße dem Domhofe zu.

Das Rathaus.

Empfand man am Markte, daß man auf dem Boden einer selbstbewußten, stolzen Hansastadt mit kräftiger, reicher Bürgerschaft stand, so fühlt man hier, daß man am Sitze kirchlicher Fürsten sich befindet. Es ist geweihter Boden, auf dem wir stehen: seit mehr als tausend Jahren werden an diesem Orte die Freuden und Leiden der Gläubigen vor das Angesicht des Höchsten getragen; welche Schicksale hat der alte Dom, der dort so weltentrückt durch das Laub der Bäume hindurchscheint, erlebt!

Der Dom ist ein Bauwerk der frühromanischen Zeit und zeigt in seinem Grundriß die sächsische Anlage der Basilika; er geht in seinen Anfängen auf die Bischöfe Altfried († 874) und Godehard († 1079) zurück, doch haben auch die folgenden Zeiten daran mitgearbeitet und ihm ihr Gepräge aufgedrückt, „so daß eine Wanderung durch sein Inneres gleichsam ein Gang durch die Kunstgeschichte eines Jahrtausends ist.“ Von den Schätzen des Domes greifen wir nur einige heraus, vor allem die Bernwardsäule, ein Werk des großen kunstsinnigen Bischofs, das in 24 Reliefs Bilder aus dem Leben Jesu zeigt, die in Spiralen um die Säule sich winden: sie war gekrönt mit einem Kruzifix und bei besonders festlichen Gelegenheiten mit dem berühmten Kreuze Bernwards. Noch vor wenigen Jahren stand die Säule mitten unter den Linden des Domplatzes, bis der Minister, der die nachteiligen Einflüsse der Witterung fürchtete, ihre Aufstellung im Innern der Kirche verlangte. Der Domplatz hat dadurch etwas von seinem eigentümlich stimmungsvollen Charakter verloren, obwohl die Lücke durch das schöne Bernwardsdenkmal ausgefüllt worden ist. Auf Bernward gehen auch die berühmten [175] eisernen Thürflügel zurück, die im Relief je acht Gruppen von Bildern des Alten und Neuen Testamentes zeigen. Aus Bernwards Schule stammt ferner der berühmte kupferne Kronleuchter, der 20 m im Umfange mißt, „das himmlische Jerusalem“, auf dessen Mauern 12 goldene Thore und ebensoviele goldene Türme emporragen. Auch eins der glänzendsten Werke der deutschen Gießkunst findet sich hier im Dome, ein fast 2 m hohes und 1 m breites Taufbecken, von vier knieenden Figuren, Personifikationen der Paradiesesströme, getragen und mit zahlreichen Medaillons geschmückt. Was aber den Dom in aller Welt berühmt gemacht hat, das ist der Annenfriedhof, den nach Westen die östliche Apsis und die Kreuzesarme des Domes, auf den drei anderen Seiten die malerischen Kreuzgänge der Klostergebäude umschließen, und in dessen Mitte die rein gotische Annenkapelle sich erhebt. Jahrhunderte alter Epheu bedeckt die Strebepfeiler und die Säulen der Arkaden, grüner Rasen überzieht die mit Blütensträuchern geschmückten Gräber, und an der halbrunden Apsis des Domes breitet bis zum Dache der „tausendjährige“ Rosenstock seine Zweige aus. Das Ganze ein Fleckchen Erde, geheiligt durch Geschichte und Sage! Hier ereignete sich der Sage nach jenes Wunder, das einst zur Gründung Hildesheims Anlaß gegeben hat: Kaiser Ludwig der Fromme kam einstmals mit einem Jagdgefolge hierher in die Einsamkeit des Waldes, als ihn plötzlich die Lust anwandelte, die Messe zu hören. Der Geistliche, welcher das Hochamt versah, knüpfte den Behälter mit Reliquien der heiligen Jungfrau an einen Baum an und vergaß später das Reliquiar abzunehmen. Als dann der Jagdzug weitergewandert war, erinnerte sich der Geistliche des Vergessenen und eilte zurück, es zu holen, allein keine Gewalt vermochte es vom Baume zu lösen. Er teilte dem frommen Kaiser das Wunder mit, und dieser beschloß, hierher den Kirchenbau zu verlegen, der von seinem Vater in Elze geplant war. – So lautet die älteste Ueberlieferung. In späteren Umbildungen der Legende ist aus dem Baume eine blühende Rose geworden, die noch dazu mitten im Sommer mit Schnee bedeckt gewesen ist. So entstand die Sage vom tausendjährigen Rosenstock. Nun hat die Wissenschaft für die ehrwürdige Rose – die übrigens zu der ganz bekannten Art der Rosa canina gehört – den unzweifelhaften Beweis eines weit jüngeren Alters erbracht, trotzdem aber ist der Rosenstock mit seinen 300 Jahren wohl der älteste Rosenstrauch der Welt.

Wir verlassen den weihevollen Ort und wenden uns der Dammstraße zu, da öffnet sich nach wenig Schritten wieder ein etwas größerer Platz, der durch drei große Bauten beherrscht wird. Vor uns liegt das Landschaftsgebäude, rechts ein moderner Palast mit gewaltigen Schaufenstern, links endlich das Roemer-Museum mit der wohlgelungenen Büste seines Gründers vor der Pforte. Es enthält Kunst- und naturgeschichtliche Sammlungen; wir wollen diesmal nicht hineingehen, obwohl es zwischen Berlin und Paris nicht seinesgleichen hat, wie der für sein Werk begeisterte Senator Roemer zu sagen pflegte, sondern wenden uns noch einmal rechts hinauf zur hochgelegenen Michaeliskirche. Auch dieser Bau geht in seinen Anfängen auf den großen Bernward zurück, der im Pestjahre 995 dem heiligen Michael zu Ehren hier ein Benediktinerkloster baute. Erst Godehard aber hat 1033 den Bau vollendet, der dann leider schon ein Jahr darauf durch einen Blitzstrahl wieder zerstört wurde. Abt Theoderich nahm später eine umfassende Erneuerung vor. Ursprünglich war die Kirche doppelchörig und hatte zwei Querschiffe und sechs Thüren; auch ist bemerkenswert, daß der hohe Chor hier im Westen liegt statt wie gewöhnlich im Osten; unter ihm befindet sich die Gruft St. Bernwards, wo die Gebeine des Heiligen bis 1194 geruht haben. Die Kirche enthält im Innern mancherlei Prachtwerke romanischer Kunst, wundervolle Kapitäle an den Säulen und besonders ein berühmtes Deckengemälde, das einzige erhaltene aus romanischer Zeit diesseit der Alpen und daher von höchstem Interesse; es ist in Wasserfarben auf Kreidegrund ausgeführt und stellt den Stammbaum der alttestamentlichen Könige aus dem Geschlechte Davids dar. Von der Höhe des Kirchplatzes, der auf der einen Seite fast schroff abfällt in den alten Stadtgraben, steigen wir wieder hinab dem Flußthale zu; aus der Ferne winkt uns die Kirche des heiligen Mauritius vom Steinberge herab entgegen, aber wir biegen nach Überschreitung der Innerstebrücke, die nach links und rechts interessante Ausblicke auf die uralten Betriebsstellen der Müller und Gerber gewährt, links auf den Wall, den wir nun entlang gehen. Da schauen wir rechts in schöne Gärten, die wie Inseln zwischen einem System von Gräben und den Adern des Flusses liegen und den bezeichnenden Namen Venedig tragen, links erscheint burgartig die Höhe des Domplatzes mit der steilen Wand der alten den Platz umschließenden Häuser, und von der goldenen Kuppel des alten Domes und den goldenen Kreuzen seiner Türme geht nun im Scheine der Abendsonne ein Glänzen und ein Leuchten aus, das die Gegend verklärt, dem fremden Wanderer weithin ein Wahrzeichen. Wir betreten den zweiten Wall. Wieder sind rechts Teiche, Flußadern und parkartige Gartenanlagen mit einem hohen modernen Schlosse, aber mehr als dies zieht links eine herrliche Kirche mit drei Türmen die Augen auf sich, es ist die Godehardikirche, zu Ehren Godehards im 12. Jahrhundert erbaut, ein vollendetes Werk romanischen Stiles. Wir begeben uns hinab zu dem ernsten Bau, der in stiller Abgeschiedenheit daliegt; hier wird der Sinn durch nichts abgezogen, weltentrückt kann man sich in Betrachtungen verlieren über die Vergangenheit, deren Geist das Gemüt mächtig ergreift.

Gehen wir dann auf den Wall zurück, so gelangen wir bald in die schöne, mit doppelter Baumreihe bestandene Promenade der Sedanstraße und damit wieder in die Neustadt. Bevor wir aber unseren Rundgang ganz schließen, biegen wir rechts in die stillen Mauern eines einsamen Kirchhofes ein und legen ein frisches Reis auf das einfache Grab des Mannes nieder, dem Hildesheim die Erhaltung seiner alten Schätze und Bauten und die Anregung und Förderung aller neuen Schöpfungen in Kunst und Wissenschaft verdankt, auf das Grab Hermann Roemers. Möge der Geist dieses treuesten Sohnes der Stadt, der im Leben kein höheres Ziel kannte, als für sein geliebtes Hildesheim zu wirken und seinen Ruhm zu mehren, und im Tode noch diesem einzigen Zwecke alles hingab, was er und seine Geschwister an Gütern besaßen, in den Bürgern von Hildesheim lebendig bleiben!

Dr. Adolf Vogeler.     

Didiers Braut.

Novelle von A. Noël.

     (Fortsetzung.)


Als die Opernvorstellung aus war, fühlte Detlev sich nicht in der Stimmung, das Gasthaus oder das Kasino aufzusuchen, sondern er begab sich still auf den Heimweg. Im Flur des Hauses angelangt, hörte er die Dormans mit ihrem Gast kommen. Er vernahm die Abschiedsworte des Franzosen, und wieder lauteten sie: „Morgen, auf Wiedersehen!“ Reiste der Mensch denn nicht endlich ab? Seine Geschäfte in Metz waren doch jedenfalls abgethan! In sehr verdrießlicher Laune ging Detlev schlafen.

Bei seinen Nachbarinnen herrschte eine erregtere Stimmung. Madame Dormans konnte lange nicht zur Ruhe kommen. Sie schwelgte in Erinnerungen an Nancy und die schöne Jugendzeit, wo sie mit Charlotte Valmont im Kloster gewesen war, der Frohesten und Lautesten eine, mit der die frommen Schwestern ein rechtes Kreuz gehabt hatten. Ja, warum hätte sie damals nicht lustig sein sollen? Ahnte sie doch nichts von dem bösen harten Schicksal, das ihr später beschieden war.

Endlich versiegte ihr Redestrom, Stille trat ein und das Licht wurde verlöscht. Schon glaubte Marguérite die Mutter eingeschlafen, als ein grelles Lachen das junge Mädchen vom Sofa aufschreckte, das ihr Nachtlager bildete.

„Was hast du, Mama? Warum lachst du so?“

„Ueber den Preußen!“ lachte Madame Dormans weiter. „Weißt du was? Er ist in dich verliebt …“

„Wie kann dir nur so etwas einfallen?“ fragte Marguérite betroffen. „Er kennt mich ja kaum …“

„Offenbar doch genügend …“

[176] „Und woran willst du das gesehen haben?“

„O, es war nichts Besonderes an ihm zu bemerken. Er wußte sich gut zu hüten. Aber mein Instinkt hat es gefühlt! Aergere dich doch nicht darüber! Ich mache dir ja keinen Vorwurf. Was kannst du dafür, daß du so hübsch bist? O, er hat Geschmack, der Deutsche! Merkwürdig! Hätte es einem von ihnen gar nicht zugetraut.“

„Ich versichere dir, Mama, du täuschest dich … Vielleicht hat er gar schon eine Braut in seiner nordischen Heimat. Die Joß sagt, daß das Bild eines schönen Fräuleins auf seinem Schreibtisch steht …“

„O, du Kind! Als ob das ein Hindernis wäre, dich reizend zu finden! Ich bin meiner Sache ganz sicher, und ich muß gestehen, meine Entdeckung hat mir sogar Spaß bereitet. Das giebt eine kleine Revanche!“

Marguérite antwortete nichts mehr, sondern starrte im Dunkeln vor sich hin.

„Sie gafften ja übrigens alle nach dir … Didier konnte sehen, daß du aller Welt gefällst … Er hat eine kleine Neigung zur Eifersucht …“

„Du könntest sagen: eine große Neigung,“ verbesserte Marguérite. „Er eifert mit dem Schatten an der Wand, bevor er noch ein Recht hat.“

„Ein Recht! Wenn mich nicht alles täuscht, wird er sich dieses Recht sehr bald zu erwerben trachten. Und was seine Neigung zur Eifersucht betrifft, so schadet sie gar nichts. Eine kluge Frau weiß dies zu ihrem Vorteil zu benutzen.“

„Ach, bitte, Mama, sprich doch nicht so.“

„Gut, gut!“ lenkte Madame Dormans ein. „Du bist ein Lämmchen, eine Seele ohne Arg, die alle Welt für ihresgleichen hält. Didier liebt dich, ich bin dessen sicher, und wie könnte man je aufhören, dich zu lieben?“

„Mama, du wirst dich krank machen, wenn du zu viel sprichst …“

„Nein, nein, fürchte nichts. Ich bin bloß hoffnungstrunken. Weißt du, was ich mir vornehme? Ich werde gar nicht mehr krank sein. Ich fühle mich so wohl wie seit langem nicht. Vielleicht hat mir nur die eine Arznei gefehlt, die in den Metzer Apotheken nicht zu haben ist: ein bißchen Glück!“

„Ein bißchen Glück!“ wiederholten die Lippen des Mädchens leise und träumerisch.

„Aber jetzt mußt du wirklich schlafen gehen, Marguérite, damit du morgen schön bist!“

Der folgende Tag brach trübe an. Gleichförmig bleifarben dehnte sich der Himmel über der Erde aus, und daher erschienen auch die Fluten der Mosel, die ihn widerspiegelten, mißfarbig grau. Die Bäume, die in den Nachtstürmen der jüngsten Zeit ihre letzten Blätter verloren hatten, streckten ihre Aeste kahl zum Himmel empor. Der leuchtende Oktobersonnenschein war trüben Nebeln gewichen, und von den Bergen her kam ein kühler Hauch.

Detlev verspürte ihn nicht, denn er hatte sich warm geritten. Seit Stunden trabte er die schöne Reitallee längs der Mosel dahin, versunken in den Anblick der Landschaft und in seine Gedanken. Vom Rücken seines Rosses genoß er einen weiten Ausblick. Vom Saint Julien bis zum Saint Quentin schweifte sein Auge auf diesem Ritt von einem Fort zum anderen; er überblickte die Windungen der Mosel, die fern in der mattbraunen Ebene schimmerte wie ein silberner Streif, und nur die waldigen Höhen, hinter denen Frankreich lag, hielten seinen Blick auf.

Eben befand er sich auf dem Rückweg in der Richtung gegen das Fort Saint Eloi. Unweit der großen Moselbrücke vor dem Diedenhofener Thore stutzte er plötzlich … Auf einer Bank in der Allee neben dem Reitweg saß eine weibliche Gestalt, die Hände neben sich auf die Bank gelegt und mit den Füßen taktmäßig auf den Boden tippend. Unter der Mütze schimmerte es rötlich. Diese Haarfarbe kannte Detlev. Es war Jeanette Joß. Beim Herannahen des Hufschlags sah sie auf und grüßte den Offizier mit einem ergebungsvollen Lächeln, das zu sagen schien: Ich langweile mich, aber ich mache mir nichts daraus.

Detlev brauchte sich nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, warum sie dasaß. Schon hatte er in einiger Entfernung zwei Gestalten erkannt, die, ihm den Rücken zukehrend, den Alleeweg hinabgingen. Er kannte das schwarze Kleid und das helle Haar, und er kannte auch den glatten, glänzenden Cylinderhut. Der Franzose schien eindringlich auf das junge Mädchen einzureden, das langsam an seiner Seite dahinging, den Kopf geradeaus gerichtet. Detlev hatte das Gefühl, als könnte es sich zwischen diesen Beiden um nichts Gleichgültiges handeln. Gern hätte er das Gesicht des jungen Mädchens gesehen, aber er mochte an dem Paar nicht vorüber reiten. So lenkte er, nachdem er Jeannettes Gruß höflich erwidert hatte, der Brücke zu und sprengte ans andere Ufer hinüber, wo er in der Richtung, von der er gekommen war, zurückritt.

Das Paar hatte den dumpfen Hufschlag des über die Brücke sprengenden Reiters vernommen und sich für einen Augenblick umgesehen. Marguérite warf einen raschen Blick auf das Gesicht ihres Begleiters, aber er erkannte den Offizier offenbar nicht.

„Und etwas Angenehmeres wissen Sie mir nicht zu sagen, Marguérite?“ fragte Didier halb schmeichelnd, halb ärgerlich.

„Die Wahrheit vor allem, Didier … Wenn ich Ihre Frau werden soll, so bin ich Ihnen volle Offenheit schuldig …“

„Gut, gut, das ist auch etwas!“ gestand Didier zu, wenn auch mit einiger Ungeduld im Ton. „Es wäre vielleicht süßer, getäuscht zu werden. Indessen werde ich Ihnen doch dankbar sein, wenn Sie dem Grundsatz der Wahrhaftigkeit immer treu bleiben wollen. Aber warum wollen Sie mich nicht lieben?“

„Es hängt nicht von meinem Willen ab, Didier … Ich möchte Sie lieben, mein Freund, und doch kann ich mir und Ihnen nicht verhehlen, daß ich nur Freundschaft für Sie empfinde.“

„Freundschaft!“ Er schnitt eine Grimasse. „Die macht weder kalt noch warm. Mein Trost ist nur, daß Sie nicht wissen, was Liebe ist. Sie lieben doch keinen anderen?“ Es klang nur halb fragend. Das junge Mädchen sah ja niemand, kannte niemand!

„Ich liebe keinen anderen,“ sprach Marguérite mechanisch nach. Dann wiederholte sie es mit größerer Sicherheit: „Nein, ich liebe keinen anderen.“

„Dann … werden Sie mich lieben lernen. Marguérite, sagen Sie, daß Sie sich Mühe geben wollen!“ Seine Stimme nahm einen zärtlich beschwörenden Ton an und seine schwarzen Augen suchten mit heißem Blick die ihrigen.

„Ich werde mir Mühe geben, Didier,“ betonte Marguérite ernst.

„O, Sie werden sehen, ich werde Sie glücklich machen!“ rief Didier zuversichtlich. „Sie werden aufleben, wenn Sie einmal die deutschen Grenzpfähle im Rücken haben … Das ist nichts für ein patriotisches Herz, das Leben inmitten der Fremden … Wir werden uns ein reizendes Nest bauen, meine süße Marguérite, nicht wahr?“

„Sie kennen meine Bedingung, Didier!“ murmelte Marguérite mit halb erstickter Stimme. „Meine Mutter muß mit uns kommen!“

„Natürlich! Das versteht sich von selbst!“ fiel Didier lebhaft ein. „O, keineswegs lassen wir sie hier zurück!“

„Meine Mutter hat mir viel Sorge gemacht in der letzten Zeit. Sie sprachen ja doch mit Doktor Laurins, wie ich Sie bat? Hat er Ihnen nicht gesagt, daß meine Mutter bedroht ist, daß sie …“

Ihre Blicke hingen angstvoll an seinen Zügen. Er begriff, daß er sie ansehen mußte bei seiner Antwort, wenn diese ihr glaubwürdig scheinen sollte, und so blickte er ihr ins Auge. „Keineswegs! Sie kann noch – sehr – lange leben … Es wird ihr Leben verlängern, wenn sie mit uns hinüber kommt!“ setzte er rascher hinzu. „Seien Sie dessen gewiß, Marguérite, daß ich Ihre Mutter lieben werde wie meine eigene. Und ich bin doch kein schlechter Sohn … was?“ Er lachte und sah dabei wirklich recht liebenswürdig aus.

Marguérite kehrte sich unvermittelt ihrem Begleiter zu und streckte ihm die Hand entgegen. „Dank, Didier, Dank! Wenn Sie meiner Mutter ein solcher Sohn sein wollen wie

[177]

Photographie im Verlage von Franz Hanfstaengl in München.
Zlatorog.
Nach dem Gemälde von E. Herger.

[178] der Ihrigen – dann werde ich Sie – gewiß – ich hoffe – lieben lernen, wie Sie es verlangen! Haben Sie Geduld mit mir …“

„Daran soll es nicht fehlen!“ rief Didier, die Hand des jungen Mädchens drückend. „So sind wir einig, nicht wahr? Aber wollen wir jetzt nicht lieber umkehren? Es weht hier ein verteufelt kalter Wind, und gerade jetzt verspüre ich keine Sehnsucht nach einem Schnupfen!“

„Sie haben recht, kehren wir um,“ antwortete Marguérite mit tonloser Stimme.

Am folgenden Vormittag begegnete Detlev der kleinen Jeannette im Flur. Sie blitzte ihn aus ihren dunklen Augen schelmisch und verständnisvoll an. „Heute werden Sie nicht ausreiten, Herr Leutnant!“

Es regnete nämlich. „Und Sie nicht mit Mademoiselle und Monsieur spazieren gehen,“ gab er zur Antwort.

„Das könnte ich auch nicht, wenn es nicht regnen würde. Monsieur Didier ist bereits heute morgen abgereist.“

„So, so … Abgereist ist er … So bald?“

„O, nicht für lange … Er kommt in einigen Tagen wieder ...“ Es glimmte mitteilungsbedürftig in ihren Augen. Die funkelnden hellen Glanzpunkte auf den dunklen Augäpfeln kicherten: Ich weiß was, ich weiß was … Aber Detlev fragte ihnen das Geheimnis, das sie so gern preisgegeben hätten, nicht ab. Es eilte ihm nicht, es zu erfahren.

*      *      *

Nun zog der November ein. Am Allerheiligentage schüttete es vom Himmel, und obgleich der Regen in der Nacht nachließ, so war doch auch der Allerseelentag feuchtneblig, naßkalt und trostlos. Dennoch hatte sich Detlev entschlossen, den Friedhof zu besuchen … Auch Marguérite und die Schwestern Perraul hatte er bereits eine Weile vorher einen mit Kränzen bedeckten Wagen besteigen gesehen, der die Richtung nach dem Ostfriedhof eingeschlagen hatte … Beklommen von der Nebelluft und bis in die Seele hinein angefröstelt von dem Anblick der verregneten Welt, fuhr Detlev hinterdrein. Es giebt einen kräftig und frisch herunter strömenden Regen, der den Lebensmut weckt und hebt – diese langsamen unaufhörlich sich senkenden Regenschnüre hingegen drückten auf Detlevs Lebensgeister wie sonst nicht bald ein Wetter. Die regennasse Friedhofsatmosphäre konnte diesen Eindruck nur verstärken. Die schwarzen Kleider und Schleier, der schwere Duft der verregneten Blumen, die ihre Kelchblätter vorzeitig verloren, die trübbrennenden Lichter, deren Gelb vergebens gegen all das Grau um sie herum ankämpfte, alles trug dazu bei, die traurige Stimmung, die dem Ort und der Gelegenheit so angemessen war, vollkommen zu machen.

Detlev betrachtete zuerst die langen Reihen der Soldatengräber. Hier lagen Tausende von Franzosen, die der Kampf um die Stadt hinweggerafft hatte, und wenn irgendwo, so konnte man es hier verstehen, daß zwanzig Jahre nicht genügt hatten, um Vergessenheit und Versöhnung zu bringen. Langsam wanderte er dann zwischen den Ruhestätten der toten Bürger von Metz dahin. Reichen Naturblumenschmuck trugen nur wenige Gräber; die meisten waren mit Papierblumen, die der Regen schnell verwusch, mit Immortellen oder mit Kränzen und Kreuzen aus schwarzen und weißen Perlen geschmückt. Deutsche Grabschriften wechselten mit französischen, allein die letzteren überwogen.

Endlich gewahrte er unter den Trauernden die schlanke Gestalt, die sein Auge unwillkürlich längst gesucht hatte. Marguérite stand an der Friedhofsmauer vor einem Familiengrab. Einige Schritte weit von ihr befanden sich Célestine und Octavie Perraul.

Lange, lange dauerte die Andacht der Beterinnen. Als sie sich zuletzt aber doch zusammenfanden, um einen Rundgang bei den Gräbern ihrer toten Bekannten anzutreten, näherte sich Detlev dem Grabe, an dem Marguérite gebetet hatte, und las die auf einer Marmortafel eingegrabenen Namen. Der letzte in der Reihe lautete „Alphonse Claude Antoine Marie Dormans-La Villette“, als Todestag war darunter der 11. August 1870 angegeben.

Das war also Marguérites Vater. Das Todesdatum aus der Kriegszeit bewies es. Neben ihm schien der leere Platz noch eines Namens zu warten. Wie erschütternd mußte nicht bei der schwankenden Gesundheit ihrer Mutter gerade diese leere Stelle auf Marguérite wirken! Er hatte mit tiefem Mitgefühl beobachtet, wie schmerzlich sie vorhin in sich hinein geweint hatte.

Beim Verlassen des Gottesackers kam er an seinen Hausgenossinnen vorüber. Als er sie grüßte, strich Marguérites Blick ganz fremd über ihn hin; Mademoiselle Octavie hingegen sah ihn erstaunt an; da erst fiel ihm ein, daß Marguérite ihn wohl gar nicht erkannt hatte, weil er in Civil war.

Ehe er in seinen Wagen stieg, warf er Abschied nehmend einen langen Blick auf das junge Mädchen zurück. Neulich, bei der Entdeckung, daß sie deutsche Autoren las, war es ihm gewesen, als sinke eine Scheidewand zwischen ihnen ein. Sie konnte das Volk nicht hassen, bei dessen Schriftstellern sie Anregung und innere Bereicherung suchte, deren geistige Gastfreundschaft sie genoß. In dieser Stunde jedoch sah er die Trennungsmauer höher als je zwischen ihnen beiden aufgerichtet.

In der nächsten Woche kam Didier Morel mit seinen Eltern zu Besuch. Am Abend nach ihrer Ankunft vernahm Detlev aus dem Salon der Perrauls, der an seine Schlafstube stieß, laute Stimmen und Gläserklirren, was ihn bei den stillen alten Damen ziemlich überraschte. Er nahm an, daß die Perrauls Madame Dormans und ihre Gäste bei sich hatten, aber er konnte doch nicht voraussetzen, daß wegen der Kleinheit der Dormans’schen Wohnung die Verlobung Didiers mit Marguerite bei den Perrauls gefeiert wurde. Indessen überraschte es ihn nicht sonderlich, am anderen Morgen zuerst von Stefan, dann von Madame Joß das Vorgefallene zu vernehmen.

Es schien Detlev sehr wahrscheinlich, daß ihm nun die Wohnung gekündigt werden würde. Der gehässige Blick, den ihm Didier bei einer zufälligen Begegnung zuwarf, ließ den Offizier vermuten, daß der junge Mann das Seinige dazu thun würde, ihn aus dem Hause hinaus zu bekommen. In der That hatte Didier Morel nicht ermangelt, bei Madame Dormans darauf hinzuweisen, daß sie es nicht mehr nötig habe, einem der Feinde Logis zu geben. Er war jedoch nicht durchgedrungen, denn Madame Dormans legte Gewicht darauf, vor der Hochzeit ihre materielle Unabhängigkeit von den Morels zu wahren. Ihr Wunsch ging dahin, ihrer Tochter eine Ausstattung mitzugeben. Sie kannte ihre Freundin Lolotte zur Genüge, um Marguérite nicht als aussteuerlose Braut in das Haus ihrer Schwiegereltern einziehen zu lassen. Um aber aus ihren eigenen Mitteln allen Ausgaben gerecht zu werden, brauchte sie mehr Geld, als sie auf das ohnehin schon belastete Haus auftreiben konnte, und die Miete des Offiziers war ihr nicht entbehrlich. Da sie nun einmal in den sauren Apfel gebissen hatte, mochte der Deutsche noch einige Monate bleiben. Nach Marguérites Verheiratung wollte sie die Wohnung im ganzen vermieten, und dann konnte er sehen, wo er bliebe. Jetzt, wo Marguérite verlobt war, schien ihr seine Anwesenheit im Hause überdies unbedenklicher als früher.

Madame Morel gab der Freundin sogar recht. Deutsches Geld war immerhin Geld. Warum die Wohnung leerstehen lassen? Madame Morel hatte eine starke geschäftliche Ader, und die materiellen Interessen waren ihr stets wichtiger als die nationalen. Da seine Mutter ihn nicht unterstützte, ließ Didier die Angelegenheit fallen, und so kam es, daß die von Detlev erwartete Kündignng ausblieb.

Die Morels reisten wieder ab, und es war alles wie vorher, nur daß Detlev von nun an jedes Zusammentreffen mit seiner jungen Nachbarin eher vermied als suchte.

Doch pflegte Madame Dormans jetzt mit ihrer Tochter auszugehen, und so geschah es, daß Detlev beiden zuweilen hier oder dort begegnete. Bei einem Zusammentreffen im Vorraum ließ sich Madame Dormans den Offizier von ihrer Tochter vorstellen, und an einem lauwarmen Dezembertag, wo Mutter und Tochter auf einer Bank in der entlaubten Mittelallee der Esplanade saßen und Detlev mit stummem Gruß an ihnen vorbeigehen wollte, hielt ihn Madame Dormans, die besonders guter Laune sein mochte, sogar auf, so daß er stehen bleiben und auf ein Gespräch eingehen mußte. Dies befremdete ihn von der sonst so zurückhaltenden und hochmütig kalten Frau. [179] Er wußte nicht, welchem Umstand er das Interesse verdankte, das sich in ihrem Blick ausdrückte, wenn dieser Blick auch etwas Spähendes und Lauerndes hatte und keineswegs freundlichen Anteil verriet.

Man sprach zuerst vom Wetter, das auffallend milde war. Der Winter hatte bis jetzt eine fast südliche Zahmheit gezeigt.

„Bei Ihnen im Norden giebt es wohl nie solch warmes Dezemberwetter?“ fragte Madame Dormans.

Detlev war erstaunt, zu vernehmen, daß sie ein im ganzen fehlerfreies, wenn auch seltsam betontes Deutsch sprach.

„O doch! Solche Wetterlaunen kommen überall vor. Und das Klima in meiner Heimat ist überhaupt gar nicht so rauh, als man es sich vorstellt. Es giebt bei uns in Norddeutschland keine Eisbären, Madame …“

„So? Ich dachte, daß es dort wirklich welche gäbe!“ versetzte Madame Dormans spöttisch. „Es ist wohl sehr schön bei Ihnen?“

„Die Heimat ist immer schön,“ fiel Marguérite sanft ein.

„Das Fräulein sagt es: die Heimat ist immer schön … Aber meine Heimat ist es wirklich.“

„Mag sein, daß Deutsche das schön finden: Ebene, nichts als Ebene… Ich fände es langweilig. Aber ich kann nicht urteilen. Ich war nie in Deutschland. Wir Franzosen sind keine Wanderer. Nicht einmal Italien habe ich gesehen. Meine Tochter wird es schon besser haben. Ihr Verlobter hat versprochen, sie auf der Hochzeitsreise nach Italien zu führen...“ Während des letzten Satzes hielt sie ihre tiefliegenden Augen fest auf Detlevs Gesicht gerichtet … Detlev zuckte mit keiner Wimper, obgleich diese Erwähnung von Marguérites Hochzeitsreise ihm ein unangenehmes Gefühl erregte. Auch dem jungen Mädchen sah er an, daß die Worte ihrer Mutter sie peinlich berührten.

„Wird Ihre Hochzeit bald stattfinden, mein gnädiges Fräulein?“ fragte er mit möglichster Ruhe.

„O, nicht so bald!“ murmelte Marguérite ohne aufzublicken.

„Jedenfalls vor dem Frühling,“ entschied Madame Dormans. Und das Thema wechselnd, sagte sie leichthin: „Wie gefallen Ihnen eigentlich die Metzerinnen – ich meine die jungen?“

„Von den Einheimischen kenne ich nur – eine,“ sagte Detlev und blickte lächelnd auf Marguérite. „Die Damen, die ich sonst hier kennenlernte, gehören fast ausnahmslos deutschen Offiziers- und Beamtenfamilien an.“

„Das konnte ich mir denken!“ rief Madame Dormans lebhaft. „Der französische Typus ist wohl gar nicht nach Ihrem Geschmack?“

„O, warum nicht?“ gab Detlev zögernd zurück.

„Nun, er weicht doch sehr ab von dem Ihrer Landsmänninnen.“

„Wenn Sie meine Schwester kennten, würden Sie staunen, wie ähnlich im Aussehen sie Ihrem Fräulein Tochter ist.“

Madame Dormans verzog den Mund ein wenig. „Ist sie auch so hübsch – wie meine Tochter?“

Er fand das ein bißchen stark. „Beinahe!“ sagte er mit einer leichten Verbeugung.

„Aber, Mama!“ hatte Marguérite gemahnt, allein Madame Dormans war heute nun einmal übermütig. „O, Sie ziehen sich ja recht gut aus der Affaire!“ rief sie.

„Für einen Deutschen!“ ergänzte Detlev ruhig.

„Gut, sagen wir für einen Deutschen.“

„Das Bild meiner Schwester steht auf meinem Schreibtisch. Ich werde mir gelegentlich erlauben, es Madame zu zeigen. Sie werden sehen, daß es keine Anmaßung ist, sie mit Mademoiselle zu vergleichen.“

Madame Dormans blickte flüchtig nach ihrer Tochter. Sie erinnerte sich der schönen jungen Dame auf dem Schreibtisch, von der Marguérite einmal gesprochen hatte. „Ich will es ohne Beweis glauben,“ sagte sie frostiger als bisher. „Mademoiselle wird gewiß einmal einen reichen Mann bekommen?“

„Meine Schwester ist bereits seit zwei Jahren verheiratet. Ihr Mann ist reich, aber vor allem ein sehr guter Mensch.“

„Von Adel?“

„Allerdings,“ bejahte Detlev, ein wenig erstaunt über das fortgesetzte Verhör.

„Nun, von Adel ist mein Schwiegersohn wohl nicht, aber ein reizender junger Mann,“ plauderte Madame Dormans. „Und diese Kinder lieben sich so sehr!“

Marguérite warf ihrer Mutter einen flehenden Blick zu, und Detlev fühlte sich mehr und mehr befremdet. Er begriff nicht, warum Madame Dormans ihm das erzählte, das Zartgefühl ihrer Tochter verletzend. Er ahnte nur so viel, daß eine gewollte und keine unbewußte Taktlosigkeit vorlag, und entzog sich derselben, indem er sich empfahl.

„Mama, was sollte das alles?“ fragte nun Marguérite leise ihre Mutter.

„Ich wollte ihn sondieren. Er hat sich sehr stramm gehalten, das ist wahr. Aber verlaß dich drauf, meine neuliche Vermutung war doch richtig.“ Sie lachte zugleich geschmeichelt und höhnisch auf. „,Es giebt keine Eisbären dort oben,‘ sagt er. Oho, es giebt doch noch welche! Und verliebte Eisbären obendrein … Weißt du, was eine andere thäte an deiner Stelle? Sie würde ihm vollkommen den Kopf verdrehen, und wenn er dann besiegt zu ihren Füßen hinsänke, dann schlüge sie eine Lache auf, eine Lache …“

„Welche Ursache hätte ich, mich seiner Leiden zu freuen?“ fragte Marguérite traurig. Sie hörte ihre Mutter ungern so sprechen. „Er hat die Zustände nicht geschaffen, unter denen wir seufzen. Er fand sie vor, wie ich sie vorfand, als ich zum Bewußtsein erwachte … Gehörte er der besiegten Nation an …“

„So wäre er wohl weniger duldsam als ich,“ ergänzte Madame Dormans. „Gott, wenn Didier dich hörte! Der versteht wenigstens zu hassen!“

„Möchtest du, daß ich hassen könnte, Mama?“

„Ich wünsche es vielleicht nicht,“ gestand Madame Dormans. „Man ist wohl glücklicher ohne einen solchen Vulkan im Busen. Aber Didier? … Der sollte es wünschen … Denn wenn man nicht zu hassen weiß, dann kann man auch nicht recht lieben.“

„Glaubst du das wirklich, Mama?“

*      *      *

Die sonnigen Tage des Dezembers waren gezählt, denn bald darauf brach Frost ein, und auch Madame Dormans’ gute Zeit endigte schneller, als man hätte denken können. Eines Nachts war Detlev ungewöhnlich spät aus dem Kasino nach Hause gekommen und noch nicht schlafen gegangen, als er auf dem Flur einen Schrei zu vernehmen meinte. Er öffnete die Thüre und horchte hinaus in das Dunkel. Jetzt hörte er deutlich ein Stöhnen, dann flammte drüben ein Lichtschein auf, und Detlev vernahm ein Geräusch, wie wenn jemand in der Eile an Stühle stößt. Durch die Glasthür sah er den Schatten einer Gestalt, die zum Fenster eilte und es aufriß.

„Madame Joß! Madame Joß!“ klang es in den Hofraum hinunter, und zu gleicher Zeit wiederholte sich das Aechzen, das zu Detlevs Ohren gedrungen war.

Mit einem Sprung war Detlev im Vorraum und an der Glasthüre, an die er laut klopfte.

„Ach, Sie sind da, Madame Joß?“ erklang Marguérites Stimme im Ton der Erleichterung.

„Nicht Madame Joß, ich bin’s,“ berichtigte Detlev. „Ich hörte Madame schreien. Was ist ihr?“

„Der Herzkrampf! … Und so heftig …“

„Kann ich Ihnen helfen?“

„Wenn Sie Madame Joß wecken wollten … Sie hört mich nicht … Sie soll den Doktor holen …“

„Welchen Doktor? Wo wohnt er? Ich hole ihn.“

„Doktor Laurins, Rue Serpenoise 12 – Römerstraße,“ verbesserte sie, mit der ihr eigenen Besonnenheit daran denkend, daß sie mit einem Deutschen sprach, der vielleicht mit den französischen Straßennamen nicht Bescheid wußte.

Dann ließ sie ihn stehen und flog zur Mutter hinein, deren halberstickte Schmerzensrufe kaum einen Augenblick aussetzten.

Detlev rannte die Treppe hinab, um Madame Joß zu rufen, fand mit Mühe die Thüre und mußte mehrmals klopfen, bis man ihn drinnen hörte. Als endlich Madame Joß erschien und, [180] nachdem sie erfahren hatte, um was es sich handelte, unbekümmert um ihr fast groteskes Negligé hinauf hastete, holte Detlev sich in seinem Zimmer Mütze und Mantel und eilte dann hinaus in die Winternacht, der Römerstraße zu. Mit einiger Mühe fand er in dieser die Klingel des Doktors, aber es dauerte geraume Zeit, bis ihm geöffnet wurde, und noch länger, bis der Doktor, ein kleiner weißhaariger Franzose mit einer vierschrötigen Figur, aber einem sehr feinen Kopfe, bereit war, ihm zu folgen. Detlev wartete, um den alten Herrn zu begleiten.

Auf dem Wege sprach sich Doktor Laurins über Madame Dormans’ Leiden aus und bestätigte Detlevs Vermutungen, daß es um die alte Dame schlimm stehe. Eine Verurteilte! Wie viel Gnadenfrist ihr gegönnt sei, könne man allerdings nicht wissen. Allein ihre Konstitution, durch viele Leiden erschöpft, würde nicht mehr viel aushalten. „Sie weiß auch recht gut, wie es um sie steht. Nur die Kleine schmeichelt sich noch mit Hoffnungen. Ein sehr gutes Mädchen! Beaucoup de ‚Gemüt‘, Monsieur!“ schloß der kleine Franzose, mit einem gewissen Stolz das deutsche Wort hervorhebend.

Als Detlev, in der Belle-Islestraße angelangt, dem Doktor mit einem Wachskerzchen die Treppe hinaufleuchtete, kam ihnen Madame Joß entgegen.

„O, Monsieur!“ fiel sie den Doktor an, und ein langer Bericht ergoß sich von ihren Lippen. Madame Dormans befand sich sehr schlecht. Man hatte ihr alles gegeben, was zur Hand war, nichts hatte geholfen.

Inmitten dieser wortreichen Klagen verschwand der Doktor hinter der Glasthüre, während Detlev auf dem Flur blieb. Wohl eine Stunde ging er dort in der Kälte auf und ab oder lehnte an dem Thürpfosten und horchte nach den Schmerzenstönen, die von innen kamen. In dem kleinen Empfangszimmer saßen die Perrauls in Nachtjacke und Schlafhaube und beteten für Madame Dormans. Uebrigens war das ganze Haus wach; auch Stefan war heruntergekommen und lief mit dem Rezept, das der Doktor geschrieben hatte, in die Apotheke. Als er zurückkam, dämmerte es bereits. Das Schreien der Kranken und das Hin- und Herlaufen der Frauen hörte auf. Madame Dormans befand sich etwas besser, und die Arznei, die man ihr jetzt eingab, schien die Schmerzen noch mehr zu besänftigen. Die Damen Perraul begaben sich wieder in ihre Wohnung, und Detlev, der das Gleiche nicht thun wollte, ohne vollkommen beruhigt zu sein, trat in das Empfangszimmerchen, das eine Kerze spärlich und mit flackerndem Licht erhellte. Marguérite kam für einen Augenblick heraus. Totenblaß, aber mit einem dankbaren Lächeln, ging sie auf ihn zu und reichte ihm die Hand. „Wie danke ich Ihnen!“ stammelte sie bewegt.

Detlev hielt ihre Hand einen Augenblick fest. „Es geht besser?“

„Ja, besser! Vielleicht wird sie endlich schlafen. Sie ist nun ganz ruhig geworden, und Doktor Laurins sagt, der Anfall sei vorüber. Geh’n Sie doch auch zur Ruhe!“

„Und Sie?“

„Ich werde schlafen, wenn Mama schläft.“

Detlev drückte noch einmal leise die Hand des jungen Mädchens und ging dann hinüber in seine Wohnung. Einige Augenblicke später hörte er den Doktor fortgehen … Auch Jeannette wurde zur Ruhe geschickt, und zuletzt entfernte sich Madame Joß. Es wurde totenstill, und in dieser Stille drückte der Schlaf bleiern auf Detlevs Lider. Es war aber fast schon heller Morgen, als er völlig einschlief.

Am nächsten Tag, oder vielmehr an demselben, nur einige Stunden später, hielt Detlev es für angezeigt, sich persönlich nach dem Befinden seiner Wirtin zu erkundigen. Zum erstenmal betrat er bei Tageslicht ihre Wohnung. Erstaunt sah er sich in dem kleinen Zimmer um, das ihm in der Nacht und beim unruhigen Licht einer einzigen Kerze natürlich einen anderen Eindruck gemacht hatte. Das Zimmerchen bestand beinahe nur aus Thüren und Fenstern. Einige wenige Sitzmöbel aus verblaßtem roten Rips füllten die Zwischenräume aus. Mit einem solchen Raum als „Salon“ war es begreiflich, daß die beiden Frauen sich so viel wie möglich vom Verkehr abschlossen. Das Zimmerchen machte übrigens trotz alledem keinen unfreundlichen Eindruck. Es war sehr sauber aufgeräumt und jede Spur der nächtlichen Verwirrung daraus verwischt. Marguérite jedoch, die sogleich erschien, als sie die Thüre gehen hörte, hatte nicht so leicht die Spuren der verflossenen Nacht von ihrem Gesichte tilgen können: sie sah bleich und übernächtig aus, und blaue Ringe umzogen die Augen. Doch beeinträchtigten diese Zeichen von überstandener Angst und Aufregung ihre Schönheit nicht, sondern verliehen derselben etwas Rührendes. Wenn Detlev sich später Rechenschaft darüber ablegte, wann sein Zustand unheilbar geworden war, so mußte er sich gestehen, daß dieser Morgen und die kurze und im Grund so belanglose Unterredung entscheidend gewesen waren. Mit Marguérite war eine Veränderung vorgegangen. Das Fremde und Gemessene war aus ihrem Benehmen verschwunden, sie sprach zu ihm mit einer einfachen sanften Freundlichkeit, die ihn unendlich wohlthuend berührte. Sie teilte Detlev mit, daß ihre Mutter sich verhältnismäßig sehr wohl fühle, bloß ein wenig schwach. „Ich hoffe, das Aergste ist wieder einmal überstanden, und Doktor Laurins meint gleichfalls, der Anfall werde sich nicht so bald wiederholen.“

Detlev erinnerte sich dessen, was ihm der alte Arzt gesagt hatte, und wie wenig auf Madame Dormans’ Besserung zu bauen sei.

„Sie lieben Ihre Mutter sehr?“ fragte er leise.

„Ueber alles!“ entgegnete sie einfach. –

Nach diesem Anfall schien Madame Dormans Befinden sich wirklich zu bessern, und als Detlev sich das nächste Mal persönlich nach der Kranken erkundigte, wurde er sogar in die Wohnstube der beiden Damen geführt. Madame Dormans war aufgestanden, und so durfte er den Raum betreten, in dem fast das ganze Leben Marguérites sich abspielte. Der herabgelassene Vorhang verhüllte den Alkoven und somit auch das Bett; einer der Fauteuils war zum Fenster gerückt worden, und in diesem saß die Leidende, dem bleichen Tageslicht ausgesetzt. Detlev erschrak fast über ihren Anblick. Ihr dunkles Hauskleid und das schwarze Haar ließen die Haut noch welker als sonst erscheinen. Die Augen lagen tief in den Höhlen, die Wangen waren hohl, die Schläfen eingesunken.

Sie dankte dem jungen Offizier höflich dafür, daß er in der Nacht sich selbst zum Arzt bemüht habe, und fragte ihn dann, ob er keinen Weihnachtsurlaub antreten werde.

„Allerdings. Ich verreise in nächster Woche auf vierzehn Tage.“

„Und wo reisen Sie hin?“

„An den Niederrhein zu meinem Onkel, der dort ein Gut besitzt. Meine Mutter und meine Schwester kommen auch hin.“

„Wir erwarten gleichfalls liebe Gäste. Der Bräutigam meiner Tochter und seine Eltern wollen uns besuchen.“

„Da werden Sie ja fröhliche Feiertage verleben,“ versetzte Detlev. Aber fast schien es ihm zweifelhaft, daß sie sie erleben werde.

Marguérite schien seine Befürchtungen nicht zu teilen. Sie plauderte mehr und heiterer als sonst, doch vermutete Detlev, daß sie sich der Mutter wegen Zwang auferlege.

Ehe sich jedoch ein rechtes Gespräch entwickeln konnte, kamen die Schwestern Perraul angerückt, und Detlev räumte das Feld. In den folgenden Tagen ließ er sich nur durch Stefan nach dem Befinden seiner Wirtin erkundigen; auch beabsichtigte er, sich bei seiner Abreise von den Damen nicht persönlich zu empfehlen. Er wollte nicht wieder von Didier Morel hören. Ueberhaupt war es besser für ihn, Marguérite nicht zu häufig zu sehen.

Und doch sollte er ihr noch einmal vor seiner Urlaubsfahrt begegnen.

Am Tage vor seiner Abreise hatte er einige Einkäufe besorgt und schlenderte langsam die Esplanade hinunter, dem Flusse zu. Die entlaubten Alleen waren menschenleer, aber diese Einsamkeit verlieh ihnen einen Zug von verlassener Größe, und ihre stille Traurigkeit stimmte mit Detlevs eigenem Seelenzustand überein. Plötzlich stutzte er. An der Mauerrampe am Ende der Esplanade, von wo Treppen zum Bett des Moselarmes hinunterführten, lehnte eine weibliche Gestalt. Die Arme auf die Rampe gestützt und den Schleier zurückgeschlagen, stand sie da und sah hinüber, in die engen alten Gassen hinein, die sich jenseit des Flusses öffneten, und in das weite Moielthal hinaus.

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Copyright 1896 by Franz Hanfstaengl in München.

Unschlüssig.
Nach dem Gemälde von Franz Simm.

[182] Detlev blieb stehen. War das Marguérite Dormans, die sich hier dieser Träumerei hingab? Dort, hinter jenem von Mauern gekrönten Berg, auf den sie blickte, lag das Land, zu dem sie sich bekannte und wohin sie bald dem Manne ihrer Wahl folgen würde. Sie starrte in die untergehende Sonne, dem von Goldglanz überstrahlten Westen zu, wie ein Pilger das gelobte Land betrachtet, das er demnächst zu betreten hofft. So wollte er denn vorübergehen, ohne sie aus ihrer Versunkenheit zu wecken.

Allein sein Säbel hatte geklirrt. Die schlanke Gestalt schauerte leicht zusammen, drehte sich um und erblickte ihn. Sie war blaß, sehr blaß und sah aus, als ob sie geweint hätte. Betroffen blieb er nun doch stehen. Er hatte sie in einem Augenblick überrascht, wo sie von keinem Menschen gesehen zu werden erwartete, allein er konnte nicht vorübergehen. „Erwarten Sie jemand?“ fragte er unbeholfen.

„Nein. Aber der Ausblick von hier aus ist so schön! Das war ein Lieblingsplätzchen von mir, seit ich groß genug bin, über die Mauer zu schauen.“

„Ja, die Aussicht ist schön,“ wiederholte Detlev. „Man sieht nach Frankreich hinüber oder glaubt es zu sehen. Aber warum haben Sie denn geweint?“

Sein Ton ließ sie aufblicken.

„Fehlt es mir an einer Ursache?“ fragte sie vorwurfsvoll.

„Ihrer Frau Mutter geht es doch wieder besser,“ erwiderte Detlev einlenkend. „Und für Sie kommen ja jetzt so schöne Tage.“

„Glauben Sie das selbst, was Sie da sagen, daß es meiner Mutter besser geht?“ fragte Marguérite zurück. „Nein, es ist nicht Ihre aufrichtige Meinung .. Ich sah, daß Sie neulich betreten waren bei ihrem Anblick.“

„Es war nur zu begreiflich, daß Madame Dormans an jenem Tage schlecht aussah,“ sagte Detlev tröstend. „Was sagt Ihnen der Arzt?“

„Nicht die Wahrheit natürlich. Aber ich ahne sie.“

„Sehen Sie nicht zu schwarz! Ihre Mutter scheint sich so sehr zu freuen über Ihre Verlobung. Vielleicht wird Ihr Glück auch ihr Leben verlängern. Und ich wünsche es Ihnen von Herzen, Fräulein. Sie sind geschaffen, glücklich zu sein und Glück zu geben. Aber volles Glück giebt doch nur die Liebe. Wenn Sie Ihren Verlobten lieben, bin ich über Ihr Schicksal beruhigt. Er wird Sie trösten, wenn Sie trostbedürftig sein werden, und seine Liebe wird Ihnen helfen, jeden Schlag zu verwinden. Aber wenn Sie ihm nicht von ganzem Herzen zugethan sind, wenn Sie ihn nur heiraten wollen, um Ihrer Mutter eine letzte Lebensfreude zu bereiten, dann – thun Sie’s nicht. Sie können ihr unmöglich so viel Glück geben, als Sie sich Elend bereiten!“

In Marguérites Zügen kämpfte es, als suchten zurückgehaltene Empfindungen gewaltsam nach einem Ausweg. Eine glückliche Braut hätte ihn nicht einen Augenblick in Zweifel gelassen. Marguerite antwortete jedoch nach einer Pause bloß ausweichend: „Ich muß Sie bitten, diesen Gegenstand nicht weiter zu verfolgen.“

Detlev verbeugte sich schweigend. Er wußte jetzt, daß sie den anderen nicht liebte, und doch, was half es ihm? Sie war deshalb nicht weniger Didiers Braut, und die Kluft zwischen ihnen schrumpfte dadurch nicht zusammen.

„Verzeihen Sie, daß ich Sie hier gestört habe in Ihrer selbstgewählten Einsamkeit,“ murmelte er mit Anstrengung.

„Es scheint seltsam, daß ich hier so stehe, nicht wahr?“ versuchte Marguérite zu lächeln. „Aber zu Hause bin ich immer unter den Augen der Mutter, und wir mühen uns beide vergeblich, unsere Stimmung voreinander zu verbergen. Auch für sie ist es eine Erleichterung, wenn ich sie für kurze Zeit verlasse.“

Sie sprach so ruhig – offen zu ihm wie zu einem Freunde, und aus dem Klang ihrer Stimme glaubte Detlev zu erkennen, daß sie erriet, wie es um ihn stand.

„Wann reisen Sie?“ fragte sie, als er stummbewegt vor ihr stehen blieb.

„Heute abend ..“

„Dann wünsche ich Ihnen eine glückliche Reise und frohe Festtage!“ Sie reichte ihm die Hand, die er schweigend nahm, darauf neigte sie das Haupt und ging hinweg, und er sah ihre Gestalt auf der sich nach abwärts neigenden Straße versinken. Auf dem ganzen Heimweg sah er Marguérite dann vor sich. Immer hob sich ihre Silhouette dunkel vom weißgrauen Winterhimmel ab. Er verlor sie nicht aus den Augen, aber er erreichte sie auch nicht. Wie das unerlangbare Glück schwebte sie vor ihm her. –

Mit dem Nachtschnellzug fuhr Detlev nach Norden und langte bei Tagesgrauen auf der Bahnstation an, von der man nach Rheinfeld, dem Gute seines Onkels, fuhr. Auf Rheinfeld fand er bereits Mutter, Schwester und Schwager vor, und einige Wochen gemütlichen Zusammenlebens harrten seiner. Doch bemerkte seine Familie, daß er nicht frohen Herzens unter ihnen weilte, sondern zerstreut und schweigsam war. Die übrigen Verwandten waren geneigt, anzunehmen, daß er im Dienst Verdruß gehabt habe, die Mutter jedoch erwies sich als scharfsichtiger, denn sie flüsterte dem Sohne beim Abschied die Worte zu: „Das nächste Mal, Detlev, bring’ dein Herz wieder mit.“ Sie hatte recht. Sein Herz war diesmal nicht mit daheim gewesen. Die innere Rastlosigkeit, die ihn während der Urlaubstage im Kreis seiner Lieben verzehrt hatte, schwand erst, als er wieder auf der Eisenbahn saß.

In seiner Wohnung war alles beim alten. Auch im Hause gab es nichts Neues. Madame Dormans sollte sich verhältnismäßig wohl befinden. Marguérite jedoch, die Detlev einige Tage nach seiner Rückkehr in dem dämmerigen Flur traf, antwortete auf seine Frage nur mit einer ausweichenden Gebärde.

„Sind Sie mir noch böse?“ fragte Detlev leise.

„Ich war es ja gar nicht!“

„Doch! Als wir uns das letzte Mal sahen, zürnten Sie mir.“

„Davon weiß ich nichts. Ich bin Ihnen nicht böse. Aber unsere Wege führen auseinander, weit auseinander, für immer!“

Sie wandte sich ab und verschwand hinter der Glasthüre. Detlev ließ sie wortlos gehen. Sie hatte ja recht. Am besten wäre es für ihn gewesen, das Haus zu verlassen. Noch konnte er sich aber nicht dazu entschließen, und doch mußte irgend eine Aenderung eintreten. Er fühlte es, es lag in der Luft.

*      *      *

Detlev saß in dem Lehnstuhl vor seinem Schreibtisch und las trotz des schwachen Lichtes – es dämmerte bereits – in einer Zeitschrift. Draußen stürmte und schneite es, so daß die Fensterscheiben von den angeworfenen Flocken fast verdeckt wurden, hier innen jedoch war es ganz behaglich. Das Blatt sank Detlev aus der Hand, und er verfiel in unbestimmtes Brüten, als er plötzlich ein dumpfes Geräusch wie von einem Fall vernahm. Er legte demselben kein Gewicht bei, weil er voraussetzte, daß die Kinder von oben wieder einmal Springübungen machten, dem Geräusch folgte jedoch ein Hin- und Hereilen auf dem Flur, Thürenöffnen und Rufen, und in der nächsten Minute stürzte Stefan ins Zimmer mit dem Rufe: „Die Madame drüben stirbt!“

Vom Schreibtisch aufspringend, eilte Detlev seinem Burschen nach. Drinnen im Schlafzimmer kniete Marguérite auf dem Boden bei der leblos daliegenden Mutter, während Jeannette, die eben hereinstürzte, die kleine Hausapotheke an der Wand aufriß und alle dort aufgestellten Fläschchen durcheinander warf. Durch das Fenster, das Marguérite geöffnet haben mochte, um die Joß zu rufen, drang die kalte Luft wie feindlich ein, die dumpfe Zimmeratmosphäre verjagend.

Ehe Stefan ihm noch helfen konnte, hatte Detlev Madame Dormans vom Boden aufgehoben und nach dem Sofa getragen. Sie lag schwer in seinem Arm wie ein lebloser Körper, das Gesicht war verzerrt und leichenhaft gelb, die Augen starr offen. Wie Detlev sie niederlegte, kam Marguérite, schob ihn fort, riß der Mutter das Kleid auf und legte ihr Ohr an das Herz.

„Ich höre nichts!“ stammelte sie mit zitternden Lippen. Detlev hatte die Hand der Leblosen ergriffen: der Puls stand still. Eine unheilvolle Gewißheit überkam ihn. Doch rang er sich einige beruhigende Worte ab: „Es wird nur eine Ohnmacht sein!“

[183] Marguérite flog hin und her wie ein aufgescheuchter Vogel. Sie hielt der Mutter ein Riechfläschchen vor und rieb ihr die Stirn mit Kölnischem Wasser, aber umsonst spähte sie nach einem Zeichen zurückkehrenden Lebens. Eben stürzte Madame Joß herein. Als sie die Liegende erblickte, rang sie die Hände und schrie auf. Ein Blick, der sich zu dem Offizier verirrte, verriet, daß sie die Wahrheit erkannte. Doch schickte sie noch Jeannette nach irgend einer Essenz hinunter und bemühte sich um die, der nicht mehr zu helfen war. Obgleich auch er dies erkannte, gab Detlev doch Stefan den Auftrag, einen Arzt zu holen. Die Perrauls kamen mit vielen Mon Dieu! und Jésus Marie! Man brachte belebende Mittel, doch nichts half, kein Hauch trübte den vorgehaltenen Spiegel … Da sank Marguérite mit einem dumpfen Schmerzenslaut an der Leiche nieder, und Detlev, herantretend, drückte leise die Lider der Toten herab, um das schreckliche Starren dieser gebrochenen Augen zu verhüllen. Der preußische Offizier drückte der toten Feindin seines Volkes die Augen zu.

Stefan brachte einen Arzt. Nicht Doktor Laurins. Er hatte aus eigener Machtvollkommenheit den nächsten geholt. Es war ein großer blonder Deutscher, Doktor Schmidt. Nach einem mitleidigen Achselzucken, das seine eigene Hoffnungslosigkeit verkündete, machte er sich ans Werk und stellte alle möglichen Wiederbelebungsversuche an. Aber kein Lebenshauch zeigte sich, die künstliche Atmung verfing nicht, und mit einem Kopfschütteln ließ der Doktor endlich den Körper der armen Frau aus seinen Händen gleiten. „Hier, mein Fräulein,“ sagte er zu Marguérite, „könnte nur mehr der helfen, der den Lazarus und das Kind des Jairus erweckte. Es war ein Herzschlag.“ Marguérite brach lautlos neben dem Bett zusammen, die beiden Joß schluchzten laut, die Perrauls fingen an zu beten … Detlev begleitete den Arzt hinaus.

„Ein kurzer Tod! Ein schöner Tod! Eine Verwandte von Ihnen, Herr Leutnant? Ach so, die Wirtin! Dann geht es Sie ja zum Glück nicht näher an!“

Es ging Detlev nicht näher an, aber Marguérites Schmerz zeigte ihm erst recht, wie teuer sie ihm war. Wie gern hätte er ihr Trost zugesprochen und konnte es doch nicht! Nach und nach kamen auch die Joß und die Perrauls aus dem Zimmer. Marguérite hatte gebeten, sie mit der Toten allein zu lassen. Bis zum Abend blieb sie drinnen, ihrem Schmerz überlassen, während er selbst in seinem Wohnzimmer ruhelos auf und ab ging. Man hätte sie nicht so mit der Leiche allein lassen sollen, aber wer hatte das Recht, sie ihrer Betrübnis zu entreißen? Madame Joß und Jeannette fiel es zu, die nötigen Gänge zu machen. Auch Detlev übernahm einen Teil derselben, unter anderem die Besorgung des Telegramms an die Morels. So mußte er noch den Bräutigam herbeirufen, den einzigen, der berechtigt war, dem weinenden Mädchen Trost zu bringen.

Als er von seinen Gängen zurückkam, wurde Madame Dormans eben drinnen aufgebahrt. Nachdem die Frauen, die dies Liebeswerk übernommen hatten, damit fertig waren, trat Detlev in das Schlafzimmer .. Kerzen brannten zu Häupten des Lagers, ein Kruzifix und ein Betschemel standen zu Füßen .. Marguérite kniete vor dem Lager der Toten, deren wachsgelbes Gesicht einen sanften und friedlichen Ausdruck angenommen hatte. Der Schmerz des jungen Mädchens schien sich erschöpft zu haben. Sie war in sich versunken, blaß und still und in ihrer Trauer so abwesend für das, was um sie vorging, daß Detlev es nicht wagte, an sie heranzutreten und ihr sein Beileid auszusprechen. Bloß von ferne betrachtete er das leidvolle, süße Gesicht, das in seinem Schmerz nichts mehr von ihm zu wissen schien.

Er verbrachte die Nacht schlaflos. Erinnerungen an den Tod seines Vaters wechselten mit trüben Grübeleien. Dieser plötzliche Tod Madame Dormans’ würde wohl die Folge haben, daß Madame Morel, Didiers Mutter, das junge Mädchen mit sich nach Nancy nahm, und er verlor sie auf Nimmerwiedersehen aus den Augen. Wie kurze Frist war ihm doch gegönnt gewesen, sie zu kennen! Zu kurz war sie gewesen oder – zu lang.

Am nächsten Morgen, noch ehe er Marguérite wieder gesehen hatte, kam Madame Morel an. Hinter dem Fenster stehend, sah er sie aus dem Wagen steigen, eine kleine viereckige Dame mit glatten, schwarzen Scheiteln und einem fetten, weißen Gesicht, aus dem winzige, schwarze Vogelaugen glitzerten, die durch keine Gewalt der Erde dazu bewogen werden konnten, traurig drein zu sehen, sondern das würdige Doppelkinn und den Trauerschleier, den die Angekommene trug, Lügen straften. Von dem Augenblick, da Madame Morel drüben eingezogen war, hielt Detlev sich fern. Es bedurfte seiner Einmischung nicht mehr. Madame Morel nahm alles in die Hände, und mehr als einmal klang ihre metallische, nur etwas feiste Stimme zu ihm herüber. Am Abend langte auch Didier an, den man telegraphisch von Paris berufen hatte.

*      *      *

Erst am offenen Grab ihrer Mutter sah Detlev Marguérite wieder. Sie bewahrte während des Begräbnisses eine wunderbare Fassung. Blaß, aber thränenlos starrte sie vor sich hin.

„Aber sie weint ja nicht!“ sagte eine kleine Französin neben Detlev entrüstet. Marguérite hatte alle ihre Thränen schon vorausgeweint. Wer ihr ins Auge sah, erkannte ihren tiefen Schmerz.

Madame Morel schluchzte am Grabe der Jugendfreundin herzbrechend. Wenn sie aber nicht das Taschentuch vor den Augen hatte, blickten diese mit neugierigem Interesse über die Trauerversammlung, und man hatte den Eindruck, daß ihnen nichts entging. Auch Didier Morel weinte heftig in sein Taschentuch hinein und machte bei den Trauergästen dadurch einen guten Eindruck.

Nach dem Begräbnis nahmen Mutter und Sohn mit Marguérite in dem engen Empfangszimmer die Beileidsbezeigungen ihrer Bekannten entgegen, und auch Detlev begab sich, diesmal in Uniform, hinein. In förmlicher Weise hatte er seine Teilnahme Marguérite noch nicht ausgesprochen. Es war seine Pflicht und zugleich sein Recht, dies jetzt nachzuholen.

Auf dem kleinen Sofa thronte Madame Morel bereits wieder ganz ruhig, obgleich sie sich manchmal mit dem Tuch über die Augen fuhr. Der unverminderte Glanz dieser klugen Aeuglein, die spiegelglatten Scheitel und das ganze behäbige Wesen ließen keine innere Erschütterung oder Gemütsbewegung erkennen. Marguérite saß auf einem Stuhl neben dem einen Fenster, vor dem anderen stand Didier Morel, der weit erregter aussah als seine Mutter und mit einiger Ungeduld dem sich im Kreis drehenden Gespräche zuhörte. Als nun auf Madame Morels hellklingendes „Entrez!“ die Thür aufging und der deutsche Offizier erschien in seiner schmucken blauen Uniform, mit der Stirn fast den oberen Rand der Thür berührend, wandten sich alle Blicke ihm zu, und die deutschfeindlichen Besucherinnen sahen ihn ganz entgeistert an. Selbst Marguérite blickte auf und erhob sich langsam. Detlev grüßte die Anwesenden mit einer halbkreisförmigen Verbeugung, dann verbeugte er sich tiefer vor Marguérite und sprach ihr sein Beileid in deutscher Sprache aus. Das verstanden die anderen nicht. Da brauchte er sich also nicht auf die kalte Formel zu beschränken und konnte in seine Worte etwas hineinlegen von dem herzlichen, innigen Bedauern, das ihr Leid ihm abgewann. Marguérite hörte ihm schweigend zu, mit gesenkten Augen. Sie reichte ihm nicht die Hand, und als er geendet hatte, kam nur ein leise gehauchtes „Merci, monsieur!“ von ihren Lippen. Während er sprach, fühlte Detlev sich von allen Seiten mit spitzigen, kalten Blicken beobachtet, kaum jedoch hatte er geendet, so kam auch Madame Morel heran und fragte mit kühler Liebenswürdigkeit: „Monsieur spricht nicht französisch?“ Nachdem sie die Versicherung des Gegenteils erhalten hatte, dankte sie ihm in ihrer Sprache sehr leutselig für die Gefälligkeiten, die er ihrer teuern Marguérite erwiesen hätte. Madame Joß habe von seiner Freundlichkeit gesprochen, und sie nehme das auf, als ob er es ihrer Tochter gethan habe – „denn Marguérite ist ja beinahe schon meine Tochter.“

Detlev verbeugte sich schweigend. Was Madame Morel sagte, klang nicht sehr echt und nicht ganz falsch, ganz so echt wahrscheinlich, wie ihre Dankesäußerungen und Liebenswürdigkeiten gewöhnlich zu klingen pflegten. Es war eine gewisse geschäftliche Höflichkeit in ihrem Benehmen, die Höflichkeit der Kaufmannsfrau, die jedem Kunden ohne nationale oder persönliche Rücksichten gleich liebenswürdig begegnet. Nun näherte sich Didier Morel gleichfalls. „Auch ich danke Ihnen, mein Herr, im Namen meiner Braut,“ sagte er, und zwar deutsch. Noch eine stumme Verbeugung, und Detlev zog sich zurück.

(Schluß folgt.)


[184]

Der Wiener Rathauskeller.

Von Balduin Groller.

„Der liebe Augustin.“

Weit und breit waren seit jeher in deutschen Landen die Rathauskeller berühmt; sie genossen des Rufes, daß in ihnen der edle Tropfen unverfälscht und unvermischt den Gästen kredenzt werde. Darauf hielten die weisen Stadtväter, denen die Ehre der Stadt am Herzen lag. Viele der alten Rathauskeller werden durch Sage und Geschichte verklärt und Werke der Kunst wetteifern in ihnen, um den Aufenthalt möglichst stimmungsvoll zu gestalten. Kein Wunder, daß bei neuen Rathausbauten dies schöne Vorbild nicht unbeachtet bleibt.

Im Februar dieses Jahres wurde auch in der Stadt Wien der Rathauskeller eröffnet. Er ist freilich noch funkelnagelneu, aber mit der Zeit wird auch hier der Edelrost aus Niederschlägen der Sage und Geschichte sich ansetzen, und schon heute hat er einen eigenartigen bildlichen Schmuck erhalten, in dem ein gut Stück Wiener Stadtgeschichte unseren Augen sich darbietet.

Vor beträchtlicher Zeit, zu Beginn der achtziger Jahre, es war eben die offizielle Feier der Schlußsteinlegung am neuen Rathause abgethan, da lud Friedrich Schmidt, der Erbauer des Hauses und zugleich Dombaumeister zu Sankt Stephan, einen kleinen Kreis von Freunden und Verehrern ein, sein neues Bauwerk unter seiner Führung zu besichtigen. Wir durchschritten die imposanten Säle des gewaltigen gotischen Baues, wir stiegen hinaus auf das mächtige Dach, und er brachte uns durch Hinweis auf kleine Nebendinge zur richtigen Abschätzung der Dimensionen. Die Dachrinne da oben hat die Tiefe und die Breite einer Badewanne. Dann kletterten wir noch höher, bis hinauf zum „eisernen Mann und ließen den Blick hinausschweifen weit in das sonnige, gesegnete Land. Die letzte Station und die längste machten wir tief unter der Erde, im Keller. Dort war ein Frühstück hergerichtet, und Meister Schmidt erhob sein Glas und feierte mit ernstem Wort diese Einweihung des Wiener Rathauskellers.

Aber der Meister hatte sich geirrt, als er glaubte, daß mit der Eröffnung des Rathauses auch der Ratskeller seiner feuchtfröhlichen Bestimmung werde übergeben werden. Die Jahre vergingen, der wackere „Steinmetz“, wie er sich gerne und mit Stolz nennen hörte, schied aus dem Leben, sein Standbild, zugekehrt seinem großen Werke, ward aufgerichtet, und wieder vergingen Jahre und noch immer war der Rathauskeller nicht geschaffen.

Der gegenwärtigen Stadtverwaltung gebührt das Verdienst, die Ratskellerfrage, die schon den mythischen Charakter einer Seeschlange anzunehmen gedroht hatte, gelöst zu haben.

Den letzten entscheidenden Anstoß gab das Kaiserjubiläum, das im Dezember 1898 gefeiert werden sollte. Am 17. Juli 1898 legte die Kommission dem Stadtrate das Projekt zur Ausgestaltung des Ratskellers vor. Das Projekt wurde genehmigt, und nun ward das Werk, förmlich eine Improvisation, bis zum Jahresschluß fertig gebracht.

Mit der künstlerischen Ausschmückung wurden Maler Heinrich Lefler und Architekt Professor Urban betraut, ein Dioskurenpaar, dem die Welt schon manche erfreuliche Gabe zu danken hat. Zur Mithilfe an den figuralen Malereien erwählte sich Lefler noch die Maler Gsur, Haßmann, Harlfinger, Radl, Ranzoni, Suppantschitsch und Wilda, während die landschaftlichen Motive Hugo Darnaut überlassen wurden.

Die Ratsherrenstube. 

Großer Saal.

Der Rathauskeller, soweit er bis jetzt dem Publikum zugänglich ist, besteht aus zwei rechtwinklig zu einander stehenden großen Räumen. Davon ist leider der eine Teil in dekorativer Hinsicht sehr zu kurz gekommen. Er bietet in seiner nüchternen Schmucklosigkeit kaum Anlaß zu irgend einer Bemerkung. Der zweite Teil, über den ein wahres Füllhorn künstlerischer Dekoration ausgeschüttet wurde, ist in drei Abteilungen gegliedert: den Großen Saal oder eigentlichen Ratskeller, das „Rosenzimmer“ und die „Schwemme“. „Schwemme“ ist [185] ein Wiener Lokalausdruck für die billige Abteilung der Gastwirtschaften. Von dem lärmenden Getriebe dieser Räume durch einen langen Gang getrennt und ganz abseits liegt die trauliche Ratsherrenstube, als heimliche Kneipstätte ein wahres Schatzkästlein für bevorzugte stille Zecher.

An der Stirnwand des prächtigen Stiegenhauses, durch das wir zu den Kellerräumen gelangen, prangt auf einem goldenen Eichenbaume das Wappen der Stadt Wien. Den Vorraum bildet das „Rosenzimmer“, darum so genannt, weil die Ornamente durchweg die Rosenform zeigen. Seine Wände sind mit Ansichten von Gumpoldskirchen, Retz, Falkenstein und Klosterneuburg geschmückt, die als die Stätten der besten Weinsorten Niederösterreichs gepriesen werden.

Ecke im Großen Saal mit dem Wandgemälde „Das Veilchenfest“.

Die „Schwemme“ ist gleichfalls reich dekoriert, und in ihr fesselt vor allem das Auge eine Reihe von Bildern, die lustige Abenteuer aus der Vergangenheit Altwiens darstellen. Unter den drolligen Gestalten fehlt nicht der „liebe Augustin“, den die Anfangsvignette zu unserem Artikel wiedergiebt. Im ganzen deutschen Volke kennt man den lustigen Volkssänger, auf den das geflügelte Wort „Ach, du lieber Augustin, alles ist hin“ zurückgeführt wird.

Ein wahres Schmuckkästchen bildet die Ratsherrenstube (vgl. Abbildung S. 184), die den Mitgliedern des Wiener Gemeinderates zum Aufenthalt dienen soll. Neben anderen Bildern prangen hier an den Wänden die Ansichten des neuen und des alten Wiener Rathauses. Unter der letzteren steht ein Glückwunsch von Hans Sachs aus dem Jahre 1567.

Der sehenswürdigste dieser Räume ist aber der Große Saal, der eigentliche Ratskeller, den wir gleichfalls im Bilde unseren Lesern vorführen. Die Ausschmückung paßt sich harmonisch dem ernsten gotischen Bau an. Eine Fülle von Bildern zeigt uns verschiedene Ereignisse aus der Geschichte der Stadt bis auf die jüngste Vergangenheit, das Regierungsjubiläum Kaiser Franz Josephs.

Eine der Nischen (vgl. die nebenstehende Abbildung) ist mit einem Wandgemälde geschmückt, auf welchem das „Veilchenfest“ dargestellt ist. Es handelt sich um einen sinnigen Brauch, der hier in die Zeit Herzog Ottos III des Fröhlichen (1336) verlegt erscheint, der aber sonst auch von vielen anderen deutschen Höfen berichtet wird. Wer das erste Veilchen fand, deckte seinen Hut darüber und eilte, den Fürsten zu verständigen. Der kam mit seinem Hofstaat; eine schöne Jungfrau durfte das Veilchen pflücken, und dann unterhielt man sich bei Reigen und Gesang.

Unsere Schlußvignette giebt ein weiteres Wandgemälde aus dem Großen Saale wieder: „Die Verleihung des Rechtes der Stadttaverne unter Albrecht III“ (1370). Es ist eine Darstellung, die ganz sinngemäß ihren Platz im neuen Ratskeller gefunden hat. In der Stadttaverne durfte mit landesfürstlicher Bewilligung Wein, auch ausländischer Herkunft, verkauft werden, und ihr Betrieb wurde von der Stadt „in Bestand“ gegeben. Wir bemerken noch, daß unsere Illustrationen nach Aufnahmen der k. u. k. Hofmanufaktur für Photographie von R. Lechner (Wilh. Müller) in Wien hergestellt worden sind. Das Reproduktionsrecht hat sich die Gemeinde Wien vorbehalten.

Zu Tausenden strömen täglich die Wiener und die Fremden in die glanzvollen Räume, um sich an den herrlichen Gemälden zu erfreuen.

Der Aufenthalt in dem Wiener Ratskeller wird gewiß für jeden eine schöne Erinnerung sein, wenn er den Spruch beherzigt, der an der Wand der „Schwemme“ als eine weise Mahnung angebracht ist:

„Wer den Wein nit kan gesparn
Und will ihn trinken über Recht,
Da wird der Mann des Weines Knecht
Und nit des Weines Herre;
Wer trinken will zu sehre.
Es krenket ihm sein’ Ehre.“

Die Verleihung des Tavernenrechtes an die Stadt Wien.
Wandgemälde im Großen Saal.


[186]
Eugenie John-Marlitt.
Mit bisher ungedruckten Briefen und Mitteilungen. Von Moritz Necker.

(Schluß.)


In den Jahren von 1853 bis 1863, welche Eugenie als Vorleserin der Fürstin teils in Oehringen und Friedrichsruhe, auf den Schlössern von deren Vater, teils in bayrischen Sommerfrischen, schließlich in München verbrachte, muß man die stille Bildungszeit ihres dichterischen Talentes erkennen. Da sammelte sie jene Kenntnisse von Welt und Menschen, von Adel und Bürgerschaft, von Städtern und Landvolk, von Gelehrten und Ungelehrten, die sie in ihren Erzählungen später verwertete. Mit ihrer Fürstin, von der sie die „Juno“ genannt ward – nicht darum, weil Eugenie von junonisch großer Gestalt gewesen wäre, sie war eher zierlich und klein als junonisch groß zu nennen; sondern der Familienname John wurde in den mythologischen verwandelt – mit der Fürstin gestaltete sich das Zusammenleben zur größten Vertraulichkeit. Die „Juno“ ward nicht bloß ihre Vorleserin, sondern auch ihr Sekretär, ihr Ratgeber und ihre Pflegerin, wenn sie krank war. Die Fürstin war es auch selbst, die sie zu litterarischem Schaffen ermunterte. Auf einen Zettel, der für eine Tombola bestimmt war, schrieb sie „für Juno, die sich Eugenie schreibt,“ folgende charakteristische Worte:

„Durch Erfahrung, Schweigen, Beobachten häufen sich Schätze im innersten Leben – Du bist reich – was aber hilft der Schatz im tiefen Schacht vergraben? Theile ihn mit der Welt – gib Form und Gestalt – es legte Dir die Muse liebevoll den Griffel in die Hand.“

Und einzig und allein durch einige Verse der Fürstin an ihre „Juno“ erhalten wir eine Andeutung von Liebesschmerzen, welche die Dichterin geplagt haben; denn sie selbst hat jede Spur verwischt, die auf herzliche Beziehungen zu dem einen oder dem anderen Mann schließen ließen. Auch ihren nächsten Anverwandten vertraute sie nichts dergleichen an; und diese waren zu zart, Bekenntnisse herauszulocken, die nicht freiwillig gemacht wurden. „Sie soll einige Wochen oder nur Tage mit einem Manne verlobt gewesen sein,“ schreibt uns ihre Schwägerin, „dessen Stellung und Namen ich nie erfahren; nur um ihren Geschwistern das Weiterstudieren zu ermöglichen, hat sie die Verlobung rückgängig gemacht. Ehe sie einem Manne, selbst dem geliebtesten, nur das kleinste äußere Zeichen ihrer Huld gegeben hätte, lieber wäre sie ins Wasser gegangen.“

Nach dem folgenden Gedicht der Fürstin muß man aber annehmen, daß Eugenie nicht ohne Schmerzen entsagte. Es ist aus Lauterbach bei Füßen im Königreich Bayern vom 20. Juli 1862 datiert und lautet:

„Was hoffst Du noch? Gieb Dich zufrieden.
Sind Lenz und Jugend Dir geschieden,
Darfst Du auf Wort und Schwur nicht bauen,
Darfst rückwärts nicht, mußt vorwärts schauen,
Und nah’n die Bilder früh’rer Tage,
Flieh’ ihren Zauber und beklage
Nicht Deiner Jugend, Deiner Liebe Grab
Entschlossen nimm den dornenvollen Stab,
Erklimme mutig, jedem Leid zum Hohn,
Den letzten steilen Pfad: ,Resignation’.“

Auf diese spärliche Andeutung bleibt unsere Neugier nach dem, wie man vermuten möchte, interessantesten Teil der Marlittschen Lebensgeschichte beschränkt. Die Romandichterin entbehrt in ihrem eigenen Leben eines Romans. Wenn man aber daran denkt, daß sie nach wenigen Jahren schon von der Gicht so gelähmt wurde, daß sie sich nicht mehr frei bewegen konnte, so muß man es als eine glückliche Fügung des Schicksals bezeichnen, daß sie unvermählt blieb. –

Die finanzielle Lage der Fürstin verschlimmerte sich von Jahr zu Jahr. Schon ihre Uebersiedlung nach München war eine Folge davon. In ihrem dortigen Palais in der Schellingstraße war ihr Personal vermindert worden. Sogar zwei liebenswürdige langjährige Gesellschaftsdamen mußte sie bei der dringend gewordenen Sparsamkeit entlassen; nur Eugenie, ihre Pflegetochter, hatte sie behalten. Das machte zwar am Hofe von Sondershausen keinen guten Eindruck, denn Fräulein John war eine Bürgerliche, und die Hofschranzen in der Heimat rächten sich an dieser Bevorzugung durch arge Verleumdungen des Fräuleins. Diese konnte sich in Zeiten der Verstimmung wohl sehr darüber aufregen; die Fürstin aber lachte dazu, denn sie wußte, was sie an ihrer „Juno“ hatte. Unter dem Druck der traurigen Familienerlebnisse war sie so krank geworden, daß sie längere Zeit geradezu geistesverwirrt war. Eugenie blieb bei ihr, pflegte sie zwei Jahre lang bei Tag und Nacht, folgte ihr in einsame Alpendörfer, wohin sie sich in ihrer Menschenscheu auch den Winter über geflüchtet hatte, und schließlich wurde sie bei dieser hingebungsvollen Pflege selbst krank. In früheren Jahren, in Oehringen, in Friedrichsruhe, war die „Juno“ die Vertraute aller Hausgenossen, weil sie der stärkste Geist und Wille unter ihnen war, und sich die Schwachen gern an sie anlehnten. Man schätzte ihre stets gleichmäßig gute Laune, ihre charaktervolle Verschwiegenheit, ihren Witz und feinen Takt, der in dem immerhin anspruchsvollen Getriebe des kleinen Hofes nötig war. „Sie war liebenswürdig, geistvoll, ganz besonders energisch bei neckischem Streit über Frauenrechte,“ teilt uns Carl von Lemcke mit, der sie 1859 bei Bodenstedts kennenlernte und mit ihr im Hause der Fürstin öfter zusammenkam; „sie war überhaupt recht stramm im Wesen und Auftreten, schwärmend für ihre Fürstin, die sie hatte für Musik ausbilden lassen.“ Nun bekam auch sie den Stich ins Altjüngferliche; sie wurde reizbar, zuweilen sogar heftig. Niemand aber erkannte den Grund davon in ihrer Ueberanstrengung, denn sie war zu stolz zur Klage. Man schob es auf ihre am Schreibtisch verbrachten Nachtstunden, denn sie hatte schon – von so vielen Seiten ermuntert – angefangen, sich als Erzählerin zu versuchen. Allerdings ohne Erfolg. Bodenstedt hatte sich einen Korb geholt, als er ein Manuskript Eugeniens an Jankes „Romanzeitung“ geschickt hatte, und es gelüstete ihn nicht nach neuen Körben. Natürlich förderte das auch nicht Eugeniens gute Laune, und sie lebte schon recht verstimmt in München, bis Anfang 1863 eine neue finanzielle Katastrophe in der fürstlichen Familie ihre Trennung von der geliebten Herrin unvermeidlich machte. Die Fürstin mußte ihren Haushalt noch mehr einschränken, und wenn Eugenie ihre eigene Zukunft sichern wollte, so war es höchste Zeit, sich anderwärts umzusehen.

Noch fühlte sie sich jung und elastisch genug, ein neues Leben anzufangen, mochte es als Gesangslehrerin oder als Schriftstellerin sein. Eine kleine Pension von seiten der Fürstin blieb ihr ja immer noch zugesichert. So trennte sie sich Ende März 1863 schweren Herzens von ihr, der sie so viel vom Besten zu verdanken hatte, was sie besaß, der sie aber auch die schönsten Jahre ihres Lebens in kindlicher Hingabe gewidmet hatte. Eugenie kehrte nach Arnstadt zurück, die Fürstin hat sie nie mehr wiedergesehen.

5.

Als Eugenie ihrem Bruder Alfred John in Arnstadt die erste Mitteilung ihres Entschlusses, sich von der Fürstin zu trennen, machte, da schrieb sie so kleinlaut, als wäre sie sich einer Schuld bewußt. So hatte sie es denn auch nicht weiter gebracht als so viele Frauenzimmer, die nicht heiraten: sie mußte schließlich Zuflucht zur Familie nehmen, ins Vaterhaus zurückkehren, aus dem sie einst mit so großen Versprechungen gegangen war.

Man muß sich diesen ganzen Stolz und Ehrgeiz Eugeniens vor Augen halten, um die tiefe Niedergeschlagenheit zu begreifen, in die sie nun verfallen war. Da aber hatte ihr der Bruder sofort geschrieben: „Ja, meine theure Jenny, endlich ist die Zeit gekommen, da ich Dir eine Stütze sein darf, leider ist’s mir nicht vergönnt, für Dich zu darben. Meine süße Jenny! Was Du vom Gnadenbrode fabelst, Kind, so versichere ich Dich, daß ich’s auf der Stelle und ohne das geringste Bedenken aus Deiner Hand nehmen würde, und ich bin ein Mann und habe auch ein verdammt [187] bettelstolzes Herz. Aber,“ setzte der Treue boshaft hinzu, „Du willst bei mir nicht bleiben, weil Du glaubst, Dich zu langweilen etc. Na, vorerst komm nur, mein prächtiges Lockenköpfchen … Hurrah, fröhliches Wiedersehen!“ (Arnstadt, 26. Febr. 1863.)

Nun fielen alle Bedenken weg, Jenny kam nach Arnstadt, um es nie mehr wieder zu verlassen.

Der Entschluß, in der Vaterstadt zu bleiben, war für unsere Dichterin weit bedeutungsvoller, als sie selbst ahnen mochte. Seitdem sie fortgezogen war, hatten sich die Verhältnisse gründlich geändert. Zunächst in der eigenen Familie. Zwar war 1853 die Mutter gestorben und die ältere Schwester Rosalie, ein schönes und auch künstlerisch veranlagtes Mädchen, war so krank geworden, daß man sie niemals ohne Aufsicht lassen konnte; sie lebte noch bis 1866, und Eugenie nahm treulich einen Teil der schweren Pflicht auf sich. Aber alle drei Brüder waren doch zu tüchtigen Männern herangewachsen; Hermann als Künstler in der Porzellanfabrik, Max als Techniker; Alfred war seit mehreren Jahren schon Oberlehrer an der Realschule in Arnstadt und seit 1860 glücklich verheiratet mit der begabten Tochter Ida seines Schuldirektors. Vater John tummelte sich noch rüstig und nun erst allgemach freudig aufatmend, da sich die Last seiner Sorgen endlich doch verringert hatte. Er lebte noch bis 1873 und konnte sich als Greis im Ruhme seiner Tochter sonnen.

Aber auch die Stadt Arnstadt hatte Fortschritte gemacht. In jener Zeit – den ersten sechziger Jahren – ging ein mächtiges Streben durch die ganze Welt und insbesondere durch Deutschland, sowohl auf wirtschaftlichem als mich auf politischem Gebiete. Das Eisenbahnnetz wurde ausgebaut, der Verkehr in ungeahnter Weise gehoben. Fabriken aller Art entstanden allerorten. Bisher abseits gelegene Nester gerieten ins europäische Getriebe und rieben sich, wie aus einem Jahrhunderte langen Schlaf erwachend, die Augen. Und andrerseits geriet die deutsche Einheitsbewegung, die seit den Befreiungskriegen und vollends seit dem Achtundvierziger Jahre das deutsche Gemüt mit ungestillter Sehnsucht erfüllte, endlich in Fluß, als der Streit um die Herzogtümer Schleswig-Holstein ausgefochten wurde.

An dieser großen Bewegung ihrer Nation nahm unsere Dichterin lebhaftesten Anteil. Solange sie selbständig denken konnte, hatte sie sich für die politischen Vorgänge interessiert, die ja auch öfter in ihr eigenes Schicksal eingegriffen hatten; so damals als sie Engagement bei der Oper suchte und während der Revolutionszeit keines finden konnte. Am Hofe der Fürstin Mathilde mußte doch auch viel politisiert werden, da das Gedeihen ihres Hauses mit den politischen Ereignissen innig verknüpft war. Im täglichen Umgang mit dem eifrig national gesinnten Bruder Alfred und bei fleißiger Lektüre der Tageslitteratur konnte sich Eugenie fortdauernd in Kenntnis der öffentlichen Zustände erhalten.

Sie war eine „Gothaerin“, bekannte sich zu den Grundsätzen des Nationalvereins. Im dänischen Kriege standen ihre Sympathien auf preußischer Seite, und zwar so lebhaft, daß sie in den zwei Jahren 1864–1865 nach Wien keine Zeile schrieb. Im deutschen Bruderkrieg des Jahres 1866 verfolgte sie jedoch die preußischen Siege nur mit geteilter Freude. Ihr Herz bewahrte noch die schönen Erinnerungen an Oesterreich und blutete bei der welthistorischen Auseinandersetzung der deutschen Großmächte auf dem Schlachtfelde. Da hielt sie es auch nicht länger mit dem Schweigen aus, und nach dem Prager Frieden schrieb sie nach Wien (16. Sept. 1866):

„Euch Allen mag jetzt wol sein, als sei ein schwerer Traum voll blutiger Bilder abgeschüttelt. Wollte Gott, er hätte kein anderes Gefolge, als den Rückblick auf die Menschenopfer, die der, wenn auch kurze, doch furchtbare Krieg gefordert hat – aber über dem Hause Habsburg ist’s dunkel, und das, was zu kommen droht, ist wol nicht weniger trostlos, als das jüngst Geschehene. Der große Staatsmann an der Spree, plötzlich an die User der Donau versetzt, würde freilich das alte Reich aus den Angeln heben – er wäre kühn genug, der ,todten Hand’ zur Ader zu lassen und mittels dieser gewaltigen Silberströme einen frischeren Herzschlag in den kranken Staatskörper zu bringen.“ … Eine Verehrerin Bismarcks ist E. Marlitt immer geblieben.

Ihre Niederlassung in der Vaterstadt hatte aber insbesondere für die Entwicklung ihres dichterischen Geistes die bedeutsamsten Folgen. Von Antäus erzählt die Mythe, daß er bei jeder Berührung mit dem Boden der Mutter Erde an Kräften wuchs. Die eigentlich Marlittsche Poesie gedieh erst, als die Dichterin die Stätten ihrer Jugend wiedergefunden hatte.

Nach dieser Richtung lehrreich ist ein Vergleich ihrer ersten zwei thüringischen Erzählungen „Schulmeisters Marie“ und „Die zwölf Apostel“, von denen die erste zu ihren Lebzeiten keinen Drucker finden konnte, indes die zweite sofort den Beifall Ernst Keils gewann, der sie im Jahrgang 1865 der „Gartenlaube“ erscheinen ließ und die ihn noch überdies veranlaßte, den Einsender – denn er hielt „E. Marlitt“ für einen Mann – zu weiterer Einsendung von Erzählungen zu ermuntern. Woran lag nun dieser Unterschied im Urteil? „Schulmeisters Marie“ ist eine ganz respektable Talentprobe. Die Heimkehr der unschuldig verdächtigten Schulmeisterin just mitten in den Jubel der Hochzeit im Wirtshaus ist schon eine jener dramatischen Scenen, auf welchen später ein gut Teil der großen Wirkung der Marlittschen Romane beruhen sollte. Aber unsere Dichterin bedient sich hier einer Räuberromantik, die doch schon auch damals, vor mehr als dreißig Jahren – zur Zeit Gustav Freytags, Otto Ludwigs, Gottfried Kellers – veraltet war.

An Stelle dieser Romantik tritt nun in den „Zwölf Aposteln“ eine andere Poesie, für die Marlitt kein litterarisches Vorbild brauchte, weil sie sie aus ihrem eigenen Leben schöpfen konnte.

Da wird das Arnstädter ruinenhafte Nonnenkloster mit der Liebfrauenkirche, in deren Welt sich schon die Phantasie der jungen Eugenie eingenistet hatte, zum poetisch verklärten Schauplatz der Erzählung: der alte Turm mit dem weit und breit berühmten Glockengeläute, der dunkle, kaum je beschrittene Gang, der schließlich in den Garten führt, und daneben gleich der Wäschetrockenplatz der „Seejungfer“, deren Horizont nicht Weiler als über ihren Zaun hinausreicht. In solchen Kontrasten wurde die Poesie E. Marlitts lebendig. Dazu noch die Gestalt des Welt- und menschenscheuen Lenchens, des ersten mädchenhaften Trotzkopfes in der Marlittschen Dichtung, dem eine ganze lange Reihe von gleichen und verwandtern Charakteren folgen sollte.

Damit erst war die Eigenart der Marlittschen Muse zum ersten Male durchgebrochen, und sofort fand sie eine mehr als freundliche Begrüßung.

Man muß auch die beiden Charaktere der Schulmeister-Marie und des Lenchens näher betrachten, um den innersten Kern der Wandlung der Dichterin zu erfassen. Marie ist nichts weniger als trotzig. Als sie erfährt, daß die Mutter ihres Geliebten die Zustimmung zur Verbindung nicht geben will, ist sie sofort bereit mit Berufung auf das Gebot: Ehre Vater und Mutter, zurückzutreten. Das ist nicht unweiblich, aber es ist noch nicht marlittisch. Schon hier läßt die Erzählerin den Geliebten zornig sagen: „Wenn sich die Verhältnisse dieser Liebe nicht gleich anpassen wollen, so streift man sie ab, wie einen Rock, den der Schneider nicht recht gemacht hat … vielleicht hast du auch über Nacht dein Gelöbnis bereut – schwach sind die Weiber alle!“ Diese Schwäche Mariens hat in den späteren Erzählungen der Marlitt keine ihrer Heldinnen. Im Gegenteil! Sie nehmen den Kampf mit den Verhältnissen für ihr gutes Recht, für ihre Ehre, für die Anerkennung ihrer Persönlichkeit mutig auf. Typisch ist, was Agnes, „Amtmanns Magd“, und zwar wie es ausdrücklich heißt „nicht ohne einen gewissen Trotz“ sagt: „Es soll dem tückischen Schicksal schwer werden, mich niederzuwerfen. Noch weiß ich nicht, was Seelenmüdigkeit ist, und dazu fühle ich die Kraft der Jugend in meinen Händen. Und ansehen soll mir’s gewiß keiner, wenn das bischen Selbstgefühl einmal nicht so parieren will, wie es soll und muß!“ So denken alle Marlittschen Heldinnen.

Dadurch also, daß sich Eugenie in der Stadt ihrer Jugend niederließ und unwillkürlich dem Zuge ihres Herzens folgend, sich ins Wunderland ihrer Jugenderinnerungen versenkte, gewann sie nicht bloß einen poetischen Schauplatz für ihre Geschichten – sie hat nach und nach unter mehr oder weniger leichten Verhüllungen ganz Arnstadt geschildert – sondern es gestaltete sich auch ihr Mädchenideal bei dieser Versenkung ins Paradies der Vergangenheit aus, und sie bildete es nach dem Geschöpf, das sie einmal [188] selbst im kurzen Kleide gewesen war. Dazu noch der sich aufdrängende Vergleich von einst und jetzt, denn Arnstadt war ja auch nicht stehen geblieben und modernisierte sich. Durch das Solbad, das Ende der sechziger Jahre darin errichtet wurde, kam es als Sommerfrische in Mode und wurde viel besucht. Mit dem Gemüt hing die Dichterin am Alten, mit dem Geist aber am Neuen, am Fortschritt. Alte Gebäude und alte Menschen, zumal Leute aus dem Volke, verklärt sie überall mit ihrer Poesie. Der Kontrast allein war schon Poesie; das ganze Zeitalter des Uebergangs, zu dem die Marlitt gehört, hat diese Poesie empfunden. Wie schön hat Hans Hopfen sie im „Alten Praktikanten“ dargestellt! … Die Poesie stimmungsvoller Kontraste finden wir in allen Marlittschen Romanen. Am schönsten in der „Goldelse“, wo sich die verarmte Familie in dem ruinenhaften Schlosse einnistet und unter Trümmern neues Leben bereitet. Dann im „Geheimnis der alten Mamsell“: das alte Hellwigsche Haus, die Wohnung des alten Fräuleins. Und so weiter fort, bis auf den farbenprächtigen Kontrast in der „Zweiten Frau“, wo sich neben dem alten Schlosse im französischen Stile das indische Gartenhaus wie ein tropisches Märchen im kalten Norden erhebt …

Wir sind mit Erwähnung dieses Romanes dem Gang der Marlittschen Lebensgeschichte etwas vorangeeilt. Aber wir haben doch nur scheinbar einen Sprung gemacht. Unsere Dichterin trat nämlich, sobald sie die Feuertaufe durch den Druck der „Zwölf Apostel“ erhalten hatte, als fertiger Schriftsteller in der Oeffentlichkeit auf.

Als sie diese Erzählung an die „Gartenlaube“ abgeschickt hatte, lag schon die „Goldelse“ druckreif im Schreibtisch, und diese ihre erste große Schöpfung, die nach dem Urteil Friedrich Kreyßigs (Vorlesungen über den Deutschen Roman der Gegenwart. Berlin, 1871. S. 295) „selbst neben Immermanns köstlicher Lisbeth (Oberhof) nicht zu viel verlieren dürfte“, hat die Marlitt später nicht übertroffen. Sie hat noch Fortschritte in der Technik, im Stil, in der Charakteristik gemacht, sie lernte die Farben noch leuchtender mischen, Uebergänge schaffen, nicht bloß Engel und Teufel ohne Vermittlung einander gegenüber zu stellen; sie wurde knapper und kräftiger im Stil, ihre Kunst zu spannen steigerte sich im Laufe der Jahre – allein die erste Frische hat einen besonderen Zauber, wie Spielhagen seine „Problematischen Naturen“, Marie Ebner-Eschenbach ihre „Božena“ später auch nicht übertroffen haben. Bei der Marlitt kam noch überdies hinzu, daß sie durch ihr körperliches Schicksal auf das poetische Ausmünzen der Erinnerungen und bisher erworbenen Eindrücke eingeschränkt war. Vom Jahre 1863, wo sie nach Arnstadt zurückkam, bis an ihr Lebensende griffen keine neuen Erlebnisse in ihre dichterische Persönlichkeit ein, die ihre Muse auf neue Bahnen geführt hätten. Ihre Entwicklung war abgeschlossen und vollendet.

Die Verbindung mit Ernst Keils „Gartenlaube“, die für die Dichterin und ihren Verleger so segensreich werden sollte, brachte einen völligen Umschwung in Eugeniens Verhältnissen hervor. Beiläufig bemerkt, hatte sie selbst nicht den Mut gefunden, ihr Manuskript der angesehenen Zeitschrift zuzuschicken; sondern ihr Bruder Alfred hatte sich desselben mit Gewalt bemächtigt und es auf eigene Faust unter dem von der Schwester angenommenen Pseudonym nach Leipzig geschickt. Keil war einer jener seltenen Herausgeber, die ihrem Blatte das Gepräge ihrer Persönlichkeit aufzudrücken und die Mitarbeiter daran zu fesseln verstehen. Die volkstümliche Begabung E. Marlitts hatte er sofort herausgespürt und richtig geschätzt. Als ihre ersten zwei Beiträge – „Zwölf Apostel“ und „Goldelse“ – gefielen, erhöhte er aus eigenem Antriebe das Honorar der Dichterin auf fast das Doppelte und sicherte ihr ein Jahresgehalt von 800 Thalern zu. Der Erfolg der „Goldelse“, die im ersten Halbjahr 1866 abgedruckt wurde, war aber auch in der That durchschlagend.

Die Marlitt arbeitete nun mit einer Schaffensfreude und einem Fleiße, die an sich bewundernswert sind. Denn kaum war die „Goldelse“ zu Ende gedruckt, so konnte schon die thüringische Erzählung „Blaubart“ erscheinen, und im folgenden Jahre konnte der zweite große Roman „Das Geheimnis der alten Mamsell“ – die Geschichte des verwaisten Cirkusreiterkindes Felicitas – veröffentlicht werden, deren Wirkung den Erfolg der „Goldelse“ noch weit übertraf. Im Februar 1868 lag schon die Buchausgabe dieses Romans vor. Und so ging das in den nächsten Jahren fort: 1869 die „Reichsgräfin Gisela“, 1870 die „Thüringer Erzählungen“, 1871 „Das Heideprinzeßchen“, 1874 „Die zweite Frau“ … Hoch und nieder, Hausfrau und Stubenmagd lasen Marlitts Romane, ins Französische, Englische, Italienische, Russische, Polnische, Spanische wurden sie übersetzt, drüben selbst, in China und Japan wurden sie begehrt und nachgedruckt, und was nur mit den berühmtesten Erzählungen Auerbachs oder der Currer Bell geschehen war: sie wurden auch für die Bühne bearbeitet. Die Marlitt hatte ja den Dramatisierern vorgearbeitet, die Höhepunkte ihrer Erzählungen sind immer dramatisch bewegte Scenen. Aber eine Freude an den rohen Dramatisierungen hatte sie nicht. Sie konnte sich aber damals noch nicht gegen sie schützen.

Diese Erfolge lassen sich nur begreifen, wenn man sich die Stimmung jener Jahre unmittelbar vor und nach der Gründung des Reiches vergegenwärtigt, aus der heraus Eugenie John mit naiver Unmittelbarkeit ihre Erzählungen schrieb. Sie war sozusagen identisch mit dem Zeitgeist, sie war ihm nicht vorausgeeilt, aber auch nicht hinter ihm zurückgeblieben. Man denke beispielsweise an die Frauenfrage, die damals noch in ihren Anfängen war. Dem zunächst noch unklaren Idealismus jener Zeit, der heutzutage von vielen Seiten angegriffen wird, entsprach das Ideal der Marlittschen Frauendichtung in vollkommenster Weise. Sie stellte den Kampf der Geschlechter noch nicht als einen Lohnkampf oder als einen Kampf um politische oder soziale Rechte dar, sondern in rein idealistischer Weise als einen Kampf um die Anerkennung der weiblichen Persönlichkeit, z. B. in der „Zweiten Frau“: die Frau soll nicht mehr als „eine Sache“ betrachtet werden. Weiter als bis zu dieser gewiß bescheidenen und gerechten Forderung war das allgemeine Bewußtsein der deutschen Frauenwelt auch nicht gekommen.

Zur selben Zeit (1865), als E. Marlitt in der Stille ihrer Arnstädter Zurückgezogenheit an der „Goldelse“ schrieb, tagte in Leipzig der erste Allgemeine deutsche Frauenkongreß. Die denkwürdige Resolution, die er annahm: „Wir erklären die Arbeit, welche die Grundlage der ganzen neuen Gesellschaft sein soll, für eine Pflicht und Ehre des weiblichen Geschlechts, nehmen dagegen das Recht der Arbeit in Anspruch und halten es für notwendig, daß alle der weiblichen Arbeit im Wege stehenden Hindernisse entfernt werden“ – diese Resolution, die sich von den modernen politischen Forderungen der Frauenbewegung noch recht fern hält, hätte die Marlitt sehr wohl mit unterzeichnen können. Für das Recht auf Arbeit – und nicht bloß der Frauen – trat sie überall ein, am nachdrücklichsten wohl in der „Reichsgräfin Gisela“. Die Partei der Armen hat sie immer ergriffen. Die Schilderungen des Volkes bilden in allen ihren Romanen die frischesten und muntersten Partien. Sie lebte in ihrer Zeit, mit ihrer Zeit und für ihre Zeit.

Aber freilich dürfen auch ihre Schwächen nicht verhüllt werden, die wesentlich künstlerischer Art waren. Zu sehr schrieb sie ihre Romane auf den äußeren Effekt der Spannung. Die Charaktere entwickeln sich nicht immer von innen heraus; so wie sie im Anfang sind, bleiben sie auch zumeist im Verlauf der Geschichte: nur das eine Paar von Mann und Weib, das sich anfänglich mißversteht oder trotzig meidet, macht den bekannten Prozeß der Klärung und des Weicherwerdens durch. Auch hat die Marlitt nicht immer die volle Kraft der Individualisierung. Doch über diese Schwächen, die zumeist aller volkstümlichen Kunst anhängen, reißt sie den Leser durch ihre Kraft zu spannen hinweg. Sie läßt ihn nicht aus, mag er noch so viele Bedenken haben. Und sind auch die Zeichnungen der Charaktere nicht innerlich genug, so sind sie doch so bestimmt und klar, daß die Leser immer eine Freude haben, wenn die sympathischen Figuren auf den Plan treten. Menschen ihres thüringer Volkes läßt die Marlitt immer so frisch und unterhaltend reden, daß man wohl begreifen kann, warum sich das Volk selbst an diesen treuen Spiegelbildern seiner Art nicht satt lesen konnte. Diese Wirkung werden die Schriften der Marlitt auch schwerlich jemals einbüßen.

[189]

In Verlegenheit.
Nach einer Originalzeichnung von J. Widmann.

[190]
6.

Wenn man nun bedenkt, unter welchen mühseligen Bedingungen E. Marlitt überhaupt schuf, dann muß sich der Respekt vor der Energie ihres Willens nur noch steigern. Das Gichtleiden, das sich schon in den ersten Jahren ihres neuen Arnstädter Lebens hemmend und schmerzlich fühlbar machte – in knollenartigen Verdickungen an den Hand- und Kniegelenken – verschlimmerte sich so weit, daß seit 1868 die Dichterin nicht mehr gehen konnte. Keine der vielen Kuren, die versucht wurden, half etwas. Eugenie blieb ans Bett oder an den Rollstuhl gefesselt, und nur wenn sich das (infolge dieser Bewegungshindernisse entstandene) Magenleiden besonders fühlbar machte und sie auch am Schreiben hinderte, kamen Klagen über ihre Lippen.

Sonst war sie die stets heitere und witzige „Tante Jenny“, die von ihrem Platz aus das ganze Haus regierte; nach und nach hatte es sich nämlich mit Neffen und Nichten gefüllt. Seit dem 29. Juli 1871 bewohnte sie mit den Ihrigen ein eigenes Haus, das „Marlittheim“, welches sie sich aus dem Erträgnis ihrer Bücher und einem hochherzigen Geschenke Ernst Keils erbauen lassen konnte. Es wurde ganz nach ihren Plänen eingerichtet, jede Einzelheit mußte ihr vorher unterbreitet werden, und während des Baues ließ sie sich oft hinfahren, um ihn zu besichtigen. Eine mächtige Lebensfreude war über sie gekommen: die kühnsten Träume ihrer Jugend erfüllten sich mit diesem Bau. Zwischen den leeren unfertigen Wänden ließ sie bei solchen Besuchen laut singend ihre schöne Stimme erschallen und bewirtete jedesmal die Arbeiter mit einem Freitrunk und Imbiß. Es war dieselbe Zeit, in der die Begeisterung über die ersten Siege gegen Napoleon durch ganz Deutschland erbrauste. Die Marlitt nahm so lebhaften Anteil daran, daß sie gar nicht schreiben konnte. Bis tief in die Nacht hinein saß sie mit den Ihrigen zusammen, der Depeschen harrend, die sie selbst laut vorlas und dann oft noch bis in den grauenden Morgen hinein besprach.

In diesem Sommer und Herbst entstand ihr „Heideprinzeßchen“ … Allerdings mußte sie Tage solcher Aufregung hinterdrein teuer bezahlen, denn ihr Leiden verschlimmerte sich darauf. Es stand in einem unaufgeklärten Zusammenhang mit ihren Nerven. Nach heftigen Gemütsbewegungen traten die Schmerzen, die Geschwülste an Händen, Hals und Knien, sowie die Unbeweglichkeit der Arme und Füße immer sehr schwer auf und ließen dauernde Verschlimmerung zurück. Das war ein Grund mehr für ihren oft peinlichen Abschluß vom Verkehr mit fremden Menschen. Sie mußte Erschütterungen vermeiden, nach der Uhr leben und durfte nicht aus der Ordnung kommen. Nur um doch neue Anschauungen, Originaleindrücke für ihre Beschreibungen zu gewinnen, entschloß sie sich in schönen Sommertagen zu Ausflügen in die nächste Umgebung, nach Elgersburg, Ohrdruff, Ilmenau, Kammerberg; sie waren immer mit Mühe und Umständlichkeit verbunden, da die Dichterin den Wagen, in den sie gesetzt worden war, nicht mehr verlassen durfte. So konnte sie von ihren Exkursionen doch nicht viel neue Eindrücke heimbringen und blieb in ihrer Produktion auf ihre Phantasie angewiesen.

Die Vollendung eines neuen Romanes wurde in der Familie fast so wie die eines neuen Hauses gefeiert. Während der Arbeit bewahrte die Dichterin die äußerste Diskretion über ihr Thun. Nichts war ihr peinlicher, als wenn ein fremder Blick ihr über die Schulter ins Manuskript gucken wollte. Den Schlüssel zu ihrem Manuskriptkästchen trug sie immer um den Hals gehängt. Wenn sie aber fertig war, dann wurde Leseabend angekündigt, der drei, vier Tage hintereinander dauerte. An solchen Abenden lag feierliche Stille über dem ganzen Hause. Die Kinder spielten in einem entfernt liegenden Zimmer Lotto und erhielten dazu hübsche Gewinste, Chokolade, Kuchen, Obst. Die Dienstboten desgleichen in ihren Stübchen. Das Lesezimmer, Eugeniens Arbeitszimmer, wurde in ihrer Abwesenheit mit Palmen, Blumen, Lampen geschmückt, ihr eigener Sitz bekränzt und der Platz für den Bruder Alfred – den wichtigsten Zuhörer – so bequem hergerichtet, daß „kein irdischer Wunsch den Hochgenuß des Zuhörens stören konnte.“ Die besten Cigarren wurden ihm bereitgestellt, daneben Bier, Thee, Bäckerei. Seine Frau – „Idus“ nannte sie die dichtende Schwägerin – mußte eine Handarbeit nehmen, konnte aber doch nur scheinbar sticken, denn das leiseste Geräusch störte die Dichterin, die selbst mit lauter, klangvoller Stimme und höchstem Ausdruck ihr neues Werk vorlas, ab und zu einen Schluck warmen Thee nehmend. Gegen 12 Uhr, also nach ungefähr vier Stunden, schlug sie den Manuskriptkasten zu, und nun begann die Debatte zwischen ihr und dem Bruder, indes die anderen zuhörten. Aenderungen des Geschriebenen wurden aber nach solchen Leseabenden nicht vorgenommen. Sie hatte nicht früher zu schreiben begonnen, als bis die ganze Geschichte im Kopfe fix und fertig war. Ein starkes Gedächtnis unterstützte sie bei dieser Arbeit; sie pflegte keine Entwürfe vorher niederzuschreiben, weil sie ihrer nicht bedurfte, und war der Text fertig, so konnte sie eingreifende Veränderungen nicht mehr machen.

Von ihren Nichten und Neffen wurde „Tante Jenny“ förmlich vergöttert. Sie unterhielt sie auch so gut in jenen Mußestunden am späten Nachmittag, wenn sie die Feder weggelegt hatte, erzählte Märchen, arrangierte Spiele. Je älter die Kinder wurden, um so schöner und bedeutsamer konnten die Spiele werden. Im Marlittheim gab es später ein schönes Haustheater, das Tante Jenny mit Lust dirigierte. Die Kinder hingen bald mehr an ihr als an der eigenen Mutter. Die Tante war aber auch immer so freigebig und erfinderisch im Schenken; zu einer wahren Kunst hatte sie es ausgebildet. Geburtstage, Weihnachtsfeste wurden in jenem Stile gefeiert, den einst die Tante selbst im fürstlichen Schlosse zu Sondershausen jubelnd kennengelernt hatte. Es gab für die Tante keinen höheren Genuß, als an der Freude beschenkter Menschen teilzunehmen. Um sie zu erhöhen, bereitete sie oft harmlos maliziöse Überraschungen und weidete sich an den enttäuschten Gesichtern, die rasch wieder ins Gegenteil umschlugen, wenn dann doch die Freude kam. Wäre die Welt mit Geschenken glücklich zu machen, so hätte unsere Dichterin ganze Wälder von Christbäumen aufgerichtet. Kein Bittender klopfte vergeblich an ihre Thüre; sie übte im stillen eine weitgehende Wohlthätigkeit.

Nur mit der litterarischen Welt pflegte sie auffallend wenig Beziehungen. In München war sie doch in persönliche Berührung mit einzelnen Dichtern von Rang und Namen gekommen. Bodenstedt hatte sich ihretwegen redlich bemüht; und hatte er keinen Erfolg, so war es doch gewiß nicht seine Schuld. Aber die Marlitt hat ein eigenes Mißtrauen gegen Schriftstellerkollegen nie überwinden können. Das Urteil des Publikums über ihre Erzählungen, das sich in der Form der mächtig anschwellenden Auflagen der „Gartenlaube“ äußerte, stand doch in einem merkwürdigen Kontrast zum Urteil vieler litterarischer Menschen, die ihren Anfängen kaum ein bißchen Talent zugestehen mochten. Es ist auch bemerkenswert, daß man weder in den Briefen noch auch in den Erzählungen jemals einen Autornamen oder eine litterarische Anspielung findet, indes doch sicher feststeht, daß sie viel las und sich mit der zeitgenössischen Litteratur auf dem Laufenden erhielt.

Man kann dies aus dem sehr merkwürdigen Briefwechsel erkennen, den sie im Jahre 1868 mit dem 82jährigen Fürsten Pückler-Muskau führte. Diese Briefe wurden schon zu Lebzeiten der Marlitt (1873) von der indiskreten Ludmilla Assing im ersten Bande der „Briefwechsel und Tagebücher von Hermann Fürst Pückler-Muskau“ veröffentlicht und erregten damals nicht wenig Aufsehen. Denn ganz unerwartet – ohne die Dichterin auch nur um Erlaubnis zur Veröffentlichung ihrer Briefe gebeten zu haben – hatte Ludmilla Assing den von der Marlitt ängstlich gehüteten Schleier des Geheimnisses, der ihre vielbesprochene Person noch vielfach verhüllte, weggezogen, um nicht zu sagen: weggerissen. Es waren Mitteilungen der persönlichsten Art, selbstbiographische Bekenntnisse, welche Fräulein John nur darum niederzuschreiben sich überwunden hatte, weil sie an einen – wie sie vermeinte – nicht bloß hochgeborenen (denn darauf hielt sie bekanntlich nicht viel), sondern auch geistig vornehmen und vor allem: ganz einsamen Mann gerichtet waren … Aber schließlich hatte die ängstliche Eugenie diese Indiskretion doch nicht zu bedauern, denn in den Briefen an den Fürsten Pückler erscheint sie in der That als ein freier und großer Mensch, als eine Frau von feinstem Takte, die mit der Ruhe der Reife und [191] der Ueberlegenheit des innerlich festgefügten Geistes in die Welt hineinschaut. Sie hat sich über die großen Lebensfragen auch ihre eigenen Gedanken gemacht, doch trägt sie diese ohne irgend welchen Anspruch vor; sie will weder belehren, noch bekehren, sondern einfach bekennen, was sie fühlt und denkt. Ihre Verschiedenheit vom Empfänger der Briefe, den sie schon seit ihren Jugendtagen rühmlich nennen hörte, reizt sie gerade, sich ihrer eigenen Ueberzeugungen im Schreiben bewußt zu werden. Gewandt und anmutig polemisiert sie gegen seine Aeußerungen, und hinter allem leuchtet die Güte eines gesunden Frauenherzens durch.

Es war die beste Zeit der Marlitt, in der diese Briefe geschrieben wurden: die Jahre des Aufsteigens und stark sprudelnder Produktion. Darum müssen wir in dieser Lebensgeschichte der Dichterin etwas dabei verweilen. Die Briefe sind übrigens mitsamt den Schriften des Fürsten, in die sie eingeschoben sind, in Vergessenheit geraten und kaum noch Litterarhistorikern bekannt, sonst könnten unmöglich so herbe Urteile über E. Marlitt gedruckt werden, wie es zuweilen geschieht.

Pückler-Muskau wurde schon im Jahre 1830 durch seine in glänzendem Stile geschriebenen „Briefe eines Verstorbenen“ als Schriftsteller bekannt; später gab er einige Werke heraus, in denen er über seine weiten Reisen in Nordafrika und Vorderasien berichtete; auch that er sich als genialer Landschaftsgärtner hervor und die von ihm geschaffenen Anlagen in Muskau erfreuten sich eines weiten Rufes.

Als Eugenie mit Pückler in Briefwechsel geriet, da konnte sie nicht wissen, daß es eine der vielen Passionen dieses schriftstellernden Aristokraten war, sich auch mit dichtenden Frauen in Verkehr zu setzen. Fünfunddreißig Jahre zuvor hatte er mit der genialen Bettina von Arnim in einem sehr lebhaft bewegten Briefwechsel gestanden. Mitte der vierziger Jahre hatte er mit der geistreichen Gräfin Ida Hahn-Hahn eine Korrespondenz geführt. In seinem höchsten Alter hatte er noch mit der Marlitt angeknüpft, und mit ihr hat der Verkehr – nur sehr viel schneller als mit den zwei genannten Dichterinnen – sein Ende in derselben disharmonischen Weise gefunden wie in den früheren Fällen. Fürst Pückler-Muskau war nämlich ein zwar geistreicher, in jungen Jahren sogar interessanter Mann, der auch gewiß seine Verdienste als Gartenkünstler hatte; in der Litteratur aber war er doch nur das, was man heutzutage einen gewandten Feuilletonisten nennen würde. Er wußte pikant zu schreiben, und ein schriftstellernder Fürst war vor sechzig Jahren in Deutschland noch eine Seltenheit, das „zog“ auch. Pückler gab sich demokratische Allüren, kokettierte nicht wenig mit seinem Liberalismus, und das schaffte ihm ein großes Publikum im Vormärz. Er kokettierte aber auch mit seinem Weltschmerz, mit der Lebensmüdigkeit, mit der Blasiertheit, und seine Gartenkunst gab ihm im Kontrast dazu einen dichterischen Schimmer. Im Grunde aber war er ein ausgemachter Egoist, und mit der Güte fehlte ihm auch der Humor bis auf die letzte Spur. Alle drei genannten Frauen waren ihm sowohl an echtem Geist als auch an Güte des Herzens und an Humor weit überlegen. Der gute Fürst war zudem noch sehr eitel. Ein Meister in der Kunst zu schmeicheln, übte er diese Kunst doch nur in der Erwartung, daß man ihm seine Schmeicheleien in gleichem Maße zurückerstatten werde. Täuschte er sich in dieser Erwartung, dann konnte Fürst Pückler recht zänkisch werden. In der Einsamkeit von Schloß und Park Branitz langweilte er sich sehr; zum Zeitvertreib schrieb er lange geschwätzige Briefe, natürlich am liebsten an begabte Frauen, und er wurde nicht müde, Gäste nach Branitz zu laden, welche ihm die Einsamkeit erträglich machen sollten.

Dies alles konnte Eugenie John im einsamen Arnstadt zu der Zeit, als sie den ersten, überaus liebenswürdigen Brief Pücklers (vom 8. Febr. 1868) – nach seiner Lektüre des „Geheimnisses der alten Mamsell“ – erhielt, natürlich nicht wissen, und sie antwortete dem „Verfasser der Briefe eines Verstorbenen“, wie sich der Fürst unterzeichnete, innerhalb einer Woche mit der gleichen Liebenswürdigkeit.

Pückler hatte ihr den Brief durch Keil zukommen lassen, denn er kannte damals weder den Familiennamen, noch den Wohnort von E. Marlitt. Als er die Antwort erhielt, drang er darauf, daß sie sich demaskiere. Da gerade zur selben Zeit ihre privaten Verhältnisse durch einen Zeitungsartikel bekannt wurden, so konnte sie schicklicherweise nicht lange dem Wunsche des Fürsten widersprechen und gab ihm einige Auskünfte über sich, die sie mit folgenden Worten begleitete:

„Bezüglich des Festhaltens an meinem Pseudonym muß ich Ihnen ferner sagen, daß ich, bei dem lebhaften Wunsche, nur mit dem Schriftsteller, dem Verfasser der „Briefe eines Verstorbenen“, in geistigen Verkehr zu treten, der Ansicht war, auch eine gewissermaßen objektive Stellung einnehmen zu müssen, so daß lediglich E. Marlitt, die Schriftstellerin, Ihre Korrespondentin würde. Nun freilich, wo mir ein unbekannter und sehr unberufener Biograph das Visier aufgeschlagen, müssen Sie, wohl oder übel, auch die Eugenie John mit in den Kauf nehmen …“

Aber das Unglück war, daß Pückler trotz seiner 82 Jahre, mit denen er sich bei der Marlitt eingeführt hatte, an dem rein litterarischen Gedankenaustausch kein Genüge finden mochte. Er drang auf die weitestgehende Aufrichtigkeit, Wahrheit und Fülle von Mitteilungen über ihre Person. Sie kam ihm so weit entgegen, als eine Frau von Geist und Takt, die vom Empfänger ihrer Briefe die beste Meinung hat, nur entgegenkommen kann. Sie sprach von ihrer Arbeit, von ihren politischen und religiösen Ueberzeugungen, gewährte ihm auch Einblick in ihr Heim, wo sie mit dem alten Vater, dem jüngst verheirateten Bruder Alfred bescheiden, aber glücklich wohnte; ja sie hing seine Photographie, die er ihr geschickt hatte, im Arbeitszimmer auf. Aber das war ihm alles nicht genug, auch nicht die aufrichtigen Worte der Teilnahme an seinen Leiden, von denen er schrieb. Er drängte immerfort zu einer persönlichen Begegnung, er wollte die Marlitt in Branitz haben. Aber je artiger und motivierter sie diesen Besuch ablehnte, indem sie auf ihren eigenen zu einer Reise untauglichen Zustand – gebannt in den Lehnstuhl, schwerhörig, hilfsbedürftig, wie sie war – hinwies, um so leidenschaftlicher wurde der Fürst. Wie ein gekränkter Liebhaber benahm er sich. Als schließlich Eugenie denn doch zu lachen anfing, da wurde er gar bös, weinerlich empört – und da blieb ihr natürlich nichts übrig, als ihm gar nichts mehr zu schreiben.

Diese Thorheit Pücklers muß nun der Biograph der Marlitt doppelt bedauern, weil sie in dem mit ihm geführten Briefwechsel sich von so vorteilhafter Seite zeigt und bei einiger Bescheidenheit und Verständigkeit des Fürsten wohl noch viele schöne Briefe von ihr wären geschrieben worden. So aber müssen wir uns mit den wenigen begnügen, die in den acht Monaten (vom Februar bis zum Oktober 1868) entstanden sind.

In den Briefen spricht die Marlitt öfter von ihrem zum Mißtrauen geneigten Gemüte, und merkwürdig ist es, wie ihr das Schicksal recht gab. Gerade was sie vermeiden wollte, mußte sie erleiden. Ihr persönlich lag nichts ferner als der Neid. Aber sie – die arme Tochter eines falliten Kaufmanns, die gescheiterte Sängerin – wurde viel vom Neide verfolgt, schon als Kind, wo sie im Fürstenschlosse zu Sondershausen mit den Fürstenkindern gemeinsamen Unterricht erhielt, dann in ihrer Stellung als Vertrauensperson der Fürstin Mathilde, und nun gar bei ihren ungewöhnlichen Erfolgen als Erzählerin der „Gartenlaube“! Je weniger sie sich persönlich in die Oeffentlichkeit hinauswagte, um so übler wurde ihr mitgespielt.

Als sich die Angriffe gegen ihre Kunst in den ersten achtziger Jahren mehrten und beim Durchbruch der litterarischen Revolution grobe Formen annahmen, da stand die Marlitt fast ohne litterarische Freunde da. Nur sehr wenige wurden ihr gerecht; so griff z. B. Rudolf von Gottschall zur Feder, um ihr volkstümliches Talent zu schützen, wie er schon zehn Jahre zuvor, einer der ersten Kritiker von Rang, eine gerecht abwägende Charakteristik der Marlitt veröffentlicht hatte. (Vollständig abgedruckt in Marlitts Werken, Illustr. Ausgabe, X, S. 416 u. ff.). Es ergriffen aber auch noch andere angesehene Schriftsteller das Wort für sie, von denen wir nur nennen Woldemar Kaden in Kürschners „Schriftstellerzeitung“ (1885, Nr. 8) und Josef Victor Widmann im Berner „Bund“ (1885, Nr. 70). Als Gottfried Keller den letzteren Artikel las, drückte er dem Verfasser in einem Briefe vom 22. März 1885 seinen lebhaften Beifall aus.

[192] Zur selben Zeit, wo sich in der deutschen Litteratur jene Angriffe auf die älteren Schriftsteller und also auch auf die Marlitt einstellten – wie Sturmvogel, die einer neuen Zeit voranflogen – hatte ein verhängnisvoller Zufall die Dichterin für längere Dauer arbeitsunfähig gemacht. Seit der „Zweiten Frau“ (1873), die man wohl als den Zenith ihres Schaffens und ihrer Popularität betrachten kann, hatte Marlitt noch die Romane „Im Hause des Kommerzienrats“ (1876), „Im Schillingshof“ (1879) und „Amtmanns Magd“ (1881[WS 1]) geschrieben und war eben in der Arbeit an der „Frau mit den Karfunkelsteinen“. Da ereignete sich am Abend des 28. Juli 1883 ein schweres Unglück.

Sie war am Nachmittag mit einer neuen, auf der Hygieinischen Ausstellung in Berlin besonders gelobten Tragbahre auf das Plateau ihres Aussichtsturms im „Marlittheim“ getragen worden und sollte nun zurücktransportiert werden. Bei diesem Transport brach aber eine Tragstange, und Eugenie in ihrer Hilflosigkeit fiel so unglücklich nach vorn, daß sie ein ganzes Jahr lang an den Folgen dieses Sturzes aufs schmerzlichste zu leiden hatte.

Von Arbeit konnte unter diesen Umständen natürlich keine Rede mehr sein. Der berühmte Chirurg Volkmann in Halle (als Dichter der Märchen von Richard Leander in allen deutschen Landen wohlbekannt) stellte sie endlich so weit wieder her, daß sie ohne allzuviel Schmerzen schreiben konnte, und Ende November 1884 hatte sie ihren Roman von der „Frau mit den Karfunkelsteinen“ doch vollendet. Daß zwischen Anfang und Ende dieser außerordentlich spannenden Geschichte (die frei von den gerügten Sensationsmotiven der „Zweiten Frau“ ist und eine der liebenswürdigsten Individualisierungen des Marlittschen Trotzköpfchens und eine ganze Anzahl prächtiger Gestalten aus dem Volke enthält) so viel Schmerzen lagen, merkte man dem Buche nicht an. Es hatte wieder den großen Erfolg wie die früheren Marlittschen Romane und wurde vom Publikum verschlungen.

Aber es war auch das letzte Buch der Erzählerin, den Roman „Das Eulenhaus“, der den Jahrgang 1888[WS 2] der „Gartenlaube“ eröffnete, konnte sie nicht mehr zu Ende schreiben; er wurde im Geiste der Marlitt mit Geschick von W. Heimburg vollendet. Am 11. Oktober 1886 erkrankte Eugenik John jählings an einer Pleuritis (Rippenfellentzündung), und das wurde ihre Todeskrankheit. Sie litt monatelang unsäglich viel Schmerzen; die Morphium-Einspritzungen konnten sie ihr nur auf kurze Zeit lindern. Am 22. Juni 1887, 7 Uhr morgens, ward sie endlich von allen Leiden erlöst. Am 25. wurde sie unter großem Geleite der gesamten Bevölkerung Arnstadts zu Grabe getragen.

  1. Vorlage: 1882
  2. Vorlage: 1887



Der Goldmacher Don Manuel Caëtano.

Am prunkliebenden Hofe des ersten Königs von Preußen, Friedrich I. erschien im Jahre 1705 ein Fremder, dessen Einzug in Berlin durch seine Pracht selbst die an Pomp gewöhnten Berliner in Erstaunen setzte, um so mehr als mit diesem Pomp allerlei auffällige Seltsamkeiten verknüpft waren.

Der Fremde kam mit einem langen Wagenzuge an: in dem ersten Wagen saßen mehrere Diener in glanzvollen, von Gold und Silber strotzenden Livreen. Dann folgten mehrere verschlossene Wagen, die mit verschiedenen Fratzen bemalt waren und einen unheimlichen Eindruck machten. Hinter ihnen kam eine altertümliche Karosse, mit mehreren Käfigen, in denen sich unbekannte Vögel und allerlei häßliches Getier befanden. Mit ihnen wetteiferten die Insassen des nächsten Wagens, die Neugierde und das Staunen der Volksmenge zu erregen: da sah man einen Mohren, einen Zwerg und zwei kupferbraune Indianer in phantastischer Kleidung, mit Muscheln und Federn geschmückt, Antlitz und Arme tätowiert, neben ihnen Affen, Katzen und Hunde. Jetzt wandten sich alle Augen dem von vier Pferden gezogenen Reisewagen zu der reich mit Gold und Edelsteinen verziert war und in welchem der Fremde selbst saß, vornehm und ruhig die Menge musternd, neben ihm seine Gemahlin, überladen mit Perlen und goldenem Geschmeide. Der Wagenzug lenkte in die Dorotheenstraße ein, wo der Fremde ein Haus gemietet hatte mit einem großen Garten, rings durch eine Mauer abgeschlossen.

Dieser Fremde war Don Manuel Cataëno, Graf von Ruggiero, welcher behauptete, Gold machen zu können, und Proben seiner Kunst in Madrid, Paris, Brüssel, Kopenhagen, zuletzt auch vor dem deutschen Kaiser abgelegt hatte. Nachdem er in sein Haus eingefahren, wurden die Thore sogleich verschlossen; aber bis in die Nacht hinein umschwärmte die neugierige Menge das Haus des Grafen, von dem man sich erzählte, er stehe mit dem Teufel im Bündnis und beziehe überall nur solche abgesonderte Wohnungen. Infolge der Verschwendung des prachtliebenden ersten Königs waren damals die preußischen Kassen leer; aus den Domänen ließ sich nicht genug herausschlagen, um den Aufwand des glänzenden Hofstaats zu decken. Durch einen solchen Zauberer die Kassen füllen zu lassen, das war ein Gedanke, der den hohen Würdenträgern des Reiches und auch dem König selbst sofort einleuchtete; auch waren die Hofbeamten nicht abgeneigt, möglichst viel von dem Goldstrom in ihre eigenen Privatkassen abzuleiten. Der Oberheroldsmeister von Biederstein wurde besonders beauftragt, sich näher nach der Kunst des Grafen zu erkundigen. Auch andere hochgestellte Beamte machten ihm ihren Besuch, und selbst zum Könige erhielt er Zutritt.

Nun kam es auf eine Probe an. Der Kronprinz, der spätere gestrenge Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I, zeigte seinen unbestechlichen gesunden Menschenverstand, indem er den Fremden für einen Betrüger erklärte: es gebe keine Wissenschaft, vermöge welcher Gold erzeugt werden könne; es sei nicht recht, den hergelaufenen Abenteurer im Lande aufzunehmen oder ihm gar Zutritt bei Hofe zu gestatten. Der Graf aber zeigte sich sehr zurückhaltend, selbst als der Oberheroldsmeister ihm den Wunsch des Königs zu erkennen gab, seine Kunst kennenzulernen. Er machte ihm allerlei Versprechungen, doch Caëtano zeigte sich mißtrauisch betreffs der Dankbarkeit der Fürsten gegenüber ihren treuen Dienern. Gleichwohl verstand er sich dazu, in Gegenwart des mißtrauischen Kronprinzen seine Künste bei Hofe zu zeigen. Dieser besorgte selbst Kohlen, Gefäße, Schmelztiegel, die von dem Goldmacher geforderte Stange Kupfer, einen Fuß lang und einen Zoll dick, und versah diese mit einem Stempel, daß sie nicht vertauscht werden konnte. Caëtano brachte in einer goldenen Kapsel eine Flüssigkeit mit, die er sein Arkanum nannte, das Geheimmittel, um jedes Metall in Gold zu verwandeln. Der Kronprinz selbst sollte für eine möglichst gleichmäßige Hitze durch den Blasebalg sorgen, und ihm übergab Caëtano die mit gewöhnlichem Töpferthon bestrichene Stange, damit er sie selbst, nach sorgfältiger Prüfung des Stempels, in den Schmelztiegel lege. Hierauf tröpfelte er, die Tropfen zählend, die wunderbare Tinktur langsam in den Tiegel und setzte der Flüssigkeit noch etwas Quecksilber zu. Er bat dann den Kronprinzen, die Stange herauszunehmen, wenn er bis zehn gezählt haben werde. Dies geschah – der Kronprinz kühlte die Metallstange in einem bereitstehenden Wasserbecken ab. Dann machte die noch mit dem Stempel versehene Stange die Runde und der Münzmeister erklärte sie für gediegenes Gold. Es war ja das Geheimnis der Alchimie, unedlen Metallen durch den Zusatz eines Arkanums den Anschein des Goldes zu geben. Groß war das Erstaunen aller Anwesenden; einige gebärdeten sich wie Berauschte, nur der Kronprinz schüttelte den Kopf, indem er mit Recht irgend eine Täuschung vermutete.

Man ließ sich in Unterhandlungen mit dem Italiener ein, doch dieser wollte sein Arkanum nicht an den Staat verkaufen, und da er sonst nichts in Berlin erreichte, fuhr er wieder ab mit großem Pomp. Doch das ließ sehr vielen angesehenen Hofherren, die sich zu bereichern hofften, keine Ruhe, sie baten den König, ihn zurückzurufen. Allein Caëtano verlangte Ersatz aller Reisekosten und 50 000 Thaler für ein gewisses Quantum des Arkanums. Die Forderungen wurden bewilligt; der Graf hielt wieder den großartigsten Einzug; aber es vergingen Monate, er lieferte nichts, auch von auswärtigen Höfen wurde er an Erfüllung seiner Verpflichtungen gemahnt. Plötzlich verschwand er und ging nach Stettin; man machte ihm Vorhaltungen; er ließ sich bewegen, zum drittenmal nach Berlin zurückzukehren. Der König hatte ihn zum Generalmajor der Artillerie ernannt und ihm sein Bildnis in Brillanten geschenkt. Doch er lieferte weder Gold noch Silber. Abermals entfloh er, und zwar diesmal nach Hamburg; jetzt wurde er zwangsweise nach Küstrin gebracht. Noch einmal ließ sich der König erbitten und logierte ihn in dem von Danckelmann herrührenden Fürstenhause auf dem Friedrichswerder ein. Doch wiederum entfloh Caëtano, nach Frankfurt; jetzt war die Gnade des Königs erschöpft; er wurde dort verhaftet, nach Küstrin gebracht und von dem Gericht zum Tode verurteilt. Es wurde ein Galgen errichtet, dessen Balken mit Flittergold beklebt waren. Vor der Hinrichtung mußte der Schwindler seine Kleidung ablegen und ein aus Goldpapier gefertigtes Gewand anziehen.

Ueber die früheren Lebensschicksale des Abenteurers wurde später genügendes Licht verbreitet. Er war der Sohn eines Bauern in Petrabianca bei Neapel und soll im Jahre 1695 das Geheimnis der angeblichen Metallverwandlung erlernt haben; in diesem Jahre tauchte er wenigstens unter dem Namen eines Grafen Ruggiero in Madrid auf. Seine Künste machten ein derartiges Aufsehen, daß er nach München an den Hof des Kurfürsten Max Emanuel berufen wurde. Er versprach hier viel, leistete aber nichts, und nachdem er gegen 60 000 Gulden durchgebracht hatte, zum Staatsrat und selbst Feldmarschall ernannt worden war, wurde er auf Schloß Grünwald in Oberbayern gefangen gehalten, von wo er 1704 nach Wien entfloh. Hier versuchte er mit Kaiser Leopold dasselbe Spiel zu treiben, wandte sich aber bereits im

Jahre 1705 nach Berlin, wo sein Schicksal besiegelt wurde.

[193]

 Nach einer Originalzeichnung von R. Püttner.


Ostermorgen.

An den Sträuchern wunderschön
Lichte Blütenflocken –
Wie aus lichten Himmelshöhn
Klang der Osterglocken.

Morgenwind ihn weiter trug,
Mahnend in die Runde –
Und nun wallt der Dörfler Zug
Durch die frühe Stunde.

Vöglein froh am Wiesenrain
Morgengrüße tauschen,
Durch den ernsten Eichenhain
Geht ein heilig Rauschen.

Frühling rings und Auferstehn!
Herz, mein Herz, nun höre:
Laß durch dich auch brausend wehn
Mächt’ge Osterchöre.

 Fritz Döring.



Blätter und Blüthen.


Ein Denkmal für Gustav Freytag. In Wiesbaden, woselbst Gustav Freytag die Muße seines Lebensabends verbrachte, woselbst er am 30. April 1895 verschied, hat sich ein Ausschuß gebildet, der sich die Errichtung eines ihm gewidmeten Denkmals zur Aufgabe stellt. Der Aufruf desselben, der die Unterschriften vieler namhaften Persönlichkeiten aus ganz Deutschland gefunden hat, wird nicht verfehlen, die allgemeinste Teilnahme in der Nation zu wecken. Ist doch Gustav Freytag der eigentliche Klassiker unter den deutschen Dichtern, in deren Werken der nationale Geist lebendig wurde, welcher 1871 in der Gründung des Deutschen Reichs seinen schönsten Triumph erlebte. Aus seinen „Bildern aus deutscher Vergangenheit“ wie aus dem großen Romancyklus „Die Ahnen“ haben zwei Generationen Begeisterung für die Ideale geschöpft, welche der Dichter in beiden Werken als unveräußerliches gemeinsames Gut der Deutschen nachwies. Im Roman „Soll und Haben“ hat er der bürgerlichen Tüchtigkeit ein Ehrenmal errichtet, an dem sich Tausende und aber Tausende erbaut haben und noch erbauen, und sein Lustspiel „Die Journalisten“, das „beste des Jahrhunderts“, hat die Kämpfe, die den politischen Fortschritt bewirken, mit dem versöhnlichen Schimmer eines Humors verklärt, dem sich kein offner Geist verschließen kann. In ganz besonderem Sinne gilt von Gustav Freytag das schöne Wort, das der Stein auf seinem Grabe kündet: „Tüchtiges Leben endet auf Erden nicht mit dem Tode, es dauert im Gemüt und Thun der Freunde wie in den Gedanken und der Arbeit des Volkes.“ Wie Gustav Freytag in den Gedanken des deutschen Volkes kraftvoll weiterlebt, das soll das geplante Denkmal zum Ausdruck bringen. Es soll den kommenden Geschlechtern die lebensvolle Persönlichkeit zeigen, wie sie unter uns wandelte, als ein Wahrzeichen des Dankes, der bewundernden Liebe. Beiträge für das Gustav Freytag-Denkmal in Wiesbaden nehmen an die Deutsche Genossenschaftsbank von Soergel, Parrisius u. Co. in Berlin W., Charlottenstraße 35 a, die Allgemeine Deutsche Creditanstalt in Leipzig, die Deutsche Vereinsbank in Frankfurt a. M.

Eine Heldenthat deutscher Seemannschaft. (Mit den Abbildungen S. 194.) War das eine Freude an der „Wasserkante“ der alten Freien und Hansestadt Hamburg am Freitag, dem 24. Februar dieses Jahres, just zur Mittagszeit, als wie ein Lauffeuer von Mund zu Mund die Kunde ging: „‚Bulgaria‘ in Punta Delgada eingetroffen.“ Nach menschlichem Ermessen war das stolze Schiff bereits als verloren erachtet [194] worden. Aber durch übermenschliche Anstrengung gelang dem wackern Führer und der tapfern Mannschaft die Rettung. Wie stiegen da auf den Schiffen im Hamburger Hafen die Flaggen empor, und wie nahm ganz Deutschland an der Freude brüderlichen Anteil, allen voran Kaiser und Reichstag! ... Nun, es war auch m der That ein Ereignis, das die Brust jedes guten Deutschen schwellen konnte. Die „Bulgaria“ gehört zwar nicht zu den größten Meeresriesen, nimmt aber doch unter den 73 Seedampfern,


Erster Offizier Wilhelm Kuhls, geb. 1865 in Aumund bei Vegesack.
Kapitän Gustav Schmidt, geb. 1842 zu Wismar.
Obermaschinist Robert Bernhardt, geb. 1852 zu Ullersdorf bei Glatz.
Die Führer der „Bulgaria“.

welche die Amerika-Linie besitzt (abgesehen von etwa 50 Strom- und Hafenfahrzeugen), einen ansehnlichen Rang ein: 1898 auf der Hamburger Werft von Blohm & Voss erbaut, ist sie 152,82 m lang, 18,96 m breit, 10,55 m tief, hat zwei Schrauben, die von zwei Maschinen mit zusammen 3600 Pferdekräften bewegt werden; ihr Wert ist auf etwa 2 1/2 Millionen Mark zu schätzen, und so ziemlich der gleiche Betrag kam auf die Ladung; an Bord befanden sich, außer der Mannschaft von 80 Köpfen, ursprünglich 54 Passagiere. In der Nacht vom 1. auf den 2.Februar wurde die „Bulgaria“ während eines heftigen Orkans steuerlos und hatte bei andauerndem Unwetter schwer zu kämpfen. Am Morgen des 5. Februar schien das Schiff zu sinken, als die Dampfer „Weehawken“ und „Bittoria“ in Sicht kamen und einen Teil der Passagiere und der Mannschaft zu retten suchten. Der Sturm trennte jedoch die Schiffe voneinander. Am 12. Februar traf der Dampfer „Weehawken“ mit 16 Passagieren (meist Frauen und Kindern und 9 Mann der Besatzung der „Bulgaria“) in Punta Delgada auf den Azoren ein. Vier Mann der Besatzung in einem zweiten vom Sturm vorzeitig fortgetriebenen Boot nahm der Dampfer „Bittoria“ auf; von ihnen kam die erschreckende Nachricht: „Verließen die ,Bulgaria’ in sinkendem Zustande.“ Dennoch konnte das Schiff mit den noch übrigen 38 Passagieren und 66 Mann Besatzung (ein Matrose war leider durch Sturzseen über Bord gerissen worden) durch eigene Kraft den Hafen auf den Azoren erreichen. Hart genug muß dieser vierundzwanzigtägige Kampf sich gestaltet haben; wütete doch eine ganze Reihe von Stürmen fast ununterbrochen. Schon der erste knappe Drahtbericht des Kapitäns läßt erkennen, wie es auf dem Dampfer ausgesehen haben mag. Das Steuer vernichtet, so daß das Schiff in den Wind drehte, zwei Luken eingeschlagen. 16 Fuß Wasser im Raum Nr. 4 (das Fahrzeug ist durch Schotten in 11 Abteilungen zerlegt), die Ladung stark nach Backbord übergeschossen, so daß „Schlagseite“ (schiefe Lage) entstand, 108 Pferde verendet, die erst am sechsten Tage über Bord geworfen werden konnten, die Pumpenrohre durch Getreide verstopft, sämtliche Boote der Backbordseite weggerissen, alle Reelings und Treppen auf Deck zerschlagen, ebenso die Thüren in den Aufbauten ... aber zäh wie der deutsche Stahl, aus dem das Schiff erbaut, hielten die deutschen Seeleute aus. Was sich von der übergeschossenen Ladung nicht über Bord werfen ließ, ward verbrannt; Weizen und hölzerne Schuhnägel insbesondere wanderten unter die Kessel. Die bewunderungswürdige Mannszucht an Bord gab den Passagieren die Beruhigung, selbst in größter Not mit Zuversicht der Rettung entgegensehen zu können! Wärmsten Dank zollten sie den Offizieren und Mannschaften in einer besonderen Adresse, in der sie drei von ihnen persönlich nannten: den Kapitän Schmidt, den ersten Offizier Kuhls und den Obermaschinisten Bernhardt. Die Bilder dieser Braven seien unsern Lesern vorgeführt! Alles in allem, er war voll berechtigt, der Freudenruf, der Alldeutschland durchflog: Ehre dem deutschen Seemanne!

G. Kopal.



Die Furcht vor dem Gewitter, welche bekanntlich manche Menschen den ganzen Sommer hindurch nicht loswerden, und unter der sogar auch manche Tiere zu leiden haben, hat der amerikanische Psychologe Hiram Stanley zum Gegenstand seiner Untersuchungen gemacht. Eigentlich, so führt er aus, ist die Gewitterfurcht psychologisch nicht erklärbar, wenigstens bei dem gebildeten Menschen nicht, denn diesem zeigt ja die Statistik ganz genau, wie außerordentlich gering die durch Blitzschläge verursachten Unglücksfälle sind. Aber die Gewitterfurcht macht vor der Bildung nicht halt, es giebt vielmehr und hat eine große Anzahl hochgelehrter Leute gegeben, welche sich vor dem Gewitter entsetzlich gefürchtet haben, während die auf sehr niedriger Bildungsstufe stehenden australischen Eingeborenen z. B. um so freudiger gestimmt werden, je heftiger die elektrischen Entladungen sind. Auch viele wilde Tiere, so z. B. der Löwe, geraten bei Gewitter in freudige Stimmung, gezähmte


Die „Bulgaria“. Nach einem Gemälde.

[195] dagegen, wie unser Hunde, verkriechen sich gern. Nach den Untersuchungen H. Stanleys sind nun alle diejenigen, die sich vor Gewittern fürchten, elektrisch sehr empfindliche Menschen. Es ist ja selbstverständlich, daß während der Entladung eines Gewitters, ja sogar wenn es ohne Entladung nur vorüberzieht oder gar erst in der Bildung begriffen ist, bedeutende Veränderungen des elektrischen Zustandes der Erde und ihrer Atmosphäre hervorgerufen werden. Jedenfalls erzeugen nun diese Veränderungen heftige elektrische Wellen, die natürlich auch durch den menschlichen Körper hindurchgehen. Während dies auf die einen aber gar keinen Einfluß ausübt, ruft es bei andern ein gewisses Gefühl der Angst und Bedrückung hervor. Mit anderen Worten: die Gewitterfurcht ist nichts als eine nervöse Störung des Organismus, die ihren Grund in Veränderungen des elektrischen Zustandes der Erde und ihrer Atmosphäre hat.

Dr. –t..


Der Sarkophag für den Fürsten Bismarck.
Nach einer Aufnahme von Photograph Karl Frank in Rosenheim.

Der Sarkophag für den Fürsten Bismarck. (Mit Abbildung.) An der Grenze von Bayern und Tirol, in der Nähe der Stadt Salzburg, erhebt sich der Untersberg. Die höchsten Gipfel der malerischen Gebirgsgruppe, der Berchtesgadener Hohe Thron und der Salzburger Hohe Thron, streben zu der stolzen Höhe von 1975 und 1851 m empor. Zahlreiche Sagen weben um den höhlenreichen Untersberg; eine von ihnen erzählt, daß in seinem Innern König Karl schlafe gleich Kaiser Friedrich im Kyffhäuser. Von diesem deutschen Berge wurde der Marmor gebrochen zu Fürst Bismarcks Sarkophag. Der Erbauer des Mausoleums, Architekt Schorbach in Hannover, hat auch den Entwurf zum Sarkophag geschaffen, und die Ausführung desselben wurde der „Aktiengesellschaft für Marmorindustrie Kiefer“ übertragen, die am Untersberg eigene Marmorbrüche besitzt. Unsere Abbildung zeigt das mächtige Steingebilde nach einer photographischen Aufnahme, die in den Marmorwerken zu Kiefersfelden bei Rosenheim gemacht wurde. Der Sarkophag ist im romanischen Stil gehalten und hat bei 2,70 m Länge und 1,40 m Breite eine Giebelhöhe von 1,50 m. Acht Säulen tragen den als Dach dargestellten Deckel, der mit reichen Ornamenten versehen ist. Reichen Schmuck weisen auch die Kapitäle der Säulen und die Giebel auf. An dem Fußende ist die Grabschrift eingemeißelt, die der große Kanzler sich selbst bestimmt hat: Fürst von Bismarck, geb. 1. April 1815, gest. 30. Juli 1898. Ein treuer deutscher Diener Kaiser Wilhelms I. Der warme Ton des rötlich gefärbten Marmors läßt das monumentale Werk überaus wirkungsvoll erscheinen; frei von Starre und Kälte hebt sich der Aufbau von dem aus schwarzem Syenit gebildeten Sockel ab. Die Fürstin hat einen gleichen Sarkophag erhalten und beide werden demnächst im Mausoleum zu Friedrichsruh aufgestellt werden.

*


Zlatorog. (Zu dem Bilde S. 177.) Hoch in den Julischen Alpen, wo die stolzen Felszinnen des Triglav in die Thäler des Isonzo und der Sawe niederschauen, ist die Sage vom Zlatorog zu Hause. Inmitten der Felsenwildnis des gewaltigen Bergstocks war ehemals eine immergrüne Trift voll herrlichster Alpenblumen, die im Schutze gütiger Feen stand. Ein Rudel schneeweißer Gemsen weidete auf dieser Stätte; der Bock, der es führte, mit den goldenen Krickeln, der Zlatorog, war durch den Zauber der „weißen Frauen“ vor der Kugel verwegener Alpenjäger gefeit. Denn wird er angeschossen, so erblüht aus seinem Blute das Zauberkraut der Triglavrose; von diesem Kraute äst der wunde Gemsbock, wodurch er augenblicklich wieder gesundet. Wenn es freilich je einem Weidmann gelänge, den Zlatorog daran zu hindern und dessen goldne Krickeln zu erbeuten, dann wäre er im Besitz des Mittels, zu unerhörtem Reichtum zu gelangen: vor dem goldnen Gehörn öffnet der Berg Bogatin seinen schoß, und siebenhundert Wagen vermöchten nicht die Schätze fortzubringen, die sich dort aufgehäuft finden. Nun kam einmal ein junger Jägersmann aus dem Thal der Trenta in diese Reviere, der sich als Waise der besonderen Gunst der weißen Frauen des Triglav erfreuen durfte. Er dringt zu dem Zaubergarten empor, erblickt den Zlatorog und legt auf ihn an – da ertönt eine Geisterstimme, die ihn warnt: von den Blumen der Trift dürfe er pflücken soviel er wolle, aber den Gemsbock müsse er schonen, sonst sei es sein eigen Verderben. Unten im Thal hört er von einem alten Hirten und der glutäugigen Sennin Spela, die ihr Herz an ihn verliert, die Sagen des Thals, und als er im Wirtshaus an der Isonzobrücke die Liebe des schönen Töchterleins der Wirtin gewinnt, ist er des Spruchs der Feen eingedenk und holt aus dem Wundergarten droben für sein Lieb die herrlichsten Blumen, die auch im Winter noch blühen. Ein reicher Handelsherr aus Venedig, der in das Thal kommt, huldigt der Schönheit des blonden Mädchens aber mit glänzenderem Schmuck aus Gold und Edelstein, und als der Jäger, aufflammend in Eifersucht, die Braut zurechtweist, antwortet sie ihm: wenn seine Liebe die rechte sei, hätte er ihr längst, statt der Blumen des Zaubergartens, etwas von den Schätzen gebracht, zu denen das goldne Gehörn des Zlatorog den Zutritt verschaffe. Da steigt der Jäger, von der ihm nacheilenden Sennin Spela vergeblich gewarnt, empor in das Revier der weißen Frauen und legt auf Zlatorog an, der, auf einem Felsstück stehend, vorwurfsvoll zu ihm herüberäugt. Der Schuß fällt, die Gemsen stieben auseinander, Zlatorog stürzt getroffen zusammen, rafft sich aber sogleich wieder auf und äst von den roten Blüten, die aus seinem Blute hervorwachsen. Dann enteilt der Bock ins Felsengeklüst, und als der Jäger ihm nachfolgt, wendet er sich plötzlich um, Blitze zucken aus seinem Gehörn, und der Verfolger wird vom Schwindel erfaßt und stürzt in die Tiefe. Von jener Stunde an aber verließen die weißen Frauen den Triglav und die ewig grüne Blumentrift verschwand unter Felsentrümmern. In der reizvollen Ausgestaltung, welche die alte slovenische Alpensage durch Rudolf Baumbach vor zwei Jahrzehnten in der ergreifenden Dichtung „Zlatorog“ gefunden hat, ist sie zum Gemeingut all der vielen geworden, welche sich von der hier angeschlagenen frischen Weise angezogen fühlten. Die schöne Dichtung Baumbachs, in der sich die großartige Alpenwelt der südlichen Kronländer Oesterreichs in prachtvollen Bildern spiegelt, hat seit ihrem Erscheinen 59 Auflagen erlebt und zählt heute zu den beliebtesten ihrer Gattung.

In Verlegenheit.
(Zu dem Bilde S. 189.)

      A Hochzeit is z’ Ramsau und vom ganz’n Ort
San Buab’n und Mad’ln am Tanzbod’n dort.
      ’as Resei und ’s Nannei kema aa her verstohl’n,
Zum Tanz’n san s’ z’ jung – aba seh’n hab’n sie ’s woll’n;

5
Voll Sehnsucht steh’n s’ da und wispern mit’nand

Und diam druckt die Oane der Andern die Hand.
A’ mei’! Junge Herzen! Was fallt denen all’s ein?
Die zwoa möcht’n jedenfalls „älter“ heut’ sein. –
      Da Seppei, der Tropf, hat die Dirnd’ln daseg’n –

10
Glei’ denkt er: No wart’, enk mach’ i’ valeg’n. –

      „No, Dirnd’ln,“ so sagt er, „warum tanzt ’s denn net mit?
A Schuhplattler kommt jetzt, hernach a Sechsschritt!
Gehts her! Er is ja net da – der Herr Lehra –
Aber i’ bin ja da und and’re Buab’n mehra.

15
      So frozzelt er fort und hat halt sein G’spaß –

Und d’ Dirnd’ln wer’n rot und wer’n wieder blaß,
Sie trau’n sich net z’ rühr’n, – schau’n kaum mehr in d’ Höh’.
Ja mei’! So a G’spaß thuat die junga Leut’ weh;
Denn jeder Mensch woaß: viel härter kommt ’s o’:

20
Was man möcht’ und net darf, als man möcht’ und net ko’.

Voll Angst schau’n s’ auf d’ Thür hin, sie wär’n halt gern drauß’,
Und wia s’ amal aufgeht, sans ’naus aus ’m Haus. –
      Da lacht er, der Sepp, ’s hat wolter ihn g’freut,
Daß er so für’n Narr’n halt zwoa halbg’wachs’ne Leut’. –

25
Wer woaß ’s, Sepp, wie lang’ steht es ebba noch o’,

Daß am End’ die ganz’ G’schicht’ verkehrt kema ko’;
Vielleicht kannst du ’s in ein paar Jahrl’n erfahr’n - -
Da halt’n die zwoa nachher dich halt für’n Narr’n!

Peter Auzinger.

[196] Unschlüssig. (Zu dem Bilde S. 181.) Ueberrumpelung und Sturm – ganz wie es die Kriegskunst dem Eroberer vorschreibt! Aber die Festung braucht ziemlich viel Zeit zum Entschluß der Uebergabe: die kokette Schöne, welche so zierlich in dem sonnendurchschienenen Zimmer an der Rahmenstickerei saß, ist von dem stürmischen Ueberfall nichts weniger als erbaut. Er liebt sie ja und ist ein guter Mensch, der sein Auskommen hat, aber … aber … es sind fast so viele Aber bei der Sache, als der rosigen Fingernägel sind, die sie angelegentlich betrachtet, während er dringend, bittend, beschwörend auf sie einredet und den Augenblick nicht erwarten kann, wo er das reizende Geschöpf in seine Arme schließen darf. Er denkt nicht, daß Ueberredung ein schlechtes Fundament der Ehe giebt, und daß es thöricht ist, einer spröden Schönen das Jawort als Gnade abzuringen. Sie hat es ihm eben so ganz und gar angethan, daß die blinde Verliebtheit ihn unwiderstehlich hinreißt! Und wenn wir sie betrachten, die schlanke Gestalt im weißen Gewand, wie sie voll lässiger Anmut am Tische lehnt, Hals und Arme frei in unverhüllter Schönheit, den blonden Kopf gesenkt, daß die Locken unter dem Goldnetz hervor um die Stirn und die niedergeschlagenen Augen spielen, Reiz und Anmut in jeder Linie des Gesichtchens – ja, dann werden wir doch vielleicht die Thorheit des jungen Mannes nicht mehr so unbegreiflich finden! Bn.     

Aerztliche Mission. Eine der wichtigsten kolonialen Aufgaben besteht in der Hebung der Naturvölker zu einer höheren Stufe der Kultur und Gesittung. Neben dem Kaufmann und Pflanzer wirken darum in den Kolonien auch Schullehrer und Missionäre. Als ein weiterer Träger und Förderer der Kultur gilt der Arzt. Die Heidenvölker in Asien und Afrika tragen die Krankheitsnot besonders schwer, denn die eingeborenen Medizinmänner, Priester und Zauberer vermögen ihnen nicht zu helfen und quälen sie zumeist durch ihre abergläubischen und oft grausamen Kuren. Da kann ein wirklicher Arzt, der in einer Mission wirkt, das Los vieler Unglücklichen mildern. In England haben schon vor 58 Jahren die herzerschütternden Schilderungen des amerikanischen Arztes Dr. Parker, der in China wirkte, den Sinn für die ärztliche Mission geweckt, und es stehen zur Zeit über 500 Missionsärzte und Missionsärztinnen aus England und Amerika in der Arbeit. Deutschland ist auf diesem Gebiet noch weit zurück, denn es entfallen auf alle deutschen Missionsgesellschaften nur 12 Missionsärzte. Es ist darum gewiß als eine zeitgemäße Erscheinung zu begrüßen, daß in jüngster Zeit ein deutscher Verein für ärztliche Mission ins Leben getreten ist. Sein Geschäftsführer ist der auf eine 21jährige Thätigkeit in Indien zurückblickende Dr. med. Liebendörfer in Stuttgart. Dieser Verein hat sich die Aufgabe gestellt, vor allem der Basler Missionsgesellschaft und in zweiter Linie auch anderen deutschen Missionsgesellschaften zu dienen, das Interesse für ärztliche Mission zu fördern und zu wecken und über Fortschritte auf dem Gebiete der Tropenmedizin und Tropenhygieine zu berichten. Der Verein sammelt ferner Geldmittel, um Missionsärzte auszurüsten und auszusenden und Spitäler in den Missionsgebieten zu bauen. Am dringendsten wird ein Missionsarzt für unser deutsches Schutzgebiet Kamerun begehrt, wo in Bonaku, im Centrum der Mission, auch ein kleines Krankenhaus gebaut werden sollte. Hoffentlich werden dem Vereine reichliche Spenden zufließen, damit das menschenfreundliche Ziel erreicht werde!

Photographie im Verlage von Franz Hanfstaengl in München.

Im Sonntagsstaat.
Nach dem Gemälde von A. Raudnitz.

Zu unseren farbigen Bildern und der Kunstbeilage. Wunderherrlich ist der deutsche Frühling. Er kommt nicht rasch über Nacht, um schnell vor dem heißen Sommer zu weichen. Lange Wochen vergehen von der Zeit an, da ihn die Schneeglöckchen einläuten, bis zu den Wonnen des Mai, da der Flieder duftet und die ersten Rosen blühen. Am schönsten sind aber wohl die Tage des ersten Lenzes, da auf den frischgrünen Wiesen die ersten Blümlein sich entfalten und Busch und Baum mit dem Blütenschnee sich schmücken, denn dann ist es offenbar, daß des Winters Macht gebrochen ist; bezwungen erscheint der starre Todesschlummer, die Pflanzenwelt feiert ihr Auferstehen und ihr friedlicher Anblick ergreift im Tiefinnersten des Menschen Sinn und Herz. Im Lenzeswehen und Frühlingssonnenschein wächst das Selbstvertrauen der Müden und Beladenen und das Hoffen erhält neue Schwingen. Und wenn auch der Frühling den Schnee des Alters nicht wegschmelzen kann, die Herzen macht er wieder jung. Darum kommen Ostergrüße zu gelegener Zeit, denn sie sagen laut, was leise in Seelen und Herzen raunt. Mögen sie auch heuer in reicher Fülle die Lebensfreude der Jugend erhöhen und das Alter neu beleben. Als ein Ostergruß an unsere Leser sollen auch die Bilder gelten, auf denen Osterblümlein und Lenzesblüten prangen und aus denen uns der stille Osterfrieden entgegen weht. *     


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
[196 a]
Allerlei Winke für jung und alt.




Photographie als Osterei.



Photographie als Osterei. Mit dieser hübschen, selbstgefertigten Ostergabe werden die Amateurphotographen gewiß Freude bereiten. Natürlich ist für die Aufnahme ein dem Empfänger wertvolles Objekt zu wühlen; die kleine Abbildung zeigt z. B. das Elternhaus einer zahlreichen, jetzt zerstreut wohnenden Familie; sehr hübsch sehen in der länglichen Eiform auch zwei bis drei Köpfchen, kleine Gruppen etc. aus; Querformat eignet sich besser als Hochformat; die Größe ist beliebig. Vor dem Kopieren der Platte schneidet man sich die Eiform aus feinem undurchsichtigen, schwarzem Papier und legt diese, hübsch ausprobiert, auf das Negativ, worauf man die ganze Platte auf Celloidinpapier so lange kopiert, bis dasselbe tief schwarz erscheint. Ohne die Platte aus dem Rahmen zu nehmen, entfernt man dann das schwarze Papierei und kopiert in die hell gebliebene Stelle des Celloidinpapiers, die ja die Eiform zeigt, das Bild ein. Der schwarze Rand bleibt nach Fertigstellung der Photographie viereckig um das Bild stehen, aber nur schmal, weil dadurch die Eiform schärfer hervortritt. Sollte die Kontur des Randes gegen dunkle Bildstellen zu wenig loskommen, so hilft man mit einem feinen Strich nach, jedoch erst nachdem die Photographie auf Karton gezogen worden ist. Schließlich schreibt man in eine der schwarzen Ecken mit Pinsel oder Feder, Zinkweiß oder Farbe „Fröhliche Ostern“, die Jahreszahl nebst Datum oder sonst eine Widmung.






Osterei als Arbeitsständer. Fünf Pappen nach dem kleinen Schnittmuster geschnitten, überzieht man auf beiden Seiten mit Stoff, entweder mit heißem Leim geklebt oder an den Rändern genäht. Dann näht man die fünf Teile an den Rändern zusammen, wodurch sich die Rundung des Eies von selbst ergiebt. Die Nähte werden durch Bänder verdeckt. Der Deckel wird besonders gearbeitet, und deshalb muß man acht


Osterei als Arbeitsständer.


geben, daß Nähte und Bänder hernach aufeinander passen. Oben dient eine Schleife als Griff. Die Felder zwischen den Bändern werden mit Aquarellfarben gemalt, weshalb ein einfarbiger Stoff vorzuziehen ist, zum Beispiel das ganz gewöhnliche graue Taillenfutter, welches einen guten Ton zum Grund giebt. Sehr hübsch ist helle Seide; die Bänder ziert leichte Kreuzstichstickerei, wie unser Modell zeigt. Das Ei kann in jeder beliebigen Größe angefertigt werden, und auch den Fuß aus vier Stäben kann man selbst machen, indem man einfache Stöcke vergoldet; hübscher ist es freilich, wenn man zierliche Bambusstäbe verwendet.

E. R.





Blumenstickereien. Wer nicht Zeit findet, die so hochmodernen Blumenstickereien in einer mühsamen Stichart auszuführen, oder größere Kosten scheut, kann sich dieselben auch in einfacherer und doch wirkungsvoller Weise herstellen, nur Geschicklichkeit und Farbensinn sind nötig. Auf Möbelcretonne sieht man häufig in Farben und Formen besonders schöne Blumen und Blätter. Diese werden scharf nach den Konturen ausgeschnitten und auf einem beliebig hellen oder dunklen Tuchfond, der sie gut zur Geltung bringt, arrangiert; dabei behält man aber die moderne Richtung, welche das „Aufstrebende“ und „Flächige“ betont, im Auge. Etwa fehlende Stiele und Ranken sind später direkt auf dem Grundstoff vorzuzeichnen und in leichtem Stiel- und Plattstich einzufügen. Am besten hat man den Grundstoff schon zu dieser ersten Arbeit in den Strickrahmen gespannt, der das nun folgende Anheften der Auflagen auch erleichtert. Zur Befestigung dient den Konturen nachgehend und die Farben von Blüten und Laub wiederholend, entweder ein feines Seidenschnürchen oder ein Faden Filoselleseide, den in kleinen Zwischenräumen übergreifend ausgeführte Stiche aus feiner Seide – die Filoselleseide wird geteilt – befestigen; auch kann man leichten Plattstich über die Konturen greifen lassen. Platt-, Stiel- und lose Stiche aus zwei- und dreiteiliger Filoselleseide beleben hier und dort Blumen und Blätter, während Knötchenstiche die Kelche hervorheben. Natürlich müssen die Stickfäden mit feinem Verständnis dem Grundton angepaßt werden. Reicher als diese Cretonneauflagen wirken solche aus englischem Libertysammet und sind für kleinere Gegenstände auf Seide oder Moiree appliziert von großem Reiz; auch kann man direkt diesen schönen bedruckten Sammet verwenden und ihm durch leichte Stickerei mit seinen Metall- und Seidenfäden ein besonderes Gepräge verleihen.






Chinesisches Ostergefährt. Man nimmt einen viereckigen Karton, umgiebt ihn außen pompadourmäßig mit einer dichtgefalteten Hülle von farbigem Krepppapier und schneidet nun zwei dünne Holzstäbe. Man umwindet sie mit Krepppapier und dann mit Silbergespinst und befestigt sie zu beiden Seiten des bunt umhüllten Kartons. Weitere vier ebenso umwundene Stäbe befestigt man innen aufwärts an den vier Ecken des Kartons, verbindet sie oben kreuzweise mit Draht und spannt Krepppapier fest darüber. Dies umgiebt man ringsherum mit einem Volant aus andersfarbigem Krepppapier und setzt vier Pompons in die Ecken. Die so hergestellte Sänfte birgt innen Ostersüßigkeiten und oben Frühlingsblüten. Zwei Osterhäschen werden mit farbigen Seidenschleifen vorn und hinten als Träger an den Längsstäben befestigt.

He.






Strohkörbchen mit Frühlingsblumen. Auf dem Lande giebt es keine Kunst- und Handelsgärtner, will man aber dennoch gern einen hübschen Blumengruß als Ostergabe bringen, so muß man sich selbst helfen, was den Wert der Gabe stets erhöht. – Man sucht sich von recht steifem Stroh die dicksten ungeknickten Halme heraus, reiht sie aneinander, indem man in der Mitte jeden Halmes zwei starke Fäden sich kreuzen läßt.– Soll das Osterei größer und haltbarer werden, so nimmt man mehrere Halme zusammen; auch aus Binsen oder frischen Weidenruten wird es sehr hübsch. – Nachdem man genug aneinander geknüpft hat, bindet man die Enden fest mit Draht zusammen, oben gleich die Oeffnung für die Blumen lassend. der Draht wird durch große steife Seidenbandschleifen verdeckt, deren Farbe man zu den Blumen passend wählt. Man kann die Blumen in Moos setzen, vorzüglich die Knollenblumen, wie Tulpen, Schneeglöckchen, Hyacinthen, Crocus etc., halten sich sehr gut darin. Veilchen, Leberblümchen und Zeitlosen kann man in Sand pflanzen, wenn die Hülle stark genug gearbeitet ist; alle lieben Frühlingsboten sehen reizend aus in dieser natürlichen Hülle.

E. R.






Toilettenkissen in Eiform. Eine Hamburger Freundin hat mir im vorigen Jahr aus drei Hamburger Häubchen, die wohl allgemein bekannt sind, ein reizendes Toilettenkissen zum Osterfest beschert, das sehr leicht nachzuarbeiten ist. Die Rüschen trennt man von den Häubchen ab, heftet auf eines der Häubchen Kanevas und stickt einen beliebigen Ostergruß darauf, um danach dies Häubchen innen erst farbig auszufüttern und dann mit einem kleinen, mit Kleie gefüllten Kissen zu versehen, welches die Form des Häubchens haben muß. Man näht nun die Häubchen einfach zusammen und füllt sie, wenn sie beinahe geschlossen sind, mit zerzupfter Holzwolle so an, daß die drei Häubchen eine Eiform bilden. Die Rüschen werden darauf wieder aufgenäht und oben und unten zuletzt zierliche Schleifen aus farbigem Seidenband angebracht. Ein kleiner Frühlingsblütenstrauß wird beim Uebersenden oder Darbringen leicht schräg über dem Kissen befestigt, doch so, daß er den Ostergruß möglichst wenig verdeckt.

E.



Strohkörbchen mit Frühlingsblumen.




Gestrickter Ueberziehärmel. Bei den Capes sind bequem über das Kleid zu ziehende Aermel sehr angenehm und aus guter Strickwolle einfach selbst herzustellen. Man beginnt am oberen Rande mit 88 bis 92 Maschen und strickt mit starken Stahlnadeln zunächst wie beim Strumpf einen Rand aus abwechselnd 2 Rechts- und 2 Linksmaschen, der 56 bis 60 Touren lang ist. Dann folgt ein glatt rechts gestrickter Teil von 80 bis 90 Touren Länge, in denen zuletzt 6 bis 8 Maschen abgenommen werden, und schließlich eine wieder abwechselnd rechts und links gearbeitete Manschette, deren Länge von 30 Touren am sichersten eine Anprobe feststellt, auch kann man beliebig den mittleren Teil noch etwas länger stricken.






Gestrickte Wirtschaftstücher. Von stärkster ungebleichter Baumwolle können auch schon von Kinderhänden haltbare Tücher zum Abwaschen des Geschirres oder zum Aufwischen von Fußboden gestrickt werden. Man strickt mit kräftigen Holznadeln hin- und zurückgehend stets rechts und hebt die erste Masche jeder Nadel ab; das fertige Tuch erhält ringsum ein rotes, gehäkeltes Picoträndchen. Die Größen der Tücher stehen natürlich im Belieben, doch rechnet man die für Fußböden bestimmten Tücher etwa 60 zu 70 cm und die anderen Tücher im Quadrat 35 bis 40 cm groß.



[196 b]
Allerlei Kurzweil.

Rösselsprung.
Von Oscar Leede.

Bilderrätsel.
Von Erhard Lipka.

Charade.

Erste Silbe.

Ein Ausdruck der Verwunderung, der Freude, wie der Schmerzen,
Mißbilligend auch klingt sie oft und klagt aus wundem Herzen.

Zweite Silbe.

In ew’ger Schöne, reinem Glanz strahlt sie in unser Leben,
Auch ward, als Zeichen großer Huld, sie manchem schon gegeben.

Wir sehen sie, bald Mann, bald Weib, sich in der Welt bewegen,
Im Reich der Kunst, der Wissenschaft Bewunderung erregen.

Das Ganze.

Nach Wintersnacht ein Hoffnungslied auf Wiederbesserwerden,
So läutet es, mit Glockenton, den Frühling ein auf Erden!
 Th. Biedermann.


Skataufgabe. Von K. Buhle †.

Der Spieler in Hinterhand wagt bei einem ungünstig stehenden Lachs, da Vorhand auf Rot-Solo das Spiel behalten hat, mit diesen Karten:

(tr.B.) (p.B.) (c.B.) (tr.K.) (p.K.) (c. Z.) (c. D.) (car.Z.) (car.D.) (car.7.)

ein Eichel-(tr.-)Solo und gewinnt es mit Schneider, denn die Gegner, von welchen der erstere 46 Augen mehr hat als der andere, bekommen nur 18 Augen herein. Wie sind die übrigen Karten verteilt und wie ist der Gang des Spiels?


Scherzrätsel.

Eine Stadt in Norddeutschland – errätst du den Sinn? –
Hat den Kopf weit in Flandern; das Ende ist hin.   E. S.


Auflösung der Damespielaufgabe auf den Umschlag von Halbheft 5.

1. f 6 – g 7 00 h 8 – f 6 +
2. D b 8 – d 6 D c 5 – e 7 +
3. f 4 – e 5 f 6 – d 4 +
4. h 6 – g 7 D f 8 – h 6 +
5. g 3 – f 4 D h 6 – e 3 +
6. D c 1 – e 5 +++++ und gewinnt.


Auflösung der Scherzrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 5.

Ste – tt – in, Be – rl – in.

Auflösung des Rätsels auf dem Umschlag von Halbheft 5.

Watt, Watte, Watteau.

Auflösung des Verwandlungsrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 5.

Wermut, Wismut, Wismar, Weimar, Weiler, Werder, Verden, Bergen, Barmen, Karmin, Jasmin.




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Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)