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Die Wohnungsfrage

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Autor: Ludwig Pohle
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Titel: Die Wohnungsfrage
Untertitel:
aus: Handbuch der Politik Dritter Band: Die Aufgaben der Politik, Dreizehntes Hauptstück: Selbsthilfe und Sozialschutz, 70. Abschnitt, S. 60−68
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
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Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
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70. Abschnitt.


Die Wohnungsfrage.
Von
Dr. Ludwig Pohle,
Professor der Staatswissenschaften an der Akademie zu Frankfurt a. M.


Literatur:

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Andreas Voigt und Paul Geldner, Kleinhaus und Mietkaserne, Berlin 1905. –
K. von Mangoldt, Die städtische Bodenfrage, Göttingen 1907. –
C. J. Fuchs, Zur Wohnungsfrage, Leipzig 1904. –
W. Gemünd, Bodenfrage und Bodenpolitik, Berlin 1911. –
K. Eberstadt, Handbuch des Wohnungswesens. 2. Aufl., Jena 1910. –
J. Stübben, Der Städtebau, 2. Aufl., Stuttgart 1907. –
Adolf Weber, Boden und Wohnung, Leipzig 1908. –
H. Chr. Nussbaum, Die Hygiene des Wohnungswesens, Leipzig 1907. –
D. Pesl, Das Erbbaurecht, Leipzig 1910. –
L. Pohle, Die Wohnungsfrage, Leipzig 1910 (Sammlung Göschen, 2 Bändchen).

Die Wohnungsfrage verdankt den hervorragenden Platz, den sie gegenwärtig in der öffentlichen Erörterung einnimmt, dem raschen Aufblühen des Städtewesens und den tiefgehenden Wandlungen der Wohnweise der grossstädtischen Bevölkerung während des letzten Jahrhunderts, insbesondere in seiner zweiten Hälfte. Sie ist in erster Linie eine grossstädtische Angelegenheit. Damit soll indessen nicht etwa gesagt sein, dass die Wohnungsverhältnisse auf dem Lande und in Kleinstädten besser seien als in der modernen Grossstadt. Vielmehr ist gerade das Gegenteil richtig, wie schon verschiedentlich nachgewiesen worden ist.[1] Es ist auch nicht der Umstand, dass die Wohnungszustände eines grossen Teils der grossstädtischen Bevölkerung in hygienischer und sittlicher Beziehung überall noch sehr mangelhaft erscheinen, was der Wohnungsfrage in der Gegenwart ihre besondere Stellung verleiht. Dass in einer grossen Stadt immer ein Bruchteil der Bevölkerung in hygienisch und sittlich bedenklichen Wohnungsverhältnissen sich befindet, das erscheint, wie jetzt wohl auf allen Seiten[2] anerkannt wird, als ein nicht zu vermeidendes Übel, so lange es überhaupt noch menschliche Not und menschliche Verwahrlosung gibt. Denn diese werden äusserlich stets in der Form von Wohnungselend am meisten sichtbar werden. Was die Wohnungsfrage in neuester Zeit in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt, auch zur Veranstaltung von nationalen und internationalen Wohnungskongressen[3] den Anlass gegeben hat, das ist vielmehr folgendes: In weiten Kreisen ist man gegen das Wohnungswesen in der modernen Grossstadt und alles, was damit zusammenhängt, das jetzige Verfahren der Stadterweiterung, die private Bautätigkeit usw., kritisch gestimmt worden; man glaubt an der Art und Weise, wie die Befriedigung des Wohnbedürfnisses in den Grossstädten sich vollzieht, schwerwiegende Mängel allgemeiner Art feststellen zu können, insbesondere erhebt man den Vorwurf, dass die Wohnungen bei dem jetzigen System unnötig teuer sind. Man ist schliesslich dahin gekommen, die Frage aufzuwerfen, ob die Entwicklung der Wohnweise in den Städten überhaupt eine zweckmässige gewesen ist und ob die städtischen Wohnungszustände sich notwendig so gestalten mussten, wie sie geworden sind. Am weitesten in dieser Richtung geht die Bodenreformbewegung, deren Anhänger für die jetzigen Zustände im [61] Wohnungswesen grossenteils den privaten Grundbesitz verantwortlich machen und offen oder versteckt dessen Aufhebung oder wenigstens Einschränkung fordern. Die heftigen Angriffe und weitgehenden Forderungen von dieser Seite haben auch auf der anderen Seite zum Zusammenschluss geführt. 1912 wurde ein „Verband zum Schutze der deutschen Grundbesitzer und Realkredits“ gegründet, dem insbesondere die deutschen Haus- und Grundbesitzervereine meist angehören. Um welche Streitpunkte und Gegensätze es sich bei der Wohnungsfrage im Einzelnen hauptsächlich handelt, wenn speziell die deutschen Verhältnisse ins Auge gefasst werden, erhellt aus dem Folgenden.

I. Kleinhaus und Mietkaserne und die Politik der Baubeschränkungen.

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In Deutschland war das Anwachsen der Grossstädte an Zahl und Bevölkerung – 1910 wohnten schon über 20% der Gesamtbevölkerung in Städten von mehr als 100 000 Seelen, 1871 dagegen erst 4,8% – zugleich von tiefgehenden Veränderungen in der Wohnweise der städtischen Bevölkerung begleitet. An die Stelle des Kleinhauses trat immer mehr das Etagenhaus und Hand in Hand damit verbreitete sich die Mietwohnung an Stelle der Eigentumswohnung. Für die städtische Bevölkerung ist infolgedessen in Deutschland jetzt eine ganz andere Wohnweise charakteristisch als für die ländliche. Nach der 1905 im Königreich Württemberg veranstalteten Wohnungsaufnahme wohnten in den Gemeinden unter 5000 Einwohnern in den Haushaltungen mit zwei und mehr Personen 80,8% in Eigentumswohnungen und nur 15,9% in Mietwohnungen, in der Grossstadt Stuttgart dagegen gab es umgekehrt 82,5% Mietwohnungen und nur 14,4% Eigentumswohnungen, davon auch nur 2,2% in wirklichen Einfamilienhäusern. Die Stuttgarter Verhältnisse sind aber typisch für die deutschen Grossstädte im allgemeinen. Mit alleiniger Ausnahme der beiden Städte Lübeck und Bremen, wo die Eigentümerwohnungen noch in grösserem Umfang (⅓ bezw. der Gesamtzahl) sich behauptet haben, war am Beginn des 20. Jahrhunderts in allen deutschen Grossstädten die Eigentümerwohnung auf weniger als 25% der Gesamtwohnungszahl zurückgedrängt, ja vielfach war sie auf 10% und weniger beschränkt. Das hängt natürlich mit dem Vordringen des Etagenhauses, das in seiner grössten Gestaltung gern als „Mietkaserne“ bezeichnet wird, auf Kosten des Kleinhauses zusammen. Wie in den deutschen Städten das grössere Miethaus dominiert, geht daraus hervor, dass in den deutschen Städten mit mehr als 50 000 Einwohnern 1905 die durchschnittliche Behausungsziffer, d. h. die Zahl der auf ein bewohntes Gebäude entfallenden Bewohner 22,8 betrug und die Zahl der in einem Gebäude vereinigten Haushaltungen 5,3; für die eigentlichen Grossstädte (mit mehr als 100 000 Seelen) sind diese Zahlen 24,9 bezw. 5,8, für Berlin stellen sie sich auf 68,1 und 17,3. In diesen Zahlen spiegelt sich die dominierende Stellung, welche das grosse Miethaus in dem deutschen Wohnungswesen einnimmt, deutlich wieder. Vor allem im letzten Menschenalter sind die deutschen Grossstädte nicht nur in die Breite, sondern auch in die Höhe gewachsen. Der Anteil der im dritten Stock oder höher gelegenen Wohnungen auf je 1000 der Gesamtzahl ist z. B. gestiegen in Berlin von 1861 bis 1900 von 186 auf 464,2, in Breslau von 1875 bis 1905 von 268 auf 450,6, in Königsberg von 1864 bis 1900 von 40 auf 195,2, in Magdeburg von 1886 bis 1900 von 162 auf 209.

Dieser Entwickelung gegenüber sind neuerdings mehr und mehr Zweifel laut geworden ob sie als wirklich notwendig anzusehen sei, und sie wurde zugleich als in hohem Masse ungesund, hingestellt. Dass sie nicht als eine unbedingte Notwendigkeit zu betrachten ist, lehrt ein Blick auf die Entwicklung des Wohnungswesens in einer Reihe anderer Länder, wie vor allem England, Nordamerika, Holland und Belgien. Dort hat trotz einer ebenso intensiven oder gar noch intensiveren städtischen Entwicklung auch in den Grossstädten das meist nur von einer Familie bewohnte Kleinhaus siegreich sich behauptet. In den englischen Städten mit mehr als 50 000 Einwohnern z. B. stellte sich 1901 die durchschnittliche Behausungsziffer nur auf 5,77 – ohne London 5,14 – und die Durchschnittszahl der Haushaltungen pro Gebäude auf nur 1,25 bezw. 1,09. Die anders geartete Entwicklung in Deutschland wird häufig auf Unterlassungssünden der Verwaltung, auf die nicht rechtzeitige Vornahme von Baubeschränkungen zurückgeführt. Es ist jedoch festzustellen, dass das Verharren bei Flachbau und Kleinhaus in den angelsächsischen Ländern nicht etwa durch einen von der öffentlichen Gewalt ausgeübten Zwang erreicht worden ist. Das Kleinhaus verdankt [62] seine Vorherrschaft in den englischen Städten nicht behördlichen Bestimmungen, sondern den Wohnsitten der Bevölkerung, milderen Bauvorschriften und vor allem auch einer anderen, mehr dezentralisierten Siedelungsweise, die zur Voraussetzung wieder gute Verkehrseinrichtungen und eine bestimmte Tageseinteilung hat.

Über die Vorzüge und Nachteile des deutschen städtischen Wohnungswesens im Vergleich mit dem englischen ist viel gestritten worden. Sowohl in gesundheitlicher, wie in sittlicher und auch in wirtschaftlicher und sozialpolitischer Hinsicht wurde die Mietkaserne häufig allgemein als die minderwertige Wohnform hingestellt. In wirtschaftlicher Hinsicht wurde sie angeklagt, zu einer Verteuerung der Wohnungen zu führen. „Je höher der Bau, je höher die Mieten“ (Eberstadt). In sozialpolitischer Beziehung hielt man ihr beispielsweise folgendes Sündenregister vor:[4] „Die Erschwerung der Erwerbung eines eigenen Heims, die Loslösung der Menschen vom heimatlichen Boden, die dringende Gefahr der Ausbildung der Hausherren zu Haustyrannen, die Entwicklung des Häuserbesitzes zum Spekulationsbesitz und infolgedessen einerseits eine ungesunde Entwickelung des Baugewerbes und andererseits die Tendenz zu fortgesetzter Mietsteigerung, um zu dem entsprechend höher kapitalisierten Preise verkaufen zu können, und in enger Verbindung damit die stete Gefahr der Kündigung und zahllose Umzüge mit ihren wirtschaftlichen Störungen und Schädigungen.“

Zu diesen Anklagen sei hier nur soviel bemerkt : In hygienischer und sittlicher Beziehung braucht das Wohnen im grossen Miethaus, insbesondere bei entsprechenden Bestimmungen der Bauordnung über Strassenbreite, Gebäudehöhe, Abschluss der Wohnungen, Grösse der Höfe, Abortanlagen usw. durchaus nicht ungünstigere Wirkungen nach sich zu ziehen als das im Kleinhaus. In wirtschaftlicher Hinsicht ist der Hochbau ohne Zweifel die überlegene Bauweise; aus verschiedenen exakten Berechnungen, die hierüber vorliegen,[5] ergibt sich, dass im grossen Etagenhaus die Wohnungen wesentlich billiger hergestellt werden können als im Kleinhaus. Das muss aber unter sonst gleichen Umständen dazu führen, dass der Übergang zum Hochbau die Wohnungsmieten ermässigt oder doch wenigstens ihr Steigen verlangsamt. Von den sozialpolitischen Bedenken gegen das Massenmiethaus ist richtig, dass das Kleinhaus den Hauserwerb erleichtert; unrichtig dagegen ist die Behauptung, dass das Kleinhaus die Grundstücksspekulation eindämme. Die Erfahrungen in Nordamerika lehren gerade das Gegenteil.[6] Im ganzen ist zu dem Streit über Kleinhaus und Mietkaserne zu sagen, dass jede der beiden Wohnformen ihre eigenartigen Vorzüge und Nachteile hat und dass daher keine von beiden als das absolute, unter allen Umständen zu erstrebende Ideal gelten kann. Von den Vorwürfen, die speziell in Deutschland mit Vorliebe gegen die Mietkaserne erhoben werden, fallen viele nicht dem System der Mietkaserne an sich zur Last, sondern sie beziehen sich auf Erscheinungen, die überall hervortreten, wo die grossstädtischen Menschenanhäufungen über ein gewisses Mass hinausgehen. Das erhellt schon daraus, dass ganz ähnliche Anklagen, wie sie in Deutschland dem Etagenhaus widerfahren, in England gegen das Cottagesystem erhoben werden.[7] „Die Beschaffenheit unserer englischen Städte zeigt, dass das Vorherrschen der Cottages und die Abwesenheit der Mietkasernen nicht genügt, um eine Stadt wohnlich zu machen,“ schrieb der englische Wohnungspolitiker Horsfall 1906 in der „Zeitschrift für Wohnungswesen.“ Englische und holländische Wohnungspolitiker suchen daher in ihren Ländern die Einführung des Etagenhauses nach deutschem Muster zu fördern.

In Deutschland dagegen hat die ausgesprochene Vorliebe für das Kleinhaus, die in den Kreisen der Verwaltungsbeamten, Wohnungspolitiker usw. vielfach herrscht, die Folge gehabt, dass man an vielen Orten durch Vorschriften in der Bauordnung auf eine grössere Verbreitung des Flachbaues [63] und der weiträumigen Bebauung hinzuwirken suchte, weil man auch für die grosse Masse der Bevölkerung eine, weiträumige, den ländlichen Verhältnissen sich annähernde Bauweise mit kleinen Häusern als das Ideal ansah. Während früher für die Bauordnungen nur technische und hygienische Erwägungen massgebend waren, sind infolgedessen, zumal seit den 90er Jahren, wirtschaftliche Gesichtspunkte in ihnen immer stärker hervorgetreten und haben in dem Erlass scharfer Baubeschränkungen, die über das aus hygienischen Gründen notwendige Mass oft weit hinausgehen, insbesondere teilweise eine aus hygienischen Gründen nicht zu rechtfertigende Vorliebe für die „offene“ Bauweise zeigen, ihren äusseren Eindruck gefunden. Eine der ersten Bauordnungen dieser Art war die 1891 in Frankfurt a. M. erlassene, die dann 1897 sowie 1907 noch weitere Verschärfungen erfuhr. Aber auch in zahlreichen anderen Städten ist man auf diesem Wege zum Erlass von sog. Zonenbauordnungen gekommen, welche für die einzelnen Viertel je nach ihrem besonderen Charakter eine verschiedene Intensität der Bebauung festsetzen, und manche Bundesstaaten, wie Sachsen, Baden, Württemberg, haben gleich für das ganze Staatsgebiet nach Ortsgrössenklassen abgestufte Bauordnungen erlassen.

In der Tat ist nun, wenn man in einem Lande, wo die Wohnsitten der Bevölkerung dem Übergang zum Hochbau kein Hinderniss in den Weg stellen, auch in den grossen Städten einzelnen Vierteln eine mehr landhausmässige Bebauung sichern und auch mittleren Einkommensstufen den Erwerb eines Einfamilienhauses noch ermöglichen will, hierzu der Erlass von Baubeschränkungen als das geeignete Mittel anzuerkennen. Denn sonst steigen die Bodenpreise allgemein auf eine Höhe, welche den Bau von Kleinhäusern unerschwinglich teuer macht und die Bauunternehmer zur Errichtung mehrstöckiger Gebäude zwingt. Die Politik der Baubeschränkungen hat also die Macht, die Bodenpreise künstlich niedrig zu halten. Falsch ist es aber, hieraus den Schluss zu ziehen, dass man durch Baubeschränkungen auch die Wohnungspreise allgemein verbilligen könne.[8] Die Niedrighaltung der Bodenpreise durch Beschränkung der zulässigen baulichen Ausnutzung der Grundstücke bedeutet noch nicht auch niedrige Wohnungspreise; der auf die Einheit der Wohnfläche entfallende Anteil am Bodenpreis, der hierbei doch entscheidend ist, wird vielmehr durch Baubeschränkungen leicht erhöht, und Baubeschränkungen können ferner sogar die Wirkung haben, das Bauen ganz unmöglich, d. h. unrentabel zu machen. Diese Erfahrung hat man gerade in Frankfurt a. M. mit besonders scharfen Baubeschränkungen in einigen Aussenbezirken gemacht und das hat auch dazu geführt, dass 1910 eine Revision der Frankfurter Bauordnung vorgenommen wurde, die verschiedene Erleichterungen im Vergleich zu früher gewährte. Die Erwartung, welche man früher von der Politik der Baubeschränkungen vielfach hegte, dass sie auch das Wohnen verbilligen werde, muss man daher fallen lassen, es muss im Gegenteil mit einer wohnungsverteuernden Wirkung dieser Politik gerechnet werden. Daher haben gerade auch Hygieniker von dem Standpunkt aus, dass es weniger auf die Weiträumigkeit der Bebauung als auf die Geräumigkeit des Wohnens ankommt, auf das Gefährliche dieser Politik warnend hingewiesen, so auf dem Frankfurter Wohnungskongress 1904 Neisser mit den Worten: „Seien wir vorsichtig mit den Forderungen nach jenen Baubeschränkungen, die wohl kleinere hygienische Vorteile, aber den enormen Nachteil der Wohnungsteuerung und damit die Zunahme der Belegungsdichtigkeit nach sich ziehen. Denken wir immer daran, dass nicht die Wohnung, sondern das Wohnen die Hauptsache ist.“[9]

II. Wohnungsfrage, Bodenpreise, Bodenpolitik und Bautätigkeit.

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In neuester Zeit hat die Auffassung in der Wohnungsreformbewegung immer mehr Anhänger gewonnen, dass die Wohnungsfrage hauptsächlich eine Bodenfrage sei. Das kommt ja auch in den Titeln verschiedener der Eingangs genannten Schriften zum Ausdruck. Wenn die Wohnungsfrage als eine Bodenfrage bezeichnet wird, so geschieht das in doppeltem Sinne. Einmal soll damit die Gestaltung der Bodenpreise für die Richtung verantwortlich gemacht werden, welche die Entwickelung des städtischen Wohnungswesens in Deutschland eingeschlagen hat. Zum andern aber soll damit gesagt sein, dass eine Wohnungsreform grossen Stils nur durch Einflussnahme [64] der öffentlichen Gewalt auf die Bildung der städtischen Bodenpreise erreicht werden könne. Unter der vielgeforderten grosszügigen Wohnungsreform versteht man ja vor allem auch eine allgemeine Wiederverbilligung der Wohnungen. Diese hält man aber nur durch Niedrighaltung der Bodenpreise für möglich. Denn von den drei Faktoren, durch welche die Höhe der Wohnungsmieten hauptsächlich bestimmt wird – Baukosten, Zinsfuss, Bodenpreis – wird nur von dem dritten behauptet, dass er in seiner jetzigen Höhe nicht auf einer ökonomischen Notwendigkeit beruhe, sondern aus künstlichen Einflüssen auf die Bodenpreisbildung entspringe, deren Wirksamkeit jedoch durch geeignete Massnahmen unschädlich gemacht werden könne. Ohne Zweifel hat nun die Wertsteigerung des städtischen Bodens bei dem Steigen der Mieten in den letzten Jahrzehnten eine wichtige Rolle gespielt, wenn daneben auch das gleichzeitige beträchtliche Wachsen der Baukosten nicht übersehen werden darf. Eine ganz andere Frage ist es indessen, ob die Steigerung des Bodenwertes als eine ungesunde, an sich eigentlich nicht notwendige Erscheinung zu betrachten ist.

Um das Unnatürliche dieser Erscheinung nachzuweisen, sind in der Literatur der Wohnungsreformbewegung schon eine ganze Reihe von Theorien aufgestellt worden. Neben der wohl am weitesten verbreiteten vulgären Auffassung, die einfach der Spekulation und ihren Machinationen die Schuld an dem beständigen Höhergehen der Bodenpreise in den Grossstädten zuschiebt, finden wir da Lehren, wie die, dass das deutsche System des Immobiliarkredits zu einer übertriebenen Steigerung der Bodenwerte führe, oder die von der angeblichen Monopolstellung der Baustellenbesitzer, insbesondere derjenigen am sog. schmalen Rand (v. Mangoldt, Oppenheimer), endlich die schon erwähnte von dem ungünstigen Einfluss des Hochbaues auf die Bodenpreise (Eberstadt, Fuchs). Auf die Widerlegung dieser Theorien, die ihren grösstenteils in politischen Tendenzen liegenden Ursprung nicht verleugnen können, d. h. zur besseren Begründung gewisser Reformvorschläge dienen sollen, haben A. Voigt, Ad. Weber und neuerdings W. Gemünd viel Scharfsinn und Mühe gewendet. Hier genügt es zu ihrer Kritik zu bemerken, dass sie sämtlich im Widerspruch zu dem Satz stehen, zu dem sowohl die Erfahrung des Lebens als auch die nationalökonomische Theorie hinführt, dass die Mieten nicht von den jeweils herrschenden Bodenpreisen abhängen, sondern dass der Bodenpreis umgekehrt durch die Mieten bestimmt wird. Demgemäss ist aber auch das Anwachsen der städtischen Bodenwerte mit der Zunahme der Bevölkerung als eine ganz natürliche, nicht durch besondere künstliche Einflüsse hervorgerufene Erscheinung zu betrachten.

Aus der heute so weit verbreiteten Auffassung der Wohnungsfrage als einer Bodenfrage ist auch zu erklären, dass unter den Mitteln, die der Reform der Wohnungsverhältnisse dienen sollen, gegenwärtig die kommunale Bodenpolitik stark im Vordergrunde der Erörterungen steht. Schon durch die Aufstellung von Bebauungsplänen, durch das Tempo, in dem sie den Strassenbau betreibt, sowie ferner durch ihre Eingemeindungs- und Verkehrspolitik treibt ja jede Gemeinde von Haus aus in gewissem Sinne Bodenpolitik, d. h. sie übt Einfluss auf die Grösse des Angebots von Bauland aus. Daneben wird aber neuerdings in steigendem, vielen Wohnungsreformern aber noch bei weitem nicht genügendem Umfange von den Gemeindeverwaltungen noch eine zweite Art der Bodenpolitik getrieben, die in der Überführung eines möglichst grossen Teils des Stadterweiterungsgebiets in den Besitz der Gemeinde besteht. In Preussen wurde den Gemeinden durch einen Ministerialerlass von 1900 eine solche Betätigung amtlich noch besonders empfohlen. Diese Art der kommunalen Bodenpolitik wird von zwei leitenden Gedanken getragen: einmal soll durch sie ein möglichst grosser Teil des Gewinns aus der Wertsteigerung, die der Boden bei der Umwandlung aus Ackerland in städtisches Bauland erfährt, der Gemeinde zugeführt werden, auf der andern Seite wird das Ziel verfolgt, eine Vermehrung des Angebots an guten und dabei billigen Baustellen bezw. Wohnungen zu bewirken.

Soweit die städtische Bodenpolitik das Ziel verfolgt, den Wertzuwachs des Baugeländes in möglichst grossem Umfange dem Stadtsäckel zufliessen zu lassen, begnügt sie sich damit, das Gelände, das sie möglichst frühzeitig, noch bevor die Bodenspekulation stärker einsetzen konnte, für die Stadt erworben hat, nachdem es baureif geworden ist, wieder zu veräussern, abgesehen von dem Teil, den die Gemeinde für ihre eigenen Verwaltungszwecke oder für die Anlage von Parks usw. braucht. Die Bodenpolitik, welche die grosse Mehrzahl der deutschen Grossstädte treibt, ist ganz überwiegend nur von dieser [65] Art.[10] Die Gemeinde tritt hier also an die Stelle der Bodenspekulation, sie sucht die Gewinne, welche diese sonst erzielt, in ihre Tasche zu leiten, muss dafür freilich auch das Risiko der letzteren übernehmen. Welche finanziellen Ergebnisse die Gemeinden mit dieser Bodenpolitik erzielen, das hängt naturgemäss vor allem davon ab, ob es ihnen gelingt, das Gelände im Stadterweiterungsgebiet noch zu niedrigen Preisen zu erwerben und es später vorteilhaft wieder zu verwerten. Im Hinblick auf den Umfang, in dem manche deutschen Gemeinden, wie namentlich Frankfurt a. M., Cöln u. a. in den letzten Jahren Bodenankäufe vorgenommen haben – aus solchen grösstenteils mit Anleihemitteln durchgeführten Ankäufen erwächst der Stadtgemeinde natürlich auch eine gewaltige Zinsenbelastung, – kann man Zweifel hegen, ob unsere Gemeindeverwaltungen so organisiert sind, dass sie Terrainspekulationsgeschäfte solchen Umfangs zu einem vorteilhaften Ende zu führen imstande sind. Eine boden- oder wohnungverbilligende Wirkung kann von dieser Politik, welche den städtischen Boden im allgemeinen zu den höchsten Preisen, die sich erzielen lassen, zu verkaufen sucht, natürlich nicht erwartet werden. Unter Umständen führt diese Politik sogar zu einer Verteuerung des Bodens. Denn die Stadtgemeinden sind vermöge ihrer Finanzkraft viel eher in der Lage, eine Politik der Zurückhaltung des Baulandes zu treiben als private Grundbesitzer.

Ein Teil der grossstädtischen Gemeinden hat indessen nicht nur Boden erworben, um ihn mit Nutzen wieder zu verkaufen, sondern zum Teil auch, um ihn zu besitzen und in den Dienst der Wohnungspolitik zu stellen. Besonders auf drei verschiedenen Wegen ist das bisher geschehen. Erstens nach dem Vorgange von Ulm, dessen Beispiel bisher nur allerdings nur wenig Städte gefolgt sind, mit Hilfe des Wiederkaufsrechts. Dort behält sich die Stadt an den von ihr gebauten und verkauften Häusern ein Wiederkaufsrecht vor und unterwirft die Hausbesitzer überhaupt einer Reihe von einschränkenden Bestimmungen. Zweitens in einer grösseren Zahl von Gemeinden (z. B. Leipzig, Frankfurt a. M., Strassburg) mit Hilfe des Erbbaurechts, indem städtisches Gelände an gemeinnützige Gesellschaften, Genossenschaften usw., zum Teil auch an Private, zur Errichtung von Häusern, die nach Ablauf der Erbpachtfrist an die Stadt fallen, gegen mässig bemessene Zinsen überlassen wurde. Es hat sich dabei gezeigt, dass insbesondere Privatpersonen zum Abschlusse von Erbbauverträgen für städtischen Boden wegen der Schwierigkeit der hypothekarischen Beleihung von Erbbauhäusern nur zu gewinnen sind, wenn die Stadtgemeinde auch die Beschaffung der Baugelder in weitgehendem Masse übernimmt. Als dritten Weg zur Verwertung städtischen Bodens für die Wohnungspolitik haben Freiburg i. B. und Zürich den Wohnungsbau und die Wohnungsvermietung durch die Stadt selbst eingeschlagen.

Ein endgiltiges Urteil über die Wirkungen dieser wohnungspolitischen Experimente, insbes. auch auf die wirtschaftlichen Verhältnisse der unmittelbar Beteiligten, lässt sich noch nicht abgeben. Handelt es sich doch auch beim Wiederkaufsrecht sowie beim Erbbauverhältnis, welch letzteres in der Ausgestaltung, die es in England erhalten hat, die Entwicklung der dortigen Wohnungsverhältnisse nicht gerade günstig beeinflusst hat, um ziemlich komplizierte Einrichtungen, deren Gesamtwirkung erst in späterer Zeit sich übersehen lassen wird. Ob sich diese Einrichtungen zur Durchführung in grossem Massstabe eignen, worauf es doch ankommt, und ob sie die geeigneten Mittel sind zu der soviel verlangten Wohnungsreform grossen Stils, welche die Wohnungen allgemein wieder verbilligen soll, darf aber schon heute als sehr zweifelhaft bezeichnet werden. Das wird übrigens auch von manchen Wohnungsreformern offen anerkannt. Jedenfalls haben sie auf die allgemeinen Wohnungszustände und die Wohnungspreise in den betreffenden Städten im allgemeinen einen erheblichen Einfluss, abgesehen vielleicht nur von Ulm, nicht auszuüben vermocht. Dazu ist die Zahl des in Wohnungen der fraglichen Art untergebrachten Teils der Bevölkerung regelmässig viel zu gering. Selbst in Frankfurt a. M., wo auf diesem Gebiete unter allen Grossstädten mit am meisten geschehen ist, wohnten am 31. Dez. 1910 im ganzen nur 21 021 Personen, in den 4862 von der gemeinnützigen Bautätigkeit[11] hergestellten Wohnungen; das sind nur wenig über 5% der Gesamtbevölkerung. Und ebenso belief sich in Freiburg i. B., wo der städtische Wohnungsbau und die direkte Vermietung durch die Gemeinde [66] schon seit längerer Zeit geübt wird, der Bestand an städtischen Wohnungen 1910 auf nicht ganz 1000 gleich etwa 5% der Gesamtzahl. In qualitativer Hinsicht mögen die Wohnungen in den auf städtischem Boden gebauten Häusern vielfach Vorbildliches bieten – auch in dieser Hinsicht sind aber z. B. aus Freiburg i. B. Klagen laut geworden –, in quantitativer Hinsicht hat die öffentliche und gemeinnützige Bautätigkeit bisher noch keine erhebliche Bedeutung erlangt, namentlich hat sie die Grösse des Gesamtwohnungsangebots bisher nur wenig zu beeinflussen vermocht. Es lässt sich nicht sagen, dass in den Städten, in denen die öffentliche und die gemeinnützige Bautätigkeit besonders stark sich entfaltet haben, das Wohnungsangebot etwa regelmässig reichlich gewesen und vor solchen Schwankungen bewahrt geblieben sei, wie sie andere Orte zeigen.

Man nimmt ja an, dass, wenn normale Verhältnisse auf dem Wohnungsmarkte herrschen sollen, der Vorrat an leerstehenden Wohnungen etwa 3% betragen müsse, dass dies die rechte Mitte zwischen Wohnungsmangel und Wohnungsüberfluss bedeute; die Erhebungen über leerstehende Wohnungen, welche in den meisten Grossstädten jetzt regelmässig periodisch veranstaltet werden, zeigen indessen, dass nur im Durchschnitt längerer Perioden sich tatsächlich ungefähr ein Wohnungsvorrat von dieser Höhe ergibt. Der wirkliche Zustand ist dadurch gekennzeichnet, dass in mehrjährigem Turnus Überangebot und Minderangebot von Wohnungen mit einander wechseln. In Berlin stieg beispielsweise der Wohnungsvorrat von 2,6% i. J. 1890 auf 6,85% i. J. 1895, von da ab fiel er wieder, bis er 1901 nur noch 1%, betrug. Seitdem ist er wieder ununterbrochen gestiegen und hatte 1910 5% erreicht.[12] Wegen dieser Wellenbewegungen des Wohnungsmarktes ist die private Bautätigkeit heftig angeklagt worden; sie werden als ein Beweis für ihre Unfähigkeit, die Wohnungsproduktion rechtzeitig dem Bedarf anzupassen, hingestellt. Solange indessen das gesamte Wirtschaftsleben in der modernen Volkswirtschaft den bekannten zwischen Aufschwung und Niedergang hin und her pendelnden Rhythmus der Entwicklung zeigt und so lange im Zusammenhang hiermit namentlich auch die Entwicklung der Städte zwischen Jahren des stürmischen Wachstums der Einwohnerzahl und Jahren des Bevölkerungsstillstandes oder sogar der Mehrabwanderung hin- und her schwankt, woraus eine ausserordentliche Ungleichmässigkeit des jährlichen Wohnungsbedarfs sich ergibt, wird es kaum zu erreichen sein, dass der Wohnungsmarkt von diesen Schwankungen frei bleibt. Gegenüber den Folgen welche die unveränderte Aufrechterhaltung eines Wohnungsvorrats von 3% bei jeder Lage nach sich ziehen müsste, erscheint sogar der heutige Zustand, bei dem gewöhnlich gerade bei nachlassendem Wohnungsbedarf die Bautätigkeit besonders lebhaft sich gestaltet und umgekehrt, immer noch als das kleinere wirtschaftliche Übel. Die gemeinnützige Bautätigkeit hat jedenfalls bisher nicht vermocht, hierin wirklich Wandel zu schaffen und wird ihrer Natur nach auch in Zukunft hierzu kaum imstande sein. Auch in den Kreisen der Wohnungsreformer gehen daher jetzt die Bestrebungen vielfach dahin, die Bautätigkeit allgemein, nicht bloss die gemeinnützige und baugenossenschaftliche, zu fördern und zu unterstützen, insbesondere durch Verbilligung der Kreditgewährung, wobei es sich hauptsächlich um erleichterte Beschaffung der zweiten Hypotheken handelt, ferner aber auch durch Beseitigung der Schwierigkeiten, welche manche Gemeinden durch Handhabung des sog. kommunalen Bauverbots der privaten Bautätigkeit namentlich in den Aussenbezirken in den Weg legen.[13]

III. Wohnungsordnungen und Wohnungs-Inspektion. Die künftige Entwicklung des städtischen Wohnungswesens.

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Neben der kommunalen Bodenpolitik ist in den deutschen Grossstädten noch ein zweiter Zweig der städtischen Wohnungspolitik zu grösserer Bedeutung gelangt, die sog. Wohnungspflege, die in dem Erlass von Wohnungsordnungen sowie in der Einrichtung einer Wohnungsinspektion sich äussert. Schon Ende 1906 belief sich die Zahl der in Deutschland von Staats- oder Kommunalbehörden [67] erlassenenen Vorschriften über die Beschaffenheit bezw. auch die Benutzung von Wohnungen („Wohnungs-Ordnungen“) auf mehr als 250.[14] Die ersten Verordnungen dieser Art bezogen sich meist nur auf die Wohnverhältnisse der Einlogierer, das sog. Schlafstellenwesen. Seitdem ist man aber vielfach weiter gegangen und hat auch die Wohnverhältnisse der übrigen Bevölkerung, zum mindesten die der in bestimmten Wohnungsgrössenklassen wohnenden Mietbevölkerung in die Regelung einbezogen. Als Ziel wurde dabei entweder nur die Verbesserung oder im Notfalle die Räumung ungesunder Wohnungen oder zugleich auch die Verhütung des Eintretens von Wohnungsüberfüllung verfolgt. Was in den Wohnungsordnungen zu dem letzteren Zweck gefordert wird, geht aber, abgesehen von der Trennung der Geschlechter, fast nirgends über die hygienischen Mindestmasse von 3–4 qm Bodenfläche und 10 cbm Luftraum in den Schlafzimmern für die erwachsene Person hinaus.

Praktische Bedeutung erlangen die Vorschriften über die Beschaffenheit und die Benutzung der Wohnungen erst durch die gleichzeitige Einführung einer Wohnungsaufsicht. Regelmässig gehen daher der Erlass von Wohnungsordnungen und die Einrichtung einer Wohnungs-Inspektion Hand in Hand. Die Städte, welche Einlogierer- oder Wohnungsordnungen aufstellten, haben gewöhnlich auch einen Wohnungsaufsichtsdienst eingeführt, wenn auch in verschiedenem Umfange. Ebenso ist in denjenigen Bundesstaaten, welche den Gemeinden von bestimmter Grösse den Erlass von Wohnungsordnungen vorgeschrieben haben, meist zugleich die Einführung einer Wohnungsaufsicht angeordnet worden. In Deutschland haben zuerst Hessen 1893 bezw. 1902 sowie Hamburg 1898 die Wohnungsinspektion für das gesamte Staatsgebiet obligatorisch gemacht. In Sachsen hat das allgemeine Baugesetz von 1900 die Einführung der Wohnungsinspektion in den grösseren Gemeinden veranlasst, in Württemberg besteht sie seit 1901 obligatorisch für alle Gemeinden über 10 000 Einwohner, in Bayern müssen seit dem gleichen Jahre in allen grösseren Orten Wohnungskommissionen gebildet werden. Um eine Zentralisation der Wohnungsinspektion herbeizuführen, hat Hessen 1902 die Stelle eines Landeswohnungsinspektors geschaffen; Bayern ist 1906 diesem Vorgehen durch Einrichtung einer Zentralwohnungsinspektion gefolgt. In Preussen fehlen staatliche Einrichtungen und Vorschriften auf diesem Gebiete noch, doch sieht der Anfang 1913 veröffentlichte preussische Wohnungsgesetzentwurf den obligatorischen Erlass der Wohnungsordnungen und die Einführung einer Wohnungsaufsicht für Gemeinden mit mehr als 10 000 Einwohnern vor.[15]

Durch die Massnahmen der Wohnungspflege sowie durch das von der gemeinnützigen und öffentlichen Bautätigkeit Geleistete sind sicherlich die Wohnungszustände an vielen Orten in günstigem Sinne beeinflusst worden. Es würde indessen viel zu weit gehen, wenn man annehmen wollte, dass die allgemeine Besserung der Wohnungsverhältnisse, die sich in den deutschen Grossstädten im letzten Menschenalter offenbar vollzogen hat und die vor allem in dem Rückgang der auf ein Zimmer durchschnittlich entfallenden Bewohnerzahl zum Ausdruck kommt, – die Wohndichte kann ja trotz zunehmender Besiedlungsdichte abnehmen –, allein oder auch nur hauptsächlich auf die Eingriffe der öffentlichen Gewalt zurückzuführen sei. Die Wohnungspflege vermag wohl zu verhindern, dass einzelne Familien hinter dem von der Gesamtbevölkerung erreichten Durchschnittsniveau des Wohnens zurückbleiben, dieses Niveau aber aus eigener Kraft immer weiter zu heben, ist sie nicht imstande. Dazu sind stärkere Kräfte nötig. Diese können nur aus dem allgemeinen Aufsteigen der Einkommensverhältnisse und der Lebenshaltung in der Bevölkerung entspringen. Und in der Tat hat ja die wirtschaftliche Entwickelung in den letzten Jahrzehnten ein ungemein rasches Steigen der Löhne bewirkt. In diesem allgemeinen Aufrücken der Bevölkerung aus den unteren in die mittleren Einkommensstufen ist die Hauptursache für die Besserung der Wohnungsverhältnisse zu erblicken, die sich in der letzten Zeit vollzogen hat, und ebenso ist auf das weitere Anhalten dieser Aufwärtsbewegung hauptsächlich die Hoffnung zu gründen, dass auch in Zukunft auf eine weitere Hebung der Wohnungszustände gerechnet werden darf. Die Tatsache, [68] dass dabei vielfach der Anteil des Wohnungsaufwandes an den Gesamtausgaben steigt, – nach der amtlichen Erhebung von Wirtschaftsrechnungen minderbemittelter Familien im deutschen Reiche betrug der Wohnungsaufwand

in der Einkommensstufe       bei Arbeiterfamilien       bei Beamten- und Lehrerfamilien
von 1200–1600 Mk. 16,8% 20,5%
von 1600–2000 Mk. 17,7% 18,5%
von 2000–2500 Mk. 17,0% 18,9%
von 2500–3000 Mk. 15,5% 19,4%
von 3000–4000 Mk. 13,9% 19,3%

– diese Erscheinung des relativen Wachsens des Anteils der Miete am Einkommen darf nicht, wie das häufig geschieht, ohne, weiteres als eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der Mieter gedeutet werden. Für die Beurteilung der Lage der letzteren kommt es weniger darauf an, wie sich der Anteil der Miete am Einkommen entwickelt, sondern vielmehr hauptsächlich darauf, wieviel der Mieter nach Deckung des Mietsaufwandes zur Bestreitung seiner sonstigen Bedürfnisse noch übrig behält. In dieser Beziehung kann aber kein Zweifel bestehen, dass der Arbeiter in der Grossstadt, selbst wenn er da einen höheren Bruchteil seines Einkommens für Miete aufwenden muss als in kleineren Orten, sich trotzdem in der Regel ökonomisch besser stehen wird, weil er eben nach Abzug der Miete im ganzen mehr übrig behält als früher. Bei den wachsenden Mietausgaben ist ferner zu berücksichtigen, dass sie häufig durch eine bessere Befriedigung des Wohnbedürfnisses entstehen, indem dem höheren Mietanfwand auch eine grössere oder wenigstens eine besser ausgestattete Wohnung entspricht. Auch bei den Kleinwohnungen sind in letzter Zeit die Ansprüche an die Wohnung sehr erheblich gestiegen.[16]

Das Wachsen des Volkswohlstandes, das allgemeine Vorrücken der Bevölkerung auf den Einkommenstufen genügt indessen noch nicht, um eine durchgreifende Besserung der Wohnungsverhältnisse zu erzielen. Es gehört dazu auch Zunahme des Verständnisses für den grossen Wert einer gesunden Wohnweise, es muss die Neigung weiter Volkskreise schwinden, gerade an der Wohnung zu sparen. Wenn die Wohnungszustände sich heben sollen, daun müssen nicht nur die Wohnungen besser werden, sondern auch die breite Masse der Bevölkerung muss anders denken lernen. Insbesondere die von vielen Seiten erstrebte, stärkere Dezentralisation der Städte, die allein imstande ist, den Grossstadtmenschen wieder der freien Natur näher zu bringen und ihn aus der Unruhe und dem Lärm der Grossstadt heranszuführen, wird sich nur erreichen lassen durch das Vordringen einer anderen Denkweise bei den Grossstadtbewohnern, die sie andere Ansprüche an ihre Wohnung stellen lässt als heute. Die Gemeindeverwaltungen können durch eine grosszügige Eingemeindungspolitik, durch Schaffung guter Verkehrsverbindungen, durch ihre Strassenbau- und Bodenpolitik etc. wohl bessere Vorbedingungen hierfür schaffen, die Bewegung selbst aber muss aus der Initiative der Grossstadtbevölkerung entstehen, indem sich diese viel mehr als bisher geneigt zeigt, an die Peripherie der grossstädtischen Siedlungskreise zu ziehen.[17]





  1. S. z. B. die Angaben in meiner „Wohnungsfrage“, Bd. 11, S. 28 ff.
  2. Vgl. hierzu das charakteristische Zugeständnis von Eberstadt im „Handbuch der Hygiene“. 4. Supplementband, S. 343, sowie die Äusserungen von Gemünd (Bodenfrage und Bodenpolitik, S. 280/81), Obwohl beide Autoren sonst auf ganz entgegengesetztem Standpunkt stehen, kommen sie hier doch zum gleichen Resultat.
  3. Der IX. Internationale Wohnungskongress fand 1910 in Wien statt, der erste allg. deutsche 1904 in Frankfurt a. M., der zweite Pfingsten 1911 in Leipzig.
  4. Adickes im Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Artikel „Stadterweiterungen“, 3. Aufl., Bd. 7, S. 783.
  5. Siehe z. B. die Angaben bei Freudenberg, Wohnungsfrage und Bauordnung, Karlsruhe 1908, S. 21/22.
  6. Vgl. hierzu den Aufsatz von W. M. Schultz in den Preussischen Jahrbüchern, 131. Bd., S. 223ff.
  7. Das zeigt z. B. in sehr drastischer Weise die Gegenüberstellung der Äusserungen deutscher und englischer Wohnungspolitiker, die A. Voigt in der „Zeitschrift für Sozialwissenschaft“, Neue Folge, 1. Jahrg. (1910) S. 397ff. vorgenommen hat.
  8. Vgl. hierzu namentlich A. Voigt, Wie um die Bauordnung gekämpft wird. Berlin 1909.
  9. Kongressbericht S. 382/3.
  10. Über die Beteiligung der Grossstadtgemeinden an den Grundstücksumsätzen in ihren Gebieten s. die Angaben in dem „Statistischen Jahrbuch deutscher Städte“, insbes. im 15. Jahrg.
  11. Nach dem Jahresbericht des „Sozialen Museums“ in Frankfurt a. M. für 1910.
  12. Weitere Zahlen siehe in meiner Wohnungsfrage Bd. I, S. 107ff.
  13. Über die Schwankungen der Wohnungsnachfrage und der Wohnungsproduktion vgl. insbesondere meine Wohnungsfrage, Bd. 1, S. 102ff. Vgl. auch Joh. Feig und Wilhelm Mewes, Unsere Wohnungsproduktion und ihre Regelung, Göttingen 1911. – Über die Bedeutung des kommunalen Bauverbots vergl. Piutti Bredt, Das kommunale Bauverbot, Marburg 1909.
  14. W. v. Kalkstein, Die im Deutschen Reiche erlassenen Vorschriften über Benutzung und über Beschaffenheit der Wohnungen. Bremen 1907.
  15. Über die Organisation der Wohnungsinspektion, ihre Revisionstätigkeit und ihre Erfolge vgl. meine Wohnungsfrage Bd. II, S. 35ff.
  16. Vgl. z. B. die in der Zeitschrift für Sozialwissenschaft, N. F. 1. Jahrg. S. 52 hierzu mitgeteilten Äusserungen aus Berlin.
  17. Treffend auseinandergesetzt bei W. Gemünd, Die Grundlagen zur Besserung der städtischen Wohnungsverhältnisse, Berlin 1913. Diese Schrift bietet eine eingehende Untersuchung über die Voraussetzungen einer Dezentralisation der Städte und ihre Durchführbarkeit in Deutschland.