Die Zeitmaschine (1887)

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Autor: XXX
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Titel: Die Zeitmaschine
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aus: Morgenpost Nr. 307 vom 28.11.1887, S. 1–2
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Erscheinungsdatum: 1887
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Erscheinungsort: Wien
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Quelle: Österreichische Nationalbibliothek / ANNO und Commons
Kurzbeschreibung: Science-Fiction-Kurzgeschichte
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Die Zeitmaschine.

Die wenigsten Leser vermuthlich wissen, was eine Zeitmaschine ist. Es ist dies umso verzeihlicher, als diese Maschine erst vor Kurzem von mir selbst erfunden worden ist; unverzeihlich aber wäre es, nachdem sie nun einmal besteht, ihr den gebührenden Rang nicht zuerkennen zu wollen. Die Maschine hat, wie schon der Name andeutet, den Zweck, Zeit zu erzeugen, oder, deutlicher gesprochen, unbenützte Zeit in benützte zu verwandeln. Etwas Wichtigeres kann es gar nicht geben. Nicht unrichtig wäre auch der Name: Maschine zur Lösung der socialen Frage; aber man ist gegen Mittel zur Lösung dieser Frage schon so mißtrauisch geworden, daß die erstangeführte Bezeichnung mir nicht nur bescheidener, sondern eben deswegen auch wirkungsvoller schien, und die neue Erfindung daher getrost unter dem Namen „Zeitmaschine“ ihren Triumphzug antreten mag.

Die Zeitmaschine wird in keinem gebildeten Hause fehlen dürfen; sie wird unbemerkbar oder, wenn bemerkbar, in liebenswürdigster Form auftreten und sich überall Freunde erwerben. Sie wird so leicht wie möglich zu handhaben sein, oder gar sich selbst handhaben; sie wird ein non plus ultra von Vollkommenheit sein. Denken wir uns eine Dame a, die auf dem Clavier b spielt, um ihre Zeit c zu tödten. Diese Dame a ist, so lange sie am b sitzt, ein vollständig überflüssiges, ja vielleicht schädliches Geschöpf; denn durch das Getöse, mit welchem sie ihre Zeit c vernichtet, verdirbt sie möglicherweise auch die Zeit d irgend eines fleißigen Herrn, der nebenan über eine Arbeit gebeugt ist, und der Verlust der Allgemeinheit beträgt daher c + d. Dank der Zeitmaschine wird dieser Verlust bedeutend [1-2] herabgemindert werden. Jede der Tasten wird, indem sie aufschlägt, mit einer ganz eigenthümlichen Vorrichtung, die wir am besten x nennen, in Verbindung gerathen und in Folge davon wird diese Vorrichtung die kleine Kraft, die von der Dame a aufgewendet worden ist, in Elektricität verwandeln. Die Elektricität wird durch einen Draht in die Centralanstalt geführt, die Zeit c daher, in Kraft verwandelt, dahin übertragen, während die Zeit d dadurch wenigstens theilweise gerettet ist, daß der betreffende Herr das Bewußtsein hat, es handle sich keineswegs mehr um einen leeren, in Luft verhallenden Lärm. Denn die Erfahrung lehrt, daß Lärm solcher Art der störendste ist, weil er nicht nur die Gehörsnerven, sondern auch die die Urtheilskraft ausübenden Nerven irritirt. Die Zeit c aber ist nicht mehr getödtet, sondern wirklich nur vertrieben, und zwar in die Centralanstalt, während bisher der Ausdruck „vertrieben" immer nur ein uneigentlicher war. Ein zweites Beispiel: Denken wir uns eine Dame a, die mit einer Handarbeit beschäftigt ist, nicht etwa mit der Ausbesserung von Hemden für ihren Mann, oder mit der Anfertigung von Jäckchen für arme Kinder, sondern mit einer sogenannten feinen Arbeit, die somit ihre Zeit c mit Nadelstichen tödtet. Wie im vorigen Falle, so geht auch in diesem die Zeit d eines Unschuldigen, wenn auch oft in geringerem Maße verloren; es ist die Zeit ihres Gatten, der durch die Spendung eines Lesezeichens, einer gestickten Mappe u. s w. in zeitraubenden Aerger versetzt ist, oder die Zeit einer Freundin, welche mit einer Decke, einem Polster oder dergleichen beschenkt worden ist und die nun genöthigt ist, mit Gleichem zu vergelten. Auch hier aber wird die Zeitmaschine für die nutzbringende Verwerthung der Zeit c + d eine äußerst ersprießliche Thätigkeit entfalten können; Nadel und Canevas sind aus einem Stoffe x hergestellt, daher so beschaffen, daß bei jeder Berührung die aufgewendete Kraft auf elektrischem Wege in die Centralstation übertragen, die Arbeit, welche a leistet, also wirklich nutzbar [1-3] gemacht wird. Aehnlich wird es beim Romanlesen zugehen; so oft umgeblättert wird, setzt sich das wunderbare x in Function und sendet Kraft in das große Sammelbecken. Etwas weniger einfach gestaltet sich allerdings die Sache, wenn es sich nicht um eine, wenn auch noch so geringe Thätigkeit mit einem bestimmten Objecte handelt, wenn ein Clavier, ein Canevas, ein Buch, wenn mathematisch ausgedrückt, ein b nicht vorhanden ist. Auf einem jour fixe z. B. erfolgt die Vernichtung der Zeit ohne Zuhilfenahme von Instrumenten, lediglich durch eifriges Bewegen des Mundes, durch Zuhören, durch Beneiden fremder Toiletten, durch Stolz auf die eigene, durch Bevorzugung oder auffällige Zurücksetzung anwesender Herren, welche ihrerseits wieder gleichfalls nur durch Lächeln, sowie durch Erzeugung von Complimenten, Scherzen ober beziehungsvollen Bemerkungen, durch Mittheilung von Theater-Ereignissen u. s. w. ihre Aufgabe zu erfüllen suchen. Hier also kann nützliche Kraft nicht als Nebenproduct der unnützen Thätigkeit abfallen, sondern muß eigens erzeugt werden. Daher wird eine Reihe von Nippsachen aufgestellt, in denen allen kleine x enthalten sind, und die daher zwischen den spielenden Fingern der Gäste eine gewisse Summe von Kraft empfangen, die sie weiter geben; dadurch ist bei aller Nützlichkeit der Schein der Nutzlosigkeit gewahrt und daher den Herrschaften das Vergnügen nicht verdorben. Solche Gäste aber, die nur dem gesellschaftlichen Zwange folgend, ihre Zeit dem jour fixe zur Verfügung stellen, die also nur mit Bedauern den Verlust derselben empfinden, finden im Salon eine eigens angebrachte Kurbel, durch deren fortwährende energische Bewegung sie Kraft in größerem Maße erzeugen. Diese letztere Art von Einrichtung der Zeitmaschine empfiehlt sich auch für Wartezimmer von Ministern, vielbeschäftigten Aerzten und namentlich von Armenvätern.

Aber alle diese Leistungen der Zeitmaschine sind nur harmloses Kinderspiel gegen den Wirkungskreis, der sich ihr in den Soiréen unserer „guten Gesellschaft" eröffnet. Noch bis vor wenigen Jahren waren unsere „Salons" [2-1] nichts als der Mittelpunkt der nutzlosesten Zeitvergeudung, — und was noch schlimmer — geradezu Pflegestätten der geistigen Unduldsamkeit. Ein förmliches Fegefeuer von stillschweigenden, aber darum nicht minder anspruchsvollen Bedingungen mußte passirt werden, um in die Salons des Herrn v. Y. oder der Frau v. Z. gelangen zu können.

Was sollte man für das Bischen Austern, Poulard, Crême, Chablis, Bordeaux und Champagner nicht Alles sein? Amusant, geistreich, gebildet, ein liebenswürdiger Causeur, ein schlagfertiger Redner, ein bewunderter Schriftsteller, ein gefeierter Künstler, oder zum Mindesten ein unverstandener Gelehrter.

Wie ist das nun Alles besser geworden, seitdem uns die praktischen Yankees die Wissenschaft von der Kunst des edlen Pockerspieles über den weiten Ocean herübergesandt haben! Wer in die Geheimnisse dieser heiligen Kunst eingeweiht ist — und wer wäre es nicht? man braucht ja dazu weder geistreich noch gebildet, weder vornehm, noch berühmt zu sein — dem öffnen sich die Zauberpforten unserer Salons ganz von selbst, ohne jede Ceremonie. „Man stammelt", wie mein scharf kritisirender Freund, ebenso boshaft wie zutreffend bemerkt, „nur die nothwendigen Begrüßungsformeln und eilt dann schleunigst an den Pockertisch". Und mein kritischer Freund muß es wissen, denn er selbst ist einer der Ersten und Letzten beim Pockertische. Ach! so ein Pockertisch ist das Vollkommenste, was der rastlose Erfindungsgeist der Gegenwart zur Verhütung von unnützer Zeitverschwendung geleistet. Eine runde, selbstverständlich mit dem unvermeidlichen grünen Spieltuche überspannte Tischplatte; bei jedem Sitze der Leuchter angeschraubt, und neben diesem in einer Vertiefung das Metallschüsselchen zur Aufnahme der Spielmarken. Nicht eine Secunde Zeit- und Kraftverlust durch das Herbeischleppen von Kerzen, Lampen und Geldtassen, Noten oder Münzen gibt es hier; das Abzählen oder gar das Umwechseln des Geldes während des Spieles wäre ja die [2-2] unverantwortlichste Zeitvergeudung, man zahlt nur mit den bereitliegenden Marken. Erst im Morgengrauen, wenn alle Theilnehmer ohnehin so erschöpft sind, daß sie nicht mehr Kraft genug zur Fortsetzung des Spieles besitzen, erfolgt die Abrechnung.

Und nun das Spiel selbst! Wie elegant, wie gebildet, wie muskelkräftigend! Leute, deren Dialect sonst an alles mögliche Fremdartige, nur nicht an die Sprache der stolzen Britten erinnert, sprechen hier das unverfälschteste Englisch. Man hört nichts als „Full hand“ und „Royal flush“. Nur damit die geliebte Muttersprache nicht ganz zu kurz komme, wird ungefähr von fünf zu fünf Minuten unter den Spielenden ein Streit angezettelt, der dann im kräftigsten und urwüchsigsten Deutsch geführt wird. Und dabei sind die Hände der Spieler ununterbrochen in Thätigkeit. Es ist ein ewiges Mischen, Geben und Nehmen der Karten, Ab- und Zuwerfen der Marken, Greifen in die eigene und fremde Casse, Zahlen und sich Bezahltmachen, ein krampfhaftes Aufeinanderdrücken der erhaltenen Kartenblätter und ein ebenso krampfhaftes ruckweises Abziehen, um die Spannung — nicht der Elektricität, sondern des Spiel-Instincts — künstlich zu steigern.

Nicht umsonst, mein wißbegieriger Leser, habe ich mir diese weitläufige Abschweifung erlaubt, nicht ohne berechtigten Grund Dir die geistreichen Pocker-Spielgesellschaften so eingehend geschildert. Du wirst Dir jetzt eine Vorstellung davon machen können, wie viel Pferdekräfte in Wien brach liegen und welch großartige Verwendung sie finden können. Denke Dir alle diese Pockerspieler in den Dienst unserer Zeitmaschine gestellt, denke Dir jede ihrer Millionen von Bewegungen während des Spieles zur Erzeugung und Speisung eines elektrischen Stromes benützt, und Du wirst einen annähernden Begriff davon erhalten, welche gewaltigen Resultate mit der Zeitmaschine in Wien allein zu erzielen wären. Jeder Pocker-Tisch eine Dynamomaschine, jeder „schöngeistige Salon" eine kleine Centralstation! Denn Männlein und Weiblein, Jung und Alt, alles spielt [2-3] jetzt Pocker in den Wiener Salons. Gäbe es aber dennoch irgendwo einen Tagedieb und eine Tagediebin, die sich in pflichtvergessener Zeitvernichtung vom Spiele ferne halten, um in einer stillen Ecke miteinander geistreich zu thun, dann verbinde man die Beiden durch einen Transmissions-Riemen mit dem Central-Spieltische damit sie wenigstens im Wege der Kraftübertragung der Elektro-Technik tributär gemacht werden. Welch ein Triumph der Wissenschaft!

Der freundliche Leser, die schöne Leserin brauchen nur einen Augenblick Umschau zu halten über ihre Erfahrungen, um zu erkennen, welche ungeheure Summe von Kraft in der Centralstation einer großen Stadt sich ansammeln muß. Selbstverständlich wird sie zu wohlthätigen Zwecken verwendet werden. Intelligente Personen werden mit Leichtigkeit Hunderte von Bestimmungen ausfindig machen, denen man aus diesem Reservoir von bisher unbenützter Zeit milde Gaben zuführen könnte. Es ist zu hoffen, daß diese schöne Aussicht den Erfolg des großen Planes sichern werde, und zahlreiche Zustimmungen aus dem engeren Bekanntenkreise liegen schon heute vor. Freilich gab es auch tadelnde Urtheile. So meinte ein dünner, junger Herr, er sehe nicht ein, warum er sich nicht vollständig ausruhen solle, da sein Vermögen vom Großpapa ohnehin mit so viel Mühe erworben worden, und eine dicke Dame, die sehr gefühlvoll ist, erklärte, sie könnte es nicht ertragen, beim Lesen, Sticken, Clavier- ober Pockerspiel immer an Unglück und Elend erinnert zu werden. Eine Andere aber sagte: „Ach, wenn Sie wüßten, wie viel man zu thun hat, wenn man will; mit den Kindern, mit seiner eigenen Vervollkommnung, mit Anhörung dieser oder jener Bitte, mit Nachdenken, wie sich dem oder jenem helfen ließe — ich versichere Sie,“ fügte sie hinzu, „ich fände nur wenig an Ihre Maschine abzuliefern, und das Bißchen sollten Sie mir selbst vergönnen.“ Dieser Dame bestätige ich hiemit öffentlich, daß für sie meine Maschine nicht erfunden ist.

XXX.