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Ein Doppelstern am Kunsthimmel

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Titel: Ein Doppelstern am Kunsthimmel
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aus: Die Gartenlaube, Heft 27, S. 424–427
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Robert Schumann und Clara Schumann
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Ein Doppelstern am Kunsthimmel.


Motto: „Als ich zuerst Dich hab’ geseh’n –“

Eine „musikalische „Gesellschaft, im vollsten Sinne des Worts, versammelte sich an einem Decemberabend 1828 im Hause des Professors der Medicin, Dr. Carus, zu Leipzig. Der Kreis der Eingeladenen war diesmal größer als gewöhnlich und das sonst so heitere Quartett von jungen Musikern und Studenten schien in Folge dessen ein wenig verstimmt zu sein und hatte sich in einen Winkel neben dem Clavier zurückgezogen, die steigende Fluth der eintretenden Gäste mit besorgten Blicken beobachtend. Die beiden nicht sehr großen Zimmer waren schon mit Damen und Herren gefüllt. Alle Musiknotabilitäten waren diesmal vertreten, als gälte es eine hochwichtige Prüfung abzuhalten. Da sah man unter Andern den alten verdienstvollen Concertmeister der Gewandhausconcerte und Stifter mehrerer Gesangvereine, den gelehrten Matthäi, den gesuchten Gesanglehrer August Pohlenz, den jungen Componisten Marschner, den Cantor Weinlig, den Cello-Virtuosen Carl Voigt, den berühmten Kanzelredner, Musiker und Kritiker Gottfried Wilhelm Fink, so wie den liebenswürdigen Hofrath Rochlitz, Herausgeber der Leipziger musikalischen Zeitung. Unter den Frauen erregten die größte Aufmerksamkeit die ausgezeichnete Sängerin Henriette Weiße, geborene Schicht, und die hübsche, zum Besuch bei ihr anwesende Pianistin Perthaler aus Graz. Viele reizende junge Mädchen flatterten wie bunte Falter hin und her; es war ein Gewirr schöner Gestalten, ein Schwirren fröhlicher Stimmen, ein anmuthiges Lachen und Flüstern, das unwillkürlich an einen Frühlingstag erinnerte, mit hellem Himmel, goldenem Sonnenschein, Blätterrauschen und Vogelgezwitscher.

Die freundliche Wirthin, eine zarte Blondine, machte die Honneurs mit vollendeter Grazie, aber ihre sanften blauen Augen richteten sich doch oft, inmitten der Begrüßungen, Fragen und Antworten, mit dem Ausdruck gespannter Erwartung nach der Thür.

„Sie haben heut’ etwas Besonderes vor, wer’s doch wüßte,“ murmelte Einer der Studenten; „bist Du wirklich nicht eingeweiht, Schumann?“

Der Angeredete, der vor dem geöffneten Clavier Platz genommen, schüttelte den Kopf.

„So frage doch einmal!“ nahm ein Anderer das Wort, „mir wird ganz unheimlich, ich habe keine Lust mehr mitzuthun.“

„Nun ich denke, Ihr könnt Alle besser reden als ich; habt Ihr mich doch oft genug ausgelacht, weil ich die Worte schlecht zu setzen weiß!“ antwortete Robert Schumann und legte träumerisch die Hände auf die Tasten.

„Aber Du kannst in Tönen sagen, was Du willst,“ fiel der junge Täglichsbeck ein, „und Jeder versteht, was es heißen soll. Hast Du doch neulich uns Alle auf dem Clavier so deutlich abconterfeit, daß Jeder auf der Stelle wußte, wer gemeint war. Und dann den Professor K., den spielst Du ja ganz genau, man sieht ordentlich wie der geht, und den Professor H., den maltest Du auch, daß wir Alle sterben wollten vor Lachen; so thu’ doch jetzt einmal eine Frage an Frau Agnes. Das kann Dir doch unmöglich so sauer werden?“

In eben diesem Augenblick trat die jugendliche Wirthin zu der Gruppe der jungen Leute. Sie wurde von ihnen Allen schwärmerisch verehrt. In ihrem gastfreien Hause versammelte sich mehrmals in der Woche ein kleiner Kreis musikalischer Menschen, der mit dem lebhaftesten Vergnügen den Quartetts oder Trios der Studenten lauschte. Julius Knorr oder Robert Schumann übernahmen die Clavierpartie, Täglichsbeck die Violine, Glock das Cello und Sörgel fungirte als Bratschist. Da ging es denn immer heiter zu. Die Kritik war zwar im Grunde eine strenge, aber schöne Augen und lächelnde Lippen übten sie aus, und so trug sie nur dazu bei, den Eifer zu erhöhen und eine noch strengere Selbstkritik hervorzurufen. Schumann verkehrte noch öfter mit der Professorin Carus, als alle Andern; er begleitete den Gesang der anmuthigen Frau. Sie kannte den jungen Schwärmer bereits vor ihrer Verheirathung, als sie seine Vaterstadt Zwickau besuchte und ihre Stimme ihn zu den ersten Liedercompositionen begeisterte. Augenblicklich studirte sie mit ihm meist Schubert’sche Lieder, die er ihr zuerst voll Entzücken brachte und die eben anfingen sich Geltung zu verschaffen. Es war in dem Carus’schen Hause, wo man in Leipzig zuerst den „Erlkönig“, „am Meer“ und das „Ständchen“ singen hörte. Und heute besonders wollte Frau Agnes [425] Schubert’sche Lieder singen, zum Andenken an den genialen Meister der vor wenig Tagen erst zur ewigen Ruhe eingegangen; sie hatte das wunderbare: „am Tage aller Seelen“ und „der Wanderer“ gewählt. Als sie sich eben ihren jugendlichen Verehrern näherte, hob Schumann langsam den Kopf und sah zu ihr auf. Leise glitten die Hände über die Tasten. Es war eine zögernde, träumerische Melodie, die da auftauchte; die junge Frau neigte sich lauschend zu ihm herab, die langen blonden Locken fielen ihr über die Wangen. Voll schüchterner Grazie und zugleich kecken Humors war die kurze Weise, die jetzt plötzlich mit einem harpeggirenden Accord schloß.

„Was will man von mir wissen?“ lächelte Frau Agnes schalkhaft; „das war ja ein ordentliches Fragezeichen! Heraus mit der Sprache!“

„Er ist wirklich ein Hexenmeister, sie hat’s begriffen,“ murmelte Sörgel; „das macht ihm doch Keiner nach! Man möchte sich beinah vor ihm fürchten.“

„Beruhigen Sie alle Neugierigen,“ fuhr die liebenswürdige Wirthin fort, „ich habe heut’ eine Ueberraschung für meine Freunde und hoffe, man wird dankbar sein und sich an dem Wunder freuen, das sich enthüllen soll. Robert Schumann ist ja, so viel ich weiß, ein echter Wundergläubiger; ich denke, er wird diesmal voll Andacht die Kniee beugen. Ach, da ist es schon!“

Leichten Schritts eilte sie einem kleinen weißgekleideten Mädchen entgegen, das in Begleitung eines Mannes eben eintrat. Voll mütterlicher Zärtlichkeit schloß sie das Kind in ihre Arme und bewillkommnete mit der ihr eigenen, herzgewinnenden Freundlichkeit den Vater, den sie gleich darauf ihren Gästen als den Musiklehrer Wieck vorstellte. Robert Schumann blickte voll lebhaftesten Interesses zu dem Manne hin, dessen Geist, Tüchtigkeit und Energie man ihm so vielfach gerühmt. Wie gern hätte er sich ihm vorstellen lassen, wie gern mit ihm geredet! aber da waren Andere, die den neuen Gast in’s Gespräch zogen, der junge Student mußte warten. Er gehörte zudem zu den Schüchternen und Niemand war wohl schwerfälliger, wenn es sich um eine neue Bekanntschaft handelte, als eben er. Ein Besuch bei Fremden schien für ihn eine Qual und die Einleitungen, um ihn zu bewegen sich in einer Familie einführen zu lassen, glichen den feinsten diplomatischen Winkelzügen und währten oft Monate lang. So hatte Robert Schumann schon seit seiner Ankunft in Leipzig den sehnlichsten Wunsch, Friedrich Wieck kennen zu lernen, aber er wagte seinen Freunden gegenüber nicht von diesem Verlangen zu reden, aus Furcht, daß sie ihn, wie er scherzend zu sagen pflegte, „binden und packen“ und mit List oder Gewalt in das Haus des Musikers schleppen würden.

An jenem Abend verfolgte er den Unerwarteten und Interessanten auch nur mit seinen träumerischen Augen, ohne den geringsten Versuch zu machen, sich ihm zu nähern. Man musicirte außergewöhnlich viel. Außer einem Quartett in E moll für Pianoforte und Streichinstrumente, von der Composition Robert Schumann’s, spielte er selbst mit seinem Freunde Knorr brillante Variationen zu vier Händen über ein Thema des Prinzen Louis Ferdinand. Henriette Weiße mit ihrer mächtigen Stimme sang Händel’sche und Gluck’sche Arien, die hübsche fremde Pianistin trug die C moll-Sonate von Beethoven vor und Frau Agnes Schubert’sche Lieder. Sie bezauberte heute mehr denn jemals Aller Herzen. Es war eine Stimme von seltener Lieblichkeit, ein Vortrag voll Seele und Poesie. Mitten in dem Sturm des Entzückens, der ihrem Gesange folgte, fiel der Blick ihres Begleiters auf ein süßes Kindergesicht, das dicht vor ihm auftauchte. Große blaue Augen schauten mit dem Ausdruck innigster Begeisterung zur Sängerin empor. Getroffen von dieser naiven Bewunderung ließ Robert Schumann unwillkürlich seine Hand über den dunkeln Scheitel des Kindes gehen und fragte: „Bist Du auch musikalisch, Kleine?“ Das Mädchen wendete sich langsam zu ihm; ein schalkhaftes Lächeln zuckte um ihren Mund, aber sie gab keine Antwort, denn in demselben Augenblick berührte die Hand ihres Vaters die zarte Schulter, und die Kleine wurde von ihm zu einer entfernten Gruppe entführt.

„Nun und das verheißene Wunder? Wo bleibt es?“ fragte Robert Schumann eine halbe Stunde später mit einem etwas mißmuthigen Zucken der Lippen.

„Dort offenbart sich’s, gieb nur Acht,“ antwortete sein Studiengenosse, der liebenswürdige Götte, und deutete auf das Clavier.

Da saß denn vor den Tasten ein kleines Mädchen, ein blasses Kind mit dunkeln Haaren, unbefangen und doch so bescheiden, und neben ihr stand Friedrich Wieck. Und plötzlich schlugen die zierlichen Händchen mit wunderbarer Kraft und Sicherheit die ersten Tacte der F moll-Sonate Beethoven’s an. War sie „musikalisch“, die kleine Clara Wieck?

„Was denken Sie von ihr, Schumann?“ fragte Agnes Carus mit strahlenden Augen, als die hochgehenden Wellen des Beifalls, der dem genialen Spiel des Kindes folgte, sich etwas gelegt. „Habe ich zu viel prophezeit? Habe ich Euch nicht ein Wunder gezeigt? Ist sie nicht eine kleine Fee?“

„Sie sah genau aus wie der Schutzengel, der daheim in meiner Mutter Stübchen hängt,“ antwortete er hastig und aufgeregt. „Aber wer lehrte sie so spielen? Was waren wir Andern neben ihr? Und was wird noch aus ihr werden? Ich will Clavierstunde nehmen bei Friedrich Wieck! Aber Sie müssen ein gutes Wort einlegen für mich! Gleich jetzt! O bitte, schlagen Sie mir’s nicht ab, lassen Sie uns zur Stelle mit ihm reden!“

Und Robert Schumann, der Leipziger Student, wurde für die Zeit seiner juristischen Studien der eifrigste Schüler des berühmtesten Musiklehrers der Stadt. Die kleine Clara aber trat wenige Tage nach jenem denkwürdigen Abend zum ersten Mal öffentlich in dem Concert der Pianistin Perthaler auf, begleitet und getragen von dem Jubel eines begeisterten Auditoriums. –

Es war fast vier Jahre später. Robert Schumann kehrte zum zweiten Mal nach Leipzig zurück, sein Leben hatte eine andere Wendung genommen, eine Wendung die ihn beglückte; nach manchem Kampf und Zweifel war die Entscheidung da: er wurde Musiker. Das Zeugniß Friedrich Wieck’s führte sie schneller herbei, als der junge Mann zu hoffen gewagt. Voll dankbarer Freude schloß er sich nun um so wärmer an diesen seinen ersten Lehrer an und studirte und übte mit einem Eifer, der seine Freunde oft um seine Gesundheit besorgt machte. Unablässig bemühte er sich zunächst eine gewisse Fingerfertigkeit zu erlangen und stellte, da die Resultate seines Fleißes ihn nicht befriedigten, endlich ganz im Geheimen[1] die gewagtesten gymnastischen Uebungen an, um seinen Fingern die ersehnte Gelenkigkeit zu verschaffen. Man erzählte von ihm, daß er sogar wunderliche Marterinstrumente erfunden, in welche er, bei verschlossenen Thüren, seine Hände einschraube. Aber anstatt das erwünschte Ziel zu erreichen, fühlte der junge Musiker vielmehr zu seinem Schrecken, daß eine lähmende Schwäche allmählich seine rechte Hand beschlich und besonders der mittlere Finger völlig unbrauchbar wurde. Die Uebungen mußten nun ruhen. Der Arzt verbot jede anstrengende Bewegung der kranken Hand. Welch’ ein Kummer! Eine Sängerin, die das Schwinden ihres kostbarsten Kleinods, ihrer Stimme, gewahrt, konnte sich nicht mehr betrüben und ängstigen. Man wollte doch den wunderbaren Chopin spielen, dessen Compositionen eben wie leuchtende Sterne auf dem dunkeln Grunde eines Nachthimmels heraufzogen. Und dazu lahme Hände!

An einem warmen Sommermorgen geschah es mitten auf dem Leipziger Marktplatz, daß Robert Schumann, eine Notenrolle unter dem Arm, in Sturmschritt an seinem Lehrer Friedrich Wieck vorbeirannte, ohne ihn zu sehen.

„Wohin so eilig?“ Und ein langer Arm streckte sich wie ein Schlagbaum aus.

Der Angeredete blieb stehen. „Um Verzeihung, ich komme soeben von Breitkopf und Härtel und habe mir ein neues Opus von Chopin geholt. Hier Masurken op. 17, ein Walzer op. 18, und eine Polonaise. Ich habe sie alle gelesen und möchte vor Verzweiflung weinen oder – in’s Wasser gehen.“

„Warum?“

„Daß ich sie nicht geschrieben habe und – daß ich sie nicht spielen kann.“

„Borgen Sie sich ein paar Hände, oder lassen Sie sich die Sachen von irgend Jemand anders spielen! Geben Sie mir die Noten mit und kommen Sie ein Stündchen zu uns, heute Abend; die Clara mag ein Stück davon versuchen.“

Mit einem Seufzer legte der junge Musiker die Notenrolle in die Hände Wieck’s. „Ich komme gern,“ sagte er leise, „aber was sollen die kleinen Finger der Clara mit dieser wilden Musik? Ich kann noch nicht fertig werden mit ihr – es ist, als ob ich in einem Walde mich verirrte bei Nachtzeit, wo Irrlichter tanzen! [426] Ich fürchte mich vor ihr. Und ein zartes, furchtsames Mädchen! Nun, Punkt sieben bin ich bei Ihnen.“

„Gut! Die Clara fürchtet sich, hoffe ich, nicht. Bis heut’ Abend also. Bringen Sie den Schunke mit und den Ortlepp.“

Die beiden Männer trennten sich und verfolgten ihre Wege, Friedrich Wieck in den Noten blätternd, Robert Schumann in tiefes Sinnen verloren, die Stirn gesenkt. So kam es denn, daß er sich endlich, statt vor seiner Wohnung in Riedel’s Garten, am entgegengesetzten Ende der Stadt unter den grünen Bäumen des Schwanenteichs wiederfand.

Was hatte ihn denn so gefangen genommen in Sinn und Gedanken? Waren es melodische Träumereien, eine Fata Morgana künftiger Schöpfungen? War es der Dämon Chopin, dessen seltsame, phantastische Weisen ihn Tag und Nacht verfolgten, oder ein feines Köpfchen, umgeben von einem Kranz dunkler Flechten, das ihn allezeit an jenen Schutzengel daheim erinnerte? Wer weiß es? –

Wie anders und viel reicher hatte sich Schumann’s Leben gestaltet seit jenem ersten Aufenthalt des jungen Studenten in Leipzig! Eine Genossenschaft geistvoller Menschen hatte sich zusammengefunden, die mit gleicher Hingabe ein gleiches Ziel verfolgten. Namen wie Kupsch, Dorn, Banck, Bennet, Schunke glänzten unter ihnen. Geist und Talent, eine halbe Welt auszustatten, war oft in dem kleinen Musikzimmer in Riedel’s Garten versammelt. Robert Schumann selbst war aber bei solchen Gelegenheiten der Stillste unter Allen. Ernst und verschlossen von Natur, zeigte er sich meist schweigsam, forderte nie zu einem Wettkampf heraus, blieb aber doch allezeit Sieger, wenn es dazu kam. Der Klarheit seines Urtheils unterwarfen sich alle seine Freunde, und sein warmes Herz, seine wohlthuende Begeisterung, das Ueberwallen seiner Empfindung und die edle Offenheit seines Wesens versöhnten selbst gar bald diejenigen, denen seine strenge Kritik weh gethan. Und doch war dieser scharfe Kritiker, dieser denkende Kopf zugleich der glühendste Jean Paul-Schwärmer, der in der damaligen Zeit sogar, wie seine Freunde berichten und seine Briefe beweisen, in Stil und Redeweise sich mühte, sein Vorbild nachzuahmen. Wie oft fand ihn die frühe Morgenstunde noch über seinem geliebten Titan oder Hesperus, und wie manches Mal weckte er seinen damaligen Stubengenossen, um ihm mit pathetischer Stimme in höchster Erregung eine oder die andere Lieblingsstelle aus diesen Büchern vorzutragen! Auch Eichendorff entzückte ihn, und wie manches von dessen Gedichten, das später mit Schumann’scher Melodie die Welt durchzog, wurde um Mitternacht im stillen Kämmerlein vor irgend einem Freunde voll Begeisterung declamirt! Sein Gefühl für Schönheit in der Poesie, sowohl in Form wie in Ausdruck, war unendlich fein; die einfachste Strophe, die einen Andern kaum berührte, konnte ihn zu Thränen bringen. Tief ergriff ihn jenes schauerliche: „Dämmrung will die Flügel spreiten“, und das unendlich melancholische: „Aus der Heimath hinter den Blitzen roth“ ging ihm mit dem Bilde der „Waldeinsamkeit“ Tage lang nicht aus dem Sinn, als er es zuerst gelesen. –

Der Abend, an dem andere Hände den Chopin spielen sollten, war gekommen. In dem freundlichen Musikzimmer Friedrich Wieck’s hatte sich die Familie mit ihren Gästen schon versammelt, als Robert Schumann mit seinen Freunden eintrat. Die Wieck’schen Knaben hingen sich jubelnd an ihren Liebling. Nur Fink und Rochlitz waren noch da und die liebenswürdige Henriette Vogt, die junge Gattin eines kunstsinnigen Kaufmanns, in dessen Hause Schumann vor wenigen Tagen eingeführt worden war. Man begrüßte einander herzlich und bald war das lebhafteste Gespräch im Gange, ein Gespräch, das eben in dieser Zeit so oft und stets mit gleichem Eifer aufgenommen wurde: man stritt hin und wieder über Chopin.

Die jungen Musiker fühlten sich ohne Ausnahme mächtig angezogen von jener feinen, wunderbaren Natur, zu dieser düstern Harmonienfülle, die wie ein Zaubernetz sich über jede Seele warf. Allein selbst der vielbewunderte Pianist Schunke erklärte, nur mit einer gewissen Scheu an das Studium Chopin’s sich zu wagen. „Es sind gebahnte Wege, die uns Mozart und Beethoven, Haydn und Bach führen,“ äußerte er einmal; „da wandelt man in Palmenhainen und Zaubergärten, wohin aber führt uns die schlanke, blasse Hand jenes Polen? In einen endlosen Wald voll Mondschein, in dem wir uns nicht zurechtfinden, wo seltsame Stimmen

‚auf und nieder wandern‘

und allerlei Geisterspuk auftaucht.“

Unter all’ diesen Reden ging still und leise die feine Gestalt eines kaum der Kindheit entwachsenen Mädchens hin und wieder zwischen den Gästen. Ein oberflächlicher Beschauer konnte so leicht dies blasse Gesichtchen, dies schüchterne Wesen übersehen. Es war in der ganzen Erscheinung der Außenwelt gegenüber etwas von jener Schüchternheit der Mimosa, die sich bei der geringsten unsanften Berührung in sich selbst zurückzieht. Das zarte Wesen erweckte leicht den Gedanken, daß die Alltagswelt kein Boden für diese „weiße Blume“. Und doch war dies Kind bereits der Gegenstand der Aufmerksamkeit eines großen Kreises.

Von dem wunderbaren Talent Clara’s, das sich unter der energischen Leitung ihres Vaters so mächtig entwickelte, war ganz Leipzig erfüllt; von ihrem Fleiß und Eifer sprach man mit Bewunderung. Aber nur wenige Augen sahen sie daheim in ihrem Hause; dort war sie zunächst die zärtlichste Schwester, die gehorsamste Tochter. Den Künstlern und Freunden ihres Vaters gegenüber, die als Gäste sein Haus besuchten, trat sie mit der liebenswürdigsten Bescheidenheit auf. Stumm und lauschend mit glühenden Wangen und strahlenden Augen saß sie meist an der Seite ihrer Mutter in dem Kreise der ältern und jüngern Musiker, und dann und wann sagte ein liebliches Lächeln beredter als Worte:

„Ich höre gern, wenn kluge Männer reden,
Daß ich begreifen kann, wie sie es meinen.“

Heute lauschte sie achtsamer denn je, als sie Alle nach und nach wieder in’s Feuer kamen und hin- und herstritten und fragten. „O, meine kranke Hand!“ rief jetzt Robert Schumann schmerzlich. „Warum kann ich heut’ die Polonaise nicht spielen! Wer will mir seine gesunden Finger leihen? Ich würde es ihm danken mein Leben lang.“

Da sagte eine liebliche Stimme ganz laut und deutlich: „Ich!“ Und Clara stand auf, trat zu ihrem Vater, legte leise die Hand auf seine Schulter und fragte erröthend: „Papa, erlaubst Du, daß ich sie spiele? Ich glaube, ich kann es wagen! Und die kleinen Masurken auch.“

„Du hast es selber zu verantworten,“ entgegnete Wieck, „ich war nicht zu Hause, als Du sie übtest. Versuche es, mein Kind, wenn Du glaubst, es wagen zu dürfen, und wenn Schumann mit Deinen zehn Fingern zufrieden ist.“ Sie schlug die Augen zu ihm auf. Er nickte. Ein Lächeln flog über ihr Gesicht. –

Wenige Minuten später saß Clara vor ihrem geliebten Flügel und spielte Chopin.

Und willenlos traten Alle in den Zauberkreis dieser Musik und dieses Spiels, wie im Traum folgten sie der Elfengestalt, die jetzt vor ihren Augen in den verzauberten Wald huschte. Da waren die wild verschlungenen, mondbeglänzten Pfade, aber wohin führten sie? Weiter und weiter, an hüpfenden, blitzenden Irrlichtern vorbei bis zum Schloß am tiefen See. Die erleuchteten Fenster spiegelten sich in den stillen Wellen. Ein Garten voll Rosen und fremden Blumen zog sich rings umher. Auf der breiten Terrasse standen blüthenschwere Orangenbäume, in sanften Wellen strömten die Düfte daher. Wunderschöne Frauen in prächtigen Gewändern, die dunklen Locken mit Perlen durchflochten oder funkelnde Kronen von edlen Steinen über den Stirnen, wandelten im irren Licht des Mondes langsam auf und nieder, neben ihnen stolze Männergestalten in fremder, glänzender Tracht. Leises Flüstern ging herüber und hinüber, heißes Athmen, Blicke voll Gluth, zitternder Druck verschlungener Hände. Drinnen, im Riesensaal, tanzte man. Es waren wilde Tänze, Melodien, die das Blut rascher durch die Adern trieben; klirrend schlugen die Sporen gegeneinander. Und so hinreißend die Gestalten, so entzückend die Verschlingungen und Gruppen, – es war doch etwas Schauerliches in dieser Lust, etwas Dämonisches in dieser Freude: Es rasselte wie Schwerter dazwischen, es klang wie ein Aufschrei verzweifelter Liebe, es tönte wie – „Leichenjubel und Hochzeitsklänge“. Und wilder und wilder wirbelten sie durcheinander die Männer und Frauen im Tanz, glühender wurden die Umschlingungen, flammender die Blicke; die da draußen gewandelt, standen jetzt an den Thüren und schauten bleich und traurig hinein in den Wirbel der tollen Lust, bis die Kerzen plötzlich erloschen, die Musik mit einem schrillen Wehlaut abbrach und Alles aus war. Das Mondlicht fluthete durch verödete Räume, die Tänzer und Tänzerinnen waren [427] verschwunden, nur im Garten huschte es noch geheimnißvoll und schattenhaft auf und nieder, die Wellen des Sees zitterten und das Rauschen des Schilfs starb hin wie leise Seufzer.

„Das war Chopin,“ sagte ruhig Friedrich Wieck und die zarte Gestalt des Mädchens erhob sich vom Clavier. Aber das Kindergesicht war bleich geworden, ein fremder Ernst lag auf der Stirn und die Augen schimmerten feucht. Keiner sprach, so hatte das Spiel Clara’s Alle ergriffen und überwältigt. Die Mutter nur streckte unwillkürlich die Hand aus, um die Tochter an sich zu ziehen. Da, im Vorüberstreifen, sank der Blick des Mädchens in zwei Augen, die mit fast anbetender Bewunderung zu ihm aufschauten. Einen Moment zögerte sie, helle Gluth färbte die zarten Wangen. Dies Begegnen der Augen an diesem Abend war das erste Glied jener goldenen, unlösbaren Kette, die zwei Seelen für Zeit und Ewigkeit miteinander verbinden sollte! Robert Schumann verlor seit jener Stunde das junge Mädchen, das ihm die Hände „geliehen“, wie er scherzend sagte, nie wieder aus seinem Herzen.

Noch viel wurde an jenem Abend debattirt und musicirt, aber Clara spielte nicht mehr. Sie saß bei den Geschwistern und ließ sich den kranken Finger des jungen Musikers zeigen, band vorsichtig und geschickt die Bandage fester und gab nach Frauenart allerlei kluge Lehren in Betreff des „Patienten“, lächelte und scherzte auch dazwischen, während er gedankenvoll auf die kleine barmherzige Schwester herabsah und auf die fesselnde Linie des Profils und das reiche, dunkle Haar. Und wieder erinnerte er sich bei diesem Anblick des Schutzengels in dem Stübchen der Mutter. Später, nach dem bescheidenen Abendbrod, baten die Knaben ihren Freund verstohlen noch um eine „lange Geschichte“ und zogen ihn allmählich in eine Fensterecke, während die Andern plauderten. Da erzählte er ihnen denn auch, wie es seine Weise, jene echten, köstlichen Märchen, die mit den magischen Worten anfangen: „Es war einmal“ und mit dem süßen Troste endigen: „Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch“. Als er aber begonnen, erhob sich ein allerliebster Jemand und schlich unvermerkt näher und legte die Hand auf die Lehne des Stuhls, ohne daß der Erzähler es gewahrte, und vergaß alle gelehrten Gespräche der Andern über das Logier’sche System, Chopin’sche Vorhalte und Bach’sche Fugen, um mit Seele und Augen zuzuhören, wie sich die „sieben Raben“ wieder in sieben Ritter verwandelten, um ihr vielgetreues „Schwesterlein“ zu retten.

Viele Jahre waren vergangen, seitdem Robert Schumann zuerst Clara Wieck Chopin spielen hörte – wie Vieles hatte sich gewandelt und verändert! Aus dem hin- und herflatternden Schwärmer war ein Musiker geworden, auf den sich die Augen der Menge staunend richteten, um den sich eine Schaar begeisterter Anhänger sammelte. Eine Reihe glänzender Werke gab Zeugniß von dem hohen Flug des Genius, von der reichen Phantasie und der echt deutschen Gemüthstiefe und Innigkeit ihres Schöpfers. Nach einem vielbewegten Leben, nach einem Aufenthalt in Leipzig, Dresden und Petersburg war er in Düsseldorf gelandet. Aber nicht allein: der lebendig gewordene Schutzengel war bei ihm. Das knospenhafte Kind hatte sich in eine Frau und Mutter blühender Kinder verwandelt. Die Vereinigung Schumann’s mit seiner Clara hatte schwere Kämpfe gekostet, heißes, standhaftes Ringen. Manches sorgenvolle Jahr war dahingegangen, ehe das herrliche Brautlied gesungen werden durfte:

mit seinem jubelvollen Refrain:

„Sie ist Deine, sie ist Dein!“

und das zärtliche, süße:

„Da hab’ ich denn so lange geküßt,
Bis Du mein Weib geworden bist.“

Um so glückseliger war endlich das Beieinandersein. Wie ein banger Traum lag die Zeit der Trennung hinter ihnen, sie gehörten einander für alle Ewigkeiten. –

Robert Schumann dirigirte seine „Pilgerfahrt der Rose“ im Düsseldorfer Concertsaale. Das dichtgedrängte Publicum lauschte der anmuthigen Dichtung, den reizenden Melodien mit gespanntester Aufmerksamkeit. Rosenfrische Mädchengesichter schmückten die Reihen des Chors. Im Sopran stand Clara Schumann. Ich glaube, daß ich den ganzen Abend sie fast keinen Moment aus den Augen ließ. Sie sang mit und sah dabei ihren Gatten an. Aber welch’ ein Blick! Echte, süße Frauensorge und Liebe ohne Ende. Sie folgte all’ seinen Bewegungen, sie tactirte leise, sie achtete auf den Alt und setzte mit ihm ein, sie hörte auf den Tenor, sie markirte den Eintritt der Bässe, sie horchte mit Spannung auf das Orchester, und dann wieder und wieder kehrten die tiefen, warmen Augen zu ihm zurück mit jenem Blick, den Keiner je vergessen wird, der ihn gesehen. Das Gesicht des Dirigenten blieb unbeweglich, nur bei einer oder der andern Lieblingsstelle hob er langsam die Augenlider, um den Augen seiner Gefährtin zu begegnen.

Später, als Alles vorüber war, sah ich ihn erschöpft in einem Sessel sitzen, und da stand sie neben ihm, wie einst vor vielen, vielen Jahren, als er Märchen erzählte, und die schlanke Hand lag auf der Lehne. Sie flüsterte ihm einige Worte zu, die ein sonniges Lächeln über seine Züge gleiten ließen. Dann nickte sie mit dem Ausdruck reizender, süßer Mütterlichkeit ihren kleinen Töchtern zu, die nicht weit vom Orchester saßen.

Im zweiten Theil jenes Concerts spielte sie Compositionen ihres Mannes – unter andern vierhändig mit einer ihrer jungen Schülerinnen, Nannette Falk – das bezaubernde: „Am Springbrunnen“, das lebhaftes Entzücken hervorrief, später Mendelssohn’sche Lieder ohne Worte und eine Chopin’sche Mazurka.

Robert Schumann saß in einem Winkel in der ihm eigenen Stellung, das Kinn in die Hand gelegt, die Lippen freundlich zugespitzt wie immer, wenn er so recht innerlich froh und befriedigt war, ihr gegenüber, und mitten unter dem Jubel der Hörer neigte sie den Kopf zur Seite, und suchte seine Augen und ganz leise nickte er und gab das „Zeichen“, nicht der Beifall der Menge, war ihr Lohn, das verrieth der Ausdruck ihres Gesichts.

Es war etwas tief Ergreifendes in der stillen Art, wie sie ihn umsorgte, wie sie Theil nahm an seinem geistigen und leiblichen Sein vor unser Aller Augen; wie sie aber für und mit ihm lebte in ihrem Daheim, noch unendlich rührender, das wissen ihre vielen Freunde. Sie hat ihm auch nicht nur damals an jenem Chopin-Abend im Scherze ihre Hände geliehen, sondern so recht eigentlich seinen genialen Claviercompositionen die erste Bahn gebrochen; sie hat sich auch gemüht, ihm jeden Stein aus den oft unebenen Pfaden seiner Künstlerlaufbahn zu räumen, den ihre Kraft hinwegzurücken vermochte, sie versuchte unermüdlich, den Rosen, die ihm auf seinem Wege erblühten, alle Dornen zu nehmen.

Ihr unbewußt stellte sich aus dem herrlichsten Liedercyclus Schumann’s: „Frauenliebe und Leben“, ihr eigenes Dasein zusammen von jenem zauberischen:

„Seit ich ihn gesehen“,

bis zu dem erschütternden:

„Nun hast Du mir den ersten Schmerz gethan.“

Es kann erst einer späteren Zeit vorbehalten sein, eine umfassende und erschöpfende Biographie von Robert und Clara Schumann zu bringen, aber was auch Ruhmvolles über ihn und seine Schöpfungen niedergeschrieben werden mag, die Capitel ihres wunderbar harmonischen Frauenlebens können dermaleinst in Bezug auf jene vollendete und seltene Künstlerehe doch nur das Motto tragen:

„Ich will ihm dienen, ihm leben,
Ihm angehören ganz –
Hingeben mich ihm und finden verklärt mich
In seinem Glanz.“




  1. Siehe Joseph von Wasielewsky, Biographie Robert Schumann’s.