Erlkönig und Waldvöglein

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Heinrich Beta
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Erlkönig und Waldvöglein
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 27, S. 362–364
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[362]
Erlkönig und Waldvöglein.
Von Beta in London.

Eine deutsche Frau in London vernahm neulich plötzlich aus dem ihr unverständlichen, unaufhörlichen Straßengeschrei der Ausrufer, Musikanten und Bettelsänger die heimathlichen Töne: „Wir winden Dir den Jungfernkranz von veilchenblauer Sei–ide“. Das Heimweh rieselte ihr heiß über die Nerven und warme Tropfen quollen ihr aus den Augen, so schlecht und falsch die arme Singbettlerin aus Thüringen auch den Carl Maria v. Weber verherrlichte und ihre aus Holzspähnen geschlitzten kleinen Besen dabei wie einen Taktstock gesticulirte und feil bot. Es kam hier auch gar nicht auf Richtigkeit und Virtuosität an: die zum Betteln herabgewürdigte, abgedroschene deutsche Melodie reicht hin, die Musik eines ganzen vergangenen Lebens auf deutschem Boden und dessen „Häuslichkeit, Familienglück und Bürgerwohl“, die Jugendgespielinnen darauf, verwandte liebe Gestalten und freundliche Gesichter, erstes Lieben und Leiden, die Stelle, wo ihr Vater starb, wo ihre und ihrer Geschwister Wiege stand – den tausendfachen Herzensinhalt des heimathlichen Lebens in der Erinnerung der Ausgewanderten zu beleben und mit einem Male alle ihre Nervensaiten in wehmüthig-melodische Schwingungen zu versetzen.

Was wir in uns selbst haben und von Außen angeregt, Schätze des Genusses in uns selbst producirt, ist auch in der Kunst die Hauptsache, so daß auch schlechte Musikanten in uns gut zu spielen vermögen. Wurde doch auch unlängst ein deutscher Wanderer über die Wüsten und Prairien, die sich zwischen der Ost- und Westseite Nordamerika’s strecken, auf das Tiefste gerührt und erfreut, als er eine deutsche Melodie in einen Indianerstamm hineinsingend, plötzlich von dem Häuptlinge desselben in Wiederholung der letzten Reime unterstützt ward, wenn auch rauh und heiser. Ein Deutscher war Indianer-Häuptling geworden. Und überall auf der Erde bemerkt man Deutsche, wenn nicht schon als Häupter, so doch auf dem Wege, Fürsten und Führer einer neuen Weltcultur zu werden. Die nationalen Engländer schimpfen fürchterlich auf den „Germanismus“, unter dessen Regierung sie stehen, und die alten Nationalrussen unterliegen in allen Sphären des Staates und des Lebens den Deutschen. Unlängst wurde Dr. Grüner aus Baiern zum „Generalissimus“ von Staats- und gelehrten Sachen Egyptens in Cairo erhoben, und Perser und Araber, Kopten und Türken, Abyssinier und Gesandte von Darfur drängen sich in seinem Vorzimmer, und er redet mit Jedem in dessen Sprache, Abends aber singt er mit seinen schönen egyptischen Damen deutsche Lieder.[1])

Die Musik ist die unmittelbarste Kunst. In ihr tritt denn auch die germanische Kulturmission für alle Welt am Ersten und Augenscheinlichsten hervor. In Amerika und England sind deutsche Gesangs-Vereine und Musikgesellschaften bereits die herrschenden Vorsänger und Kantoren aller musikalischen Leute. England, das am Nächsten liegt, giebt und hört nur noch deutsche Kompositionen, Sänger und Sängerinnen.

Der neueste Schritt in dieser Entwickelung ist eben während dieser Junitage geschehen. Früher sangen die Engländer nicht und liebten den Gesang so wenig, daß selbst Vögel in Käfigen nur gehalten wurden, insofern sie stumm waren. Jetzt singen Kanarienvögel u. s. w. mit einer Armee deutscher Straßenmusikanten (darunter schwarzgebeizte Negersänger und gymnastische Künstler aus verschiedenen deutschen Vaterländern hier zusammengelaufen) jeden Tag um die Wette. Deutsche Musikanten entschieden den Sieg der verbotenen Sonntagsmusik direct, aber noch mehr durch ihr vorhergegangenes, langjähriges Wirken vom Bettler an bis zu Formes und Fräulein Cruvelli. Deutsche hatten musikalischen Sinn in England erzogen. Wie hätte sonst die noch vor 10 Jahren nationalverhaßte Sonntagsmusik sich zum Siege durchsetzen können? In diesem Prozesse liegt mehr Geschichte, als in der geredeten Maculatur des Parlaments und Palmerston’s, womit die Zeitungen ihre Leser alle Tage auf’s Neue dumm machen.

[363] Daß in London am 7ten und 14ten Juni die beiden ersten deutschen Concerte als solche von Deutschen gegeben und in beiden speciell deutsche Kompositionen mit deutschem Text als die eigentlichen Triumphe gerade allein stürmisch da capo verlangt wurden, diese Thatsache setzt auf englischem Boden eine sehr lange, tiefe und gründliche Vorschule und Entwickelung deutschen Wesens voraus und giebt den beiden musikalischen Festen die Bedeutung einer gewonnenen Kulturschlacht. Nach der unmittelbarsten Kunst der Musik kommen die substantielleren der „gefrornen Musik“ oder Architektur, der man schon einzelne und Reihen von Tempeln in neuen Stadttheilen errichtet, der Sculptur, Malerei und Poesie, für welche Pioniere und Priester aus deutschen Landen schon längst in England und Amerika vorgearbeitet haben.

Wir beabsichtigen keine musikalische Kritik über die beiden Concerte, sondern suchen nur, was darin germanisch Bedeutsames aufklang und triumphirend wirkte, in Wort und Schrift festzuhalten.

Am 7. Juni versammelten sich Englischvormittags 2½ Uhr in dem schönen Saale am St. James Park, Willis’ Rooms, unter der Patronage des Prinzen Eduard von Sachsen-Weimar um Herrn Moritz Nabich von der weimarischen Kapelle und seine mitwirkenden Freunde, die Herren Ries, Schachner, Hausmann, Werner, Pollitzer, Vogel, Pickeart und Rockitansky, so wie die gefeierten Damen Mad. und Madm. Rudersdorff zwischen einem Meere von blumigen Damenhüten und lockigen Gesichtern, darunter eine Menge verschollener und nur noch in trüber Erinnerung Deutschlands lebender Größen und Kleinigkeiten. Es war als sähe man einen Tag Deutschlands aus einem Jahre 40 wieder auferstanden. Hier tauchte aus einem Damenhutflore das feiste, gutmüthige Gesicht Freiligrath’s hervor. Nicht weit davon versteckte sich die Physiognomie des kleinen, eitel lächelnden Johannes Ronge, der sich immer noch für einen Johannes hält, obgleich sich Niemand so leicht von ihm taufen läßt (und dann ist der Getaufte auch noch lange kein Heiland). Als Contrast ragt dort riesig mit schimmelig gewordenem Barte der auf hohen Schultern sitzende Kopf Gottfried Kinkel’s. Wer ist das nicht weit links von ihm? „Corvin,“ heißt es, der ehemalige Commandant von Rastatt, der nur aus Zufall nicht erschossen ward. Der kleine Mann mit farbigem Bart und dem dünnen Gesichte dort war eine Größe in der berliner Nationalversammlung, der dicke, farmerartige Blonde nicht weit davon – in der Paulskirche. Dort ehemalige Helden der berliner, hier der wiener und anderer Pressen – alle verstreut und in den verschiedensten Berufsarbeiten und Missionen mit dem sie umdrängenden England verbunden – unter englischen Herren und Damen sitzend, deren weißgepuderte Diener draußen vor der Thür mit weißseidnen, wattirten Strümpfen in der Sonne glänzten.

Wir schildern das Concert nicht, nicht Spohr’s herrliches Quartett, nicht des Männerbasses Grundgewalt von Rockitansky, auch nicht die Virtuosenmeisterstücke des Concertgebers M. Nabich, der Madame Rudersdorff, selbst nicht Hausmann’s rührenden Gesang auf dem Violoncello. Nur das Bedeutende, Bleibende dieser rasch vorüberfließenden deutschen Töne versuchen wir festzuhalten, wie es das Publikum durch leidenschaftliche Dacapo’s versuchte. Ist es nicht bedeutend und eine große, schöne Lehre für alle Künstler, ein Sieg des deutschen Genius über das in eigner Brust treulose, disharmonische England, daß in beiden deutschen Concerten die einfachsten und nur die einfachen, deutschen Lieder zweimal verlangt wurden, zurückgerufen mit einer Begeisterung, einer Leidenschaft, wie nur irgend Jemand zum Augenblicke sagen kann: „Verweile doch, du bist so schön!“

O dieses „Waldvöglein“ von Lachner, gesungen von Madame Rudersdorff und von M. Nabich mit seiner berühmten Tenor-Posaune begleitet, war ein Ereigniß in der englischen Kunst- und Geschmacksgeschichte. „Das Vöglein hat ein schönes Loos!“ Die Sängerin bewies es durch die warmen, süßen Töne ihrer Stimme, der Concertgeber bewies es noch tiefgreifender, malerischer durch die zartesten, einfachsten, gezogenen Hauche auf seinem mysteriösen Instrumente, das vorher so erschütternd schmetterte und die Todten zum Weltgerichte erwecken zu wollen schien. Die Sängerin und der Instrumentalist, Beide wetteiferten, durch Zartheit, Naivetät und Einfachheit des Tones das schöne Loos des Waldvöglein in jedem Zuhörer gleichsam einheimisch zu machen: jetzt die aufjauchzende Freude seiner liederreichen Brust, dann den klagenden einsamen Liebesschmerz seines kleinen Herzens, die süße Erhörung im perlenden Thau des Maimorgens und sein Jubeln im vollen Chor aller Mitsänger des Waldes, seine mütterliche, unermüdliche Sorgfalt um ein piependes Nest voller Gelbschnäbel, noch mehr das schöne Loos, daß er von Deutschen componirt, gesungen und gespielt als Gesandter und Missionär eines an Schönheit und Poesie so weltreichen Volkes sich den ganzen, vollgedrängten Saal eines auserwählten Publikums in einem andern Lande unterwarf und gewiß mit einem einzigen Schlage Tausende von zarten Fingerchen und Kehlen bekehrte. Ich wette darauf, daß seitdem die Hälfte der anwesenden Damen mit Leidenschaft dieses deutsche Waldvöglein singen. Freilich diese nabich’sche Begleitung ist nur einmal möglich, nur aus diesem Instrumente, als dem Sprachrohre eines vollendeten Künstlers und edel, frisch und tieffühlenden Menschen. Solche Töne mit solcher Farbe, von solcher Innigkeit und Wärme werden dem bloßen Virtuosen, dem ausgebildetsten Techniker nie zugänglich. Dazu gehört der Lieder- und Schönheitsquell eines vollen, kräftigen, tieffühlenden Herzens.

Noch drastischer war der Sieg des deutschen Liedes und der deutschen Kunst in dem Concerte der Gebrüder Ganz aus Berlin in Hanover Square Rooms. Die beiden königlichen Concertmeister sind als Violin- und Violoncell-Virtuosen dem musikalischen Publikum in Deutschland zur Genüge bekannt, denn dafür giebt’s in Berlin seit einem halben Jahrhundert den Rellstab, ohne welchen kein musikalischer Künstler berühmt werden konnte, dafür giebt’s in Berlin fast eben so viele Musikkritiker, als Musiker. So vollendet die Gebrüder Ganz in ihrer Technik sind, als Missionäre der deutschen Poesie- und Kunstschätze im Auslande sind sie eben zu virtuosisch und kalt. Was wirken und erobern will auf diesem Gebiete, muß aus dem Urquell schöpfen und ein Herz dazu mitbringen. Als Totalität war aber das Concert mit Mlle. Rudersdorff, Clara Novello, Jenny Baur, Viardot Garcia und den Herren Formes, Reichardt und Benedict ein siegreich deutsches vor einem Publikum, das 40 namentlich auf den Zetteln genannte „Protektoren“ und Patroninnen aus den englischen Herzog- und Grafenständen und demnach die höchste Elite in sich schloß. Und solch’ eine concentrirte Virtuosität! Ich hörte Alles ruhig mit an, ohne etwas Anderes dabei zu fühlen, als gelegentliche Verwunderung, daß die Sängerin oder der Instrumentalist nicht den Hals dabei breche. Das Publikum klatscht dann auch in der Regel aus Freude, daß der Künstler glücklich durchkam, ohne den Hals und die. Beine zu brechen. Ich nehme nur Herrn Reichardt aus, der wirklich als ein Künstler sang, „dem Gesang gegeben“, Madame Rudersdorff und das kosmopolitische Genie Viardot Garcia. Es ward in allen Sprachen gesungen und Alles gebührend mit Beifall belohnt. Als aber die auf allen Bühnen und in allen Sprachen und Gesängen der Völker einheimische Garcia mit dem Goethe-Schubert’schen Erlkönig laut wurde, legte sich athemloses Schweigen des andächtigsten Hörens, über die ganze, glänzende Versammlung. Noch nie vernahm ich die Schönheit und konsonantische Malerei unserer geliebten deutschen Sprache so klar, so vollaustönend in jeden, einzelnen Laute und Mitlauter jedes einzelnen Wortes, als aus diesem berühmten, genialen Sängerinmunde. Und dieses dramatische Feuer des Ausdruckes. Der ängstliche Knabe, der rationell-beschwichtigende Vater, die verführerischen Lockungen des Erlkönigs und seiner Tochter – dieser Spuk nächtlichen Grausens in der Liederphantasie, sich plötzlich steigernd zur tödtlichen Gewalt in der, von keiner Reflexion und Naturwissenschaft bewaffneten Einbildungskraft des Kindes – das Alles trat deutlich und scharf in Ton, Ausdruck und Gestikulation hervor. Vor mir erhob sich das klassische Deutschland, das idealisirte Deutschland mit seinen unerschöpflichen Schätzen an Liedern und Tönen und klassischen Schöpfungen für alle Welt und alle Zeiten. Deutschland ohne Bayonnette und Polizei, ohne Ketten und Kerker, das schöne Deutschland mit seiner, mit meiner Muttersprache vor mir tönend und klingend. Ein heißes Heimweh zog mich aus England mit seinen verquetschten Tönen und kalten Gesichtern mit ganzem Herzen an den Busen dieses Landes meiner Muttersprache, mit einem ehemaligen Weimar, mit dem ewigen Dichter des Erlkönigs, mit so vielen unsterblichen Sängern und Priestern des Schönen, nach Deutschland, wo auch mir ein lieber, blondlockiger Knabe aus den Armen gerissen ward und von einer Macht, welche sich der Erlkönig gewiß nie an die Seite stellen lassen würde, so erbärmlich und poesielos war sie, nach Deutschland, wo dessen blondlockige Mutter ihre treuen, blauen Augen zum letzten Schlummer schloß. – [364] Sie sang, sie sang und sprach endlich plötzlich „das Kind!“ Da war’s um allen Halt vor dem Publikum geschehen. Rücksichtslos stürzten heiße, trostreiche, lindernde Thränen aus den Augen und ließen sich nicht zähmen. Der glänzende, vollgedrückte Saal betrauerte den Tod des Kindes einige Secunden lang mit Todtenstille. Dann brach ein Sturm aus, wie ihn nur das entfesselte Herz großer begeisterter Massen losbrechen lassen mag. Der Erlkönig, und nur der Erlkönig, mußte vor dem englischen Publikum wiederholt werden. Die Hand eines theilnehmenden Herzens an meiner Seite suchte meine Thränen zu trocknen, aber das Auge bekam erst seine Kraft wieder und verlor seinen Thränenschleier, als es getröstet auf dieses von Deutschlands klassischem Genius warm gewordene und gewonnene Publikum umher sah. Ich war ja mitten in einem neugewonnenen Deutschland. Als aber Madame Rudersdorff hernach fragte: „Kennst Du das Land, wo die Citronen blühen?“ dacht’ ich immer wieder an das Land, wo Pflaumenbäume blüh’n und Herzkirschen schwellen und deutsche Herzen in der Sprache Goethe’s aufklingen und sich austönen.


  1. Nach der Mittheilung des Dr. G. in Dresden, der eine Zeit lang sein Gast in Cairo war.