Frauenleben im Weltkriege/Die Gewissenswunde

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Klotz und Keil Frauenleben im Weltkriege
von Aurel von Jüchen
Es geht ihm gut
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Die Gewissenswunde


Ich saß in dem sauber schimmernden Frühstückszimmer des Amsterdamer Hotels, in dem ich die Nacht verbracht hatte, und stärkte mich für den geschäftlichen Besuch, wegen dessen ich die schnelle Reise nach der Stadt der Grachten unternehmen mußte. Gerade stellte ich voll Behagen einsame Betrachtungen an über die Vorzüge solch eines üppigen Frühstücks, wie man es nur in Holland findet, als zwei weitere Gäste eintraten, anscheinend Vater und Tochter, und als dritter im Bund ein großer Airedale-Terrier, den die Dame an der Leine führte. Es war ein seltsames Kleeblatt und riß mich aus meiner behaglichen Genießerstimmung etwas heraus. Von dem roten Gesicht des Alten hob sich ein weißer Schnurrbart, als wäre er von Watte, so sah er wie ein alter Haudegen aus, doch unter der hohen Stirn mit dem weißen Schopf blickten traurige, jammernde Augen hervor. Die Dame im Alter von vielleicht dreiundzwanzig Jahren war eine Schönheit, aber so bleich, mit so müden Zügen im Gesicht, daß sie an eine geknickte, welkende Blume erinnerte; sie bewegte sich außerordentlich langsam, und alle Kraft zum Leben schien aus diesem schönen, schlanken Leibe in rostrotem Seidenkleide entwichen. Der Hund beeilte sich, sobald die Dame ihn von der Leine gelöst, mich zu beschnuppern, doch die Dame rief ihn mit matter Stimme: „Bijou!“, ein Name, der zu dem großen, stämmigen, nervigen Tier wie die Faust aufs Auge paßte, auf den der Hund aber unweigerlich hörte. Das Paar ließ sich mir gegenüber nieder, wir grüßten einander höflich mit leisem Kopfnicken, und der [119] Hund lagerte sich gehorsam neben den Stuhl der Dame. Der Greis griff die Leckerbissen des Frühstücks tapfer an, dabei zitterte aber seine Hand ganz außerordentlich. Wenn er ein Stück mit der Gabel pickte, bewegte sich diese im Zickzack wie ein Blitz, und die Teetasse zum Munde zu führen, war für ihn ein Balancierkunststück. In Deutschland nennt man solche Nervenschwäche Tatterich, und mein erster Verdacht war, daß der Alte in seinem langen Leben den geistigen Flüssigkeiten mehr zugesprochen haben möchte, als für Leib und Seele gut ist. — Noch auffälliger wurde das Benehmen der Dame. Sie hatte für sich Kuchen bestellt und benutzte in der Tat die Vorräte des Frühstückstisches nicht für sich, sondern nur zur Fütterung des Bijou. Als nun der Kellner den Kuchen brachte, muß er zufällig den Köter getreten haben, jedenfalls sprang dieser beleidigt knurrend in die Höhe, aber noch heftiger sprang die Dame auf. Ich sah zufällig, wie sie dem Kellner einen Blick zuschleuderte, als müsse sie ihr Leben gegen ihn verteidigen. Dann kniete die seidenumflossene Dame nieder zu dem Köter, untersuchte liebevoll seine getretene Pfote, streichelte ihm den Hals und herzte ihn mit einem Sturm des Gefühls, der die geknickte Blume völlig umzuwandeln schien. Ich sagte mir, daß sie mindestens stark hysterisch sei, wandte meine Augen ab und brachte mein Frühstück schneller zu Ende, als bei dem Überfluß an Leckerbissen und an freier Zeit bei mir nötig war. Kaum war ich aufgestanden, redete mich der Alte an: „Sie verzeihen, mein Herr, könnten Sie uns wohl den Weg zum Rijks-Museum andeuten?" Ich hatte ganz in der Nähe dieses Museums zu tun, und wenn ich mir auch sonst nicht gerade diese Gesellschaft ausgesucht hätte, ein gutes Frühstück stärkt die allgemeine Menschenliebe, und so erbot ich mich, ihn nach dem Museum zu geleiten. Unterwegs erkundigte sich der Alte lebhaft nach allen Museen in Amsterdam, im Haag, in Leyden usw. und setzte mich dadurch sehr in Erstaunen, denn ich mußte glauben, in dem zittrigen Greis einen unersättlichen Kunstschwärmer entdeckt zu haben; er bat mich auch, die [120] Namen der Museen aufschreiben zu dürfen, doch schon waren wir am Rijks-Museum angelangt, wo unsere Wege sich trennten. Selbstredend erklärte ich mich zu den Angaben gern bereit. Der Alte zog sein Merkbuch hervor, doch ehe ich mit den Angaben beginnen konnte, sagte mir die Tochter mit freundlichem Dank Lebewohl, und zu meiner Überraschung verabschiedete sie sich auch von ihrem Vater, mit dem sie verabredete, daß er sie nach einer Stunde an dieser Stelle wieder erwarten solle. Dem Vater übergab sie die Leine mit Bijou und nahm dann von dem Hund so zärtlichen Abschied, daß ich wieder den häßlichen Gedanken an eine Gefühlsstörung nicht unterdrücken konnte. Dabei hatte mich das Mädchen unterwegs durch ihre wenigen Äußerungen derart für sich eingenommen, daß mir diese Beobachtung in der Seele weh tat.

„Wollten denn Sie nicht das Museum besichtigen?“ frug ich den Alten, während wir allein draußen standen. „Nein“, erwiderte dieser, „das ist nur für meine Tochter nötig, sie muß sich zerstreuen.“ Und auf einmal, als wolle er sich mit den Worten eine Last vom Herzen schütteln, rief er aus: „Oh, mein Herr, wir kommen aus der Hölle, wir haben die Belagerung von Antwerpen mitgemacht.“ „Ach so“, erwiderte ich, „da haben Ihre Nerven gelitten. Mir ist schon aufgefallen, daß Ihre Hand etwas zittert.“ „Bah“, fiel er ein, „das ist nichts, aber meine Tochter... Ach, hätten Sie sie früher gekannt, vor wenigen Wochen, da war sie ein fröhliches Mädchen, leichtfüßig und sprühend wie ein Fluß, der über die Wehr springt; oh, wie glücklich lebten wir, welch goldige, sonnige Tage liegen hinter uns! Und nun dieser Trübsinn und diese fixe Idee mit dem Hund..., es ist zu gräßlich!“ Es war nicht nur Neugier, sondern auch herzliche Teilnahme, was mich zu dem Vorschlag veranlaßte, in ein Restaurant zu treten. Ich begründete ihn damit, daß er dort bequem die Sehenswürdigkeiten Hollands in sein Buch vermerken könne, innerlich fühlte ich, daß es für den alten Mann eine Wohltat sein würde, mir sein Herz auszuschütten. „Ach“, begann der [121] Greis auf meine Frage hin, während er sein Gläschen mit dem unvergleichlichen Fockinglikör zitternd zum Munde führte, „ach, wären wir geflohen! meine Tochter wollte es nicht aus Übermut und Eigensinn. Ihr Schicksal kommt mir gerade so vor, wie das unseres Staates, Belgiens, dessen Verderben auch durch Übermut und Hartnäckigkeit heraufbeschworen wurde. Meine Tochter hatte sich im Übermut verschworen, nicht zu weichen, und war halsstarrig genug, dies durchzusetzen. Die Folgen sehen Sie heute. Sie war von früh auf gewohnt, zu Hause ihren Willen durchzusehen, meine verstorbene Frau liebte sie zu zärtlich, und ich war als Kapitän bei einer großen Dampfschiffahrtsgesellschaft meistens unterwegs; bei der Belagerung hatte das Unglücksmädel aber auch noch viele Bekannte und Nachbarn veranlaßt, mit uns in Antwerpen auszuhalten. Wir besaßen zwei Keller unter dem Hause, und der Zugang zu dem einen war so versteckt, daß nur ein Eingeweihter ihn fand, auch hätte niemand einen zweiten Keller gesucht. In diesem hatten wir uns eingerichtet, ihn mit elektrischem Licht und anderen Bequemlichkeiten ausgestattet, dort wollten wir aushalten, bis die Deutschen, wir hofften es ja noch immer, zurückgeschlagen waren. Ich will Ihnen nicht von unseren Hoffnungen erzählen, die durch die Lügen der Presse immer wieder angestachelt wurden, auch nicht von den Ereignissen, die jeder weiß; noch bis Mittwoch, bis zum 7. Oktober, hat meine Tochter gelacht über alle Bedenken; oh, wir hatten ja so neue, unüberwindliche Befestigungen, und sie hatte solch ein hellklingendes, sonniges Lachen! Da, in der Nacht zum 8. Oktober, begann ein Orkan von Kanonenschüssen, der jedes Herz vor Weh und Graus erstarren machte. Wie hat das gebrüllt, uns die Ohren auseinandergetrieben und die Herzen dazu! Zehn Schläge zählten wir die Minute. Am 8. Oktober morgens gab es einen fürchterlichen Knall: Das Munitionslager flog in die Luft. Nun, dachten wir, kann's nicht mehr schlimmer kommen, doch noch schlimmer erschütterte uns am folgenden Freitagmorgen ein platzender Schlag gerade über [122] uns. ‚Vielleicht‘, sagten wir uns zitternd, ,hat es in unser Haus eingeschlagen’, aber es wäre Wahnsinn gewesen, hinaufgehen zu wollen. Bald darauf fragt einer unserer Leidensgefährten: ,Wo ist denn nur Bijou?’ Kein Mensch hatte in der Höllenangst an ihn gedacht. Was liegt auch an einem Hundeleben, wenn unschätzbares Menschenblut ganze Länder rötet? Allmählich wird es ruhiger draußen, das Schießen läßt nach, aber unsere Angst wächst. Was mag geschehen sein? Während wir noch hierüber unsere Ansichten austauschten, rast plötzlich an unserer Kellertür ein Kratzen und Scharren, dann ein ungestümes Bellen. Das konnte nur Bijou sein, der uns mit seiner feinen Nase in dem geheimen Versteck entdeckt hat. Zugleich begreifen wir die Gefahr: Wenn das Schweigen der Geschütze wirklich bedeutet, daß die Festung gefallen und der Feind in der Stadt ist, so sind wir verloren, denn der Hund wird unser Versteck verraten. Nun bellt er immer lauter, ist aus Rand und Band, läuft immer nach der Straße, springt zurück und wirft sich mit aller Wucht vor unseren geheimen Eingang, als wolle und müsse er Leute herbeirufen. Meine Tochter will die Tür öffnen, um ihn hereinzulassen, aber in diesem Augenblick donnern dagegen schon Kolbenschläge, und eine wilde Stimme ruft: ,Heraus hier!‘ Was blieb uns übrig? Wir öffneten und erwarteten nichts anderes, als im nächsten Augenblick von einem Bajonett durchspießt zu werden, doch der feldgraue Soldat schleudert nur einen nach dem anderen von uns auf die Straße mit solcher Wucht, daß wir hinfallen. Jetzt sehen wir etwas Schreckliches: Unser Haus brennt. Bei dem platzenden Schlag, den wir vor zwei Stunden hörten, war eine Granate ins Haus gefallen und hatte gezündet, seit zwei Stunden brannte es lichterloh über unseren Köpfen. Kaum hatten wir dies ausgedacht, da brach die mächtige Steinmasse zusammen, durchschlug die Kellerdecke und würde uns unter brennenden Trümmern begraben haben, wenn nicht der Soldat, von dem Hunde hingeführt, uns herausgenötigt hätte. Die Deutschen waren ganz anders, als wir in [123] unserem Wahn gedacht, und alles wäre nicht so schlimm gewesen, wenn nicht meine Tochter eine gefährliche Gewissenswunde davongetragen hätte. Sie kann nicht vergessen, daß durch ihre Schuld ein Dutzend ihrer liebsten Menschen einen qualvollen Tod gefunden haben würden, wenn nicht der Hund uns gerettet hätte. Seitdem vergöttert sie den Hund. Die Erinnerung überkommt sie wie ein Fieberdelirium, dann schüttet sie dem unvernünftigen Tier gegenüber ihr Herz aus, dankt ihm auf den Knien als ihrem Schutzengel, und natürlich darf der Hund nicht von unserer Seite. Da sie malen gelernt hat, interessiert sie sich noch einigermaßen für Kunstwerke, und ich führe sie von Museum zu Museum, damit sie in dieser Welt der Farben sich ablenkt, während ich den Hund draußen spazieren führe.“

Ich tröstete den armen Greis so gut ich konnte durch den Hinweis darauf, daß die Natur in der Jugend geschmeidig ist, dann ging ich meiner Wege; doch noch lange dachte ich an das Schicksal des unglücklichen Mädchens und wünschte ihm eine Auferstehung aus dieser schlimmsten, der geistigen Not. – Wieviel von dieser Not wird der Krieg hinterlassen! Als mich dann aber wieder das geschäftige Straßenleben der holländischen Hauptstadt umwogte, als ich die wohlgenährten Gesichter dieses neutralen Volkes sah, kam mir eine andere Frage: Wenn diese junge Antwerpenerin solche Gewissenswunde davontrug, weil sie dem Tod ein Dutzend Menschen aussetzte, die doch schließlich gerettet wurden, wie mag es dann mit dem Gewissen derer aussehen, die aus Übermut, Hartnäckigkeit und aus anderen noch viel gemeineren Beweggründen ganze Völker wirklich in Tod und Verderben hineingejagt haben?