Im Gottesländchen/Goldingen

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Usmaiten Im Gottesländchen
von Edgar Baumann
Alschwangen und Edwahlen
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Goldingen.

Am 24. Juli machte ich mich von Krons-Rönnen nach dem 18 Werst entfernten Goldingen, der ehemaligen zweiten [93] Hauptstadt des Gottesländchens, auf den Weg. Trotz der heißen Julisonne schritt ich wohlgemut durch schönen Nadelwald dahin. Ein gelinder Wind bewegte Wald und Busch. Überall im Grase zirpten Heuschrecken. Oben am blauen Himmel zogen weiße Wolken. Im Schatten von Erlengebüsch, in der Nähe angenehm rauschender ehrwürdiger Laubbäume hielt ich vor Neuhof Rast. Hinter diesem Gute trat der Wald vom Wege zurück. Das Gelände ward hügelig und feldreich. Besonders das Graudupnieksche (Kornfluß-) Gebiet war reich an goldenem Korne, in dem allerorten die Sense klang. Die Leute, die mir begegneten, waren sehr freundlich. Ein großer Krug und eine Ziegelei lagen am Wege. Herrliche Wolkengebilde waren am Himmel zu sehen. So beobachtete ich, wie die Sonnenstrahlen, eine silberne Wolke treffend, in allen Richtungen sich brachen und pfeilförmig über die Wolkenränder hervorschossen. Nach dem 9. Werstpfosten führte der Weg von den wogenden hügeligen Feldern in ein Tal hinab, wo im Gebüsch ein Bach murmelte, der hier beim Gesinde Rumbenieken („die am Falle Wohnenden“) einen ungefähr 1/2 Fuß hohen Fall bildete. Durchs Gebüsch beschien die Abendsonne die steinigen Ufer des Bächleins, wo sich stolze Tannen zum blauen Himmel erhoben. Schön war es, auf einem Felsblocke zu sitzen und dem Rauschen des Falles zu lauschen. Weiterhin lag im Walde die Goldinger Forstei. Darauf machte der Weg im Fichtenwalde noch eine große Biegung, und dann erblickte ich plötzlich zwischen hohen Bäumen in der Ferne einen weißen Turm mit rotem Spitzdache. Dort lag im Windautale Goldingen. Über ärmliches Wiesenland, wo nur hier und da Wacholdergestrüpp zu sehen war, führte der Weg zum Streichenkruge, bei dem sich die Landstraßen von Rönnen, Tuckum und Frauenburg trafen. Durch eine breite, mit Seitengängen und Bänken versehene Allee von Laubbäumen, in der, da es Schabbes war, ausgeputzte Juden umherspazierten, [94] ging es zur schönen neuen Steinbrücke über die Windau,[1] wo die Stadt im Abendschimmer in nächster Nähe vor mir lag. Links von der Brücke rauschte unten im Flusse, so daß es weithin schallte, ein Wasserfall, die 6 Fuß hohe Rummel. In der Stadt geleitete mich der kleine Sohn eines Friseurs, eines echten „Goldinger Kindes", durch mehrere enge und krumme Straßen und Gassen, deren es hier recht viele gab, zum Hause meines Kommilitonen I.

25. Juli. Über die Entstehung der Stadt Goldingen und des Wasserfalles bei ihr gibt es verschiedene Sagen. Nach der einen soll sie von Riesen erbaut worden sein. „Beim Herbeischaffen des Bauholzes habe ein Riese einen ganzen Balken allein auf der Schulter herbeigetragen. Die Balken seien 5 und noch mehr Faden lang gewesen. Mit der einen Hand habe der Riese den Balken am oberen Ende gehalten, mit der anderen das Beil gehandhabt und den Balken behauen. Einmal seien sie während des Baues der Stadt an Tabak zu kurz gekommen. Da sei einer von ihnen zur Zeit der Mittagsruhe, die zwei Stunden gewährt habe, nach dem 7 Meilen (49 Werst) entfernten Flecken Zabeln gegangen. Nachdem der Riese dort den Tabak gekauft, habe er sich wieder auf den Rückweg gemacht, unterwegs hingelegt und eine ganze Stunde geschlafen. Als er darauf zu seinen Kameraden gekommen sei, hätten diese noch geschlafen: es waren noch keine zwei Stunden verflossen. Einmal sollen sich zwei Riesen beim Radtreiben (einem alten, beliebten Spiel der Landbewohner) entzweit haben. Der eine sei geflo­hen, aber mitten in der Windau vom andern erreicht worden. Da habe nun ein fürchterlicher Ringkampf stattgefunden. Während des Kampfes hätten die beiden Riesen mit den Füßen [95] eine tiefe Grube im Flusse aufgewühlt, wodurch die Rummel entstanden sei. Darauf hätten sie Balken ergriffen und sich damit wie mit Knütteln so lange geschlagen, bis der eine liegen geblieben. (Nach anderen Sagen wird die Entstehung der Rummel auf einen Versuch des Teufels, den Fluß abzusperren, zurückgeführt.) Später seien die Riesen infolge einer Pest ausgestorben, und seitdem gebe es in Kurland keine mehr. Der Rock eines Riesen habe noch lange nachher in der Kirche zu Goldingen gehangen. Die Fäden, mit denen er zusammengenäht gewesen, hätten die Dicke eines Fingers gehabt, und seine Knöpfe seien so groß wie Schüsseln gewesen: ein zehnjähriger Knabe habe einen Knopf nur mit Mühe aufheben können.“ (Treuland.) — Aus der Geschichte wissen wir, daß die alte Burg Goldingen (lett. Kuldiga) weiter stromaufwärts gelegen hat, wo sich noch jetzt am hohen, steilen Ufer der Windau ein Schloßberg erhebt. 1244 wurde nach der Zerstörung dieser alten Burg vom Ordensmeister Dietrich von Gröningen das große feste Schloß Goldingen oben bei der Rummel erbaut, in dem während der Ordenszeit die Goldinger Komture ihren Wohnsitz hatten. In nächster Nähe dieses Schlosses siedelten sich schon früh Deutsche an und legten den Grund zu einem städtischen Gemeinwesen, so daß Goldingen als die älteste Stadt Kurlands angesehen werden kann. Burg und Stadt Goldingen sind in alter Zeit oftmals von Litauern, Samaiten (im Nordwesten des Gouvernements Kowno wohn­haft) und Kuren überfallen und belagert worden. Als der livländische Ordensstaat im 16. Jahrhundert sich auflöste und Kurland unter dem letzten Ordensmeister Gotthard Kettler (1561—87) ein selbständiges Herzogtum wurde, brach für Goldingen eine Zeit der Blüte an, die trotz des großen Brandes im Jahre 1563 und der großen Pest von 1602, wo in der Stadt 4000 Menschen gestorben sein sollen, hundert Jahre lang währte. 1566 wurde hier Herzog Gotthard mit seiner [96] Gattin Anna, einer geborenen Prinzessin von Mecklenburg, von der Ritter- und Landschaft und der Goldinger Bürgerschaft prunkvoll empfangen, wobei mehrere Tage große Festlichkeiten stattfanden. 1596 erwählte Herzog Wilhelm, nachdem er sich mit seinem Bruder Friedrich, der in Mitau seinen Wohnsitz hatte, in die Herrschaft über Kurland geteilt, Goldingen zu seiner bleibenden Residenz. Im Februar 1610 führte er hier seine Gemahlin Sophie, eine geborene Prinzessin von Brandenburg, heim. Am 7. November desselben Jahres wurde hier der spätere Herzog Jakob in der Stadtkirche getauft. Im Oktober 1645 feierte dieser hierselbst durch 7 Tage währende Festlichkeiten die Heimführung seiner Gemahlin Luise, einer Schwester des großen Kurfürsten. Ebenso hielt 1691 Herzog Friedrich Kasimir mit seiner Gattin einen feierlichen Einzug in die Stadt. Dieser Herzog, welcher von 1681—98 regierte, ließ hier auch mit großen Kosten einen schönen Tiergarten anlegen. Da sich der herzogliche Hof oft in Goldingen aufhielt, so waren hier viele Beamte und Edelleute ansässig. Dadurch nahmen Handel und Verkehr einen großen Aufschwung, wobei als Hafenstädte Windau, Sackenhausen und Libau dienten. Schon 1594 soll ein hiesiger Kaufmann Goßing, der 12 Schiffe besessen habe, in geschäftlicher Verbindung mit Lübeck, Holland, Frankreich und Spanien gestanden sein. Besonders blühte der kurländische Handel unter Herzog Jakob, dessen Schiffe sogar nach Amerika, wo ihm die Insel Tabago gehörte, und nach Afrika gingen. Als später die Herzöge Mitau zur dauernden Residenz erwählten, Kriege übers Gottesländchen hingingen und 1709 die schreckliche Pest das platte Land und die kurländischen Städte entvölkerte, sank Goldingen zu einer armen Stadt herab. Dennoch hat es sich als Sitz eines Oberhauptmannsgerichts und als Kreisstadt eine gewisse Bedeutung bis in die neueste Zeit hinein bewahrt. (Vgl. Alb. kurl. Ansichten. Goldingen.) [97] Unser erster Gang am Morgen war zur lutherischen Kirche, wo der lettische Prediger, Pastor F., da es Sonntag war, vor sehr zahlreicher, gläubiger Gemeinde seines Amtes waltete. I. und seine Eltern gingen zum heiligen Abendmahl. Die Predigt des bei der Gemeinde überaus beliebten Pastors zeichnete sich durch Volkstümlichkeit aus. So gedachte er in derselben sogar eines Schweinebübchens, das auch seine Pflicht erfüllen und seine kleine Herde treu hüten müsse. Nach der „Kirche“ sahen wir uns die nette kleine Stadt an. Die Hauptpromenade, in der Art der Rigaschen und Mitauschen Großen Straße, war die Libausche Straße. Dort lag das Lehrerseminar mit der rechtgläubigen Kirche und etwas abseits von ihr die Synagoge, in deren Nähe die Trümmerstätte von 40 unlängst abgebrannten Häusern zu sehen war. Durch die Stadt floß in engen Steinwänden der Alexisbach zur Windau. Auch am ehemaligen Gymnasium, wo so mancher strebsame Kommilitone auf der Schulbank gesessen hatte, gingen wir vorüber. In der katholischen Kirche lag die andächtige Menge auf den Knien und der Priester mit den Chorknaben verrichtete seine religiösen Zeremonien. — Am Nachmittage unter­ nahmen wir in größerer Gesellschaft einen Ausflug nach dem ein paar Werst von Goldingen an der Windau gelegenen „Florians Hain“, wo sich bei einer Bierbrauerei ein Garten befand. Die Teilnehmer, junge Herren und Damen, gehörten zum größten Teil den mittleren deutschen Bürgerkreisen an und waren überaus liebe Menschen. Ich bemerkte bei ihnen keine Spur von Voreingenommenheit und Eigendünkel. Bei Spiel und auch Tanz wurde die Zeit sehr angenehm bis zum Abend verbracht. Die nahe Windau, nach der Aa der größte Fluß Kurlands, floß zwischen Felsenufern. Gerade hier rauschte ein Bach ihr zu. An manchen Stellen war der Fluß recht tief, an anderen dagegen floß er über einen ebenen Fliesenboden, wo die Flut überall nur bis zum Knöchel reichen mochte. [98] Auf einer Veranda beim Garten hatten die Goldinger Primaner, der letzte „Cötus“ des gewesenen Gymnasiums, darunter auch I., ihre „Fuchsschmore“ gehalten. Die Wände waren mit Sprüchen über das Trinken bekritzelt, von denen so mancher gar witzig lautete, wie z. B. der folgende:

„Aber wer dem braunen Stoffe
Schwelgend sich ergibt, der hoffe
Ungestraft nicht zu bestehn:
Eine kugelrunde Tonne,
Muß er zu der Spötter Wonne
Keuchend durch das Leben gehn.“

Bei Sternenhimmel und Mondenschein kehrten wir nach Goldingen heim.

26. Juli. Am Morgen besuchten wir den lauschigen Schloßpark, an der Stelle am hohen Ufer der Windau gelegen, wo früher das Schloß gestanden, in dem Herzog Jakob das Licht der Welt erblickt hat. Beim Parke unten befand sich die Rummel, zu der wir auch hinabgingen. Großartig war der Anblick des mächtig rauschenden, über den ganzen Fluß sich hinziehenden Falles. Die Goldinger Herren nehmen hier im Sommer ihr Morgenbad. Schön muß es wohl sein, unter dem Falle die Wasserstrahlen über sich errauschen zu lassen! Doch muß der Badende zu schwimmen verstehen, da sich, wie man mir erzählte, hier im Flusse eine Tiefe von 12 Fuß vor­finde. Hier war es auch, wo die Fische in der Luft gefangen werden, was eine Erfindung des Herzogs Jakob sein soll. Die Fische schwimmen stromaufwärts, suchen durch Springen über den Fall hinüber zu gelangen und fallen dabei in die oben an hölzernen Gerüsten (Böcken) aufgehängten Reisigkörbe und Netze hinein. Einmal habe man auf diese Weise sogar einen Stör von großem Gewichte gefangen. Wir besuchten auch eine Sitzung des Goldinger Friedensgerichts. Hier fiel mir der Ehrenfriedensrichter, ein Baron zu M., mit wichtiger [99] Miene und massiver goldener Amtskette auf. Sehr schlaue Gesichter trugen die Angeklagten und als Zeugen geladenen Juden zur Schau. Es handelte sich um eine Brandstiftung. — Von Goldingen begab ich mich um die Mittagszeit auf den 18 Werst weiten Weg nach Edwahlen, dessen sagenreiches, interessantes Nachbargebiet Alschwangen mich anzog. Hinter der Stadt ging es wieder bergan, wo mich ein Fichtenwald begrüßte. Hier warf ich noch einen Blick auf die im Tale liegende Stadt. Freundlich blinkte der weiße Turm der von lichtem Grün umgebenen lutherischen Kirche mir zu. Ich wünschte der alten Stadt an der Windau ein fröhliches Ge­deihen und wanderte weiter.

  1. Goldingen liegt an diesem aus Litauen kommenden Flusse, 20 Meilen von seinen Quellen entfernt. Die Steinbrücke ist ein bleibendes Denkmal ihres Erbauers, des ehemaligen kurländischen Gouverneurs Paul von Lilienfeld.