Leitfaden der vergleichenden Märchenforschung/Die Technik der Märchenforschung
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Um sich auf irgendeinem Arbeitsgebiet erfolgreich betätigen zu können, muss der Mensch das Arbeitsgebiet kennen; wenn er die Arbeit zum erstenmal in Angriff nimmt, ist seine erste Aufgabe, sich mit dem Arbeitsgebiet bekannt zu machen. Der Märchenforscher muss sich auch zuerst vorbereitend in das Forschungsgebiet einarbeiten. Dazu gehört zunächst das Lesen guter Märchensammlungen, wobei die Aufmerksamkeit besonders auf die Systematik der Märchen zu richten ist. Aber die aufgezeichneten und veröffentlichten Märchen sind schon von ihren eigentlichen Lebensverhältnissen getrennt. Wer mit den Märchen intimer vertraut werden will, der muss ausziehen und sie aus dem Munde des Volkes sammeln. Für den Märchenforscher ist es sehr wünschenswert, dass er selbst Märchen gesammelt hat. Und abgesehen von den Materialien muss er danach streben, sich mit der Forschung selbst bekannt zu machen, sich schon im voraus einen Begriff davon bilden, worum es sich in derselben handelt. Dazu ist die Lektüre tüchtiger Spezialforschungen nötig.
Die ausführliche Kenntnis der Märchen ist eines der allerwichtigsten Werkzeuge in den Händen des Forschers. Dies ergibt sich teils daraus, dass die Veränderungen so oft durch den Einfluss anderer Märchen verursacht werden. Je ausführlichere Kenntnisse der Forscher vom Inhalt der Märchen hat, desto leichter wird es ihm, den Ursprung der Veränderungen zu ermitteln, mit anderen Worten: desto mehr Aussichten hat er für das Gelingen seiner Arbeit. Die Kenntnis der Märchen und besonders der Märchentypen bewahrt auch den Forscher davor, Märchen mit einander zu verbinden, zwischen denen kein wirklicher Zusammenhang besteht. Dergleichen [58] Fehler haben die mit den Märchen weniger vertrauten Forscher oft begangen.
Wenn die nötigen vorbereitenden Arbeiten ausgeführt sind, soll der Forscher das Thema seiner Forschung wählen. Er muss das Märchen oder die Märchengruppe bestimmen, deren Schicksale er zu erklären beginnt. Hier ist hervorzuheben, dass das genaue Bestimmen des Themas im voraus oft schwer ist. Beim Fortschreiten der Arbeit kann die geplante Aufgabe sich erstens als zu beschränkt erweisen. Der Forscher kann sich irren, indem er Variationen einunddesselben Märchens für selbständige Märchen hält, oder das von ihm zur Untersuchung herausgegriffene Märchen ist mit irgendeinem anderen Märchen so nahe verwandt oder mit ihm so vermischt und verflochten, dass es schwer ist, die Untersuchung desselben einzeln, von dem letzteren gesondert auszuführen. Derjenige fehlt in der Wahl des Themas, der z. B. beginnt die Form mit drei Zauberdingen vom Zaubergabenmärchen zu behandeln, aber die Form mit zwei Zauberdingen unberücksichtigt lässt. Wer das Titelituremärchen (Mt. 500) untersuchen will, der muss auch das Märchen „Drei alte Weiber als Helferinnen“ (Mt. 501) mituntersuchen. Ebenso sind die Märchen „Das Mädchen ohne Hände“ (Mt. 706) und „Die drei goldenen Söhne“ (Mt. 707) gleichzeitig zu erforschen. Bisweilen ist wieder das gewählte Thema in Wirklichkeit umfassender, als der Forscher sich vorgestellt hat. Von diesen zwei bei der Wahl des Themas drohenden Irrtümern hat der erste verwirklicht schädlichere Folgen als der letzte. Wenn wir Material auf einem zu weiten Gebiete gesammelt haben, ist es möglich, zu beliebiger Zeit das Thema zu beschränken, und der Schade liegt nur darin, dass wir etwas mehr Arbeit darangewendet haben, als wir diesmal gedacht hatten. Aber nicht ebenso leicht ist es, das zu knappe Thema zu erweitern. Die für die Forschung nötige Literatur ist von verschiedenen Seiten herbeizuschaffen, [59] und einige Werke sind schwer in die Hände zu bekommen. Noch mühsamer ist das Sammeln des handschriftlichen Materials. Kein Forscher hat immer alle Quellen in der Hand. Wenn er im Laufe der Sammelarbeit oder, was noch schlimmer ist, erst nach derselben bemerkt, dass er sich in zu engem Rahmen bewegt hat, verursacht es ihm Schwierigkeiten den Irrtum gutzumachen und es ist zum Teil vielleicht unmöglich. Bei der Wahl des Themas für eine Untersuchung muss man daher vor allem eine zu enge Beschränkung vermeiden. Praktisch und klug handelt, wer das Sammeln des Materials etwas weiter ausdehnt, als es seine Untersuchung eigentlich erfordern würde. Die schliessliche Beschränkung des Themas wird ihm später von selbst klar werden.
Das Ziel des Sammelns der Materialien ist eine möglichst grosse Anzahl Varianten von dem oder den zur Untersuchung gewählten Märchen zusammenzubringen. Solche können wir in der älteren Literatur, aber insbesondere in den aus dem Volksmunde aufgezeichneten Märchensamlungen antreffen, die teils im Druck veröffentlicht sind, teils nur handschriftlich existieren. Die volkstümliche Märchenliteratur ist im Laufe von hundert Jahren ungemein stark angewachsen und besonders hat sie sich während der letzten Jahrzehnte, wo die Märchen die Aufmerksamkeit mehr auf sich gelenkt haben, bedeutend vermehrt. Und noch viel grösser ist die Anzahl der handschriftlich aufbewahrten Aufzeichnungen.
Wegen der Reichlichkeit der Märchenvorräte ist das Sammeln des Materials eine sehr arbeitsreiche Aufgabe. Die Schwierigkeiten werden noch durch die Vielsprachigkeit der Aufzeichnungen und deren Zerstreutheit in verschiedenen Ländern erhöht.
Zur Erleichterung der Schwierigkeiten, welche sich dem Forscher der Volkspoesie beim Sammeln des Materials bieten, gründeten einige für die Sache interessierte Folkloristen – [60] Joh. Bolte, Kaarle Krohn, Axel Olrik und C. W. v. Sydow – vor einigen Jahren einen internationalen Bund mit dem Namen „Folklore Fellows“ („Folkloristischer Forscherbund“, „Fédération des Folkloristes“). Die Statuten des Bundes bestimmen als Zweck desselben:[1] a) den Forschern volkskundliches (folkloristisches) Material aus den verschiedenen Ländern zugänglich zu machen und Kataloge derartiger Sammlungen herauszugeben, und b) die Herausgabe wissenschaftlich befriedigender Publikationen volkskundlicher Materialien in einer leicht zugänglichen Sprache oder mit Referaten in einer solchen zu fördern. Seine Tätigkeit hat der Bund so geordnet, dass für jede landschaftliche oder nationale Arbeitsgruppe, die im Bunde durch Mitglieder vertreten ist, eine Auskunftstelle oder ein Vertreter eingesetzt ist; durch Vermittlung der Auskunftstellen können Abschriften, Auszüge und Übersetzungen von Handschriften und schwer zugänglichen Druckwerken aus öffentlichen und, so weit wie möglich, auch aus privaten Sammlungen beschafft werden. Solche Auskunftstellen gibt es schon eine Anzahl[2], und neue werden gebildet. Der Forscher braucht sich also, um Materialien zu bekommen, nur an die Auskunftstellen zu wenden, diese sorgen für die Beschaffung von Kopien und auch nötigen Übersetzungen, alles natürlich gegen eine mässige Entschädigung.
Grösser als anderswo sind die Schwierigkeiten beim Sammeln des Materials auf dem Gebiete der Märchen. Der Bund hat deshalb seine Aufmerksamheit zu allererst auf die Märchen gerichtet. Um Einheitlichkeit in den Märchenveröffentlichungen und den Katalogen zu erzielen, ist von dem Unterzeichneten ein zusammenhängendes Märchenverzeichnis „Verzeichnis der Märchentypen“ (FFC 3) ausgearbeitet [61] worden, wie sie schon früher von J. G. v. Hahn[3], Sv. Grundtvig[4] und einigen anderen herausgegeben worden sind. Diesem Verzeichnis gemäss sind die finnischen und die finländisch-schwedischen Märchen schon geordnet und deren Kataloge zur Verfügung der Forscher veröffentlicht worden (FFC 5 u. 6), und in manchen anderen Ländern hat man es unternommen, Kataloge auszuarbeiten. Das Typenverzeichnis ist in seiner gegenwärtigen Form noch nicht vollständig. Nach einiger Zeit, wenn mehrere spezielle Verzeichnisse fertig sein werden, besteht die Absicht, von demselben eine vervollständigte Ausgabe herauszugeben.
Der Bund Folklore Fellows ist noch in der Organisation begriffen. Aber sein Zweck ist sehr wichtig. Die Fortschritte der Erforschung der Volkspoesie beruhen in hohem Masse darauf, wie es ihm gelingen wird, sein Vorhaben zu verwirklichen. Jeder Märchenforscher sollte daher die Tätigkeit des Vereins unterstützen, sich als Mitglied einer Auskunftstelle anschliessen oder mangels einer solchen eine neue Auskunftstelle bilden usw.
Der neue Bund wird wahrscheinlich lange Zeit seine Aufmerksamkeit vor allem auf die handschriftlichen Materialvorräte gerichtet halten und versuchen sie der Wissenschaft nutzbringend zu machen, aber daneben bestrebt er sich gewiss auch, dem Forscher beim Sammeln des gedruckten Materials behülflich zu sein.
Obwohl das Zusammenbringen des Materials an sich eine mühsame Aufgabe ist, geht sie in Wirklichkeit erheblich leichter vonstatten, wenn die Arbeit in rechter Weise begonnen und in rechter Ordnung ausgeführt wird.
[62] Das Sammeln des Materials ist von dem Heimatslande des Forschers aus vorzunehmen. Jeder hat die beste Gelegenheit, sich mit den Märchen seines eigenen Landes bekannt zu machen, weswegen er von ihnen gewöhnlich eine grössere Anzahl von Varianten zusammenbekommt. Mit Hilfe dieser bildet sich ihm von dem zu untersuchenden Märchen eine Vorstellung, auf der sich das spätere Sammeln gut aufbauen kann.
Darauf hat man sich mit irgendeiner mit guten Anmerkungen versehenen Märchensammlung bekannt zu machen. Die Herausgeber der Sammlungen oder andere mit der vergleichenden Märchenliteratur mehr vertraute Personen haben nämlich oft mit den Märchen ein Verzeichnis ihrer anderswo angetroffenen Varianten verknüpft oder andere in der Forschung nützliche Mitteilungen darüber gegeben. Solche Verzeichnisse kann man auch zuweilen ausserhalb der Sammlung selbst finden, in irgendeiner Zeitschrift usw. Der Wert der Anmerkungen ist sehr verschieden, von der Menge der ihnen zu Grunde liegenden Märchenliteratur abhängend. Bisweilen werden in ihnen nur die Märchen des eigenen Landes oder dazu diejenigen des Nachbarlandes in Betracht gezogen, aber mitunter wird auf die neuere und ältere Märchenliteratur in ihrer ganzen Ausdehnung ausgegriffen. Auch ihrer Form nach sind die Anmerkungen verschieden. Die einen Autoren beschränken sich darauf, nur zu erwähnen, wo sich die Variante befindet, andere referieren auch deren Inhalt ganz oder teilweise. Wenn das Originalwerk schwer aufzutreiben ist, kann ein solches Referat den Mangel desselben ersetzen. Schon die Anmerkungen der ersten Sammlung können auf diese Weise den Forscher zu vielen Varianten leiten, und die Arbeit bekommt einen guten Anfang. An die neuen Varianten knüpfen sich wieder Hinweise, und so setzt man die Arbeit von einem Werke zum andern fort, soweit die Literatur reicht. Im Falle es unmöglich ist, ein Werk in [63] die Hände zu bekommen, muss man versuchen, sich durch Briefwechsel mit dem Inhalt der darin befindlichen Variante bekannt zu machen. Wenn es sich trotz aller Mühe unmöglich erweist die gewünschte Auskunft zu erhalten, muss der Forscher auch einen kurzen Hinweis als solchen in Betracht ziehen, denn derselbe beweist in jedem Falle, dass das Märchen in der betreffenden Gegend bekannt ist.
Die Bedeutung der verschiedenen Märchensammlungen in dieser Hinsicht geht aus meiner Darstellung der neueren Märchenliteratur hervor.
Beim Sammeln der Varianten sind folgende Umstände im Auge zu behalten:
a) Das Material ist einer Kritik zu unterziehen, denn nur die zuverlässigen Stoffe haben wissenschaftlichen Wert. Die Kritik muss erstens klarlegen, ob das Märchen seine reine volkstümliche Form behalten oder ob der Herausgeber es bearbeitet hat. Es ist zu bemerken, dass viele Sammlungen entweder ausschliesslich oder teilweise zur Unterhaltung der Kinder und der Jugend bestimmt sind, und die in ihnen befindlichen Märchen sind diesem Zweck möglichst angepasst worden. Besonders hinsichtlich der älteren Sammlungen hat der Forscher Anlass vorsichtig zu sein. Bisweilen erklären die Herausgeber in der Einleitung oder in den Anmerkungen, in welchem Grade sie die Form der Erzählungen beeinflusst haben. Zweitens ist das Verhältnis der volkstümlichen Aufzeichnung zu der neueren Märchenliteratur ins Auge zu fassen. Der Erzähler hat vielleicht das Märchen in einem Buche gelesen oder dies hat derjenige getan, der es ihm erzählt hat. Wenn der Forscher hier nicht auf der Hut ist, wird er verleitet, falsche Schlüsse zu ziehen. Drittens ist darauf zu achten, dass der Aufzeichnungsort richtig mitgeteilt ist. Auch hierbei wäre es wichtig, dass man sich beim Sammeln der Märchen stets erkundigt, woher der Erzähler das Märchen bekommen hat. In den gegenwärtigen Sammlungen wird es selten [64] erwähnt. Es ist möglich, dass das Märchen in einer ganz anderen Gegend gehört worden ist. In einzelnen Fällen kann die Variante sehr lange Strecken überfliegen. Kaarle Krohn erzählt von seinen Sammelreisen folgendes derartiges Vorkommnis: In Südfinland wurde ihm ein Märchen erzählt, in dem ein Zug in auffallender Weise an eine früher von ihm am nördlichen Ladogaufer aufgezeichnete ostfinnische Variante erinnerte. Er erkundigte sich bei dem Erzähler genauer danach und erhielt die Mitteilung, dass der Erzähler das Märchen wirklich in Ostfinland in derselben Gegend gehört hatte.
b) Das Sammeln muss erschöpfend sein. Es soll möglichst genau alle, sowohl die älteren literarischen als die volkstümlichen Varianten des zu untersuchenden Märchens ausfindig machen. Was die letztgenannten betrifft, ist besonders zu beachten, dass das Sammeln sich auf das ganze Verbreitungsgebiet des volkstümlichen Märchens erstreckt. Je vollständiger das Material zusammengebracht ist, desto sichrer werden die darauf gegründeten Ergebnisse sein.
c) Der Forscher muss von irgendeiner Gegend die Resultate einer intensiveren Sammelarbeit zur Verfügung bekommen. Dies ist bei dem jetzigen Stand der Forschung nötig. Man muss sich nämlich erinnern, dass das Sammeln in einigen Ländern, besonders ausserhalb Europas, noch sehr mangelhaft gewesen ist. Wenn der Forscher Gelegenheit hat, in einem beschränkten Gebiet die Entwicklung und Wanderung des Märchens eingehender zu verfolgen, kommt ihm das bei der Entscheidung weiterreichender Fragen zu Hilfe.
Die Varianten sind für die Untersuchung aufzuzeichnen. Das vollständige Abschreiben derselben kann jedoch nicht in Frage kommen, ausser wenn das zu untersuchende Märchen ganz kurz ist. Das Abschreiben längerer Erzählungen erfordert zu viel Zeit und Mühe, und es ist ausserdem [65] unbequem, sie bei der Ausführung der Untersuchung anzuwenden, wobei die Varianten unzählige Male durchzulesen sind. Wir sollen deshalb nur die Hauptzüge der Erzählung aufzeichnen. Hier muss man sich jedoch davor hüten, dass die Aufzeichnung eine zu kurze Fassung erhält. Auch für den erfahreneren Forscher ist es unmöglich, im Voraus genau zu sagen, welche Umstände in der Forschung Bedeutung haben werden. Deshalb ist es am klügsten, in die Aufzeichnung auch solches aufzunehmen, was sich später möglicherweise als unbedeutend erweist. Also lieber zu viel als zu wenig.
Jede Aufzeichung, so kurz sie auch sei, muss für sich auf ein Blatt Papier geschrieben werden. Dieses Verfahren hat den Vorzug, dass es dem Forscher die Möglichkeit bietet, die gesammelten Varianten in die Ordnung zu bringen, in der sie in der Forschung zu behandeln sind.
Auf das Sammeln des Materials folgt dessen Einordnung. Alle Varianten einunddesselben Volkes werden zusammengebracht, und die Völker werden nach ihrer Verwandtschaft und geographischen Lage geordnet. Da in der Untersuchung stets auf einzelne Varianten und Variantengruppen hingewiesen wird, ist es wichtig, dass man für jede Variante ein kurzes, aber verständliches Zeichen erfindet. Die Frage ist allerdings absolut praktischer Art, und jeder Forscher kann darin handeln, wie es ihm am besten scheint. Die Varianten sind bisweilen jede mit ihrer eigenen Ordnungsnummer bezeichnet worden, aber darin liegt der Nachteil, dass das Zeichen der Variante gar nicht die Nationalität und den Aufzeichnungsort derselben angibt. Ich führe im Folgenden das von Kaarle Krohn aufgestellte Bezeichnungssystem vor, das er als Anhang zu dem ersten Bande von FFC veröffentlicht hat und das teilweise in den Untersuchungen benutzt worden ist. Darin werden die grossen Sprachgruppen mit dem Anfangsbuchstaben [66] ihrer Namen bezeichnet, und neben diesem wird der Anfangsbuchstabe des einzelnen Volkes gesetzt. Wenn z. B. die romanischen Völker mit dem Buchstaben R signiert werden, wird das Zeichen der Franzosen RF, der Italiener RI, der Portugiesen RP sein usw. Die einzelnen Varianten der verschiedenen Völker werden mit den auf die Buchstaben folgenden Ordnungsnummern bezeichnet. Wenn französische Varianten z. B. 10 vorhanden sind, bilden sich Zeichen wie RF 1, RF 5, RF 9 usw. Den Ordnungsnummern liegt der Ort der Aufzeichnung in dem betreffenden Land zu Grunde. Krohns System sieht so aus:
Erster grosser Buchstabe:
C = Celten, F = Finnougrier, G = Germanen, R = Romanen, S = Slaven, T = Türken.
Erster und zweiter grosser Buchstabe:
CB = Bretonen, CI = Irländer, CS = Schottländer, CW = Waleser.
FE = Esten, FF = Finnen, FL = Lappen, FM = Magyaren, FP = Permische Völker (Syrjänen, Wotjaken), FU = Ugrische Völker am Ural (Ostjaken, Wogulen), FW = Wolga-Völker (Mordwinen, Tscheremissen).
GD = Dänen, GE = Engländer, GG = Germanen im engeren Sinn, Deutsche, GH = Holländer, GI = Isländer, GN = Norweger, GS = Schweden, GSF oder bloss GF = Schweden in Finland, germanische Finländer, GV = Vlämen.
RE = Spanier, RF = Franzosen, RI = Italiener, RL = Ladiner, Friauler und Rhätoromanen, RP = Portugiesen, RR = Rumänen.
SB = Bulgaren, SČ = Čechen und Slovaken, SP = Polen, SR = (Gross-)Russen, SRW = Weissrussen, SS = Serben, Kroaten und Slovenen, SU = Ukrainier (Kleinrussen) und Ruthenen, SW = Wenden.
TČ = Čuwassen, TK = Kirgisen, TO = Osmanen, TT = Tataren.
[67] Einzelstehende Völker Europas werden nur mit drei Initialbuchstaben, einem grossen und zwei kleinen, bezeichnet:
Alb = Albanesen, Bas = Basken, Gre = Griechen, Let = Letten, Lit = Litauer, Sam = Samojeden.
Wie wir sehen, werden hier nur die europäischen Völker in Betracht gezogen. Ein umfassenderes System ist auch vorläufig nicht notwendig. Varianten sammeln sich heutzutage noch ausserhalb Europas gewöhnlich in so beschränkter Zahl an, dass sich der Forscher mit der Bezeichnung derselben leicht zurecht findet. Für die verschiedenen Erdteile schlägt Krohn die Signaturen Eu, As, Af, Am, Au vor.
Gering an Zahl werden auch die älteren literarischen Varianten sein. Man kann sie durch eine Abkürzung des Namens des Werkes oder des Verfassers bezeichnen, z. B. Kath. (Kathâsaritsâgara), T-N. (Tuti-Nameh), Strap. (Straparolas’ Dreizehn ergötzliche Nächte).
Für einige einzelne Länder sind noch eigene Signatursysteme gebildet worden, um deren einzelne Teile zu bezeichnen. So z. B. in Finland und Dänemark.
Nachdem wir das Material geordnet haben, sind wir soweit, dass wir an die Untersuchung selbst gehen können. Zu diesem Zweck ist die Erzählung in ihre Hauptteile zu zerlegen, die Teile in ihre Hauptzüge. Hier ist hervorzuheben, dass das genaue Vorausbestimmen der Hauptzüge bisweilen mit Schwierigkeiten verbunden ist. Wenn Unklarheiten auftauchen, ist es unnötig, sich für deren Aufklärung anzustrengen, sondern man gehe direkt zu den sicheren Zügen über. Beim Fortschreiten der Untersuchung nämlich und beim allmählichen Aufdecken der Beziehungen zwischen den Teilen der Erzählung wird die wirkliche Bedeutung jedes Umstandes deutlich.
Beim Aufsuchen der Urform des Märchens kann man zwei Verfahren anwenden: man kann entweder zuerst nur die volkstümlichen Varianten zur Untersuchung vornehmen, [68] d. h. die ursprüngliche Form des volkstümlichen Märchens aufsuchen und dann mit den erreichten Resultaten die älteren literarischen Varianten vereinigen oder auf einmal alles Material erforschen. Es ist schwer, das eine Verfahren vor dem anderen zu empfehlen. Doch wenn die älteren literarischen Varianten grössere Bedeutung haben, ist es für die Aufklärung der Urform von Vorteil, wenn diese mit den volkstümlichen Varianten zusammen behandelt werden. In jedem Falle ist das gegenseitige Verhältnis des volkstümlichen Märchens und der älteren literarischen Varianten später für sich zu erklären, damit ermittelt werde, welche von den zweien die ältere Form der Erzählung darstellt.
Hiernach folgt das Aufsuchen der Urform der Züge. Jeder einzelne Zug ist für sich zu untersuchen, wobei immer sein Verhältnis zu den ihm nahestehenden anderen Zügen im Auge zu behalten ist. Der Erfolg der Forschung macht es erforderlich, an ein und derselben Stelle alle verschiedenen Fassungen des Zuges übersichtlich zu sammeln. Auf diese Weise können wir sie am besten mit einander vergleichen. Um die Behandlungsart zu erklären, führe ich hier einige Beispiele an:
Wir wollen zuerst zur Illustration die Art der Früchte im Märchen von den drei Zaubergegenständen und den wunderbaren Früchten nehmen. Wenn wir den Zug in jeder einzelnen Variante für sich betrachten und die ein und dieselbe Fassung vertretenden Varianten zusammenstellen, bekommen wir unter Anwendung von Krohns Buchstabensystem das folgende Verzeichnis:[5]
Die Früchte sind:
Äpfel: CB 1, CS 1, 2, 4, FE, Fa 1–3[6], Fb 1–3, 6, [69] Fd 3, 4, Ff 2–5, Fj 4, 5, Fk 1, 3, Fq 2, GG 2–4, 12, 13, CSF 2, RF 2, 4, 5, SČ 1, 2, SR 1, 3, 5, 7–9, SRW 1, 2, 4–6, SU 2, 3, Let. 2, Zig;
Äpfel, aber die gesundmachenden Dinge sind:
Birnen: GG 2, 3, 13, RF 4, SČ 2, SU 2;
Nüsse: FE;
Salbe: GG 12;
Wasser: RF 5;
Beeren: Fb 4, Fd 2, Fe 1, Ff 1, 6, Fi 1–5, 7, 8, Fj, 1, 2, Fk 4–6, Fm 1, 3, 4, Fn, Fp 2, 4, Fq 1, S 1, 5, SR 4, 10, SRW 3, SU 1;
Früchte (Sorte nicht bestimmt): CI, Fe 2, Fk 2, Fp 1, RI 5, Let. 1;
Birnen: GG 11, RF 1, RR 1, SČ 3;
Kirschen: CB 2, GD;
Nüsse: Fd 1;
Pflaumen: GG 1;
Feigen: RE 1, 2, RI 2, 3, 6, 8, 11, 12, 15, SB 3, Gre 2;
Trauben: Alb;
Datteln: Af Arab.;
Gras: Fb 5, Fc 1, 2, RF 3, RI 13, SČ 5;
Salat: GG 9, 10, RI 4, 12, SS 1.
Welche von diesen vielen Fruchtsorten ist im Märchen ursprünglich gewesen? Die Äpfel haben sowohl die Mehrzahl der Varianten als auch das weiteste Verbreitungsgebiet für sich. Sie sind im ganzen Gebiete des Märchens bekannt. Obwohl aber zwei so wichtige Umstände für die Ursprünglichkeit der Äpfel sprechen, erheischt es die schliessliche Entscheidung der Frage, dass auch die anderen Fruchtsorten durchgeprüft werden, vor allem ihr Verhältnis zu den Äpfeln. Nach den Äpfeln haben die Beeren die grösste Variantenzahl, aber ihr Verbreitungsgebiet beschränkt sich auf Russland und Finland. Die „Beeren“ sind augenscheinlich eine lokale Bildung, die eine gewisse Verbreitung gewonnen hat. [70] Sie ist auch als eine abgeschwächte Bildung zu betrachten, weil sie eine ganze Fruchtgruppe und nicht eine bestimmte Fruchtsorte darstellt. Noch stärker sind in dieser Hinsicht die unbestimmten „Früchte“ entstellt, die ausserdem sehr selten sind. Die Varianten mit den „Früchten“ sind zufällige Erscheinungen. Sie beruhen teils darauf, dass der Erzähler vergessen hat, die Sorte der Früchte zu erwähnen, teils dürften sie sich aus der Mangelhaftigkeit der benutzten Aufzeichnungen erklären.
Dass die Erzähler sich bestrebt haben, die Fruchtsorte in eine andere zu verwandeln, besonders in eine in der betreffenden Gegend mehr bekannte, kann niemand wundern. Von der Verwandlung sind bisweilen nur die einen, die gesundmachenden Früchte betroffen: anstatt der gesundmachenden Äpfel finden sich Birnen, Nüsse oder irgendein ganz fremder Stoff: Salbe, Wasser. Der Erzähler hat dadurch offenbar den doppelten Einfluss der Früchte auch äusserlich sichtbar machen wollen. Mitunter haben die Äpfel ihren Platz vollständig anderen Fruchtsorten überlassen: Birnen, Kirschen, Nüssen, Pflaumen und in den warmen Ländern den für diese charakteristischen Feigen, Trauben, Datteln. Alle diese kommen so selten vor, dass keine von ihnen ursprünglich sein kann. Einige tragen deutlich lokalen, andere zufälligen Charakter.
Noch nicht betrachtet sind das Gras und der Salat, welche zwar auch selten sind, aber deren Verbreitungsgebiet ausgedehnter ist. Das Gras und der Salat mit ihren in Esel verwandelnden Zauberkräften gehören jedoch in das Zaubervogelmärchen, das sich in allen diesen Varianten mit dem Märchen „Die drei Zaubergegenstände und die wunderbaren Früchte“ verbunden hat, und ihre Ursprünglichkeit in dem letztgenannten kann gar nicht in Frage kommen.
Alle Umstände beweisen also die Ursprünglichkeit der Äpfel, und dasselbe zeigt das Vorkommen derselben in dem [71] im 15. Jahrhundert verfassten Volksbuche von Fortunatus und seinen Zaubergegenständen.
Als zweites Beispiel wähle ich aus dem Zaubervogelmärchen den Zug die Stelle der Zauberkraft in dem Vogel. Die mit dem Vogel verbundene Zauberkraft bezieht sich auf einen bestimmten Körperteil. Gehen wir wieder den ganzen Materialvorrat durch und zeichnen wir die verschiedenen Formen des Zuges auf. Die Zauberkraft vereinigt sich
mit dem Kopf des Vogels: Fi 7, Fm 1, 2, Fp 8, Fs, FL, FM, FP, GG 6, RE, RF, RI 1, 4, 5, RR 1, S 1, 6, SČ 1, 2, 4, 7, SR 1, 3–6, SS 1–3, 6, SU 2, 6, Let. 1, Gre, Zig., Af Ber. 3, As Türk. 1, Arab. 1, Ind. 2, 5;
mit dem Herzen: CB, Fb 1, Fc 1, 2, Ff 1, 2, Fi 1, Fj 1–3, Fl, Fm 1, Fp 4, Fq 1, Fs, FM, FP, GG 1–5, 7, RE, RF, RI 1–3, 5, RR 1, 2, S 6, SČ 1, 2, 4, 5, 7, SR 1, 6, SS 1, 3–7, SU 5, 6, Gre, Zig., Af Ber. 1, 3, As Türk. 1, Syr., Arab. 1;
mit der Leber: Fb 3, GG 1, 2, 4, 7, RI 2–4, S 10, SS 2, SU 5, Let. 2, Gre, As Ind. 5;
mit den Eingeweiden (dem Magen): Fi 7, Fq 9, RR 1, 2, S 1, 9, SČ 5, SR 4, Af Ber. 1, As Türk. 1;
mit den Flügeln: FE, Fd 2, Fi 4, Fm 2, Fp 1, 2, 8, FL, S 3, 5, SR 2, 3, SRW, SS 5, SU 1, 3, 4;
mit dem Kropf: Af Ber. 4, Arab. 2;
mit den Nieren: SS 2, 4;
mit der Lunge: Let. 2;
mit der Brust: As Ind. 2;
mit dem Nabel: SR 2;
mit dem Hals: SR 5;
mit dem Knochen: Fm 2;
mit dem Fuss: SRW, Zig.;
der Vogel verdoppelt und mit jedem ein eigener Zauber verbunden: Let. 1, Af Ber. 1, As Ind. 1, 3, Hinterind. 2.
[72] Von den verschiedenen Formen des Zuges können wir als später entstanden gleich die letzterwähnte weglassen, in welcher von zwei Vögeln die Rede ist, die beide ihre eigene Zauberkraft besitzen. Die Zweizahl der Vögel hat sich aus der ursprünglich zu dem Märchen gehörenden Zweizahl der Zauber (das Königwerden und das Vermögen Gold zu erzeugen) ergeben, eine in den Märchen sehr natürliche Veränderung. In einigen finnischen Varianten (Fb 1, Fc 1, 2, Fe, Ff 1) wird von 2 Eiern gesprochen, aus denen je ein Zaubervogel hervorgeht, wenn sie genügend bebrütet werden. Als einzelne gelegentliche Fälle können wir auch Kropf, Nieren, Lunge, Brust, Nabel, Hals, Knochen und Fuss ausscheiden. Sie dürften sich teils aus der Schwäche der Erinnerung des Erzählers herleiten, teils absichtliche Veränderungen sein. Die Flügel wiederum sind nur in einem Teile von Europa (in Finland, Russland und einmal in Bulgarien) bekannt, also in einem sehr beschränkten Gebiet. Das Erscheinen der Flügel habe ich früher als Beispiel von solchen Veränderungen in den Märchen erwähnt, deren Geschehen beinahe unabwendbar ist. Weil sich die Zauberschrift auf den Flügeln des Vogels befindet, ist es natürlich, dass die Erzähler zuweilen darauf verfallen sind, die Zauberkraft auch mit den Flügeln zu verbinden, so wenig passend diese auch als Speise sind.
Übrig sind noch Kopf, Herz, Leber und Eingeweide. Von diesen gehören das Essen des Kopfes und das Königwerden so ständig zusammen, dass sie gewiss schon in dem ursprünglichen Märchen vereinigt gewesen sind. So ist es schon in den alten Varianten des Tuti-Nameh und des Kandschur. Aber welcher Körperteil hat in der ursprünglichen Form des Märchens das Golderzeugen verursacht? Das Herz ist bedeutend häufiger als die Leber und die Eingeweide und hat sich weit verbreitet, obwohl allerdings auch die letztgenannten in verschiedenen Gegenden vorkommen. Die Sache wird entschieden, wenn wir wahrnehmen, [73] dass das Herz das einzige ist, das allgemeiner neben dem ursprünglichen Kopfe erscheint. Die Leber findet sich in 14 Varianten nur zweimal zusammen mit dem Kopfe, ausserdem wird einmal von dem Kopfe, dem Herzen und der Leber gesprochen, die jedes für sich einen Zauber haben. Gewöhnlicher ist neben der Leber das Herz als Stellvertreter des Kopfes. Die Ursprünglichkeit der Eingeweide kann noch weniger in Frage kommen. Die Anzahl der Varianten ist dafür eine zu geringe, und die Stellung der Eingeweide ist auch sonst nicht feststehend. Ihre Eigenschaften sind bald das Golderzeugen, bald das Verschaffen eines hohen Amtes – also die Analogieform des Königwerdens usw. –. Bisweilen repräsentieren sie neben dem Kopfe und dem Herzen einen dritten Zauber. Das Erscheinen der Eingeweide (des Magens) geht wahrscheinlich darauf zurück, dass, als der zauberkräftige Teil des Vogels verzehrt wird, derselbe in die Eingeweide übergeht. Als die Jungen des Besitzers des Zaubervogels durch das Verzehren des Vogels die Bestrebungen des dem Vogel Nachstellenden zunichte gemacht haben, versucht dieser die Stücke des Vogels aus dem Magen der Jungen wieder herauszubekommen, zuweilen wird sogar erzählt, dass er bestimmt, aus den Eingeweiden der Jungen eine Speise zu bereiten. Es verdient auch in Betracht gezogen zu werden, dass das Verzehren des Herzens im allgemeinen ein wichtiger Zauber ist. Das Vermögen Gold zu erzeugen ist in der Urform des Märchens offenbar mit dem Herzen verbunden gewesen.
Beim Aufsuchen der Urform des Zuges dürfte es auch nicht ohne Bedeutung sein, dass der Kopf und das Herz (= die Seele) die wertvollsten Teile des Körpers sind. Da es sich um so bedeutungsvolle Vorteile wie das Königwerden und das Vermögen Gold zu erzeugen handelt, scheint es natürlich, dass der Verfasser der Erzählung sie gerade mit den wichtigsten Körperteilen verbunden hat.
[74] Hiernach betrachten wir den Zug der in das Nachtquartier Eindringende in dem Märchen „Die Tiere im Nachtquartier“.
In der Form A, in der die wandernden Tiere sich in einem von ihnen selbst gebauten Haus befinden, erscheint der Zug in folgender Gestalt:
Wolf: FE 12 (+ Fuchs), Fb 1, Fi 2, 3, Fj 4, 5, (+ Bär), 6, 9, 10, Fm 12, Fb 111, Fj 112, 114, 115, Fs 116, Fj 155, FW 1 (+ Hase), 2, GN 1, SB 3, SR 2 (+ Fuchs u. Bär), 3 (+ Bär)[7], 5–7, SRW 1, 2 (+ Bär), 6, SU 3, 5, 7, 10 (+ Hase);
Bär: Fm 13, Fq 15, SR 4;
Räuber: GSF 3, SR 1;
Teufel: Fj 19, 113.
Räuber und Teufel gehören sehr allgemein zu der Märchenform B und haben sich daraus in die erwähnten Varianten verirrt. Zwischen dem Wolfe und dem Bären wiederum entscheidet die Anzahl der Varianten und das Verbreitungsgebiet die Sache unstreitig zugunsten des erstgenannten. Der Wolf und der Bär kommen in den Tiermärchen oft einer anstelle des andern vor. Das Erscheinen des Bären, Fuchses oder Hasen in einigen Varianten neben dem Wolfe als in das Nachtquartier Eindringender ist ein von solchen Tiermärchen verursachter späterer Zusatz, in denen die erwähnten Tiere zusammen sind. Der in das Nachtquartier Eindringende ist also in der Form A ursprünglich der Wolf gewesen.
Auch in diesem Beispiele, wie in den beiden vorhergehenden, ist die ursprüngliche Form des Zuges zugleich die am häufigsten vorkommende Form. In der Form B des Märchens „Die Tiere im Nachtquartier“, in der die Tiere in einem fremden Hause übernachten, ist der Sachverhalt [75] ein anderer. Die Durchmusterung des Zuges gibt uns darin folgende Variantengruppen:
Wolf: Alb., CB 1, 2, Fb 110, GD 20, GG 11, 14, 16, 24, GSF 7, GV 4, RE 3, RF 1, 3, 5, 6, 10, 16, RP 1, RW 1[8], SB 1–3, SP 6, SS 1[8], 6, SU 2;
Bär: Fj 153, GN 2;
Räuber: CI, CS, FE 2–11, 13–16, Fb 31, 118–120, Fc 128, 130, 131, 133, 134, Fd 137, Fh 152, Fj 158, Fk 160, 162, 163, Fj 198, FM, GD 6, 8, 9, 14, 18, 22, 26–29, 31, GE 1–3, GG 1, 4, 6–9, 12, 13, 18, GS 2, 5, GSF 2, 5, 6, 10, 12, 15, GV 1, 2, 5, 8–10, RE 2, RF 7–9, 11, RI 4, RR 1, 2, RW 2, 3, SČ 1–5, SP 1, 2, 4, SS 3, 4, SU 4, 9, 11, 12, SW;
Teufel (Kobold, Gespenst u. a.): FE 1, Fq 16, 17, Fj 18, 20–26, Fl 27, 28, Fa 29, 30, Fb 32–34, Fd 35, Fe 36–38, 40, 41, Ff 42, Fg 43, Fx 46, Fk 47, Fl 49, 52, 53, 55–57, 61, Fm 63, 65–67, Fn 68, Fo 69, Fs 72, Fx 73, 74, Fa 75, 76, Fb 77–82, Fc 83, Fd 84, Ff 85, Fd 87, Fe 89, 90, Fg 91–93, Fh 94, Fj 95–98, Fk 99, Fl 100–106, Fa 108, Fd 109, Fb 117, 121–124, 126, 127, Fc 129, 132, 135, Fd 136, 138, 141 143, Fe 144–146, Ff 147–150, Fj 154, 156, 157, Fk 159, 161, Fl 164, Fb 166–179, Fd 181–187, Fe 188–190, Ff 191–196, Fj 197, Fk 199–201, Fx 202, GD 1–4, 7, 10–13, 15, 16, 21, 24, 32, 33, GG 2, GS, 1, 3, 4, 6, GSF 1, 4, 9, 13, 14, 16, SP 3, 5, 7–12, SU 1;
Herr oder Bewohner des Hauses: Fb 180, GD 17, 19, 23, 25, RF 4, RI 1, SS 2, 5;
Tiger: Am Ind.
Unter diesen verschiedenen Fassungen des Zuges erkennen wir leicht die seltensten, die zweite, fünfte und sechste als später entstanden. Der Tiger ist ein einzelnstehender Fall und der Herr oder Bewohner des Hauses eine verallgemeinerte [76] Bildung. Die Beschaffenheit des in die Stube Eindringenden, die sonst in den verschiedenen Fassungen erwähnt wird, bleibt da unbestimmt. Besitzer des Nachtquartiers ist er überall in der Form B. Was wiederum den Bär betrifft, hat er, ebenso wie in einigen A-Varianten, hier zweimal den Platz des Wolfes eingenommen.
Um die Ursprünglichkeit rivalisieren also Wolf, Räuber und Teufel. Wenn die Zahl der Varianten die Frage entschiede, repräsentierte der Teufel die ursprüngliche Form, aber bei der Durchsicht des Verzeichnisses ist leicht zu bemerken, dass die grosse Menge der Teufel-Varianten auf der Häufigkeit der finnischen Aufzeichnungen beruht. Die Teufel-Fassung erscheint nur an bestimmten Orten: in den skandinavischen Ländern, in Finland und Polen (SU 1 stammt aus Galizien nahe der polnischen Grenze), wozu sie einmal in Estland aufgezeichnet worden ist. Der Riese in der deutschen Variante GG 2 dürfte ein in seinem Ursprung von den Teufel-Varianten unabhängiger Fall sein. Die Teufel-Fassung ist also unbekannt im grössten Teil von Mitteleuropa, in Südeuropa, auf den Brittischen Inseln und, weil sie nicht zu der in Russland verbreiteten Form A gehört, auch in Osteuropa. Was die Wolf- und Räuber-Fassungen anbelangt, kann man dagegen von beiden sagen, dass sie das ganze Gebiet des Märchens beherrschen, obgleich die letztere häufiger ist. Um zu ermitteln, welche von diesen Fassungen in der Form B ursprünglich ist, muss die Aufmerksamkeit auf folgende Umstände gelenkt werden: a) Das Märchen ist ursprünglich offenbar ein Abenteuer zwischen den Haustieren und den Tieren des Waldes gewesen. b) So verhält es sich in allen älteren literarischen Varianten, von denen zwei aus dem 12. und zwei aus dem 16. Jahrhundert stammen, und in ihnen allen erscheint ausserdem als der in das Haus Eindringende ein und dasselbe Tier, nämlich der Wolf. Nach den literarischen Varianten kann man auch schliessen, dass die Räuber-Fassung zu dieser Zeit [77] noch nicht bekannt war. Es könnte jemand behaupten, dass die Wolf-Varianten sich möglicherweise von jenen literarischen Fassungen herleiten, wenn es aber so wäre, würde man eine nähere Übereinstimmung zwischen den erwähnten B-Varianten und den älteren literarischen Varianten erwarten. Eine solche ist jedoch nicht zu bemerken. Mit dieser Annahme stände auch der Umstand nicht in Einklang, dass der Wolf auch in der Form A der in die Stube Eindringende ist. Ebenso wenig kann man annehmen, dass der Wolf ursprünglich nur zu der Form A des Märchens gehört hätte und von da in eine Gruppe von B-Varianten übergegangen wäre, denn die erwähnten B-Varianten sind meistens an solchen Orten aufgezeichnet worden, wo die Form A nicht bekannt ist.
Der Räuber ist also nach allem eine spätere anthropomorphisierte und der Teufel eine dämonisierte Bildung. Die erstere hat die grimmsche Variante „Bremer Stadtmusikanten“ so allgemein gemacht, die aus dem Buche in den Volksmund übergegangen ist. Einige der Räuber-Varianten sind augenscheinlich unmittelbar aus dem Buche gekommen. Die Teufel-Fassung wiederum hat ihren Ursprung in der Verbindung einiger Teufelsgeschichten mit dem Märchen, z. B. der Geschichte von dem Spukhause, wo keiner Nachtruhe findet (Mt. 326 u. 1160), „Der Bärenführer und sein Bär“ (Mt. 1161), der dem Teufel versprochene Junge u. a.
Wir werden vollkommen davon überzeugt, dass der in das Nachtquartier der Haustiere Eindringende auch in der Form B ursprünglich der Wolf gewesen ist, dessen Platz die anthropomorphisierte Räuber-Fassung und die dämonisierte Fassung später allgemein eingenommen haben.
Beim Suchen nach der Urform der Züge hat man Anlass, besonders noch das folgende Verfahren zu betonen: Wenn irgendeine Form des Zuges durch ihre Häufigkeit, ihr weites Verbreitungsgebiet, ihre Natürlichkeit oder aus anderen Gründen ursprünglich [78] scheint, ist zu untersuchen, ob sich andere Fassungen leicht daraus haben ergeben können. Nur in dem Falle, dass es sich so verhält, kann man sie als ursprünglich betrachten.
Wenn die ursprüngliche Form jedes Zuges gefunden ist, bildet man sich durch Verbindung derselben die Urform des ganzen Märchens, mit Hilfe deren der Heimatsort, die Entstehungszeit und die Verbreitungswege des Märchens untersucht werden in der Weise, wie es im vorigen Abschnitte des Werkes auseinandergesetzt worden ist.
Erst nachdem die Untersuchung zu Ende geführt ist, kann das benutzte Material auf die schliessliche Form verkürzt werden. Die Verkürzung ist eine durchaus formelle Sache, die auf verschiedene Art behandelt werden kann. Ich will jedoch darauf aufmerksam machen, dass man beim Veröffentlichen des Materials oft unnötig viel Worte macht. Es ist überflüssig, mehr zu veröffentlichen als die Züge, die in der Untersuchung vorkommen, und da immer von derselben Erzählung die Rede ist, ist äusserste Kürze möglich. In wenigen Zeilen kann man auf diese Weise eine ganze Variante vorführen, so dass alle ihre speziellen Eigenschaften ersichtlich werden. Die immer wachsende Menge des Materials zwingt den Forscher direkt zu einer kurzen Wiedergabe. Bei der Verkürzung kann man sogar so weit gehen, dass nur einige bemerkenswertere Varianten eingehend referiert und die anderen nur aufgezählt werden. Die Deutlichkeit erfordert jedoch in diesem Falle an einigen Stellen in der Untersuchung selbst die Dinge ein wenig ausführlicher darzustellen.
- ↑ Anhang zum ersten Bande der Serie „Folklore Fellows Communications“.
- ↑ Siehe „Berichte über die Tätigkeit des folkloristischen Forscherbundes „FF“ (FFC 4, 7 u. 12).
- ↑ Siehe S. 3.
- ↑ Grundtvigs Verzeichnis (Registrant) ist beim Ordnen der Märchenvorräte von „Dansk Folkemindesamling“ befolgt (Siehe FFC 2), doch so, dass neben G:s Nummern später die Nummern des neuen Typenverzeichnisses gestellt sind.
- ↑ Da ich mich hier ebenso wie in den folgenden Beispielen auf meine eigenen Forschungen stütze, werden nur in denselben vorkommende Varianten in Betracht gezogen.
- ↑ Nach F stehende kleine Buchstaben bezeichnen die verschiedenen Provinzen Finlands.
- ↑ Bär erzählt dem Wolfe.
- ↑ a b Wolf und Fuchs haben den Platz gewechselt.
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