Literaturbriefe an eine Dame/X

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Autor: Rudolf Gottschall
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Titel: Literaturbriefe an eine Dame X
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aus: Die Gartenlaube, Heft 10, S. 162–164
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Über Franz Grillparzer.
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[162]
Literaturbriefe an eine Dame.
Von Rudolf Gottschall.
X.


Sicher, verehrte Frau, ist in Ihr Tusculum am Strande des Meeres die Kunde von der glänzenden Jubelfeier, von dem Tode und feierlichen Begräbniß eines Wiener Dichters gedrungen, in welchem Oesterreich mit seltener Einstimmigkeit seinen „Goethe“ feiert. In Norddeutschland freute man sich herzlich, daß einem greisen Dichter eine so schöne Anerkennung, ein so später Lorbeer zu Theil geworden, als der achtzigjährige Geburtstag Franz Grillparzer’s in der Donaustadt einen solchen Enthusiasmus wachrief; denn wer freute sich nicht, wenn ein Volk seinen Dichter ehrt? Dennoch war man befremdet über solche Feier; denn der Dichter der „Ahnfrau“ gehörte zu den verschollenen Größen der Literaturgeschichte, und nicht allzu viele hatten eine Sappho und Medea über die weltbedeutenden Bretter wandeln sehen.

Ich weiß, verehrte Freundin, daß Ihnen Namen Schall und Dunst sind, daß Ihr Interesse an literarischen Dingen ernst und aufrichtig genug ist, um sich nicht mit dem zu begnügen, was die hochgehende Welle des Tages Ihnen zuspült. Sie haben, als Sie von der Grillparzerfeier lasen, zum Buchhändler geschickt; Sie haben sich Grillparzer’s sämmtliche Dichtungen kommen lassen, vielleicht in der Hoffnung, eine elegante Miniaturausgabe, mindestens doch eine anständige Gesammtausgabe zu erhalten; denn wenn auch Jahrzehnte hindurch Geschlechter undankbar und vergeßlich gewesen wären, vor einer solchen Jubelfeier, welche den Enthusiasmus vieler Tausende schon im Voraus erregt, mußten doch die Dichtungen des Gefeierten nicht ein-, sondern mehrmals aufgelegt von Hand zu Hand gehen!

Ach, Sie wissen nicht, wie es mit der Begeisterung der Deutschen für viele ihrer Dichter bestellt ist; man ist für sie begeistert, aber man liest sie nicht; man liebt und ehrt sie, so zu sagen, aus zweiter Hand; man windet ihnen Kränze, man weiht ihnen Thränen der Rührung und des Entzückens; aber man kennt vielleicht nur zufällig irgend einen Vers von ihnen oder den Titel eines oder des andern ihrer Werke; man war vielleicht einmal im Theater, als diese oder jene berühmte Künstlerin in einer Rolle des Dichters auftrat, und besinnt sich auf die Rolle und im besten Falle gelegentlich auf den Dichter dazu. Je größer ein Dichter ist, desto weniger wird er gelesen, je unsterblicher, desto mehr schreckt er vor jeder Annäherung zurück. Sie lächeln skeptisch, verehrte Frau? Sehen Sie doch nur Grillparzer’s „goldenes Vließ“ und andere dramatische Dichtungen in Ihrer Hand an, dies ehrwürdige Löschpapier, diese vergilbten Lettern, dies veraltete Format – alles das, was auf eine verlegene literarische Waare deutet. Die elegantesten und vornehmsten Damen des österreichischen Kaiserreichs, die dem Dichter an seinem Jubeltage persönlich ihre Huldigung darbrachten, konnten ihre Begeisterung nur aus dem Quell dieser alten ehrwürdigen Drucke schöpfen, mußten ihre Toilettentische, wenn sie sich in die Lectüre ihres gefeierten Lieblings vertiefen wollten, mit diesem unmodernen und uneleganten buchhändlerischen Caliber beschweren. Und wenn sie zu sehr den aristokratischen Parfüm liebten, um ihn durch den wehmüthigen Duft poetischer Maculatur zu beeinträchtigen – nun, so blieb der Dichter eben ungelesen. Man kennt ihn übrigens ja aus dem Burgtheater – und ob gelesen oder nicht – er bleibt doch immer Oesterreichs größter Dichter.

Halten Sie diese Betrachtungen für zu profan? Sie sind es nicht; ich glaube mich dabei auf einen Mitschuldigen berufen zu können, den Sie nicht ablehnen dürfen – es ist der Dichter selbst, der nicht blos ein schwunghafter Lyriker, sondern auch ein feiner und scharfer Kopf war und im Grunde seines Herzens den ungestümsten Huldigungen gegenüber einen beharrlichen Zweifel wahrte. Er mußte sich sagen, daß nur wenige seiner dramatischen Werke neue Auflagen erlebt hatten, daß seine letzten Dramen von dem Publicum des Burgtheaters abgelehnt worden waren, daß er in den deutschen Literaturgeschichten in Einem Sarkophag mit den längst verstorbenen Schicksalstragöden ruhte, daß lange Zeit nur eine sehr kleine Gemeinde den Cultus seiner Dichtung pflegte. Und wenn er nun Jahrzehnte seines Lebens in halber Vergessenheit hingebracht hatte, wenn er gealtert war in stiller Resignation auf den vollen Lorbeer, den die Träume seiner Jugend ersehnten, wenn dann allmählich an der Wiener Burg durch den Eifer eines befreundeten Directors seine Stücke wieder festeren Boden gewannen, ein jüngeres Geschlecht sich ihm wieder lebhafter zuwandte und nun im höchsten Alter, in einem Alter, welches zu erreichen nur ausnahmsweise den Sterblichen vergönnt ist, der Enthusiasmus der Deutsch-Oesterreicher ihn mit Ehren überhäufte, der Kaiser ihm glänzende Auszeichnung zu Theil werden ließ, die hohe Aristokratie, die Würdenträger der Krone, die städtischen Behörden, das ganze Volk von Wien ihm begeistert zujauchzte – mußte er nicht dieser plötzlichen Verherrlichung eines schönen und späten Lebenstages im Stillen die Bitterkeit so vieler einsam vergrämter Jahre entgegenstellen, nicht sein hohes Alter, das so stürmischer Huldigung gegenüber doppelt seine Schwäche empfand, mußte er nicht wehmüthig ausrufen: „Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt!“ und vielleicht im Innern seines Herzens hinzusetzen: „Zu spät für mich, fast wär’ es auch zu spät für Euch gewesen!“

Das ist deutsches Dichterloos, verehrte Frau! So lange man den Lorbeer glühend ersehnt, entzieht er sich heimtückisch unserer Stirn, doch der schöne Rausch des Ruhmes wird voll nur in der Jugend empfunden; das Alter erkennt zu sehr die Eitelkeit und Vergänglichkeit aller irdischen Dinge; der frische Lorbeerkranz verwelkt in seiner Hand und sein unheimliches Rascheln kündet, wie bald die welken Blätter abfallen werden.

Daß die Deutschen ihre Dichter nicht lesen, nur aus Literaturgeschichten kennen, das hatte auch Grillparzer zu schmerzlich erfahren, um es nicht auszusprechen; er sagt in einem seiner hinterlassenen Epigramme:

 Literaturgeschichte.
Ihr kauft die Katze gern im Sack,
Genießt das Lebend’ge im Buch,
Und statt zu prüfen mit dem Geschmack,
Begnügt ihr euch mit dem Geruch.

[163] Und doch konnten Grillparzer’s erste dramatische Dichtungen den Dichter durch ihre Erfolge zu den schönsten Hoffnungen berechtigen. Die „Ahnfrau“ hatte die Runde über alle deutschen Bühnen gemacht – und, wie man auch über die spukhafte Schicksalstragödie denken mag, welche neuere Commentare vergeblich einem gesunden Geschmack zugänglich zu machen und in eine neue Beleuchtung zu rücken suchen –, das Talent, das sich in dem Stück aussprach, übertraf dasjenige aller Mitbewerber um den Preis der Melpomene; es hatte edeln Schwung und feurigen Athem, etwas Hinreißendes, das der Begabung Müllner’s und Houwald’s fehlte. So konnte auch Ludwig Börne, ein moderner Kopf, für den die Politik das Schicksal war und der sonst alle Spuktragödien in die Rumpelkammer der Literatur verwies, doch nicht umhin, diesem schönen Talent wärmste Anerkennung zu zollen.

Grillparzer’s bedeutendste Dichtung, die „Sappho“, fand sogar die Anerkennung eines Größeren – Lord Byron sprach sich voll Bewunderung über diese Tragödie aus; er hatte sie in Ravenna in einer italienischen Uebersetzung von Guido Sorelli gelesen und schreibt in seinem Tagebuche vom 12. Januar 1821: „Grillparzer ist gewiß ein verteufelter Name für die Nachwelt, doch sie muß ihn aussprechen lernen. … Die Tragödie ‚Sappho‘ ist prächtig und erhaben – das läßt sich nicht leugnen. Der Mann hat etwas Großes gethan, als er das Stück schrieb. Und wer ist er? Ich kenne ihn nicht, doch künftige Jahrhunderte werden ihn kennen. … Grillparzer ist groß, antik, nicht so einfach wie die Alten, doch sehr einfach für einen Modernen, zu ‚Madame de Staëlisch‘ hin und wieder, doch trotzdem ein großer und tüchtiger Schriftsteller.“

Die Pforten einer großen Zukunft schienen sich vor Grillparzer aufzuthun und doch bewegten sich von jetzt an die Erfolge des Dichters in absteigender Linie. „Das goldene Vließ“ (1822), wenn auch lange Zeit von einer Sophie Schröder getragen, welche die Rolle der Medea spielte, behauptete sich nicht auf den Bühnen; die patriotisch-historischen Stoffe, denen sich der Dichter sodann zuwandte, fanden eine sehr verschiedenartige Beurtheilung, und als endlich die Wiener das Lustspiel „Weh’ dem, der lügt!“ durchaus ablehnten, trat Grillparzer von der Bühne zurück und verharrte einunddreißig Jahre lang bis zu seinem Tode in hartnäckigem Schweigen. Nur das Fragment seiner „Esther“ ließ er sich für die Wiener Hofbühne abringen; seine „Libussa“ und seine anderen Dramen bewahrte er in seinem Pulte, grollend mit der Welt und mit der Zeit.

Ich schreibe Ihnen, verehrte Freundin, hier keine Kritik der Grillparzer’schen Werke. Noch gehen die Urtheile über dieselben weit auseinander. Während die österreichischen Festredner und Zeitungen in Grillparzer einen der größten deutschen Dichter feiern und ihm seine Stelle unmittelbar neben Schiller und Goethe anweisen, sprechen die bedeutendsten Literarhistoriker von dem Dichter in einem keineswegs bewundernden Tone, und nur ich selbst in meiner „deutschen Nationalliteratur des neunzehnten Jahrhunderts“ und neuerdings Karl Goedecke haben die dichterischen Verdienste Grillparzer’s mit Wärme anerkannt.

Ohne Frage war, wie schon Byron bemerkt, die Corinna der Frau von Staël nicht ohne Einfluß auf die Physiognomie von Grillparzer’s Sappho, der liebenswürdigsten Frauengestalt des Dichters, wie überhaupt dies Drama, wenn auch nicht von antikem Geist beseelt, doch ein warmes Gefühl und glühende Leidenschaft mit künstlerischer Grazie ausdrückt. Die „Medea“ hat mehr tragisches Lebensblut, markirtere dramatische Züge, wenngleich die Wildheit der Barbarei nirgends die Grenzlinien der Schönheit überschreitet; „Hero“ aber ist eine trunkene Priesterin der Liebe, deren siegreiche Macht in dem Drama dithyrambisch verherrlicht wird, nicht ohne daß die Handlung sich in einer oft zerflossenen Lyrik auflöste. Am geistvollsten und tiefsinnigsten von Grillparzer’s Dichtungen ist wohl „der Traum ein Leben“, wenngleich dieser Geist und Tiefsinn gewissermaßen im spanischen Mantel- und Degencostüm erscheint und die Weisheit der Trochäen immer fremdartig gemahnt und sich schwerer dem Gedächtniß einprägt. Von den historischen Tragödien Grillparzer’s hat „König Ottokar’s Glück und Ende“ dramatisches Leben und einige große Züge, obwohl die oft sentimentale Pseudoromantik jener Epoche der „Abendzeitungen“ auch hier zur Unzeit einzelne Ergüsse trübt. „Ein treuer Diener seines Herrn“ aber ist ein offenbarer Mißgriff des Dichters gewesen, der seinem Ruhm schadete, weil man aus der Wahl und besonders aus der Umgestaltung des Stoffes auf eine engherzige Gesinnung schloß.

Und doch war auch Grillparzer mit dem Metternich’schen System in Conflict gerathen. Selbst „ein treuer Diener seines Herrn“ hatte dem Kaiser Franz Bedenken erregt; er ließ dem Dichter sagen, das Stück habe ihm so gut gefallen, daß er es ganz allein für sich zu behalten wünsche; er möchte ihm das Manuscript übergeben für seine Privatbibliothek, das Stück aber nirgends spielen lassen, er wolle ihn reichlich dafür entschädigen, der Dichter möge nur selbst den Preis bestimmen. Grillparzer begehrte und erhielt nichts, aber das Stück wurde nicht mehr gegeben. Ein Gesuch um Erhöhung des Gehalts, das der Kaiser selbst zu bewilligen versprochen hatte, fand sich nach dem Tode desselben in einer Schublade, wo er alle die Eingaben hinlegte, die nie zu erledigen waren.

Grillparzer war Archivdirector bei der Hofkammer, auch eine Zeitlang Vorleser der Kaiserin; doch ein Gedicht, das er bei einer italienischen Reise auf den Trümmern des Forums verfaßt hatte: „die Ruinen des Campo Vaccino in Rom“ brachte ihn um diese Ehre. Das Gedicht, welches einige scharfe epigrammatische Pointen enthielt, namentlich gegen das Mönchthum, in der Form aber etwas ungelenk ist, hatte seine Schicksale. Von der Censur nicht beanstandet, in einen Almanach aufgenommen, wurde es von dem Renegaten Zacharias Werner als kirchenfeindlich der Polizei denuncirt; diese schritt gegen den ketzerischen Poeten ein, entfernte das Gedicht aus den im Buchladen vorhandenen Exemplaren des Almanachs und trug dafür Sorge, daß Grillparzer seines Amtes als Vorleser der Kaiserin entsetzt wurde.

Das sind Erlebnisse, die uns im Lichte einer freieren Zeit sehr kleinlich vorkommen mögen, aber damals zu den „Ereignissen“ gehörten und den Dichter immer mehr verstimmen mußten. Der geringe Erfolg seiner neuern, mit Fleiß und künstlerischem Ernst geschaffenen Dichtungen stach so auffallend ab gegen den glänzenden Succeß seiner in vierzehn Tagen, auf Grundlage zweier Erzählungen, zusammengeschriebenen „Ahnfrau“, daß es begreiflich ist, wenn der Dichter dem Publicum gegenüber in einem geringschätzigen Groll verharrte. So schrieb er einem Schauspieler in’s Album:

Trotz Angst und Noth eurer Bühnenberather
Fehlen noch drei Stück’ zum deutschen Theater.
Darnach seht euch vor Allem um:
Schauspieler, Dichter und ein Publicum.

Die Muse des Epigramms war überhaupt die Muse des alternden Dichters; seiner Verdrossenheit über eigenes Geschick und eine widerwärtige Zeitströmung gab er einen lapidaren Ausdruck; und zwar in der Regel mit schneidender Schärfe. Sehen wir uns aber den greisen Olympier Goethe an, neben welchem die Wiener Festordner ihrem Grillparzer den Ehrensessel zurechtrücken, so finden wir doch, in der Auffassung der später geborenen Literatur, einen bedeutenden Unterschied. Die lyrische Sündfluth war auch diesem unwillkommen und er verzeichnete nicht ohne Aerger in sein Privatarchiv die Namen der zahlreichen Dichter, mit denen das Gedächtniß der Mitwelt belästigt wurde; doch ebenso bereitwillig, mit königlichem Wohlwollen, erkennt er das Talent an, das Anziehende und Schöne, welches die Zeitgenossen schufen – und es war gerade damals eine Epoche schwächlicher Production; erst nach Goethe’s Tode rückte die Literatur in ein neues glänzenderes Sternbild. Grillparzer dagegen konnte seinen Mißmuth über die Nachstrebenden, über die Erfolgreichen nicht unterdrücken. Die freie politische Lyrik, die seinem büreaukratisch geschulten Gewissen zuwider war, beschuldigte er, mit großem Unrecht, der Talentlosigkeit:

Wollt ihr die Freiheitsgluth curiren,
Die gar so heiß in unsern Dichtern brennt,
Braucht ihr nicht Mittel lang’ erst zu probiren,
Gebt ihnen als specificum – Talent,

und das folgende Epigramm ist offenbar an die Adresse des geistreichen und liebenswürdigen Anastasius Grün gerichtet:

 A. G.
Willst seinen Werth du schildern,
Bezeichnen sein Gedicht:
Er weiß ganz wohl zu bildern,
Allein zu bilden nicht.

[164] Doch wir wollen dem Wiener Einsiedler seine Mißstimmung und Verbitterung nicht verargen, auf welche selbst die Ernennung zum Mitglied der Akademie der Wissenschaften und dann zum lebenslänglichen Mitglied des Herrenhauses keine heilkräftige Wirkung ausübte. Wer ihn in seiner hochgelegenen Klause besuchte, wer die für einen Norddeutschen ungewohnten vier oder fünf Treppen in die Höhe geklettert war, der sah hinter dem Pult einen alten Herrn, der zunächst den Eindruck eines kleinen Beamten machte, aus welchem der begeisterte Anhänger vielleicht anfangs Mühe hatte, den großen Dichter heraus zu finden. Dennoch entdeckte man bald etwas Feinsinniges in seinen Zügen und das Auge verrieth den Lyriker; es lag eine sanfte Schwärmerei in demselben. Die Lippen hatten sinnliche Fülle, die vortretende Unterlippe etwas Habsburgisches. Man wurde daran erinnert, daß dieser Dichter sowohl in dem Capua der Geister lebte, als auch das Geheimniß der Habsburgischen Hauspolitik, die Einheit des Kaiserreichs, mit schlagender Prägnanz ausgesprochen hatte in dem bekannten Radetzkyhymnus: „In deinem Lager ist Oesterreich“.

Ich weiß nicht, ob Sie nach der Lectüre von Grillparzer’s dramatischen Schriften die innige Sympathie, die tiefe Verehrung für den Dichter empfinden werden, wie sie an der Donau sich, wir möchten sagen, in einer so großartigen Massenbewegung ausgesprochen hat; es ist möglich, daß Sie in der Entwickelung des Dichters den geistigen Faden und die Tiefe einer originalen Weltanschauung vermissen werden, welche diese in Form und Farbe so verschiedenartigen Schöpfungen, die antiken und spanisch-romantischen Dichtungen, wie die Haupt- und Staatsactionen aus der österreichischen Geschichte zusammenhält; doch Sie werden von der dichterischen Grazie der „Sappho“, von der tragischen Energie der „Medea“, von der sinnreichen Phantastik des Stücks: „Der Traum ein Leben“ den Eindruck eines edlen und schönen Talents erhalten, und auf das Grab dieses Dichters „an der blauen Donau“ gern einen Kranz aus den Rosengärten der Ostsee legen.



WS-Anmerkung:

Dieser Beitrag erschien als Nr. X in der Serie Literaturbriefe an eine Dame