Psychotomie

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Autor: Kurd Laßwitz
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Titel: Psychotomie
Untertitel: Ein philosophisches Märchen
aus: Seifenblasen. Moderne Märchen. S. 159–177.
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Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Leopold Voß
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Erscheinungsort: Hamburg und Leipzig
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Quelle: UB Düsseldorf, Deutsches Textarchiv und Commons
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[159]

Psychotomie.
Ein philosophisches Märchen.




Es war einmal ein Privatdocent der Philosophie, der hieß, um allen Verwechslungen vorzubeugen, Dr. Schulze. Eines Nachmittags saß er an seinem Schreibtische und konnte seine Gedanken nicht ins Reine bringen; das hätte zwar weiter nichts geschadet, wenn er sie nur im Konzept gehabt hätte, aber das war ihm gerade ausgegangen. Da hatte nun ein Autor Schulzen wieder einmal gründlich mißverstanden! Das kommt von diesem Widerspruchsgeist, der sich überall breitmacht, von dieser prinzipiellen Unzufriedenheit, die nichts anderes gelten lassen will, als die eigene Meinung! Wollten doch die Leute endlich einsehen, daß Überzeugung den größten Sieg feiert, wenn sie sich der besseren aufopfert! Aber wer kann die Gelehrten überzeugen? Sollte es nicht ein Mittel geben, den störenden Widerspruch unwirksam zu machen? Die Wahrheit redet ja für sich selbst, könnte man nur erst das Beharrungsvermögen des Irrtums brechen! Dann würde auch Schulze’s Theorie von den Gefühlen bald anerkannt sein. Wenn er nur eine Methode gehabt hätte! [160] Das Feinste ist bekanntlich die experimentelle Methode. Es ist eine Kleinigkeit, damit die Weite des Bewußtseins zu messen, warum nicht auch die Tiefe eines Gefühls oder die Höhe eines Ideals?

Während er so nachdachte, daß man ordentlich das Gehirn knirschen hörte, klopfte es an die Thür. In einen Mantel gehüllt trat ein Mann ins Zimmer, setzte, grüßend, ein Kästchen auf den Tisch und nahm selbst in aller Ruhe auf einem Stuhle Platz. Man konnte nicht sagen, ob er alt oder jung sei; seine Stirn war so hoch, daß sie den Haaren fast keinen Platz mehr gelassen; aber unter den dichten Augenbrauen glänzten zwei helle, durchdringende Sterne. Er ließ dem Philosophen keine Zeit, von seinem Erstaunen sich zu erholen, sondern begann:

„Gestatten Sie mir, Herr Doktor, Sie mit dem neuesten Fortschritte der Wissenschaft bekannt zu machen. Ich bin nämlich Psychotom und augenblicklich auf der Reise, um meine Seelenpräparate abzusetzen; ich bin also sozusagen Reisender in philosophischen Effekten. Sie verstehen mich nicht recht? Ich sehe da einen Zweifel, erlauben Sie!“

Damit beugte er sich vor, griff vorsichtig mit zwei Fingern an das Haar des Philosophen und nahm, wie man jemand einen Käfer vom Rocke entfernt, einen kleinen Gegenstand heraus, den er auf den Rand des Tintenfasses setzte. Mit Verwunderung erkannte Schulze ein allerliebstes Figürchen, nicht höher als ein paar Centimeter, das sofort an der Tinte zu nippen begann.

[161] „Es ist die Kategorie der Negation,“ sagte der Psychotom, „ich sah, daß sie Ihnen das Verständnis meiner Auseinandersetzungen erschwerte, deshalb entfernte ich sie. Die wohlthätige Wirkung wird nicht ausbleiben.“

„Aber erlauben Sie ...“

„Bitte, Herr Doktor, Ihr Bedenken ist nur noch eine Nachwirkung, der Zweifel wird sogleich aufhören. Befürchten Sie nichts, ich setze sie Ihnen wieder ein; inzwischen stärkt sie sich, denn Tinte ist ihr Lieblingsgetränk. Doch hören Sie weiter. Es ist Ihnen bekannt, daß die Gehirn-Physiologie zu keinen sicheren Resultaten kommt. Wir haben daher einen andern Weg eingeschlagen, wir sezieren das Bewußtsein selbst. Man muß die logischen Abstraktionen nicht bloß denken, sondern man muß sie realisieren, personifizieren. Das sei nichts Neues, wollen Sie sagen, das habe schon Plato gethan. Aber hat er sie greifbar dargestellt, daß man mit ihnen umgehen kann? Mythologisch ja, aber nicht anschaulich. Sehen Sie, das ist das Problem: Auch die Funktionen des Bewußtseins müssen in der räumlichen Anschauung dargestellt werden, aber nicht, indem man das Gehirn zerstört, wie die Physiologen, sondern indem man die lebendige Wirkung in lebendigen Präparaten entwickelt. Es ist wahr, auch wir, die Psychotomen, können die Resultate unserer Zergliederung nur als sinnliche Dinge aufzeigen, aber unsere Produkte sind nichts Unverständliches und Totes, sondern sie bewahren die charakteristische Eigenschaft des Bewußtseins, ein selbständiges, lebendiges Ich zu bleiben. Unsere Präparate [162] sind selbst Personen, unvollständige freilich, denn sie sind ja nur Theile der vollen, menschlichen Persönlichkeit, aber sie sind doch lebendig und ein sonderbares Völkchen, das man mit Vergnügen studiert.“

„Das ist mir vollkommen klar,“ sagte der Philosoph, „ich danke Ihnen. Sie haben offenbar eine Methode —“

„Lieber Herr Doktor,“ unterbrach ihn der Fremde, „die Methode der Psychotomie kann ich Ihnen heute nicht entwickeln, begnügen Sie sich vorläufig mit den Resultaten. Ich habe die wesentlichsten mitgebracht.“

Damit öffnete er das Kästchen und entnahm ihm verschiedene Päckchen und Gläser.

„Zuerst einige Kleinigkeiten,“ begann er wieder. „Das sind Dinge, mit denen wir unsere Fabrikation anfingen, ehe wir die eigentlichen Seelenthätigkeiten darstellen konnten. Hier z. B. haben Sie die berühmten platonischen Ideen.“

Er reichte ein versiegeltes Päckchen hin, das Schulze aufzuwickeln versuchte.

„Ja,“ rief der Psychotom, indem er ihm das Päckchen wieder fortnahm, „öffnen dürfen Sie es nicht. Die Ideen sind ohne materielle Umhüllung nicht sichtbar.“

„Aber dann weiß ich ja garnicht, was in dem Papier ist.“

„Das müssen Sie mir eben glauben! Hier sind übrigens einige Atome von Demokrit, sie sind etwas zu groß geraten, ich will sie Ihnen schenken. Wir haben auch einige moderne Atome dargestellt, aber es ist kein Staat damit zu machen. Wofür halten Sie [163] dieses kleine Universum in nuce? Es sieht niedlich aus zwischen den Nußschalen, nicht wahr? Nur etwas dunkel darin! Es ist nämlich eine Leibnizsche Monade, und die haben bekanntlich keine Fenster. In diesem Glase ist eine Rarität, die ich Ihnen aber etwas billiger lassen kann; es ist ein Stückchen von Kants reiner Vernunft.“

„Aber sie sieht grau aus.“

„Ja, sie ist etwas schmutzig geworden in den letzten hundert Jahren. Aber Sie können sie popularisieren lassen, dann wird sie wieder wie neu. Doch nun die Hauptsache.!“

Er legte einen Teil der Gegenstände in den Kasten zurück; dabei fielen dem Philosophen einige seltsam geformte Bündel auf. „Was haben Sie da für merkwürdige Würstchen?“ fragte er.

„Das sind Raumproben.“

„Raumproben?“

„Ja, es sind die Muster der verschiedenen Raumsorten, mit positivem und negativem Krümmungsmaß, von drei, vier, fünf und n Dimensionen. Wird nach den Dimensionen bezahlt, das Meter so und so viel. Ich will Ihnen ein paar Stückchen hier lassen.“

„Aber dort der Pfeil und der Schildpattkamm?“

„Das sind zurückgesetzte Stücke, Kuriositäten fürs Schaufenster. Der Pfeil ist der bekannte eleatische, welcher im Fluge ruht, und der Kamm ist von der berühmten Schildkröte, die von Achill nicht eingeholt werden konnte. Jetzt aber wollen Sie Acht geben, hier ist das allein würdige Endziel der Psychotomie.“

[164] Er stellte drei Gefäße vor den Philosophen. Das erste war ein durchsichtiges Glaskästchen, eingerichtet wie ein niedliches Puppenstübchen, in welchem sich eine ganze Gesellschaft von kleinen, in leichte Schleier gehüllten, elfenartigen Figürchen bewegte. Schulze erkannte sofort in ihnen die Kategorien des Verstandes an der Ähnlichkeit mit der Kategorie der Negation, welche schon ein erhebliches Stück aus seinem Tintenfasse getrunken hatte.

„Man sollte garnicht denken,“ sagte er, „daß gerade die Verstandesbegriffe, die man doch für das Trockenste in der Welt hält, eine so reizende Gestalt besitzen.“

„Ja, das ist seltsam,“ bestätigte der Psychotom; „aber es erklärt sich aus der reinen und unvermischten philosophischen Abstammung, während andere Bewußtseinszustände, Gefühle und dergleichen aus dem gewöhnlichen Leben stammen. Und dann bedenken Sie die weiblichen Charaktere, wie sie schon in den Namen Quantität, Realität, Negation, Kausalität u. s. w. liegen. Hier ist eine Lupe, betrachten Sie sich die Negation näher. Ein freundliches Ding, nur mit den anderen verträgt sie sich schlecht. Ist jetzt billig zu haben, weil stark in Mißkredit gekommen. Was meinen Sie, was mir die Regierung giebt, wenn ich den Mitgliedern der Opposition die Kategorie der Negation herausnähme, so wie Ihnen? Sehen Sie hier das buntschillernde Fräulein, wie sie sich nach allen Seiten wendet? Das ist die Limitation. Sie macht, daß ein Ding weder das eine noch das andere ist, weder schwarz noch weiß, [165] weder ja noch nein; wird bei Wahlen sehr verlangt. Hier haben Sie die Kategorie der Möglichkeit, bei Theologen stark gefragt, und ihre Zwillingsschwester, die Unmöglichkeit, welche namentlich bei juristischen Verteidigern beliebt ist. Doch jetzt kommen wir zu den Gefühlen.“ Er öffnete eine Büchse voll dunkler, schleimiger Kügelchen.

„Das ist ja Kaviar,“ sagte Schulze.

„Es sieht so aus, aber es sind die präparierten Gefühle und Stimmungen. Sehen Sie näher zu, so erkennen Sie in jedem dieser kleinen Bläschen eine Art von Physiognomie. Sie sind freilich sozusagen niedere Organismen des Seelenlebens, aber eben darum die breite Basis des menschlichen Daseins. Glatt und schlüpfrig sind sie alle, denn unbeständig glitschen sie durcheinander. Sie denken, Sie haben die Freude in der Hand, und wenn Sie recht zusehen, ist es der Ärger. Übrigens hat man sie nummeriert — hier ist das Verzeichnis — denn es giebt ihrer zu viele. Ich verkaufe sie nicht einzeln, weil sie sich nur im ganzen halten; würde mir auch niemand den Schmerz, den Trübsinn, die Bosheit, den Kummer, den Hunger und die Ungemütlichkeit abnehmen wollen. Doch die Zeit drängt. Mit den Charaktereigenschaften will ich Sie daher nicht aufhalten, man findet sie heute nirgends rein. Aber dies müssen Sie noch sehen, das sind die Ideale.

„Die Ideale? Aber das sind ja Flüssigkeiten; ich hätte den Inhalt dieser Fläschchen für Likör gehalten.“

[166] „Ja, sie sind in Spiritus, sie halten sich sonst nicht. Blicken Sie gegen das Licht, so sehen Sie schwach schimmernde, ätherische Gestalten auf- und niedersteigen. Hier in diesem rötlichen Gefäße ist die Freiheit. Ich habe nur diese kleine Probe, denn ich konnte in ganz Europa nicht mehr davon auftreiben. Hier ist die Humanität, sie ist billiger, wird aber bloß noch von den Tierschutzvereinen verlangt. Dies ist die Unsterblichkeit; von ihr habe ich noch gar nichts abgesetzt, denn sie wird jetzt künstlich gemacht. Und jetzt, lieber Doktor, leben Sie wohl! Diese drei Sachen will ich Ihnen hier lassen. Betrachten Sie Alles genau, aber mit Vorsicht, die Kategorien, die Stimmungen und die Ideale. Nahrung brauchen sie nicht; sollten die Kategorien zu unruhig werden, so setzen Sie sie auf eines Ihrer Manuskripte, um sie etwas auszuhungern. Und hier haben Sie noch eine Zugabe.“

Er setzte ihm ein Fläschchen hin, in welchem sich ein Figürchen befand, wie die kartesianischen Teufelchen.

„Was ist das?“ fragte der Philosoph, der vor Überraschung kaum zur Besinnung kam.

„Der höhere Blödsinn,“ antwortete der Psychotom. Damit war er verschwunden.

Schulze griff sich an den Kopf, stand auf, ging hin und her — nein, er träumte nicht. Er dachte an Betrug, vielleicht eine neue Methode von Langfingern, sich einzuschleichen, doch nichts fehlte im Zimmer. Da standen Kästchen, Büchse, Fläschchen, da lagen auch die Würstchen, welche Raumproben enthalten sollten. Auf [167] dem Tintenfaß saß noch die Negation. Wie fatal! Der Psychotom hatte vergessen, sie ihm wieder einzusetzen. Doch er wird wohl wiederkommen! Schulze ließ sie also sitzen, wo sie saß, zumal er keinerlei Unbehagen von ihrem Fehlen verspürte. Kaum getraute er sich die Seelenpräparate anzufassen und lüftete nur zögernd einen Augenblick den Deckel der Büchse mit den Stimmungen. Plötzlich sprang er auf. Er wollte hinaus, in der freien Luft sich zu erholen. Indem er die Treppe hinabstieg, stolperte er über den Hauskater und kam beinahe zu Fall. Er freute sich herzlich, dem guten Tierchen nicht wehe gethan zu haben.

Als er aus der Thür trat und seine Handschuhe anziehen wollte, bemerkte er an der Hand ein dunkles Bläschen aus der Büchse der Stimmungen, das unbemerkt dort kleben geblieben war. Er erkannte darauf die Auszeichnung Nr. 1 und erinnerte sich, daß der erste Name in der Liste die Zufriedenheit gewesen sei. Nun, er war auch ganz zufrieden und steckte das Kügelchen in seine Streichholzbüchse.

Es war Thauwetter; der halbzerflossene Schnee lag naßkalt und schmutzig auf dem holperigen Pflaster, daß der Fuß bei jedem Tritt ausglitt. Der Nebel hielt das letzte Licht der Dämmerung ab, und da die Laternen noch nicht brannten, so konnte man nicht einmal recht sehen, wohin man trat. Schulze bat einen Müllerburschen um Entschuldigung, daß er an ihn angerannt sei, und freute sich über die Mehlspuren an seinem dunklen Überzieher, welche im Nebel zu einem angenehmen Kleister zerflossen. [168] Der Stadtrat Billig begegnete ihm, den er oft durch Tadel städtischer Verwaltungsmaßregeln geärgert hatte. Schulze sprach ihn an, begleitete ihn.

„Ein Hundewetter,“ sagte der Stadtrat. „Diesen Schnee wieder hinauszuschaffen, kostet der Stadt —“

„Freilich,“ unterbrach ihn Schulze, „das bringt Geld unter die Leute, aber es ist auch ebenso schön, wenn er liegen bleibt. Die Unebenheiten des Pflasters erhöhen durchaus den Reiz der Gegend, und die Ausfüllung derselben mit Schnee ist ein belehrendes Bild für die ausgleichende Thätigkeit der Natur. Jeder Patriot kann es nur billigen, wenn der Naturzustand unserer Stadt erhalten bleibt.“

„Ich will nicht hoffen, Herr Doktor, daß Sie Ihren Spott —“

„Herr Stadtrat, ich versichere Sie, daß ich mich durchaus in unseren Verhältnissen wohl fühle. Ich wünschte, jeder Bürger sähe die Notwendigkeit ein, daß die Beschwerden des Weges als Erziehungsmittel der Menschheit zu pflegen sind. Diese Dunkelheit der Straßen schärft die Sinne der Fußgänger und Kutscher, sie kommt nicht bloß der Stadtkasse zugute, sondern unter Umständen auch den Ärzten und Chirurgen. Wie viel Eitelkeit, wie viel Putzsucht, wie viel unnötiger Toilettenaufwand werden dadurch unterdrückt, daß unsere Damen von 4 Uhr an nicht mehr gesehen werden können. Wenn ich Stadtverordneter wäre —“

„Sie müssen es werden, Herr Doktor, Ihre Hand darauf!“

[169] „Gewiß, mit dem größten Vergnügen. Es giebt keine Vorlage, der ich nicht unbedingt zustimme.“

„Auch dem neuen Aufschlage zur Kommunalsteuer?“

„Selbstverständlich. Es kann nie Steuern genug geben, denn nichts ist erhebender, nichts erfreulicher, nichts beglückender, als sein Hab und Gut zum Besten der Gemeinsamkeit zu opfern.“

„Bravo! Bravo! Ich gehe an meinen Stammtisch in der „Rothen Tulpe“; noch heute sichere ich Ihnen zehn Stimmen. Auf Wiedersehen!“

Der Stadtrat empfahl sich begeistert. Auch Schulze fand den Gedanken an seine akademische Stammecke nicht übel und schlug die bewußte Richtung ein. Er war noch nicht weit gelangt, als er einer Dame begegnete, deren Beredsamkeit er sonst in größerem Bogen auszuweichen pflegte. Heute kam sie ihm, so weit es die Dunkelheit gestattete, in rosigem Lichte vor. Linolinde v. Zwinkerwitz hatte allerdings Rot aufgelegt. Seit zehn Jahren — so lange nämlich war Schulze Privatdocent — behauptete sie, daß er ihr den Hof mache, und ebenso lange zwang sie ihn bei jeder Begegnung zu einer längeren Aussprache. Schulze pflegte zu klagen, er habe auf diese Weise schon zwei ganze Semester verloren — das Semester zu drei Monaten, den Monat zu zwanzig Tagen und den Tag zu anderthalb Stunden gerechnet — so lange nämlich dauerte sein Kolleg über die Geschichte der griechischen Philosophie vor Sokrates. Jetzt aber war Linolinde ganz entzückt von Schulzes Liebenswürdigkeit, und gerührt gestand sie ihm, daß sie [170] eine Novelle geschrieben habe, nur einige hundert Seiten. Ob er sie nicht einmal durchlesen wolle.

„Mit dem größten Vergnügen, teuerstes Fräulein! Wie freue ich mich auf den Genuß, einen Blick in das Leben Ihrer schönen Seele zu thun! Wie werde ich den Helden beneiden, den der Hauch Ihres Genius mit dem ganzen Farbenzauber Ihrer Liebe geschmückt hat!“

„Ja,“ rief Linolinde, „Sie erraten meine Gefühle! O dieser Scharfsinn der Philosophen! Ach, ich wage es nicht — nein, ich darf Ihnen meine Novelle nicht geben! Wenn ich mich getäuscht hätte —“

„Es giebt keine Täuschung für die wahre Dichterin. Zweifeln Sie nicht an dem treuen Verständnis, das ich den Gefühlen Ihres Helden entgegenbringe.“

„Aber Sie wissen nicht —“

„Ich weiß, daß ich zufrieden bin.“

Linolinde schwieg. Sie waren auf die Promenade gekommen, die rote Laterne blinkte in der Nähe. Linolinde ging immer weiter. „Sie gehen noch länger hier spazieren?“ fragte sie. Schulze hatte das Gefühl, daß er dies eigentlich nicht wolle, es zog ihn nach der Laterne, aber er konnte nicht nein sagen. So schritt er weiter, Linolinde neben ihm. In Gedanken verloren, kehrte er am Ende der Promenade um, Linolinde desgleichen. Sie sprachen noch immer nichts. Linolinde glitt aus — ein leichter Schrei —, dann nahm sie den Arm, den er ihr darbot.

„Die Glätte,“ sagte er, „ist die vornehmste und die holdeste Eigenschaft der Körper, sie ist die Stufe, [171] über welche die Materie zur Idee schreitet; darum hielt Epikur die Seelenatome für das Glätteste. Nicht ohne Grund alliteriert der Sprachgeist Glätte, Glaube, Glück.“

Linolinde drückte leise seinen Arm und hauchte: „Warum sollen wir uns nicht sagen, daß wir uns verstehen?“

„Wir verstehen uns,“ erwiderte er. Da hing Linolinde an seinem Halse, dank der Sparsamkeit des Stadtrates im Dunklen auf der menschenleeren Promenade, zwanzig Schritt von der roten Laterne. Ein Räuspern ward vernehmbar, Schritte — „Auf Wiedersehen!“ Linolinde entschwand. Schulze trat seelenvergnügt in sein Stammlokal, wo er an der Thür mit seinem Special-Kollegen, dem Professor Oberwasser zusammentraf. —

Es wurde ein bedenklicher Abend für Schulze, denn er konnte niemand etwas abschlagen. Für den folgenden Morgen versprach er dem Geologen, ihn auf einer den ganzen Tag dauernden Exkursion zu begleiten, zugleich aber seinem Nachbar zur Linken, ihm um 12 Uhr auf der Bibliothek eine Auskunft zu geben, und nachdem die beiden fortgegangen, nahm er von einem später Angekommenen für dieselbe Zeit eine Einladung zum Frühstück an. In Bezug auf seine Reiseerinnerungen, die zur Sprache kamen, verstrickte er sich in ein unendliches Netz von Lügen, weil er auf keine Frage nein zu sagen vermochte, und zuletzt kam er in Streit mit seinem Kollegen Oberwasser wegen der [172] bekannten litterarischen Fehde, in welche dieser mit dem berühmten Philosophen Weißschon über die Anschaulichkeit des reinen Nichts geraten war.

„Kann ein vernünftiger Mensch,“ so rief Oberwasser entrüstet aus, „es für möglich halten, daß die pure Aufhebung eines Begriffes als solche noch Merkmale der Distinktion innerhalb der Grenzen der Sensibilität, obschon durch bloße Abstraktion gegeben, vermittelst der Negation dieser Abstraktion zur repulsiven Konkretion determiniert, ihrerseits durch Nichtsetzung des Nichtseins erlangen könnte?“

Selbstverständlich erwartete er ein ebenso entrüstetes „nein“ aus Schulzes Munde; aber zu aller Erstaunen sagte dieser:

„Allerdings ist das Nichts durchaus positiv, insofern ich es nämlich nicht verneinen kann. Was aber Ihre Abhandlung betrifft, an die ich mit dem größten Vergnügen denke, so kann ich nur sagen, daß Sie ebenso Recht haben, wie Weißschon, weil überhaupt alle Urteile aller Menschen unter allen Umständen bejahend sind.“

Da stand Oberwasser indigniert auf und ging in der Überzeugung fort, daß Schulze zu viel getrunken habe. Das war nun zwar nicht der Fall, aber es kam noch, als auch die übrigen Kollegen sich davongemacht hatten. So oft ihn nämlich der Kellner fragte, ob er noch ein Glas befehle, war er nicht in der Lage, nein zu sagen; außerdem schmeckte es ihm vorzüglich. Mit den Vorschlägen der Speisekarte ging es ihm ebenso, leider aber auch beim Bezahlen, da er auf jede Kontrolle [173] verzichtete. Es war spät geworden, als er nach Hause ging, und unterwegs hatte er noch einen kleinen Aufenthalt mit dem Nachtwächter, weil er behauptete, es gäbe nichts Schöneres, als in einer naßkalten Schneenacht mit dem Spieße in der Hand in einer Mauerecke zu lehnen.

Als Schulze spät am Vormittage erwachte und sich vergeblich bemühte, das gestern Erlebte in sein Gedächtnis zurückzurufen, bemerkte er plötzlich auf dem Stuhle vor seinem Bette den Kater seiner Wirtin, der ihn mit ernster und, wie es schien, mißbilligender Miene betrachtete. Aber wie erschrack er, als er zwischen den Vorderpfoten des Tieres seine Kategorie der Negation entdeckte, die dasselbe offenbar für einen Vogel oder dergleichen gehalten und gefangen hatte. Unwillkürlich machte er eine Bewegung nach dem Stuhle; da begann plötzlich der Kater mit vernehmlicher Stimme zu sprechen:

„Bleiben Sie ruhig liegen, sehr geehrter Herr Doktor, wundern Sie sich auch nicht, daß ich rede. Meine berühmten belletristisch-epischen Vorfahren hatten dazu geringere Motive als ich, denn ich habe in dieser Nacht sämtliche Kategorien auf Ihrem Schreibtische gefressen.“

„Beim heiligen Immanuel!“ schrie Schulze. „Wie viel waren es?“

„Ich habe sie leider nicht gezählt“ — Schulze seufzte tief, während der Kater fortfuhr — „und bedauere in der That, daß somit die berühmte Streitfrage [174] über die Zahl der Kategorien nicht geschlichtet werden kann. Aber da ich nun einmal den Verstand, wenn auch nicht mit Löffeln, so doch in ausreichender Portion gefressen habe, so erlaube ich mir, Sie ganz ergebenst darauf aufmerksam zu machen, daß Sie versäumt haben, Herrn Professor Steinschleifer zur geologischen Exkursion abzuholen, daß Sie jetzt um 12 Uhr nicht auf der Bibliothek sind, endlich auch die Einladung zum Frühstück nicht abgesagt haben.“

Schulze nickte wehmütig. „Leider, leider, die Herren werden es mir sehr übelnehmen. Aber geben Sie mir, lieber Herr Hinze, meine Kategorie der Negation wieder.“

„Geduld,“ sagte der Kater, „ich will Ihnen nur noch bemerken, daß Sie Herrn Oberwasser, dessen Stimme in der Fakultät bekanntlich ausschlaggebend ist, schwer beleidigt haben. Mit dem Extra-Ordinarius wird es nun wohl wieder nichts sein. Daß Ihr Feuerzeug verloren, Ihre Börse leer und Ihr Überzieher ruiniert ist, das sind dem gegenüber nur kleinere Annehmlichkeiten. Außerdem sind hier noch einige Briefe eingelaufen, die ich Ihnen nicht vorenthalten will.“

„Immer zu,“ sagte Schulze, „ergeben in sein Schicksal.“

„Herr Stadtrat Billig schreibt Ihnen, daß Ihre Wahl zum Stadtverordneten gesichert sei“ — hier stieß Schulze einen Schrei des Entsetzens aus — „und daß Ihre opfersinnigen Äußerungen ihn ermutigt hätten, in der Einschätzungs-Kommission Ihre Erhöhung um drei Steuerklassen vorzuschlagen. Sodann ist hier eine Vorladung, [175] betreffend Vernehmung in Sachen Beleidigung des Nachtwächters Warmbier. Weiterhin ist hier ein dickbändiges Manuskript: „Herzensnacht und Strahlenmacht“, Novelle von Linolinde v. Zwinkerwitz, und von derselben Hand ein ebenso starker Essay: „Über die Unsterblichkeit der Seele, Gedanken einer Lebendigen“. Dazu ein Briefchen: Teurer Freund! Nicht wahr, Sie lesen noch heute? Ort und Stunde wie gestern, wo Ihr Urteil zitternd erwartet L. v. Z.“

Schulze rang die Hände.

„Endlich,“ sagte der Kater, „ist noch ein Briefchen hier von derselben Hand. Es lautet: „Geliebter! Ich habe Mama alles gestanden. Sie erwartet Dich heute mittags. Ich schwelge im Glück! Ewig die Deine — Linolinde.“

„Mein lieber Herr Schulze,“ fuhr der Kater fort, „wenn Sie ein andermal die Zufriedenheit mitnehmen, dann lassen Sie jedenfalls die Negation nicht zu Hause. Ich habe die Ehre, Ihnen dieselbe wieder zu überreichen.“

Bei diesen Worten nahm der Kater mehr und mehr die Züge des Psychotomen an — auf einmal fühlte Schulze einen lebhaften Druck an seinem Kopfe und verlor zugleich die Kategorie und den Kater aus dem Gesichte. Schnell sprang er auf, fuhr in die Kleider, kühlte sein Haupt und trat in sein Studierzimmer.

Auf der Schwelle lag sein Stubenhündchen, der treue Nonsens; aus seinem Maule hing noch eines der Würstchen mit den Raumproben. Das gute Tier hatte sie für genießbar gehalten, da waren ihm die Koordinaten [176] in seinem Leibe auseinandergegangen, und nun lag es nach allen Dimensionen gekrümmt regungslos zu den Füßen seines Herrn. Schulze hob es bedauernd auf, da sagte eine Stimme:

„Laß’ mal liegen, Schulze, er ist nur scheintot.“ Und so war es. Als richtiger Philosophenhund mußte er die Metageometrie bald als unverdaulich wieder von sich geben.

Der Redende war Schulzes bester Freund, der Dr. Müller, ein normal entwickelter Mediziner, der es sich auf dem Sopha bequem gemacht hatte.

„Du siehst übrigens jammervoll aus, Mensch,“ fuhr er fort, „es thut mir leid, daß ich Dir nicht einen Löffel Kaviar übrig gelassen habe. Aber er war ausgezeichnet. Wer hat Dir den gestiftet?“

„Um Himmelswillen, Müller, Du hast diese Büchse hier geleert?“

„Mit dem besten Appetit; Du nimmst es doch nicht übel? Ich habe auch diese Likörproben dazu getrunken, etwas kräftig, aber delikat.“

„Unseliger Mensch, das waren ja meine Gefühle, das waren meine Ideale! Du hast sämtliche Gefühle und Ideale der Menschheit verschlungen, Kannibale, was soll nun aus Dir werden?“

„Gefühle im Kaviar und Ideale im Schnaps? Ihr Philosophen seid praktischer, als man meinen sollte. Nun, Du siehst, es hat mir nichts geschadet. Ein richtiger Mediziner wird von solchen Kleinigkeiten nicht angegriffen. Hier hast Du übrigens Dein Feuerzeug wieder, es lag auf der Treppe. Ei, laß’ doch sehen, da ist ja [177] noch so ein Störei — aber wahrhaftig, das Ding sieht gelungen aus —“

„Heb’ es auf, es ist die Zufriedenheit.“

„Es scheint mir eine neue Parasitenform, ich will versuchen, eine Reinkultur anzulegen. Und nun erzähle, wie Du Dich so zugerichtet?“

Schulze beichtete. Da fühlte der Arzt ihm den Puls und sagte:

„Menschlein, Du hast noch nicht ausgeschlafen, nachmittags wird Dir besser sein. Sei übrigens froh, daß der Kater und ich das Zeug gegessen haben, Dir wäre es jedenfalls schlechter bekommen. Du kannst mir noch eine Cigarre geben, vorausgesetzt, daß nicht irgend ein psychologisches Scheusal mit eingewickelt ist.“

Er zündete die Cigarre an und ging gemütlich grüßend von dannen. Schulze aber setzte sich an den Schreibtisch, tauchte die Feder in das Tintenfaß, welches die Negation halb ausgetrunken hatte, und schrieb Absage- und Entschuldigungsbriefe. Und da sich einmal seine Kategorie der Negation mit Tinte gesättigt hatte, schrieb er gleich noch eine Rezension hinterher. Dann stützte er das schwere Haupt wehmütig in die Hand und gedachte unter Seufzern des Psychotomen und seiner unglückseligen Gaben. Alle waren verschwunden — doch nein! Ein Gläschen stand noch in der Ecke und ein Teufelchen schaute ihn unverfroren an. Es war der höhere Blödsinn.