Staat und Gesellschaft
Literatur:
[Bearbeiten]Auf erschöpfende Literaturangaben muss aus den in der Einleitung angegebenen Gründen verzichtet werden. Die hier vorgetragene Auffassung des Staates entwickelt sich mit der sozialliberalen und sozialistischen Theorie. Von den Sozialliberalen, die von Ad. Smith ausgehen, sind zu nennen: Carey: (Die „Grundlagen der Sozialwissenschaft“, dtsch. von Adler, München 1863/64. – „Lehrbuch der Volkswirtschaft und Sozialwissenschaft“, dtsch. V. Adler. München 1866) und sein Schüler Eugen Dühring („Careys Umwälzung der Volkswirtschaftslehre und Sozialwissenschaft“, München 1895; „Die Verkleinerer Careys und die Krisis der Nationalökonomie“, Breslau 1867; „Kursus der National- und Sozialökonomie“, dritte Aufl. Leipzig 1892). Von Dühring stark beeinflusst sind Otto Effertz („Arbeit und Boden, Grundlinien einer Ponophysiokratie“, Berlin 1890), ferner Arnold Klöppel („Staat und Gesellschaft“, Gotha 1887). – Von den Sozialisten sind ausser den im Text Genannten zu nennen St. Simon, Proudhon, und vor allem Carl Rodbertus. Nach der staatsrechtlichen Seite ist diese Auffassung namentlich von Ludwig Gumplowicz und seiner soziologischen Schule ausgestaltet und zum Mittelpunkt des Systems gemacht worden („Rasse und Staat“, Wien 1875. – „Grundriss der Soziologie“, Wien 1885, 2. Aufl. Wien 1905. – „Soziologische Essays“, Innsbruck 1899. – „Die soziologische Staatsidee“. 2. Aufl. Innsbruck 1902. – „Allgemeines Staatsrecht“. 3. Aufl. Innsbruck. 1907. – „Der Rassenkampf“. Innsbruck 1909. Siehe auch seine „Geschichte der Staatstheorien“, Innsbruck 1905.) – Nach der ökonomischen Seite hat Franz Oppenheimer diese Theorie ergänzt in seinem „Staat“ (Bd. XIV/XV der von Martin Buber herausgegebenen Sammlung „Die Gesellschaft“); „David Ricardos Grundrententheorie“ (Berlin 1909); „Theorie der reinen und politischen Ökonomie“ (Berlin 1910, 2. Aufl. Berlin 1911).
Vergleiche ferner:
[Bearbeiten]- Gustav Wendt: „Über das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft. Mit besonderer Berücksichtigung des Grosskapitalismus und der Agrarnot“. Berlin-Steglitz 1903.
- O. Hintze. Roschers politische Entwicklungstheorie. Jahrb. f. Gesetzgebung etc. N. F. 21. 1897. S. 767 ff.
- J. C. Bluntschli. Allgemeine Staatslehre. 6. Aufl. durchges. von E. Loening. Stuttgart 1896 p. 17. 118. 369. III. Aufl. Bd. VII.
- Riehl. Die bürgerliche Gesellschaft. 2. Aufl. 1853 p. 4. cit. nach Wendt p. 4.
- Carl Dietzel. Die Volkswirtschaft und ihr Verhältnis zu Gesellschaft und Staat. Frankfurt a. M. 1864 p. 86ff.
- Ferd. Tönnies. Gemeinschaft und Gesellschaft. Leipzig 1887. p. 265ff.
- E. Gothein. „Art. Gesellschaft und Gesellschaftswissenschaft“, Hdwb. d. Staatswissensch. 3. Aufl. II. Band. p. 680ff. (Literaturangaben.)
- Ad. Wagner. Der Staat in nat.-ök. Hinsicht. Handw.-B. d. St.-W. III. Aufl. Bd. VII, S. 727.
- Loening. Allgem. Staatslehre. Handw.-B. d. St. W. III. Aufl. Bd. VII, S. 692.
- Jakob Burckhardt. Weltgeschichtliche Betrachtungen. II. Aufl. Stuttgart 1910.
- Lexis. Art. „Soziologie" im Wörterbuch d. Volkswirtsch. II. Aufl. IL 924. Bluntschli. Art. „Gesellschaft und Gesellschaftswissenschaft“ in J. C. Bluntschlis Staatswörterbuch in drei Bänden. Bd. II. Leipzig u. Stuttgart 1876. p. 33ff. (Viel Literaturangaben.)
- G. Jellinek. Allgem. Staatslehre. 2. Aufl. Berlin 1905. p. 3. 82ff. 93 über Staat und Gesellschaft.
- W. Wundt. Logik der Geisteswissenschaften. 3. Aufl. Leipzig 1908. p. 462ff., 464, 467f. Auch hier Literatur.
- O. Gierke. Die Gesellschaftsverbände und die deutsche Rechtsprechung 1887.
- Bruder, rev. von Ettlinger. Art. „Gesellschaft“ i. Staatslexikon, herausgegeben von Bachem, 3. Aufl. Freiburg 1909. p. 547 (Verf. v. Staat u. Gesellsch. Sehr viel soziol. Literatur) 550ff.
- R. V. Mohl. Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaft. Erlangen 1855. Bd. I. S. 69ff.
- Gierke, „Johann Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorie“. Breslau 1880.
- Friedrich Paulsen. System der Ethik mit einem Grundriss der Staats- und Gesellschaftslehre. 1906. 8. Aufl.
- Georg von Mayr. Begriff und Gliederung der Staatswissenschaften. Tübingen 1910.
- Leopold von Wiese. „Zur Grundlegung der Gesellschaftslehre“. Jena 1906.
[113] Es ist völlig unmöglich, eine zureichende dogmenhistorische Darstellung der Anschauungen zu geben, die über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft geäussert worden sind. Zunächst aus einem rein äusserlichen Grunde: das Material ist über die gesamte Literatur der Philosophie, der Politik, der Ökonomik, der Staatsrechtstheorie, der Historik, der Soziologie usw. derart zersplittert und verzettelt, dass niemand es übersehen kann. Aber wollte man auch auf Vollständigkeit der Darstellung gänzlich verzichten, so würden dennoch innere Gründe die dogmenhistorische Darstellung ausschliessen. Erstens ein terminologischer: die Begriffe schwanken so stark, dass, z. B. Arnold Klöppel in seinem Buche „Staat und Gesellschaft“ genau dasjenige Staat nennt, was ich als „Gesellschaft“ bezeichnen werde, und umgekehrt genau das „Gesellschaft“, was ich „Staat“ nenne. Die Unklarheit der Begriffsbildung deutet bereits auf den zweiten inneren Grund vor: die ältere Gesellschaftsphilosophie hat zwischen den beiden Phänomenen so gut wie niemals unterschieden und niemals scharf unterschieden. Den antiken Schriftstellern gelten beide mehr oder weniger als identisch; jede kleine organisierte Menschengruppe ist für Platon bereits ein „Staat“, während unsere Zeit in der Regel hier von einer „Gesellschaft“ sprechen würde. Nur betonen die der Stoa mehr geneigten Schriftsteller stärker den „gesellschaftlichen“, die der epikuräischen Lehre mehr geneigten stärker den „staatlichen“ Charakter der Gemeinschaft, die jenen von Natur wegen, diesen durch Satzung entstanden ist. Diese Gleichsetzung geht dann durch Vermittlung der kanonischen Philosophie bis auf die Neuzeit.
So z. B. sagt Hintze, die menschliche Organisation sei doppelter Natur, erstens Lebensgemeinschaft und zweitens „ein System von Einrichtungen zum Schutze, zur Beherrschung und Regierung des ganzen Menschen- und Gebietskomplexes. Diese Seite der Organisation nennen wir die politische, jene die soziale. Von der einen Seite ist das Ganze Staat, von der anderen Seite Gesellschaft“. Für Carl Dietzel sind Volkswirtschaft, Gesellschaft und Staat drei aufeinanderfolgende Stufen der Entwicklung, jede ausgezeichnet durch eine stärkere Bindung der Individuen an einander. Er fasst den Staat auf als einheitliche Organisationsform des Volkes zur Verwirklichung gemeinsamer Bedürfnisse und Strebungen. Das ist also derjenige Teil des Staatsinhaltes, den ich bezeichne als den „Staat als Organisation des gemeinen Nutzens“, während der zweite Bestandteil fehlt: „Der Staat als Organisation des Klassennutzens“.
Wenn einmal die Vorstellung auftaucht, dass hier zwei zu unterscheidende Realphänomene gegeben seien, so wird doch oft noch immer der Staat aufgefasst als ein Teil der Gesellschaft: aus ihrem weiteren Kreise hebt er sich als der engere Kreis heraus. So z. B. sagt von Mayr 1 c. S. 5: „Staat und Gesellschaft sind nicht Gegensätze, sondern Gesellschaft ist meines Erachtens der allgemeine Begriff, der alle Arten von Vergesellschaftung in sich schliesst, deshalb vor allem auch die machtvolle und formal bestorganisierte und bestgegliederte Vergesellschaftung der Menschen im Staat“.
Im allgemeinen scheint hierbei die Vorstellung vorzuherrschen, dass im weiteren Kreise der Gesellschaft die Sitte, im engeren Kreise des Staates das Recht herrscht.
Diese Begriffstrennung ist offenbar ungenügend. Recht und Sitte gehen häufig in einander über; das Recht ist oft nichts anderes als kodifizierte Sitte, und umgekehrt wird zuweilen der Ahndung durch die Sitte überlassen, was vorher durch das Strafrecht verboten war, z. B. die Majestätsbeleidigung, die Gotteslästerung, der Ehebruch der Frau. Vor allem aber wird der wichtigste Bestandteil der Gesellschaft im ganzen, die Wirtschaftsgesellschaft, die oft, namentlich von nationalökonomischen Autoren, als Gesellschaft schlechthin betrachtet wird, von Recht und Sitte gleichmässig beherrscht und beeinflusst.
Etwas anders fasst Wendt das Problem auf. Nach ihm ist der Staat der begriffliche Inhalt aller Institutionen von vorwiegend öffentlich-rechtlichem Charakter, die Gesellschaft der begriffliche Inhalt aller Institutionen von vorwiegend privatrechtlichem Charakter. Diese Definition versagt nicht nur formal, weil sie mit der Einschränkung „vorwiegend“ jede scharfe Bestimmtheit verliert, sondern auch material, weil sie verkennt, dass unzweifelhaft sehr viele scheinbar privatrechtliche Institutionen dennoch im öffentlichen Recht wurzeln, vor allem das „Gewalteigentum“ an Grund und Boden, von dem unten die Rede sein wird.
Zu schärferer Scheidung der Begriffe kam es erst, als der wirtschaftliche, naturrechtlich begründete Liberalismus sich gegen die im Merkantilismus überspitzte Omnipotenz des Staates [114] auflehnte. Schon hier konstatiert die Gesellschaft als das Reich der Freiheit scharf genug mit dem Staate als dem Reiche des Zwangs. Dieser Gegensatz wird dann von der sozialistischen Theorie immer stärker herausgearbeitet; namentlich der Anarchismus mit seiner absoluten Staatsfeindschaft hat hier das äusserste geleistet. Er will den Staat als mit Zwangsrechten ausgestattete Gemeinschaftsorganisation völlig ausrotten; die von freier Gegenseitigkeit (Mutualismus) gelenkte Gesellschaft ist sein Ziel. Die Marx’sche Soziallehre dagegen perhorresziert nur den Namen „Staat“; ihre Zukunfts-„Gesellschaft“ ist mit noch mehr Zwangsgewalt ausgestattet, als der historische Staat, der nur insofern verschwinden wird, wie er „Klassenstaat“ ist, d. h. eine vorwiegend im Interesse der besitzenden Klasse zum Zwecke der Ausbeutung der Unterklasse bestimmte und fungierende Ordnung.
Schon aus diesem Gegensatz der beiden sozialistischen Hauptschulen geht hervor, dass auch diese Begriffstrennung das Wesentliche verfehlt. Keine Gesellschaft der Welt ist denkbar, die nicht gewisse Zwangsbefugnisse, d. h. etwas „Staat“ in diesem Sione, durch Beamte gegen ihre Mitglieder besitzt, und sei es nur die Zwangsgewalt des Strafrichters und das Expropriationsrecht im gemeinen Interesse.
Man kann eben aus dem Inhalt der beiden Begriffe kein zureichendes principium divisionis gewinnen, weil Staat und Gesellschaft im sprachüblichen Sinne auf das engste mit einander verflochten sind, sich gegenseitig wie zwei unregelmässige Figuren überlagern. Wohl aber kann man einen zureichenden Einteilungsgrund gewinnen, wenn man auf die Entstehung der beiden Phänomene zurückgeht. Der Staat ist das entfaltete politische, die Gesellschaft (im allgemeinen und die Wirtschaftsgesellschaft im besonderen) das entfaltete ökonomische Mittel!
Dieser Gedanke ist vom Ref. zuerst 1903 in einem Aufsatz „Die sozialökonomische Geschichtsauffassung“ im „Archiv für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie“ veröffentlicht, dann in seinem „Staat“ (Frankfurt a. M. 1908) nach der staats- und geschichtsphilosophischen, und in seinem Lehrbuch „Theorie der reinen und politischen Ökonomie“ (Berlin 1910) nach der wirtschaftsphilosophischen Seite hin ausgebaut und vertieft worden. Im folgenden seien Gedankengang und Terminologie kurz wiedergegeben.
Alles rationale Handeln des Menschen geschieht nach dem Prinzip des kleinsten Mittels, d. h. dem Bestreben, mit möglichst geringem Aufwande den möglichst grossen Erfolg einer Bedürfnissättigung zu erreichen. Aus diesem grössten Kreise hebt sich der engere Kreis der „Wirtschaft“ als deutlich gesondert heraus. Wirtschaft ist ein Spezialfall der „mittelbaren rationalen Bedürfnisbefriedigung“. Ausserwirtschaftlich ist erstens alle „unmittelbare Bedürfnisbefriedigung“, die überhaupt keines äusseren Objektes bedarf (z. B. der Spaziergang, der Geschlechts- oder Stillakt, die Meditation); und ausserwirtschaftlich ist zweitens alle „mittelbare Bedürfnisbefriedigung“, die zwar äusserer Objekte bedarf, aber keiner „kostenden“, keiner, die „Wertdinge“ sind, weil sie „kosten“. (Das bekannteste und wichtigste Beispiel für diesen Fall ist die Atmung, die sich des „freien Gutes“ der atmosphärischen Luft bedient.) Alle mittelbare Bedürfnisbefriedigung aber, die sich nicht „freier“ Güter und Dienste, sondern kostender Objekte, d. h. der Wertdinge, bedient, ist wirtschaftliche Bedürfnisbefriedigung. Und, da alles Wirtschaften sich erschöpft in der „Beschaffung“ von Wertdingen und ihrer „Verwaltung“, d. h. ihrer Bewahrung vor Verlust und Verderb, so ist Wirtschaft in exaktester Formel die Beschaffung und Verwaltung von Wertdingen (kostenden Objekten) nach dem Prinzip des kleinsten Mittels.
Nun ist in der älteren Literatur niemals recht beachtet worden, dass der Mensch im historischen Verlaufe sich zweier polar entgegengesetzter Mittel bedient, um bedurfte Wertobjekte für sich zu beschaffen, und zwar jeweils nach keinem anderen Kriterium als danach, welches von beiden im gegebenen Zeitpunkt für ihn das „kleinste Mittel“ darstellt. Diese beiden Mittel sind die entgoltene und die unentgoltene, oder besser: die äquivalente und die inäquivalente Aneignung oder Beschaffung. Die erste nenne ich das „ökonomische Mittel“; es zerfällt in zwei Unterarten: die Beschaffung von Wertdingen durch die eigene Arbeit und die Beschaffung durch einen als äquivalent betrachteten Tausch eigener Wertdinge gegen solche in fremdem Besitz. Die zweite Hauptart, die Aneignung fremder Wertdinge ohne äquivalente Gegenleistung, nenne ich das [115] „politische Mittel“; es kann bestehen in äusserer Gewalt: Raub, Krieg, Diebstahl, Notzucht, Nötigung – oder in Missbrauch geistigen Übergewichts; Betrug, Erweckung von Geisterfurcht usw.
So bestehen von allem Anfang der menschlichen Kultur an, so weit wir rückwärts sehen können, zwei in ihrer Wurzel verschiedene Arten von Beziehungen zwischen den Menschen und den menschlichen Gruppen: ökonomische, äquivalente – und politische, inäquivalente. Auf primitiver Hordenstufe (bei den Jägern) überwiegen intratribal die ökonomischen, intertribal die politischen Beziehungen. Indessen finden sich in der Ausbeutung der Frauen durch die Männer und aller durch die Medizinmänner bereits intratribal Ansätze zu politischen Beziehungen, während andererseits intertribal im Gast- und Handelsverkehr, in gemeinsamen Messen, Märkten und Festen sich Ansätze zu ökonomischen Beziehungen entwickelt haben.
In dem Masse, wie die menschlichen Gemeinschaften wachsen, sich konsolidieren und in wirtschaftliche Arbeitsteilung und -vereinigung treten, vermehren und verdichten sich auch jene ökonomischen und politischen Beziehungen zwischen den Menschen und den menschlichen Gruppen, entfalten sich nach ihren eigenen Entwicklungstendenzen, erschaffen sich Sitten und Gesetze, Institutionen und Anstalten, Vorstellungen und Überzeugungen als die kleinsten Mittel ihres möglichst erfolgreichen Ablaufs. Alle diese Dinge verflechten und durchdringen sich überall, sodass z. B. eine Sitte, ein Gesetz beiden dient, eine Anstalt beide Beziehungen gleichzeitig fördert; und dennoch kann ein geschultes Auge die Fäden auseinanderhalten, jeden Bestandteil dem ökonomischen Mittel hier, dem politischen dort mit grosser Wahrscheinlichkeit, in allem Wesentlichen sogar mit voller Gewissheit zuweisen.
Den Inbegriff aller durch das ökonomische Mittel gesetzten Beziehungen zwischen Menschen und Menschengruppen, – oder kürzer: das entfaltete ökonomische Mittel nenne ich „Gesellschaft“. Und auf der anderen Seite: den Inbegriff aller durch das politische Mittel gesetzten Beziehungen zwischen Menschen und Menschengruppen – oder kürzer: das entfaltete politische Mittel nenne ich „Staat“. Will man noch näher unterteilen, so kann man in der „Gesellschaft“ unterscheiden zwischen den durch die Arbeit gesetzten Beziehungen, der Produktionsgesellschaft einerseits, und den durch den äquivalenten Tausch gesetzten Beziehungen, der Tausch- oder Marktgesellschaft andererseits: und man kann innerhalb des „Staates“ unterscheiden zwischen den durch äussere Gewalt gesetzten Beziehungen, dem Staate im engeren Sinne, einerseits, – und den durch geistliche Gewalt gesetzten Beziehungen, der „Kirche“, andererseits. (Hierbei ist natürlich nur an herrschende Kirchen gedacht, wie sie etwa in Ägypten im Neuen Reich, in Tibet, im katholischen Früh-Mittelalter bestanden.)
A. Der Staat als das entfaltete politische Mittel.
[Bearbeiten]Diese Auffassung des Staates als des entfalteten politischen Mittels lässt sich m. E. unwiderleglich beweisen, wenn man das einzige Kennzeichen des äusseren Aufbaues ins Auge fasst, das allen historischen Staaten gemeinsam ist, so verschieden sie sonst nach politischer und wirtschaftlicher Verfassung, nach Recht und Sitte, nach Rasse und Klima, nach Gebietsgrösse und Volksdichtigkeit usw. sein mögen. Dieses einzige gemeinsame Kennzeichen ist ihr Wesen als „Klassenstaat“: alle sind sie in soziale Rang- und ökonomische Vermögensklassen über- und untergeschichtet. Diese Klassen sind durch das politische Mittel geschaffen worden, wie die historische und ethnographische Induktion zeigt, und konnten nur durch das politische Mittel geschaffen werden, wie die Deduktion mit mathematischer Stringenz zeigt.
Die ältere ökonomische und staats- wie geschichtsphilosophische Theorie ist irrtümlicherweise von der gerade entgegengesetzten Konstruktion ausgegangen, und das ist die tiefste Wurzel aller ihrer Fehlgänge. Diese Konstruktion ist die sogenannte „ursprüngliche Akkumulation“, die schon aus der Stoa stammt. Danach bildet den Anfang der menschlichen Gemeinschaft ein Stamm freier und gleichberechtigter Menschen mit ungefähr gleichem Vermögen und Einkommen. Allmählich differenziert sich diese Gemeinschaft unter der Wirkung rein ökonomischer Kräfte in Vermögensklassen, die dann zu sozialen Rangklassen werden. Und zwar häuft sich das Vermögen in den Händen einzelner an durch Glück (Jakobs Herde, kleine Kinderzahl usw.), vor allem aber durch Fleiss, Sparsamkeit, Nüchternheit, Voraussicht usw.
[116] Diese Auffassung (Marx nennt sie eine „Kinderfibel“) widerspricht zunächst aller geschichtlichen Erfahrung. Die Klassen sind überall da, wo wir die Geschichte „autogener“ Staaten genauer kennen, mit Gewissheit durch äussere Gewalt (Eroberung, Unterwerfung) oder durch geistliche Gewalt geschaffen worden. Eine scheinbare Ausnahme bilden nur die nicht autogenen, die Kolonialstaaten: hierhin sind die sozialen Klassen und vor allem das Klassenrecht fertig aus dem Mutterlande eingeführt worden. Mit dieser Einschränkung kann man aussprechen, dass die historische Induktion keine widersprechende Tatsache auffindet. Indessen ist die Überlieferung doch so lückenhaft, dass es vorteilhaft sein wird, auch noch deduktiv den Beweis zu erbringen, dass die Klassen und der Klassenstaat niemals durch das ökonomische Mittel entstanden sein können.
Es ist nie bestritten worden und kann nie bestritten werden, und alle Schulen stimmen denn auch darin überein, dass diese soziale und ökonomische Differenzierung innerhalb einer Gruppe von lauter Gleichen und Freien nicht eher beginnen kann, als bis alles Land okkupiert ist. Denn nicht eher gibt es „besitzlose Nurarbeiter“ oder „freie Arbeiter“ (Marx) – und vor Entstehung einer Arbeiterklasse kann man Grossgrundeigentum und Grosskapitaleigentum weder bilden noch verwerten! Kapital und besitzlose Arbeiterklasse sind Korrelatbegriffe. Jene Lehre nahm an, dass diese Okkupation allen Bodens, die Voraussetzung aller sozialen Differenzierung, bereits in Urzeiten dadurch vollzogen war, dass sich selbstbewirtschaftete Bauernhufen neben einander ordneten, bis das Land voll war, also eine rein-ökonomische Entwicklung. Die Annahme ist falsch! Jede Division des agrarischen Nutzlandes einer Nation durch die Zahl ihrer Landbevölkerung zeigt, dass noch heute überall viel mehr Land vorhanden ist, als unter dieser Annahme gebraucht würde. Während z. B. die altgermanische Hufe nur 7½ ha umfasste, könnte man heute sogar im dichtbevölkerten Deutschland jeder fünf köpfigen Landfamilie 10 ha Nutzland zuweisen. Hätte sich also jene vermeintliche ökonomische Okkupation vollzogen, so wäre noch heute in Deutschland der Zeitpunkt nicht erreicht, wo die Differenzierung in soziale Klassen erst sollte beginnen können. Damit ist bewiesen, dass die Okkupation des gesamten Grund und Bodens der Kulturwelt und die Entstehung von Grossvermögen einerseits und der Arbeiterklasse andererseits, d. h. die Bildung des historischen Klassenstaates, nicht durch das ökonomische, sondern das politische Mittel erfolgt ist. Die soziologische Theorie hat als ihren Ausgangspunkt nicht die Gesellschaft der Freien und Gleichen zu wählen, die nie und nirgend existiert hat, sondern die historisch überall verbürgte Gesellschaft der Freien, die über Unfreie herrschten. Das Grossvermögen hat sich nicht durch ursprüngliche Akkumulation allmählich differenziert, sondern ist sofort bei der Staatsgründung als deren Zweck durch einseitige Gewalt, durch das politische Mittel, gesetzt worden; und die sozialen Rangklassen sind nicht aus der Vermögensverschiedenheit entstanden, sondern gingen ihr voraus. Nicht wirtschaftliches, sondern kriegerisches (und geistliches) Übergewicht haben sie ins Leben gestellt.
Das derart durch Gewalt entstandene Eigentum (Dührings „Gewalteigentum“) tritt historisch primär in drei Formen auf, von denen die beiden früheren unbestritten „politisches Mittel“ sind: Sklaverei und Hörigkeit; die dritte primäre Form ist die Sperrung des Grund und Bodens durch die Oberklasse gegen das Siedlungsbedürfnis der Unterklasse, d. h. ihre Absperrung kraft Rechtens von ihrem Produktionsmittel. Die privatrechtliche Form dieser Aussperrung ist das Grossgrundeigentum. Überall hat die Oberklasse allen noch nicht von selbstwirtschaftenden Bauern besiedelten Boden unter sich verteilt, sodass kein Nicht-Landbesitzender Zugang zu Boden finden kann, ohne ihr den Tribut der Grundrente zu entrichten. Diese künstliche, rechtliche Beschränkung des Vorrats an Land wirkt natürlich genau so auf die Differenzierung der Vermögen und Einkommen, als handelte es sich um jene natürliche Knappheit des Bodens, die die ältere Theorie als gegeben annahm. (Brot steigt genau so im Preise, wenn es infolge schlechter Ernten, als wenn es infolge einer Sperre, etwa während einer Belagerung oder durch Spekulanten, im Verhältnis zum Begehr knapp vorhanden ist.) Die Klasse „freier, besitzloser Nurarbeiter“ muss sich bilden, wo sie nicht etwa schon historisch überkommen ist; das Grossgrundeigentum lässt sich immer besser „verwerten“ in dem Masse, wie mit steigender Bevölkerung die Erträge und die Preise der Nahrungsmittel wachsen. Und jetzt ist überall da, wo die Freizügigkeit besteht, auch jenes „Kapitalverhältnis“ (Marx) gegeben, ohne das ein Stamm von produzierten Produktionsmitteln nicht „Kapital“ [117] sein kann: die Spaltung der Gesellschaft in Besitzende und „freie Arbeiter“. Und so wird hier das Kapital „sekundäres Gewalteigentum“.
In der Sprache der Ökonomik: wo aller Boden okkupiert ist, besteht zwischen Ober- und Unterklasse ein „Klassen-Monopol-Verhältnis“. Die Oberklasse als Gesamtheit ist Eigentümerin der für die Unterklasse unentbehrlichen Produktionsmittel; unter solchen Umständen ist der Monopolist in der Lage, einen „Monopolgewinn“ zu machen. Darüber sind sich alle Schulen einig; nur hat die alte Theoretik jenes Monopol, das sie durch ursprüngliche Akkumulation entstanden glaubte, als „natürliches“ betrachtet, während es in der Tat, wie die Ziffern zeigen, ein „rechtliches“, „künstliches“ ist. Und so enthüllt sich uns alles Grosseigentum an den Produktionsmitteln als „Gewalteigentum“, d. h. als politisches Mittel der Oberklasse zur Aneignung des Klassen-Monopolgewinns, des von Marx sog. „Mehrwertes“, der „Herrenrente“ nach Rodbertus, d. h. der Grundrente samt dem Kapitalprofit.
Danach lässt sich der historische Staat nach Form und Inhalt folgendermassen definieren: der Form nach ist er eine von einer siegreichen Gruppe einer unterworfenen Gruppe auferlegte Rechtsinstitution. Sein Inhalt ist die „Bewirtschaftung“ der Untergruppe durch die Obergruppe nach dem Prinzip des kleinsten (politischen) Mittels, d. h. die auf möglichste Dauer berechnete unentgoltene Aneignung eines möglichst grossen Anteils ihres Arbeitsertrages bei möglichst geringem eigenen Aufwand.
Das Objekt dieser „Staatswirtschaft“ ist also das mobile und immobile Eigentum der Unterklasse und ihre Arbeitsenergie als Quelle zukünftig zu beschaffender Wertdinge. Und, wie bei aller Wirtschaft, ist auch hier zwischen Beschaffung und Verwaltung zu unterscheiden. Die Beschaffung geschieht durch äussere oder geistliche Gewalt oder durch beide zusammen; die Verwaltung geschieht durch das Recht: das durch die Gewalt gesetzte private Eigentum wird im bürgerlichen Rechte sanktioniert, und das so entstandene Klassenverhältnis im Staatsrechte (Verfassung) gewährleistet und durch die Staatsverwaltung mittels Justiz und Heeresmacht gegen Umsturzgelüste geschützt. Einen anderen Inhalt hat das Staatsleben im Anfang nicht. Der Staat ist seiner Entstehung und seiner ratio essendi nach ursprünglich nichts anderes als die auf die Dauer berechnete Organisation des Gewalteigentums, d. h. des im Recht fixierten politischen Mittels, er ist nichts anderes als das entfaltete politische Mittel. Später nimmt freilich der Staat andere Bestandteile auf. Davon weiter unten.
I. Die „Beschaffung“ der Unterklasse.
[Bearbeiten]Im folgenden sehen wir von der seltenen und unwichtigeren Entstehung des Staates durch geistliche Gewalt ab. Bei seiner Entstehung bilden das Objekt, die spätere Unterklasse, fast immer sesshafte Ackerergruppen (meist Hackbauern); das Subjekt, die spätere Oberklasse, der Adel, sind in der alten Welt fast ausnahmslos Hirtennomaden, in der neuen Welt Jägerstämme. Die Beschaffung des Objektes der Staatswirtschaft vollzieht sich in sechs wohlcharakterisierten Stadien, von denen im Einzelfalle einige übersprungen werden können. Jedes spätere Stadium erwächst aus dem früheren darum, weil es ein „kleineres Mittel“ als jenes darstellt: 1. Grenzraubkrieg. 2. „Imkerstadium“: die Sieger holen den Tribut bei den Unterworfenen ab, lassen ihnen aber die Lebensnotdurft. 3. Tributstadium: die Besiegten senden den Tribut an die Sieger. 4. Mechanische Mischung: die Sieger hausen zwischen den Besiegten, beziehen den Tribut, kümmern sich aber nicht um ihre Wirtschaft und Verwaltung. 5. Residenten-Stadium: die Sieger halten an jedem Ort der Selbstverwaltung einen Vertreter zum Zwecke der Mit- oder Ober-Regierung. 6. Vollausgebildeter Staat.
II. Die „Verwaltung“ der Unterklasse.
[Bearbeiten]Das so „beschaffte“ Objekt der Staatswirtschaft wird nun nach dem Prinzip des kleinsten Mittels mit der Absicht „verwaltet“, d. h. vor Verlust und Verderb bewahrt, den grössten dauernden Erfolg der Bedürfnisbefriedigung der Oberklasse zu erzielen. Zu dem Zwecke muss schon vom zweiten, dem Imkerstadium, an die Oberklasse den Grenzschutz gegen andere Raubstämme übernehmen. Später, und zwar spätestens vom fünften, dem Residentenstadium, an tritt als mindestens [118] ebenso wichtige zweite Aufgabe der Oberklasse zu dem Grenzschutz nach aussen der Rechtsschutz nach innen, und zwar ebenso gegen Aufstandsgelüste der Unterklasse, wie gegen allzu starke Ausbeutungsgelüste einzelner Mitglieder der Oberklasse, die als unwirtschaftlicher Raubbau an dem Objekt der Staatswirtschaft, der „Prästationsfähigkeit“ der Unterklasse, im Interesse des dauernden Tributbezuges nicht geduldet werden dürfen.
Diese beiden Aufgaben muss jeder Staat sofort übernehmen; sie bilden geradeso die Charakteristika seiner Funktion, wie das Klassenverhältniss das Charakteristikum seines Aufbaues ist. Und deswegen ist die früher fast allein herrschende Meinung vom Wesen des Staates wohl verständlich, die in ihm nichts anderes sah als den Organisator des Friedens und der Rechtsordnung, ein Institut, bestimmt, dem „Kampf aller gegen alle“ ein Ende zu machen. Das ist denn auch in der Tat seine Aufgabe; nur geschieht es nicht, wie man bisher annahm, im gleichmässigen Interesse sämtlicher Staatsbürger, sondern grundsätzlich nur im Interesse der Oberklasse. Dass dabei auch die Unterklasse sekundär sehr bedeutende Vorteile davon hat, wenn man einmal die Setzung des Staates als einer Ausbeutungsorganisation als gegeben ansieht, soll und kann garnicht bestritten werden. Selbstverständlich pflegt jeder Eigentümer sein Eigentum im Interesse seines eigenen dauernden Vorteils.
B. Die Wirtschaftsgesellschaft als das entfaltete ökonomische Mittel.
[Bearbeiten]In diesem vom Staate mit seinem Gewalteigentum und seinem Recht gespannten Rahmen hat sich nun das ökonomische Mittel nach seinen eigenen Gesetzen entfaltet. Diesen Teil des menschlichen Gemeinlebens in seiner Entfaltung schlage ich vor, als die „Gesellschaft“ schlechthin oder die Wirtschaftsgesellschaft zu bezeichnen. Sie ist der Inbegriff aller derjenigen Beziehungen zwischen den Menschen, die auf dem äquivalenten Austausch eigener Dienste und Arbeitserzeugnisse gegen fremde beruhen. Wir können in der historischen Wirklichkeit keine völlig reine Wirtschaftsgesellschaft beobachten. Immerhin bildet die Volkswirtschaft des hohen Mittelalters, namentlich im Deutschland des XI. bis XV. Jahrhunderts inkl., eine sehr starke Annäherung daran (vgl. mein „Grossgrundeigentum und soziale Frage“, Berlin 1898. Zweiter historischer Teil); auch der Mormonenstaat Utah auf seiner Entwicklungshöhe vor der Annektion und heute Neuseeland lassen die wichtigsten Züge der „reinen“ Ökonomie erkennen. Charakteristisch für die reine Ökonomie ist das völlige Fehlen des Gewalteigentums. Es existiert weder das rechtliche Gewalteigentum am Menschen selbst in seiner Ausgestaltung als Sklaverei oder Hörigkeit, noch die Sperrung des Grund und Bodens gegen die freie Besiedelung durch Siedlungsbedürftige aus der Unterklasse. Infolgedessen existieren keine „freien“ Arbeiter, Grundrente besteht nur in harmlosem Ausmass als Rest der in der Grossgrundherrschaft noch bestehenden alten Eroberungsrechte, und Kapitalprofit kann sich ebensowenig in erheblichem Masse bilden, abgesehen von einigem Wucherprofit. In der Sprache der Ökonomik: in der reinen Ökonomie können wohl einige für die Gesamtverteilung harmlose Monopolverhältnisse zwischen einzelnen Personen bestehen („Personal-Monopolverhältnisse“), aber keine zwischen Klassen (keine „Klassen-Monopolverhältnisse“), weil keine ökonomischen Klassen existieren können, wo der Grund und Boden jedermann frei zugänglich ist.
Die Wirtschaftsgesellschaft entfaltet sich als das in jedem Augenblicke kleinste Mittel zur möglichst ausgiebigen Beschaffung und möglichst erfolgreichen Verwaltung der bedurften Wertdinge für die einzelnen ihr eingegliederten Personalwirtschaften bei möglichst geringem Arbeitsaufwande. Sie ist das entfaltete ökonomische Mittel in seinen beiden Auswirkungen als Arbeit und Tausch: die einzelnen Personalwirte arbeiten in Kooperation, d. h. Arbeitsteilung und -vereinigung, und versorgen sich mit den bedurften Wertdingen durch den Tausch. Den Anfang der Entwicklung stellt die undifferenzierte, noch nicht um einen Markt zentrierte Wirtschaftsgesellschaft mit sehr schwacher Kooperation dar; daraus entwickelt sich die entfaltete Wirtschaftsgesellschaft, die sich in immer grösserer räumlicher Erstreckung (Extensität) und immer höher gestaffelter Kooperation (Intensität) um ihren Markt zentriert. Das Ergebnis ist ein ständiges Wachstum der Arbeitsergiebigkeit („Produktivität“) jedes einzelnen und daher eine immer bessere Versorgung aller einzelnen mit den bedurften Wertdingen: das „Güteverhältnis“ zwischen Arbeit und Erfolg, Rohenergie und Nutzenergie steigt mit dem Wachstum der Gesellschaft, aber stärker als proportional diesem Wachstum.
[119]
C. Staat und Wirtschaftsgesellschaft. Tendenz der Entwicklung.
[Bearbeiten]Historischer Staat und historische Gesellschaft sind in eine empirische Einheit verflochten. Die Entfaltung und Ausgestaltung der Wirtschaftsgesellschaft wird entscheidend beeinflusst durch die Wirkung des durch den Staat gesetzten Klassen-Monopolverhältnisses – und umgekehrt wird die Entfaltung und Ausgestaltung des Staates entscheidend beeinflusst durch die Wirkungen und Bedürfnisse der immer (mit der Volkszahl) wachsenden wirtschaftlichen Kooperation. Sie erzwingt Niederlegung oder Erniedrigung alter politischer Grenzen (deutscher Zollverein, Verwandlung von Deutschland und Italien in einheitliche Wirtschaftsgebiete), internationale Wirtschaftsbünde, Schiedsgerichte usw. Auf der anderen Seite bewirkt das „staatliche“ Element, das Gewalteigentum, Aufrichtung neuer Wirtschaftsgrenzen (Zölle etc.). Kolonial- und Marktkriege usw. Aber das ökonomische Mittel erringt offenbar immer mehr das Übergewicht über das politische in dem Masse, wie die Unterklasse an Zahl und politischer Geschlossenheit wächst. Der Staat wird immer mehr gezwungen, die Fürsorge für die Unterklasse um ihrer selbst willen, nicht mehr nur im Interesse der Oberklasse zu betreiben. Diese Entwicklungstendenz erscheint unaufhaltsam, um so mehr, als unter dem Einfluss der Freizügigkeit die Bodensperrung immer mehr ihren wirtschaftlichen Inhalt verliert; die Wanderbewegung der besitzlosen Landbevölkerung richtet das Grossgrundeigentum zugrunde: die überseeische Auswanderung hat durch die Besiedelung namentlich Nordamerikas und Argentiniens die Preise geworfen, die inländische Abwanderung die Löhne getrieben (Leutenot), und das politische Schwergewicht immer mehr auf die Industriebezirke verlegt. Daran muss das Grossgrundeigentum bald zugrunde gehen, und mit ihm verschwindet das Klassen-Monopolverhältnis und der „Staat“ im historischen Sinne als Organisation des politischen Mittels. Was bleibt, ist „Gesellschaft“, „bürgerliche Gesellschaft“ mit so viel Zwangsgewalt (also „staatlichen“ Elementen in jenem anderen Sinne) wie zur Erhaltung von Rechtssicherheit und Ordnung unentbehrlich ist.
D. Staat und „Gesellschaft im weiteren Sinne“.
[Bearbeiten]Die menschliche Gesellschaft ist nicht nur bürgerliche (politische) und Wirtschaftsgemeinschaft, sondern auch Geschlechts-, Sprach-, Sitten-, Religionsgemeinschaft, gesellige Gemeinschaft usw. Die Einflüsse, die der „Staat“ im hier gebrauchten Sinne, also das im Klassenstaat rechtlich fixierte Klassen-Monopolverhältnis, auf alle diese Beziehungskomplexe ausübt, sind bisher noch kaum genauer untersucht worden. Die Moralstatistik hat in ihren Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen der Klassenlage und z. B. dem Kriminalismus, der Prostitution, dem Alkoholismus, der Irrsinnsziffer usw. einige Bausteine für ein solches Wissensgebäude beigebracht. Im allgemeinen konnte aber die bürgerliche Wissenschaft hier nicht einmal zur Problemstellung gelangen, weil sie „Staat“ und „Gesellschaft“ in unserem Sinne für ewige Kategorien und daher für untrennbar hält. Nur der Sozialismus, der den Staat als Klassenstaat für eine kurzlebige, der baldigen Ausrottung verfallene „historische Kategorie“ hält, konnte das Problem stellen und hat es gestellt, konnte es aber nicht mit genügender wissenschaftlicher Besonnenheit beantworten. Immerhin finden sich in den verschiedenen Utopien, z. B. in Bebels „Frau“, Bellamys „Rückblick“, Hertzkas „Freiland“, van Eedens „Kleiner Johannes“ u. a. gute Ansätze zu einer Erörterung des Problems, wie der heutige „Staat“ auf die „Gesellschaft im weiteren Sinne“ einwirkt. Jedem wahren Sozialisten ist die wirtschaftliche, die Futterfrage nicht mehr als das unentbehrliche Fundament der neuen Ordnung, in der sich alle höhere Menschlichkeit herrlich entfalten kann. Indem der sittliche, gesundheitliche, künstlerische, wissenschaftliche Hochstand der vollendet gedachten sozialistischen Wirtschaft in den leuchtendsten Farben ausgemalt wird, wird er aufs schärfste kontrastiert mit dem betrüblichen Stande der Dinge in der kapitalistischen Gegenwart; dabei wird fast immer der Zusammenhang zwischen der Klassenlage und dem allgemeinen Gesellschaftszustande mehr oder weniger glücklich deduziert.
In der Tat kann man mit Sicherheit aussprechen, dass in einer reinen „Gesellschaft“, die von allem politischen Mittel, d. h. allem „Staat“ erlöst wäre, in allen diesen gesellschaftlichen Beziehungen ein viel höheres Allgemein-Niveau bestehen würde. Die „sozialpathologischen Erscheinungen“ der Gegenwart würden als gefährliche Massenphänomene verschwinden und nur noch als für [120] den sozialen Zusammenhang harmlose Einzelphänomene, d. h. in viel geringerer Zahl auftreten. Während heute die hygienischen und sittlichen Schäden in einer „Kollektivschuld der Gesellschaft“ wurzeln (A. von Oettingen) und im Sinne der Rassenhygiene „kontraselektorisch“ wirken (C. Ploetz), werden sie in der „Freibürgerschaft“ individuelles Schicksal sein und „selektorisch“ wirken. Die Tuberkulose z. B. rafft heute unzählige von Geburt aus „überdurchschnittliche Konstitutionskräfte“ dahin, während sie in der reinen Gesellschaft nur die „unterdurchschnittlichen“ „ausjäten“ wird.
In der realen „staatlich“ durchsetzten Gesellschaft liegt es schmerzlich anders. Schon Aristoteles sprach aus, dass in einer von Klassengegensätzen zerspaltenen Gesellschaft weder politische, noch moralische Sicherheit bestehe. Politische Eintracht ist unmöglich, denn „die Nationen sind in zwei Völker gespalten, die sich gegenseitig feindlich belauern“, und die Oberklasse hat hier die Laster der αὶκία καὶ μοιχεία (Hochmut und geschlechtliche Ausschweifung), während die Unterklasse durch Knechtssinn und Unehrlichkeit befleckt wird (furtum est delictum servile). Solche Folgen der Klassenscheidung sind unleugbar und verzweigen sich durch das ganze Leben der Gesellschaft. Es ist hier nicht der Raum, um das weite Thema ausführlich zu behandeln; indessen mögen einige Beispiele gegeben werden:
Wie sehr das gesellige Leben durch die Klassenunterschiede beeinflusst wird, bedarf keiner näheren Ausführung. Nicht nur Hochmut oben und Knechtseligkeit unten, auch das üble Wesen des Emporkömmlings, Parasitentum und Byzantinismus, politische und religiöse Heuchelei, wachsen nur aus dieser Wurzel. Wo der Staat Prämien auf das Strebertum setzt und Zurücksetzung oder gar Strafen auf den Freimut legt, kann die allgemeine Sittlichkeit kaum gedeihen. – Unsere Kriminalstatistik berichtet vorwiegend von Eigentumsverbrechen; sie sind als Massenerscheinung in einer reinen Gesellschaft undenkbar, ebensowenig Rohheitsverbrechen und solche Verbrechen und Vergehen, die, wie Widerstand gegen die Staatsgewalt, vorwiegend aus der Empörung der Unterklasse gegen den „Staat“ erwachsen. – Ebensowenig ist die Prostitution als Massenerscheinung hier denkbar, und zwar die legitime Prostitution der Versorgungs- und Geldehen ebensowenig, wie die illegitime der Käuflichkeit. – Das religiöse Leben wird heute vergiftet und vergällt durch die Tatsachen, dass die „Kirchen“ entweder selbst „politisches Mittel“ sind oder doch als Staatskirchen dem Klassen-Monopol dienen. – Diese Andeutungen müssen hier genügen.