Staat und Wirtschaft
Literatur:
Die Literatur über das Verhältnis von Staat und Wirtschaft ist fast so umfangreich wie die volkswirtschaftliche Literatur überhaupt; zum mindesten in allen Fragen der Wirtschaftspolitik ist eine Stellungnahme in dem einen oder anderen Sinne fast unumgänglich. Es sei deshalb in erster Linie auf die Lehrbücher und Systeme der Volkswirtschaft verwiesen, insbesondere auf die Werke Schmollers, Philippovichs und namentlich Adolf Wagners. Zu vergleichen ist weiter Band II der Schmollerfestschrift „Die Entwicklung der deutschen Volkswirtschaftslehre im 19. Jahrhundert“ (Leipzig 1908), in dem eine Reihe von Spezialforschern die Einwirkung des Staats auf die einzelnen Gebiete der Wirtschaftspolitik erörtern. Zum ersten Überblick sei die kleine Schrift Carl Kindermanns „Volkswirtschaft und Staat“ (Leipzig 1908) genannt.
Der Staat steht zu der Wirtschaft in einer doppelten Beziehung; er muss selbst „wirtschaften“, d. h. die materiellen Mittel zur Ausübung seiner Funktionen beschaffen, und er wirkt ferner regelnd, hemmend oder fördernd auf die Wirtschaft der Staatsbürger ein. Zwar kann der Staat scheinbar nach beiden Richtungen hin sich völlig passiv verhalten: Er kann auf jede Eigenwirtschaft, jede eigene Produktion verzichten, sei es weil er sich dazu nicht berufen fühlt oder weil er die „Nahrung“ der Bürger nicht stören will; er kann ebenso auf jedes Eingreifen in die Wirtschaftsführung der Volksgenossen verzichten. Diese Passivität ist jedoch nur eine scheinbare; denn in beiden Fällen übt der Staat trotz seiner anscheinenden Zurückhaltung oder vielmehr gerade durch sie eine tiefgreifende Wirkung auf die Gestaltung der Wirtschaftsvorgänge aus.
Lehnt er es ab, durch Eigenwirtschaft für die völlige oder teilweise Deckung seines materiellen Bedarfs zu sorgen, so muss er sich in entsprechendem Masse Teile des Einkommens der Volksgenossen aneignen; diese Aneignung führt er kraft seiner Staatshoheit zwangsweise, wenn natürlich auch in den Formen des jeweils geltenden Rechts, ohne weiteres und unter Umständen (Kriegszeiten) ohne Rücksicht auf die normalen Existenzbedingungen der Bevölkerung durch. Die Form dieser Heranziehung privater Mittel für Staatszwecke kann sehr verschieden sein: nicht nur Steuern und Gebühren, an die man zuerst denkt, sondern auch Kontributionen, Naturalleistungen (Einquartierung, Pferdegestellung, Wegefronden) und namentlich ehrenamtliche unentgeltliche Dienstleistung in Verwaltung und Rechtsprechung.
Die wirtschaftspolitische Passivität gegenüber seinen Bürgern kann gleich tiefgehende Folgen für die Sachproduktion wie für die Gestaltung der sozialen Schichtungsverhältnisse haben. Strikter Freihandel, d. h. also zollpolitische Passivität kann die völlige Preisgabe eines Gewerbes bedeuten, sofern dieses der Konkurrenz eines gleichen unter günstigeren Bedingungen produzierenden Gewerbes eines anderen Landes ausgesetzt ist. Vielleicht wird dadurch das gesamte Volkseinkommen nicht vermindert, vielleicht sogar gesteigert, indem andere ihrerseits unter günstigeren Bedingungen arbeitenden Gewerbe des Landes nun einen umso grösseren Aufschwung nehmen; aber es bleibt doch die wirtschaftliche Vernichtung oder Deklassierung eines Volksteils, die Wertminderung der in diesem Produktionszweige angelegten Vermögensteile übrig (Getreidebau in England). Handelt es sich dabei um Produktionen, die sich innerhalb der Konsumgemeinschaft des Volkes nicht entbehren oder ersetzen lassen, dann gibt der Staat damit zugleich seine Unabhängigkeit preis und macht sich von der Zufuhr aus anderen Staaten abhängig. Das kosmopolitische Ideal tritt dann an die Stelle des nationalpolitischen.
Die sozialpolitische Passivität beruht auf dem Gedanken völliger privatwirtschaftlicher Vertragsfreiheit. Zwischen Arbeiter und Arbeitgeber, zwischen Schuldner und Gläubiger, zwischen [108] Käufer und Verkäufer entscheidet formell der freie Vertragswille. Es ist jedoch leicht einzusehen dass diese Vertragsfreiheit nur eine Fiktion ist; denn in Wirklichkeit entscheiden die wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse. Der Arbeiter ist formell berechtigt, einen beliebig hohen Lohn und eine beliebig kurze Arbeitszeit zu verlangen; er wird diese Forderung jedoch nur dann durchsetzen können, wenn er der wirtschaftlich stärkere ist, d.h. wenn das Angebot von Arbeitskräften knapper ist als die Nachfrage danach. Eine solche Situation kommt – und nicht nur gelegentlich – wohl vor; so z. B. in den jungen Arbeiterstaaten Australiens. Für gewöhnlich wird jedoch die Stellung des Unternehmers die bessere sein, weil das Arbeitsangebot zu überwiegen pflegt; der scheinbar freie Vertragsabschluss wird also tatsächlich zugunsten des Unternehmers ausfallen. Zu seinen Ungunsten kann sich jedoch die Situation wiederum dann verschieben, wenn unter strenger Aufrechterhaltung des Prinzips der Vertragsfreiheit und der Nichteinmischung des Staats die Arbeiter durch Zusammenschluss zu Verbänden das Angebot zusammenfassen und durch die weiteren Mittel der Arbeitseinstellung (als Produzenten) und des Boykotts (als Konsumenten) ihre Lohnforderungen und anderen Bedingungen durchsetzen. Dass demgegenüber nun wiederum die Unternehmer mit Verband und Aussperrung sich wehren, zeigt, dass die angebliche Vertragsfreiheit nichts anderes ist als der jeweilige Waffenstillstand zwischen erschöpften Kämpfern.
Vertragsfreiheit bedeutet Preisgabe des wirtschaftlich Schwächeren, kann Arbeiterausbeutung, Wucher, Monopolpreis, aber auch Ruin des Unternehmers, Schädigung des Kapitalisten, einseitige Förderung des Konsumenteninteresses bedeuten. Vertragsfreiheit ist ein blosses Wort, dessen Inhalt erst die Wirtschaftslage des Augenblicks schafft.
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Die Stellung des Staates zu den Fragen der Wirtschaft kann nur durch seine eigene Aufgabe gegeben werden; sie ist deshalb durchaus politisch bestimmt. Wer den Staat nur als eine Teilorganisation der Menschheit des ganzen Erdkreises ansieht, wer die Entwicklung des einzelnen Individuums für das gegenwärtige Ziel der Kultur erklärt, wird zum mindesten ein Eingreifen des Staates auf das unerlässliche Minimum beschränken wollen. Zwar wird heut kaum jemand mehr auf dem blossen „Nachtwächter“-Standpunkt der französischen Liberalen der dreissiger und vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts stehen, die dem Staat keine andere Aufgabe zuerkennen wollten als den Schutz von Leben und Eigentum; aber die Vorstellung der praestabilierten Harmonie des sich selbst überlassenen Wirtschaftslebens beherrscht doch immer noch weite Kreise der Wissenschaft wie der wirtschaftspolitischen Praxis. In den meisten Ländern erfolgt allerdings, unbekümmert um jede Theorie, ein weitgehendes Eingreifen des Staates in die Wirtschaft, und selbst das andere Extrem, die völlige Sozialisierung der Wirtschaft, ringt in den australischen Staaten deutlich genug um Erfüllung. Dem Einfluss des transozeanischen Angelsachsentums ist es wohl vor allem zuzuschreiben, dass selbst der alte Hort der „non-intervention“, Grossbritannien, auf dem Wege namentlich des sozialpolitischen Staatseingreifens kühn vorangeht; das Alterspensionsgesetz des liberalen Ministers Lloyd George ist viel „sozialistischer“ als unsere vielgepriesene deutsche Arbeiterversicherung. Wer den Zweck des Staates in ihm selbst und seiner Selbstbehauptung sieht, wird seine wirtschaftliche Tätigkeit eben unter dem Gesichtspunkte der Staatsnotwendigkeit erfassen. Dies gilt von der Tätigkeit des Staates als wirtschaftendem Subjekt, von dem Einfluss auf die nationale Produktion und die grossen Erwerbsgruppen wie schliesslich von der Einwirkung auf die sozialen Verhältnisse.
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Beim Staat als selbstwirtschaftendem Subjekt wird man zwischen jenen Wirtschaftszweigen scheiden können, deren Betreibung in seinem Wesen als Staat selbst begründet werden kann, und jenen weiteren, die ihm nur als Finanzquelle dienen. Als Musterbeispiel für die ersteren sei das Eisenbahnwesen angeführt. Zwar bringen die Eisenbahnen gewaltige Überschüsse (in Preussen und Bayern sind die Einnahmen aus ihnen grösser als die Steuererträgnisse); aber das wesentliche liegt doch nicht darin, sondern in der Einwirkung der Eisenbahnen auf das gesamte Wirtschaftsleben. Die Gütertarifpolitik ist die entscheidende Tatsache [109] für die Lebensfähigkeit aller Gewerbe, die schwere Güter verfrachten müssen; ihre einseitige Handhabung zugunsten einzelner Interessenten, wie sie in der Hand von Privatgesellschaften nicht ausgeschlossen ist, zeigt sich als tiefgreifender Schaden für die Gesamtwirtschaftsentwicklung des Landes. Diese Schäden waren bekanntlich in den Vereinigten Staaten von Amerika (im Zusammenhang mit dem Trustwesen) so gross, dass der Bund den Privatbahnen die Tarifhoheit genommen und sie in die Hände einer staatlichen Behörde, der Interstate commerce commission, gelegt hat. Der Staat wirtschaftet als Eisenbahnunternehmer, wenn auch die Eisenbahnen eine Einnahmequelle ersten Ranges für ihn geworden sind, doch im wesentlichen nur, um Missbräuche privatwirtschaftlicher Ausnutzung zu verhindern. – Das umgekehrte Extrem stellt die staatliche Landwirtschaft dar. Wenn die Domänen im Mittelalter und eigentlich bis zum Beginn des modernen Staates die staatliche Haupteinnahmequelle waren, so erklärte sich das rein negativ aus dem Mangel an Bareinnahmen, die sich bei überwiegender Naturalwirtschaft nicht beschaffen lassen. Hält man die Domänen jetzt noch fest, so spielt dabei – abgesehen von Versuchswirtschaften, Gestüten, Lehrgütern – mehr die Tradition als ein wirkliches Bedürfnis die entscheidende Rolle. Die durchaus individuelle Leitung, wie sie ein moderner landwirtschaftlicher Grossbetrieb verlangt, verträgt sich nicht mit dem notwendigen Bureaukratismus staatlicher Wirtschaftsführung; und so sind die Domänen denn auch fast durchwegs verpachtet, werden also zu Erwerbszwecken genutzt. Zwischen reinem Erwerbs- und allgemeinem Staatsinteresse endlich liegen die Erwägungen, welche den Staat zur Betreibung von Bergwerken (Kohle, Kali) bewegen. Die Wirtschaftsführung ist einfach genug, um ihm keine Schwierigkeiten zu machen; die Gefahr einer Monopolbildung zuungunsten der Konsumenten dieser wichtigsten Rohstoffe (wie auch der Verschleuderung von Naturschätzen) liegt so nahe, dass Allgemeininteressen es rechtfertigen, wenn der Staat die Hand im Spiele behalten will.
Soweit der Staat sich nicht durch Eigeneinnahmen selbst ernährt, fordert er kraft seiner Staatshoheit die Mittel zur Förderung seiner Zwecke von seinen Bürgern. Die Höhe wie Art und Verteilung dieser Steuern wirken in gleich starker Weise wieder auf die Privatwirtschaft der einzelnen zurück, was ebensowohl beabsichtigt wie unerwünschte Nebenwirkung sein kann. Es sei nur daran erinnert, wie tief die Zollpolitik die Wirtschaftsverfassung beeinflusst. Aber auch die anderen Steuergesetze haben solche Wirkungen (Branntweinsteuerkontingentierung, Einfluss der Wertzuwachs- und Umsatzsteuern auf den Grundstücksverkehr usw.). Bei der Ausgestaltung der direkten Steuern wird ganz bewusst eine sozialpolitische Wirkung erstrebt (Freihaltung der geringsten Einkommen, stärkere Heranziehung fundierter Einkommen, geringere Belastung der kinderreichen Familien, progressiver Steuersatz). Entscheidend bei allen steuerpolitischen Fragen bleibt freilich der Gesichtspunkt der Staatsnotwendigkeit.
Je mehr der Staat sich für seine eigene finanzielle Leistungsfähigkeit auf die in Steuerform geleisteten Beiträge seiner Bürger angewiesen sieht, umso grösser wird sein Interesse an deren wirtschaftlichem Gedeihen. Dieser Standpunkt – Förderung des Bürgererwerbs im Interesse der Staatsfinanzen – ist der des älteren merkantilistischen Staates wie der im wesentlichen jetzt noch herrschenden neomerkantilistischen Richtung. Die dadurch bedingte direkte Einwirkung des Staates auf die Volkswirtschaft vollzieht sich in drei Formen: regelnd, fördernd und hemmend.
Es sind eine Reihe allgemeiner Staatsaufgaben, die gewissermassen zugleich das Fundament einer geregelten Wirtschaft schaffen. Die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, die Gewährleistung sicheren und unparteiischen Rechtsschutzes, die Schaffung oder Kodifizierung zweckentsprechender Rechtsnormen sind die Voraussetzungen einer Wirtschaft grösseren Stils; wo solche fehlen, wie vor kurzem noch in manchen Teilen des Orients oder in dem grössten Teile Innerafrikas, wird sich ausser der Landwirtschaft nur ein primitives Handwerk und ein in seinen Ergebnissen stets gefährdeter Handel entwickeln können. Die Ordnung des Münz-, Mass- und Gewichtswesens, die Schaffung und Unterhaltung eines brauchbaren Wegenetzes (durch den Staat selbst oder seine nachgeordneten Organe), die Regelung des Marktwesens sind weitere Bausteine zum Fundament der Volkswirtschaft.
[110] So wichtig, ja unbedingt notwendig alle diese Staatsmassnahmen allgemeiner Natur sind, sie schaffen doch nur erst den Rahmen, innerhalb dessen sich die tatsächlichen Vorgänge der Volkswirtschaft abspielen. Aber auch in diese hinein greift jetzt der Staat unbedenklich mit starker Hand.
Das Endziel der Wirtschaft ist der Gewinn. Das Streben nach Gewinn zu fördern hat der Staat tausend Mittel. Er kann den wirtschaftlichen Erfolg ehren, wie er den kriegerischen oder geistigen geehrt hat: durch Verleihung von Auszeichnungen, über die er in jedem Grade verfügt. Die Schaffung eines neuen Geld- oder Industrieadels neben dem alten Adel des Schwerts und der Robe regt die mächtigsten Instinkte der Menschenbrust, den Ehrgeiz an; die soziale Ehrung des Wirtschaftserwerbs führt ihm eine Reihe fähigster Köpfe zu, die ohne diesen psychologischen Antrieb sich anderen Berufen zugewandt hätten.
Fördert der Staat auf diese Weise die Wirtschaft, indem er ihre Führerstellen füllen hilft, so kann er auch für Arbeitskräfte sorgen. Die Förderung der Allgemeinbildung (Volksschule, Fortbildungsschule) wie der Fachbildung (gewerbliche und landwirtschaftliche Schulen) der Arbeiter und Kleinproduzenten, die Unterstützung der Zuwanderung ausländischer Arbeiter (Ansiedlungspolitik junger Kolonialländer wie vor wenigen Jahrzehnten der United States und jetzt Argentiniens, Arbeiterbeschaffungsstellen wie die deutsche Arbeiterzentrale), das sind einige der Mittel der Arbeiterbeschaffung. Auch die Aufteilung von Grossgrundbesitz im Wege der inneren Kolonisation in Arbeiter- und Bauernstellen kann man hierher rechnen. Ebenso wie der Staat der Volkswirtschaft Kräfte zuführt, kann er auch umgekehrt die Arbeit seiner Bürger gegen die überlegene Konkurrenz Fremder schützen. Diese Überlegenheit kann ebensowohl in höherer Leistung bestehen (Ausschluss von europäischen Unternehmern in einzelnen orientalischen Staaten) wie in geringeren Ansprüchen (Ausschluss farbiger Arbeiter in angelsächsischen Ländern). Die Schutztätigkeit des Staates kommt freilich im ganzen weniger den Arbeitskräften als den Produzenten zugute; sie findet ihren Hauptausdruck in der Schutzzollpolitik.
In allen Formen des Zolles, als Erziehungszoll, als eigentlicher Schutzzoll und gelegentlich selbst als Finanzzoll spielt diese Schutzfunktion die entscheidende Rolle; der Staat will entweder vorhandene Werte nicht entwerten lassen (Getreidezoll gegen die Konkurrenz jungfräulichen und raubbaumässig ausgebeuteten transozeanischen Bodens) oder die Schaffung neuer Werte ermöglichen (Industriezölle in jungen Industrieländern). Dass für ihn selbst dabei eine direkte Bereicherung der Staatsfinanzen erfolgt, ist eine erfreuliche Nebenerscheinung, nicht aber die entscheidende Tatsache. Diese Förderung des Produzenteninteresses kann freilich durch eine Benachteiligung der Konsumenten erkauft sein, falls nämlich dadurch die Preise der hauptsächlichsten Lebensbedürfnisse stärker steigen oder höher gehalten werden als die jeweilige Verdienstmöglichkeit. Wenn, wie im gegenwärtigen Deutschland (von gelegentlichen Schwankungen abgesehen), die Wirtschaftsförderungspolitik geschlossen und erfolgreich ist, wird das Gesamteinkommen des Volkes durch die erhöhte Produktivität stärker steigen als der Preis dieser Lebensbedürfnisse und so Konsumenten- und Produzenteninteresse parallel laufen. Es ist jedoch sehr wohl möglich, dass der Staat das Produzenteninteresse dem der Konsumenten opfert, oder genauer gesprochen, das eines Teils der Produzenten dem eines Teils der Konsumenten; es mögen auch wohl einzelne Produzentengruppen gegenüber anderen zurückgesetzt werden („reine“ Walzwerke gegenüber den gemischten Werken, Konzessionen in Handelsverträgen). Der Staat muss dann entscheiden, welches Interesse das für ihn wertvollere ist. Endlich kann auch eine bewusste Opferung wirtschaftlicher Interessen sowohl aus innerpolitischen Gründen (Vorherrschaft einer Klasse, Mittelstandspolitik) wie aus Rücksichten der äusseren Politik erfolgen (imperialistische Bestrebungen in England).
Die eben in den äussersten Umrissen angedeutete Produzenten- und Produktionsschutzpolitik sucht die allgemeinen Existenzbedingungen für die Wirtschaft oder Gruppen von Wirtschaftenden sicherzustellen oder zu bessern. Daneben hat der Staat schon seit Jahrhunderten eine recht energische direkte Unterstützung einzelner Produktionszweige für eine nicht zu umgehende Aufgabe erachtet: Landeskultur und Gewerbeförderung nehmen auch bei uns keine geringere Stelle ein als einst im Staate Ludwigs XIV. oder Friedrichs des Grossen. Freilich wird im modernen Staate jede direkte Zuwendung an eine Einzelperson nach Möglichkeit vermieden, sondern immer ein grösserer Personenkreis berücksichtigt, wobei am Ende freilich doch [111] der Einzelne Empfänger ist. Doch wird bei der Gewährung von Staatsbeihilfen in irgend einer Form stets das Vorhandensein eines öffentlichen, d. h. eine grössere Personenzahl betreffenden Interesses vorausgesetzt. Es ist naturgemäss, dass diese Unterstützungen überwiegend den „kleinen Leuten“ zugute kommen; für die wohlhabenderen Produzenten werden sie wenigstens in der Gegenwart mehr auf indirektem Wege, etwa durch Bereitstellung von Mitteln für technologische Forschung (Physikalisch-technische Reichsanstalt) verwendet werden. Doch kommt auch jetzt noch eine direkte Unterstützung grösserer Unternehmungen, beispielsweise durch die Gewährung von Ausfuhrprämien (Zucker bis zur Brüsseler Konferenz) nicht selten vor. Die Städte, welche ein Interesse an der Heranziehung grösserer Steuerzahler haben, gehen auch wohl noch weiter (unentgeltliche oder sehr billige Überlassung von Terrain, Steuererleichterungen, Vorzugsbedingungen bei Elektrizitäts- und Wasserlieferung), welchen Weg selbst ganze Staaten noch einschlagen, die ihre Volkswirtschaft rasch in die Höhe bringen wollen (Balkan- und südamerikanische Staaten). Bei uns pflegt der Staat diese Förderungsgelder nur zum Teil durch seine eigenen Verwaltungsorgane zu verteilen, bedient sich vielmehr zumeist der Mitwirkung der sachkundigen offiziellen Vertretungskörperschaften der einzelnen Berufsstände (Landwirtschaftskammern, Handwerkskammern, weniger Handelskammern).
Seine vornehmste Aufgabe aber erfüllt der Staat auch in wirtschaftlicher Beziehung, wenn er als Schirmherr der Schwachen auftritt, wenn er in das Getriebe des Wirtschaftslebens hemmend eingreift, um Unkundige und Hilflose zu schützen. Dieser Schutz bedarf wohl unter Umständen der Ergänzung, um voll wirksam zu sein; es genügt nicht, dass der Staat den Wucher unter noch so strenge Strafe stellt, wenn er nicht zugleich dafür sorgt, dass die Kreditbedürftigen, soweit der Kredit wirtschaftlich berechtigt ist, anderswo Befriedigung finden, etwa in Leihhäusern oder Kreditgenossenschaften. Es gibt wohl auch noch eine Reihe solcher Probleme, zu deren Lösung sich ein einwandfreier Weg noch nicht gefunden hat (Kampf gegen Trustausschreitungen in Amerika, Heimarbeit). Aber gerade auf dem Gebiete des Schutzes der wirtschaftlich Schwachen hat der moderne Staat, gegenüber doktrinären Widerständen jeder Art, seine schönsten Triumphe gefeiert. Alles, was man mit dem weiten Namen Sozialpolitik zusammenzufassen sucht, gehört hierher.
Die Sozialpolitik setzt zuerst gegenüber dem schrankenlosen Überfluten des frühkapitalistischen, aller alten Zunft- und Produktionsbeschränkungen entbundenen Erwerbstrieb ein, um Schutzdämme gegen die Vernichtung der Volkskraft aufzubauen; eine Bewegung, die in gleicher Weise von vornehmen Menschenfreunden wie Graf Shaftesbury oder Wichern, von Staatsverneinern wie der Sozialdemokratie, wie endlich von kühl rechnenden scharfsinnigen Staatsmännern mit dem grossen Namen Bismarck an der Spitze getragen wurde. Diese Eingriffe der Regierung bewegen sich in einer doppelten Richtung: sie wollen eine übermässige Ausbeutung von Kraft und Gesundheit der Arbeiter verhüten und sie wollen auf die Einkommensverteilung zu seinen Gunsten einwirken. Verbot gewisser gefährlicher Arbeitsmethoden (Verwendung weissen Phosphors), Beschränkung weiblicher und jugendlicher Arbeitskräfte auf solche Verwendung, die ihren Kräften angemessen ist; endlich Maximalarbeitstag, erst für Jugendliche und Frauen, dann für erwachsene männliche Arbeiter, das sind die Etappen des Weges. Der Einkommensverteilung dient die soziale Versicherung, die dem Arbeiter über seinen Tagelohn hinaus einen Anteil an dem nationalen Einkommen sichert. Und selbst darüber hinaus geht – wieder unter australischem Einfluss – schon England: Festsetzung von Minimallöhnen in der Hausindustrie und im Bergbau, Alterspension ohne vorhergegangene Versicherung. Freilich geht der hemmende Einfluss des Staates nicht immer nach der Richtung einer Stärkung nur der Arbeiter: in dem Kampf gegen gewisse Formen des Handels (Konsumvereine, Warenhäuser) wird gegen die hier nur als Konsumenten in Betracht kommenden einkommenschwächsten Volksteile der Mittelstand geschützt.
Der Staat, so sehr er als dauernde Erscheinungsform über seinen jeweiligen Teilgliedern steht, ist andererseits eben doch ihr Inbegriff, fühlt ihrer aller Leiden und Verlangen. Wie der Körper des Menschen in Aktion und Reaktion physiologisch bedingt ist, so wird der Staat von all den widerstreitenden wirtschaftlichen Interessen bewegt. Die Harmonie zwischen all diesen Disharmonien zu finden, das ist die immer neu gestellte und nie endgültig gelöste Aufgabe der Wirtschaftspolitik.