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Wie und wo entstehen die „Schulkrankheiten“?

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Autor: Livius Fürst
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Titel: Wie und wo entstehen die „Schulkrankheiten“?
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aus: Die Gartenlaube, Heft 32, S. 518–520
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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3-teiliger Artikel
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Wie und wo entstehen die „Schulkrankheiten“?

Von Dr. L. Fürst.
Die pädagogisch-hygienischen Reformbewegungen. – Landläufige Ansichten über die Ursachen der Schulkrankheiten. – Das Verhältniß zwischen Hausarzt, Familie und Lehrer. – Schule und Haus als Quelle der Erkrankungen. – Wie wird die Gesundheitspflege der Kinder in der Familie gewahrt? – Die Kurzsichtigkeit der Schüler. – Gefahren der Spielschulen und Kindergärten. – Schuld der Eltern an Erkrankung von Schulkindern.

Es giebt gewisse „Fragen“ der Gesundheitspflege, welche von dem Geiste der Neuzeit erst „geschaffen“ worden sind. Erst aus einer im Gegensatz zu früher sorgsameren Beobachtung hygienischer Gesetze, wie der Versuch und die Erfahrung sie festgestellt haben, konnten diese „Fragen“ auftauchen. Aerzte und Pädagogen haben sie aufgeworfen und zu beantworten versucht, und das bessere Element des Laien-Publicums, besonders solche Eltern, welche selbst schulpflichtige Kinder haben und deren Entwickelungsgang mit liebevoller Umsicht überwachen, nehmen lebhaften Antheil an den Verhandlungen über das „Für“ und „Wider“.

Das Interesse der weitesten Kreise für Alles, was das Schulkind betrifft, ist erklärlich und erfreulich. Unser eigen Fleisch und Blut, um dessen Wohl und Wehe es sich handelt, unsere Kinder – was sollte uns mehr interessiren? Und ist es nicht erfreulich zu sehen, wie lebhaft sanitäre Fragen – man denke nur an die Feriencolonien für schwächliche, an die See-Heilstätten für kränkliche Schulkinder – von allen Seiten aufgegriffen und unterstützt werden? Die „Schulbankfrage“, die Angelegenheit der Schulspiele, die Frage der „Ueberbürdung der Schulkinder“, der „Geisteskrankheiten im Schulalter“ wurden zu ebenso vielen Ausgangspunkten gewaltiger Bewegung in Wort und Schrift, welche ihre mächtigen Wellen bis in die ärmliche Tagelöhnerhütte, bis in den Saal der Volksvertretung unseres Reiches sendete und weit über die Grenzen Deutschlands dahinbrandet. Die Heizung, Beleuchtung und Lüftung der Schulbauten sind keine trockenen Fragen für Fachmänner, welche etwa nur am „grünen Tisch“ ihre Erledigung finden, in Acten ihr Dasein hinbringen und dem sogenannten „beschränkten Unterthanenverstand“ ein Buch mit sieben Siegeln bleiben sollen.

Es sind Früchte des praktischen Sinnes unserer Zeit, gezeitigt an „des Lebens goldnem Baum“. Wie verfolgte man die zahllosen Untersuchungen über die Beschaffenheit der Augen von Schulkindern mit Ueberraschung! Mit welcher Begeisterung wurde die Einführung des Turnens und der Körperübungsspiele aufgenommen!

Es giebt kaum ein Gebiet der Schulhygiene, wo nicht jedes Wort der Sachverständigen ein lebhaftes Echo in der Brust der Eltern geweckt hätte, denn über allen derartigen Fragen schwebt wie ein Zauber der Hauch der Worte: „Es gilt unseren Kindern,“ Worte, welche nur dem Hagestolz gleichgültig sein können.

In den meisten die Schulhygiene betreffenden derartigen Tagesfragen ist ein berechtigter Kern enthalten, und die „Schulkrankheiten“, denen in den letzten Jahrzehnten der Krieg erklärt worden ist, sind keine Phantasiegebilde überängstlicher Mediciner, die man mit dem einfachen Hinweis, daß es in der guten alten Zeit selbst mit mangelhaften Einrichtungen und ohne Schädigung unserer Voreltern ganz gut gegangen ist, in Nichts zerfließen lassen kann. Daß bestimmte Krankheiten dem Schulalter eigenthümlich sind und in einem Zusammenhange mit dem Schulbesuche stehen, dies gemeinsame Kennzeichen hat den „Schulkrankheiten“ jedenfalls zu ihrem seitdem geläufig gewordenen Namen verholfen, und seitdem steht es bei der oft gedankenlos nachbetenden Menge fest wie ein Dogma, daß alle derartigen Krankheiten nicht nur während der Schuljahre, nicht nur im Zusammenhange mit der Schule zu Stande kommen, sondern in der Schule, durch die Schule. „Die moderne Schule ist die Quelle der Schulkrankheiten“, von dieser Ueberzeugung durchdrungen, ist man befriedigt, nunmehr für mannigfache zu Tage getretene Schädigungen den Sündenbock gefunden zu haben, und mit seltener Uebereinstimmung erheben sich von ärztlicher und nichtärzlicher Seite die Klagen über die Mißbräuche, die Mängel und Schattenseiten unseres Schulwesens, welche allein viele Erkrankungen unserer Schuljugend verschuldet haben sollen.

Das „Publicum“ ist davon fest überzeugt und wenig geneigt, sich zu fragen, ob diese Ansicht richtig ist.

Um wie Vieles bequemer erscheint es, mit dem Strome zu schwimmen und die Quelle aller Uebel in den Räumen des Schulhauses zu suchen! Das Publicum hat im Ganzen und Großen zwar eine große Gabe zur Opposition, aber wenig Talent zur Kritik. Mit wenigen rühmlichen Ausnahmen selbstständig Denkender nimmt es gewisse Aussprüche als unumstößliche Wahrheiten auf und baut auf diesem Grunde jahrelang, jahrzehntelang weiter, bis es sich zeigt, daß dem Gebäude, so ansprechend es ist, der feste Boden fehlt.

Es erben sich eben nicht blos „Gesetz und Rechte“, sondern auch einseitige Ansichten „wie eine ewige Krankheit“ fort.

Seitdem von namhaften Aerzten, Hygienikern und Pädagogen gewisse „Schulkrankheiten“ in ihrem Wesen erkannt und schärfer festgestellt sind, fragt das Publicum nur noch: Welche Reformen sind für die Schule zur Verhütung der „Schulkrankheiten“ nöthig? Aber selten fragt Einer: Was verschuldet das Haus, die Familie hierbei?

Solche rühmliche Ausnahmen können nichts an dem bekannten Worte ändern:

„Ich hoffe, das nimmt Keiner krumm,
Denn Einer ist kein Publicum.“

Wenn man, wie der Verfasser Dieses in jahrelanger praktischer Thätigkeit als Kinderarzt, gerade der Entstehung der „Schulkrankheiten“ ein besonderes Interesse gewidmet hat, muß man mehr und mehr zu der Ueberzeugung kommen, daß es eine Pflicht der Heilkunde ist, nach Kräften ein Unrecht wieder gut machen zu helfen, welches in Folge eines Vorurtheils jahrelang dem [519] Unterrichtswesen zugefügt worden ist. Die Kinderhygiene könnte allerdings von dem Lehrerstande wesentlich mehr verstanden, gewürdigt und gefördert werden; es würde dies auch geschehen, wenn man, anstatt sich in eine Art Gegensatz zu den Pädagogen zu stellen und die Kinder gewissermaßen vor deren zu weit gehenden Anforderungen schützen, vor ihren der Gesundheitspflege nicht entsprechenden Einrichtungen hüten zu wollen, Hand in Hand mit ihnen ginge.

Der Hausarzt, die Familie, der Lehrer – dies Kleeblatt ist naturgemäß dazu bestimmt, eine geschlossene Einheit in Bezug auf die wichtigste Frage, das leibliche und geistige Wohl der Kinder, zu bilden. Nur schwer kann man es begreifen, wie eines dieser drei ohne die anderen, oder gar im Widerstreit mit den andern darnach streben kann, die Hygiene der Schulkinder zu verbessern. Daß hier ein einseitiges Vorgehen wenig Erfolg haben kann, liegt auf der Hand.

Man fordert in der That zu viel von der Schule, welche ja in den wenigen Stunden, in denen die Kinder daselbst verweilen, nur die gröbsten Schädigungen verhüten kann.

Man vergißt, daß das Kind während viel größerer Zeit jeden Tag dem Einflusse der Schule gänzlich entzogen und den Bedingungen seiner häuslichen Verhältnisse unterworfen ist.

Was zu dreiviertel der Zeit im Familienkreise versäumt und versehen wird, kann das einviertel der täglichen Stundenzahl im Schulhause nicht gut machen. Die Kenntniß und Verwirklichung der häuslichen Gesundheitspflege steht – das darf behauptet werden – gegenwärtig sogar der sehr hoch entwickelten Schul-Hygiene nach.

Der Arzt sieht in dem täglichen Verkehr mit der Familie wohl die Mängel und sucht sie nach Kräften zu beseitigen; allein nur zu häufig, und je mehr er in die ärmeren Volksschichten herabsteigt, desto mehr begegnet er, schon aus Gründen der Mittellosigkeit und der bedrängten socialen Lage, der einfachen Unmöglichkeit, seinen Ansichten und Rathschlägen Geltung zu verschaffen. Und wie steht es in den glücklicher situirten Familien? Hier sind zwar die Bedingungen der häuslichen Hygiene befriedigend erfüllt; aber es fehlen die Berührungspunkte, der Ideen-Austausch, das einheitliche Vorgehen zwischen Haus und Schule. Jedes geht seinen eigenen Weg, verfolgt seine eigenen Grundsätze: ob dieselben harmoniren, ob sie sich ergänzen und unterstützen oder widerstreben und ausheben, darnach wird nur von besonders sorgsamen Eltern gefragt. Ja, die wenigsten wissen etwas von dem, was der Lehrer seinen Schukindern zu ihrem Besten vorschreibt, wie der gebildete Pädagoge der Neuzeit planmäßig bemüht ist, täglich, stündlich die Arbeit mit der Erholung, die geistige Arbeit mit Anschauung, das Stillsitzen mit dem Umhertummeln, die Beschäftigung am Schreibtisch mit dem Turnen und Singen abwechseln zu lassen. Die Regierungen, die Schulbehörden stellen daraufhin die Lehrpläne zusammen; die Lehrer führen das System der zeitweisen Entspannung des Geistes, der Sinnesorgane und des ganzen Körpers durch, soweit dies in einer Schule möglich ist. Aber, daß man selbst in den sogenannten „guten“ Häusern Fühlung mit der Schule behielte und – wir müssen es leider sagen – die Schule auch mit den Familien, kommt nur selten vor. Meist hat man im Hause keine Vorstellung von den hygienischen Bestrebungen der Schule, in der Schule keine Ahnung von den berechtigten Wünschen des Hauses, und während die Sphären dieser beiden Welten, zwischen denen das Schulkind täglich hin und wieder wandert, sich nur lose berühren, bleibt das Kind hier oder dort gewissen ihm speciell ungünstigen Bedingungen unterworfen, die sich, wenn „das einende Band“ nicht fehlte, leicht beseitigen ließen.

Niemand kann von der Schule fordern, daß sie jedem Individuum, jeder häuslichen Gepflogenheit gerecht wird, oder in vollkommener Weise die Gesetze der Kinder-Hygiene erfüllt.

Sie würde ihren Aufgaben, ihren Lehrzielen und der nöthigen Disciplin kaum entsprechen können, wollte sie, die einen umfassenden Blick nicht entbehren kann, sich zu sehr in’s Einzelne verlieren. Aber die Familie kann individualisiren; sie kann und soll in möglichster Vollkommenheit, systematisch und vernunftgemäß auf die regelmäßige physische und psychische Entwicklung der Kinder hinwirken. Wenn die häusliche Gesundheitspflege mehr Würdigung und Verbreitung fände, dann würden, wie wir im Folgenden sehen werden, nicht nur Krankheiten verhütet, sondern auch rechtzeitig erkannt werden. Es würden dann die „Schulkrankheiten“ an Zahl und Bedeutung überhaupt wesentlich verlieren. So aber steht der Arzt, der willkommene Freund der Familie und der oft unwillkommene Berather der Schule, machtlos zwischen Beiden und muß, indem er zwischen Scylla und Charybdis hindurch rudert, froh sein, sein Fahrzeug glücklich gerettet zu haben, ohne an einer der Klippen zu scheitern.

Daß die meisten Kinder ärmerer Volkskreise zu Haus viel ungünstiger leben, als in der Schule, daß die Schulstunden, die sie in den heutigen luftigen, hellen, gesunden Schulgebäuden unter steter Aufsicht verbringen, für sie eine wahre Wohlthat sind, gegenüber dem, was der Kleinen daheim in den oft überfüllten, dumpfigen oder düsteren Wohnungen harrt, wo Licht, Luft und Sauberkeit, diese Lebenselemente, nur eine kümmerliche Rolle spielen - wer kann es mehr, als der Arzt, der in diese Quartiere kommt, beurtheilen?

Wo sind hier, in den oft dicht besetzten Wohn- und Schlafräumen jene fünfeinhalb Cubikmeter Raum, die man für jeden Schüler verlangt? Wie unzweckmäßig und unzureichend ist die Beleuchtung, wie verdorben die Luft, wie irrationell die Heizung! Wie häufig schreibt das Kind zu Haus an hohem, steilem Tische, auf unpassendem Stuhle, schief sitzend! Wie oft liest das Schulkind zu Haus in der Dämmerung, in fast unglaublichen Stellungen, in Büchern von miserabelstem Druck! Alles das geschieht - zu Haus; geschähe es in der Schule, welches Geschrei würde sich ob solcher Mißstände erheben! In der Familie, in den eigenen vier Wänden wird es nicht bemerkt, oder trotz seiner anhaltend nachtheiligen Wirkungen nicht beachtet.

Ganz besonders derjenige Arzt, der sich den Kinderkrankheiten widmet, deren Entstehung und Verbreitung nachspürt und – gleich dem Lehrer die Kinderwelt zu seiner Specialität erwählt hat, kann es täglich beobachten, wie die Quellen der sogenannten „Schulkrankheiten“ in vielen Fällen mit Sicherheit nicht in der Schule zu suchen sind. Möge immerhin die Schuljugend durch die von dem Wesen der Schule unzertrennliche Vereinigung vieler Kinder in geschlossenen Räumen, durch einen gewissen, für alle gleichmäßigen Zwang zu mehrstündigem Sitzen, durch verstärkte Inanspruchnahme des Gehirns und der Sinnesorgane mehr gefährdet sein; mag der Schule der Vorwurf, zu Zeiten der Boden für Fortpflanzung mancher Ansteckungen zu sein, nicht erspart bleiben – viel wichtiger wird es sein, nicht „in die Weite zu schweifen“, während „das Gute“ – in diesem Falle die Lösung der Schulkrankheitenfrage – „so nahe liegt“. Man suche die Ursache der Schulkrankheiten vor der Schulzeit und außerhalb des Schulhauses auf, und man wird finden, daß der Procentsatz der wirklichen Schulkrankheiten viel geringer wird, als man ihn bisher angenommen.

Es ist durch sehr viele Untersuchungen erwiesen, daß von den Sinnesorganen besonders das Auge des Schulkindes in immer zunehmendem Grade leidet. Nicht nur, daß die Kurzsichtigkeit mit jeder höheren Classe mehr Kinder ergreift, auch die Kurzsichtigkeit der einmal ergriffenen erreicht mit den Schuljahren höhere Grade. Seit James Ware (1812) zuerst hierauf hingewiesen, sind in Folge officieller Anordnungen, sowie durch einzelne Augenärzte von Bedeutung zu wissenschaftlichen Zwecken viele Tausende von Kindern der verschiedensten Schulen und Alter in Bezug auf ihre Augen untersucht worden. Das Resultat war überraschend und erschreckend. Von Classe zu Classe sieigt die Zahl der Kurzsichtigen; während in der Sexta nur etwa 12 von 100 kurzsichtig sind, beträgt die Zahl der Kurzsichtigen in der Prima schon 56 von 100.

Sprechen schon diese Zahlen deutlich für die Entstehung dieses Uebels während der Schulzeit, so ergiebt sich nicht minder aus dem Charakter der Schule ein Einfluß auf die Kurzsichtigkeit. In der Dorfschule ergreift sie blos 1 Procent, in den Mädchenschulen nur 10 bis 20 Procent, in den Gymnasien bis 60 Procent der Schüler. Solche Zahlen müssen zu denken geben und zunächst zu der Annahme führen, daß lediglich die Schule es ist, in welcher eine solche Calamität wurzelt. Man muß hierin bestärkt werden, wenn man sich erinnert, daß Jäger schon 1824 nachgewiesen hat, wie das neugeborene Kind kurzsichtig ist. Die starke Krümmung seiner Hornhaut flacht sich gegen das Schulalter [520] zu ab, sodaß im Beginne dieser Zeit die meisten Kinder die anfängliche Kurzsichtigkeit verloren haben. Die dem kindlichen Auge bekanntlich eigene Fähigkeit, ebenso in größter Nähe wie in weiter Ferne scharf zu sehen, zumal auch die feinsten, kleinsten Gegenstände zu erkennen, diese große Accommodationsbreite erhält sich freilich bei dem Leben und den Anforderungen unserer Cultur nicht lange. Das Dorfkind behält sie am längsten. Das Kind des Städters, das, in der Straßen erdrückender Enge lebend, oft wochenlang kein freies Feld, keinen weiteren Horizont hat, um seinen Augen eine Uebung zu erhalten und im wahrsten Sinne eine „Augenweide“ zu verschaffen, dies Kind, das möglichst früh, möglichst viel und einen möglichst großen Theil des Tages lernen soll, muß seine Augen mehr und mehr für die Nähe einrichten. Die Gestalt seiner Augäpfel durch anhaltende Wirkung der Augenmuskeln verlängert sich und da gleichzeitig im Gehirn und dem Auge der Blutgehalt sowie der Blutdruck zunehmen, so entsteht durch dies überwiegende Nahesehen ein kurzsichtiger Bau des Auges, der sich mehr und mehr steigert.

Es leuchtet ein, daß die Schule hierbei recht ungünstig wirken muß. Schon das Schreiben auf der schwarzen Schiefertafel, welches aus optischen Gründen von Fachmännern verurtheilt wird und erst neuerdings zu der Erfindung weißer Schreibtafeln (vergl. „Zwanglose Blätter“ Nr. 3, Beilage zur „Gartenlaube“, 1883, Nr. 5) geführt hat, sodann aber die anhaltende Anstrengung der Sehkraft, der in vielen Fällen zu kleine, zu enge oder zu matte Druck der Schul- und Lesebücher, zuweilen auch die nicht zweckmäßige Beleuchtung des Schulzimmers und die trotz aller Ermahnungen des Lehrers schlechte Haltung des Kopfes und Oberkörpers – alles dies wirkt ja in der Schule vereint zur Verschlechterung der Sehkraft mit.

Aber – und das wird viel zu wenig betont – in fast noch höherem Grade wird während der Jahre, wo das Kind die Schule besucht (und während der Universitätszeit ist es nicht viel besser) daheim gesündigt und gefehlt.

Schon vor der Schulzeit werden die Kinder in manchen Spielschulen und Kindergärten mit kleinen Handarbeiten und sonstigen feineren Fertigkeiten geradezu zur Kurzsichtigkeit erzogen.

Doch sind auch hier die Eltern nicht frei von Schuld, da sie von ihren Kindern nicht früh genug selbstgearbeitete Gaben verlangen können und die Kindergärtnerinnen zur Aufgabe der verschiedensten Geburtstags- und Weihnachtshandarbeiten förmlich drängen.

Die Bilder- und Lesebücher sind oft von einer empörend schlechten Ausstattung. Zwar bieten demjenigen Verleger, welcher die Minimalgrenze in der Größe der Buchstaben, in ihrer Entfernung von einander, in der Buchstabenzahl jeder Zeile und in dem Abstand der Zeilen, kurz die Verhältnisse, unter welchen ohne Schädigung der Augen nicht herabgegangen werden darf, kennen lernen will, die Angaben des berühmten Augenarztes Professor Cohn in Breslau genügenden Anhalt. Allein was kehren sich gewissenlose „Fabrikanten“ von Kinderbüchern daran!

Für diese ist die Parole: „Billigste Herstellung“ – und dieser entsprechend zerfällt der Einband in acht Tagen, die löschpapierartigen Blätter werden mürbe; nur der enge, mangelhafte Druck, durch welchen Raum und Geld gespart werden soll, bleibt bis zur völligen Abnutzung des Buches von unverminderter Schädlichkeit.

Und wie liest das Kind zu Haus? Bald hält es das Buch zu nahe, bald läßt es dasselbe (in höchst ungünstigem Winkel für die Sehachse) horizontal auf dem Tisch liegen. Wieder in anderen Fällen liest es im Sonnenschein oder Dämmerlicht, oder so, daß die Schrift völlig beschattet ist. Keinem fällt es ein, in den kühnen Lieblingsstellungen, die manches Kind dabei stundenlang einnimmt, etwas Unpassendes zu finden, und doch würde keine, auch nicht die ärmlichste Schule die Art der Lectüre dulden, wie sie uns der Stift des Meisters Pletsch, treu nach dem Leben, darstellt.

Die häusliche Ueberwachung ist, obgleich sie gerade in dem Alter, wo die Kinder Lust am Lesen gewinnen, geschärfter sein müßte, im Gegentheil viel inconsequenter und oberflächlicher, als die in der Schule; aber für den Ruin des Auges wird letztere verantwortlich gemacht.

Nur nebenbei sei übrigens erwähnt, daß ein Theil der kurzsichtigen Schulkinder von Geburt an kurzsichtig war und blieb, zuweilen auf Grund einer von Eltern und Großeltern sich forterbenden Anlage hierzu. Alle solche Kinder „verderben die Statistik“, wie man zu sagen pflegt. Ungünstige angeborene Anlagen, ungünstige Einwirkungen vor dem Schulalter und in der schulfreien Zeit mögen gewiß einen Theil von kurzsichtigen Schulkindern schaffen. Ein anderer Theil würde durch rechtzeitiges Erkennen und durch entsprechende Ueberwachung im Beginne des Leidens wieder hergestellt werden können.

Aber wie wenige Eltern machen es sich zum Grundsatze, mit ihren Kindern regelmäßig „hinaus in die Ferne“ zu ziehen, in Wald und Feld sie zum Blick in die Weite anzuhalten und die Wohlthat der freien Natur auf sie einwirken zu lassen. Uffelmann in Rostock, dem wir neben Jacobi in New-York und Baginsky in Berlin wohl die beste Darstellung der Kindeshygiene verdanken, sagt in diesem Werke hierüber:

„Aus alledem folgt nicht, daß die Schule ganz allein die Myopie (Kurzsichtigkeit) verschuldet. Ich bin sogar überzeugt, daß an der Entstehung der Letzteren auch das Haus einen nicht unbeträchtlichen Antheil hat.“

Und an anderer Stelle sagt er:

„In der Regel bleibt es ganz unberücksichtigt, daß das Haus die Kurzsichtigkeit verschulden kann und thatsächlich oft verschuldet.“

Diesen Worten kann sich der Verfasser nur aus voller Ueberzeugung anschließen; ja er hält es für eine Gewissenssache, auch weitere Kreise auf die bessere Pflege der „edlen Himmelsgabe“, des Auges, hinzuweisen, besonders des so viel besungenen „Kindesauges“.

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aus: Die Gartenlaube 1883, Heft 33, S. 538–540,542
[538]
Die ersten Anfänge der Skoliose vor der Schulzeit. – Angeborene Anlagen und frühzeitige Einwirkungen. – Einseitiges Tragen und Führen. – Des Kindes Selbstunterricht im Gehen. – Mißverhältniß im Kinderwachsthum und in Kindermöbels. – Wie soll man Rückenkrümmung und schlechte Haltung beim Arbeiten verhüten? – Ueber „Geradehalter“.

Neben der Kurzsichtigkeit nimmt die „Schiefheit der Schultern“ und die „Krümmung der Wirbelsäule“ einen bedeutenden Rang unter den sogenannten „Schulkrankeiten“ ein. „Seit mein Kind in die Schule geht, hat es eine schlechte Haltung,“ hört man die Mütter so häufig klagen, daß man ohne Weiteres die Schule auch für die Erkrankungen des Knochenbaues zur Verantwortung ziehen möchte.

Auch hier liegt es dem Verfasser fern, die Schule von allem Antheil an derartigen Mißgestaltungen frei zu sprechen. Allein nicht jeder Mensch ist von Haus aus „schlank wie eine Tanne“ und von jener gesunden Beschaffenheit seiner Knochen, daß er in normaler Schönheit und Regelmäßigkeit emporwächst. Besonders die Mädchen stellen schon frühzeitig ein größeres Contingent zu der Zahl von Fällen regelwidriger Haltung, die man als Arzt zu beobachten Gelegenheit hat. So viel auch schon über die als „Skoliose“ bekannte Seitwärtskrümmung und Achsendrehung der Wirbelsäule geschrieben und für deren orthopädische Behandlung angegeben worden ist, so wenig wird man im Stande sein, dieselbe durch Schulreformen aus der Welt zu schaffen. Es ist ja gar nicht zu leugnen, daß das anhaltende Sitzen in der Classe eine krankhafte Neigung des Skelets nicht verbessern kann, daß Abweichungen leichter Natur, die dem Auge der Eltern bis dahin entgingen, im Schulalter eine immer zunehmende Verstärkung erfahren. Die besorgten Eltern, welche ihren Liebling alsdann erst, wenn auch ein Blinder das Uebel erkennen könnte, dem Arzte mit Vorwürfen gegen die Schule zuführen, ahnen in vielen Fällen nicht, wie ungerecht sie sind. Wie bei vielen chronischen Leiden des Kindesalters tönt ihnen auch hier das verhängnißvolle „Zu spät!“ entgegen. Was vermögen Klagen über die Machtlosigkeit des Arztes gegenüber schon ausgebildeten Deformitäten!

Schlummerten doch die Keime oft schon in dem Kinde, ehe es das Licht der Welt erblickte! Kaum ein anderer als der Familienarzt, der nicht selten mehrere Generationen in allen Phasen ihrer Körperentwickelung und Krankheitsanlage verfolgen kann, ist im Stande, die Wahrheit des biblischen Wortes zu verstehen, welches die Vererbung der Sünden der Väter von Geschlecht zu Geschlecht mit ernster Mahnung predigt. Möge die Tilgung der „Sünden“ in sittlicher Beziehung mehr Aufgabe des Theologen sein: der Arzt denkt hierbei vor Allem an die Sünden im hygienischen Sinne. Ihm wird der Zusammenhang klar zwischen chronischen Ernährungsstörungen der Großeltern, Eltern und Kinder; er sieht die verderblichen Folgen der Ehen scrophulöser, rachitischer, blutarmer oder zu Tuberkulose geneigter Individuen vor sich. Die Entartung mancher Familien vollzieht sich unter seinen Augen, und in dem schlaffen, schlecht genährten, blassen und knochenschwachen Nachwuchs erblickt er nur das verstärkte Abbild ungesunder Ahnen.

Angeborene oder sehr frühzeitig erworbene Knochenschwäche und Rachitis sind, zum Theil in Folge fortgesetzter unvernünftiger Aufziehung und Ernährung der Kinder, selbst in besser situirten Familien verbreitete Leiden und scrophulöse Knochenleiden ebenfalls keine Seltenheiten. Kein Wunder, wenn bei so vielen Kindern eine Neigung zu Verbiegungen und Verkrümmungen des noch widerstandslosen, nachgiebigen Skelets sich zeigt, sobald das Sitzen, Stehen und Gehen beginnt.

Wenn dann solche mit krankhafter Anlage zu Skoliose oder leichtesten Graden derselben bereits behaftete Kinder die Schule besuchen und nunmehr durch das anhaltendere Sitzen die Rumpflast und der Muskelzug solche Mißgestaltungen verstärken, ist die Schule gewiß nicht allein schuld. Man sehe doch einmal, wie durch einseitiges Tragen auf ein und derselben Arme sich selbst bei einem anfangs gesunden Kinde die Wirbelsäule seitwärts biegt (vergl. Fig. 1), bis sie durch den einseitigen Druck es verlernt, sich wieder völlig gerade zu strecken.

Fig. 1.

Man sehe, wie durch stetes Führen an einer und derselben Hand eine Schulter und die betreffende Partie der Wirbelsäule in die Höhe gezogen wird und sich schließlich als bleibende „hohe Schulter“ darstellt. Um wie vieles mehr müssen solche andauernd falsche Haltungen nachtheilig wirken, wenn dem Knochen die gehörige Festigkeit fehlt, wenn er in krankhafter Weise knorpelig, biegsam bleibt und der sich jahrelang wiederholenden Wirkung von Schwere, Druck und Zug folgt, um endlich in abnormer Stellung zu erhärten. Auch die Art, wie die Kinder gehen lernen, legt nicht selten den Grund zu Mißgestalt der Wirbelsäule, des Beckens und der Beine, zumal die Unsitte, die Kinder zum Stehen und Gehen anzuhalten, noch ehe die Knochen der Beine die nöthige Festigkeit besitzen, um die Körperlast zu tragen.

Im Gegensatz zu den völlig verwerflichen Laufstühlen und Laufkörben ist ein recht zweckmäßiger Apparat, um den Kindern das Stehen- und Gehenlernen völlig und mit Ruhe selbst zu überlassen, die sogenannte Gehbarrière[1]. Dieselbe besteht aus vier leicht zusammenzufügenden, innen gepolsterten Schranken, innerhalb deren das Kind, auf einer ausgebreiteten Decke sitzend, spielt.

Es mag umfallen, sich wieder erheben, nach und nach an einer innen verlaufenden, dicken Wollenschnur sich anhalten und nach Maßgabe seiner eigenen Kräfte aufrichten, schließlich fortbewegen – Alles dies geschieht naturgemäß nach und nach und stets im Einklange mit der Körperentwickelung.

Von einem Drucke gegen die Brust, von einem Hängen des Körpers in den Achseln ist hier keine Rede. Beruhigt kann die Mutter das Zimmer verlassen; das Kind vermag weder Möbels, welche leicht umfallen oder fortgleiten, noch den Ofen, noch etwas Zerbrechliches zu erreichen und wird im Gerade-Stehen, in Aneignung richtiger Körperhaltung sein eigener Lehrmeister.

Es wird behauptet, die Skoliose entstehe erst im sechsten bis achten Jahre, und zwar in Folge der weniger widerstandsfähigen Wirbel und der schwächlicheren Muskulatur in acht Zehntel bis neun Zehntel aller Fälle bei Mädchen. Aber sehr viele Specialisten, von Malgaigne bis Hueter, haben dennoch mit Recht auf die unumstößliche Thatsache hingewiesen, daß schon in der ungleichmäßigen Entwickelung des Knochenbaues, der Wirbelsäule, der Rippen die Ursache gegeben ist.

Jeder Kinderarzt kann es bestätigen, daß neben den angeborenen und sehr frühzeitig erworbenen Anlagen zu Skoliose, die mit der Schule absolut noch nichts zu thun hat, auch die während der Schulzeit sich ausbildende Skoliose auf mechanische Ursachen, nämlich auf falsche Haltung und vorwiegende Beschäftigung mit dem rechten Arme zurückzuführen ist, Ursachen, die gewiß zum großen Theil im Hause sich geltend machen. Wenn man die Kinder bei ihren häuslichen schriftlichen Arbeiten oder beim Lesen beobachtet, ihr Sitzen an hohen Tischen mit horizontaler Platte, ja selbst an Kommoden oder Fensterbrettern, ihre nachlässige, schiefe Haltung mit schräg gelegtem Hefte, auf Stühlen, die dem ermüdenden Rücken nicht die geringste Stütze gewähren, dann ist es wohl kaum zu verwundern, wenn die weitverbreitete rechtsseitige Skoliose sich ausbildet. Es wird in dieser Hinsicht das „Herauswachsen“ der Kinder aus ihren Möbels vollständig unterschätzt.

Ein Stuhl, eine Schulbank, die für das Kind nicht mehr paßt, ist nicht nur unnütz, sondern, da sie das Kind zu einer [539] gekrümmten, unnatürlichen Körperhaltung zwingt, geradezu schädlich. Mit Recht muß es deshalb als eine glückliche Neuerung angesehen werden, daß ein hervorragender Industrieller, E. A. Raether in Zeitz, verstellbare Kindermöbels construirt hat, welche mit Leichtigkeit der Körpergröße von sechs bis vierzehn Jahren angepaßt werden können.

Ein Kinderstuhl (Fig. 2 und 3), der dem Wachsthum des Kindes gewissermaßen Schritt für Schritt folgt und seinem Oberkörper, jeder Beinlänge durch fast mühelose Einstellung immer wieder angepaßt werden kann, ein Schulschreibtisch, der für die ganze Schulzeit paßt, das sind hygienisch und finanziell für jeden Familienvater, der nicht in der Lage ist, immer neue Einrichtungsgegenstände anzuschaffen, durchaus praktische Geräte, die jede Körpergröße sich ungehindert entwickeln lassen.

Fig. 2. Gestellt für 6 Jahre. Fig. 3. Gestellt für 14 Jahre.

Ist doch eine rationelle Hausschulbank noch lange nicht genug in Familienkreisen eingebürgert, und selten nur ist bei Eltern die Energie vorhanden, eine nachlässige, zusammengebaute, schiefe Haltung, wie sie übrigens auch die Mädchen bei Handarbeiten, gleichzeitig mit einseitigem Heben und Senken der Schultern, oftmals zeigen, zu verbessern.

„Es wäre eine große Verkehrtheit“ - sagt Uffelmann mit vollem Rechte - „wenn man die Entstehung der Skoliose allein der Schule schuld geben wollte. Ein sehr großer Theil der letzteren fällt zweifellos auf das Haus.“

Nicht selten wird auch der sogenannte „krumme Rücken“ als „Schulkrankheit“ bezeichnet, und man hat von ärztlicher und hygienisch-technischer Seite sich schon lange bemüht, dem für die Athmungs- und Unterleibsorgane verhängnißvollen Krummsitzen zu steuern. Hueter, Lorinser und Andere haben auf die Bedeutung hingewiesen, welche Rolle eine solche anhaltende Krümmung der Wirbelsäule, durch ungleichmäßige Compression der Wirbelknochen, spielt, indem sie den allmählichen Uebergang zu einer wirklichen Knickung der Wirbelsäule, dem leider unheilbaren „Buckel“ bildet. Orthopäden wie Schreber und Schildbach haben dieser Entstehungsursache des krummen Rückens ihre besondere Aufmerksamkeit zugewendet, und der Letztere schreibt über die „hockige“ Haltung: „Dieser Formfehler zeigt sich hauptsächlich in den ersten Schuljahren. Wenn er nicht rechtzeitig beseitigt wird, so entsteht aus ihm eine dauernde Mißform, welche nicht nur die Wohlgestalt des Körpers, sondern auch die Leistungsfähigkeit der Lungen, besonders ihrer Spitzen beeinträchtigt und dadurch zu ernsten Lungenleiden geneigt machen kann.“

Es ist in der That bedauernswerth und jammervoll, wenn man derartige schmale, schlanke, blasse Schulmädchen, die zu untersuchen man veranlaßt wird, mit einem flachen, ja in den oberen Partien selbst eingesunkenen Brustkasten ausgestattet findet, deren kaum noch Respirations-Hebung und -Senkung zeigende Schlüsselbeingegenden für eine bedenkliche Erkrankung der Lungenspitzen über kurz oder lang den günstigen Boden abgeben müssen.

Bloße „Ermahnungen“ zum „Geradesitzen“ genügen nun, wie schon Schreber, dieser verdienstvolle „Erzieher zur schönen Körperform“, anerkannte, nicht, weder in noch außerhalb der Schule. Um das Schulkind bei seinen häuslichen Arbeiten am Vorwärtsbeugen zu hindern, construirte er einen „Geradehalter“, welcher auf dem Principe beruhte, eine Schranke vor dem schreibenden Kinde zu bilden und diesem dadurch eine schädliche Annäherung der Brust und des Gesichts an die Tischplatte unmöglich zu machen. Der „Schreber’sche Geradehalter“, welcher hier (Fig. 8 und 9) treu nach den Originalabbildungen dargestellt ist,[2] bildet, wie man sieht, eine sehr einfache, leicht verständliche Vorrichtung.

Ein eiserner Doppelwinkel wird an der Kante der „horizontalen Tischplatte“ von unten festgeschraubt, da, wo das Kind arbeiten soll. Das Kind setzt sich nun auf einen gewöhnlichen Stuhl an den Tisch, und die in dem Eisen auf- und abspielende T-förmige Eisenstange wird nunmehr in der für den betreffenden Schüler passenden Höhe derartig durch eine Schraube festgestellt, daß der Querstab etwas unter der Schlüsselbeingegend anliegt. Sobald das schreibende Kind die jetzt herbeigeführte aufrechte Haltung verlassen und sich nach vorn beugen will, drückt der Querstab gegen die oberen Partien der Brust und verhindert das Vorbeugen des Oberkörpers direct, oder durch das unangenehme Gefühl, das der Druck veranlaßt, indirect.

Der Apparat war s. Z., als erste Verwirklichung einer an sich richtigen Idee, unstreitig eine zweckmäßige Neuerung, und da er gleichzeitig sehr solid und fast unzerstörbär war, so fand er eine ziemlich starke Verbreitung und ist noch jetzt in vielen Kreisen beliebt.

Fig. 4. Der Geiger’sche Geradehalter.

Als Abart desselben ist der neuerdings aufgetauchte Theodor Geiger’sche Geradehalter (Fig. 4) zu betrachten. Diese von dem Stuttgarter Mechaniker angegebene Vorrichtung besteht aus zwei verbundenen, mittelst Schraube und Klammer festzuklammernden, nach Tisch- und Kindesgröße verstellbaren Drähten, deren umgebogene Enden zwei gegen die Achseln drückende Ballen aus Eisen besitzen.

Obgleich hier der Druck gegen den Brustkorb nicht in dem Grade, wie bei dem Schreber’schen Geradehalter, stattfindet, so ist hier doch immer das Princip „Druck gegen die vordere Körperfläche“ verwirklicht. Es läßt sich nicht leugnen, daß dieses Princip, auf dem beide Geradehalter beruhen, nach den heutigen Anschauungen nicht mehr ohne ernste Bedenken festgehalten werden kann. Der Druck auf die oberen Partien des Brustkorbes oder die Schlüsselbeingruben, der das Kind abhalten soll, sich beim Schreiben zu weit vorzubücken, ist offenbar nicht nur unvortheilhaft, sondern geradezu bedenklich. Die Gegend der Schlüsselbeine und der obersten Rippen vor Druck zu schützen, gerade diesem Theil des Brustkorbes und den Lungenspitzen eine freie, unbehinderte Ausdehnung zu ermöglichen, oder solche ergiebige Vorwölbung dieser Partie möglichst zu befördern, ist gegenwärtig eine wohl ausnahmslos anerkannte Nothwendigkeit.

Dies kann und soll der Schreber’sche oder der Geiger’sche Geradehalter ganz offenbar nicht erzielen. Im Gegentheil wirkt er in den meisten Fällen unmittelbar als Druck gegen diese für die Athmungsorgane so allgemein wichtige Körperregion, und es wird nur von der Aufmerksamkeit, der Augenbeschaffenheit, der Körperkraft des Kindes abhängen, ob dieser Druck nur momentan oder dauernd wirkt. Daß aber der Apparat eine Krümmung der Wirbelsäule nicht verhindern kann, liegt auf der Hand; im Gegentheil, wenn Jemand sich unwillkürlich über eine Barrière hinwegzubiegen strebt, muß die Krümmung der Wirbelsäule geradezu sich steigern.

Zwanzig Jahre waren seit der Angabe dieser Geradehalter vorübergegangen, als Soenneken, dem wir die Einbürgerung der Rundschrift, rationelle Reform der Kalligraphie und treffliche Neuerungen auf dem Gebiete der Herstellung und Auswahl des Schreibmaterials verdanken, seine Vielseitigkeit noch in der Angabe eines neuen Geradehalters bekundete.

Die leicht transportable, billige und darum weiterer Verbreitung fähige Vorrichtung (Fig. 5 und 11) besteht in einem federnden [540] Metallbügel, der sich an der Tischplatte festklammern läßt und von dem ein Metallstäbchen nach aufwärts geht.

Dies Stäbchen, das man je nach der Größe des Schülers verlängern oder verkürzen kann, trägt oben eine näpfchenartig vertiefte Holzplatte, in welche der Schreibende seilt Kinn zu legen hat. Indem das Auflegen und Niederbücken zum Schreibhefte durch Anstemmen des Kinnes an die „Schreibstütze“ verhütet wird, strebt Soenneken zugleich eine Verbesserung der Körperhaltung an.

Auch dieser keine Apparat vermag, abgesehen davon, daß er wohl allzu sehr auf den guten Willen des Schülers rechnet, der nur ungern in dieser gezwungenen und absonderlichen Kinnhaltung verharren wird, den anatomisch-physiologischen Anforderungen nicht völlig zu entsprechen.

Fig. 5.
Der Soenneken’sche Geradehalter.

Insbesondere ist von Augenärzten dagegen geltend gemacht worden, daß die Haltung des Kopfes gegenüber der Schriftfläche eine ungünstige wird, indem die Augenachse mit der Tischebene nicht einen rechten, sondern einen stumpfen Winkel bildet. Auch fehlt hei dieser „Schreibstütze“ jeder Einfluß auf eine zweckmäßige natürliche Haltung der Schultern sowie der Wirbelsäule. Es ist entschieden anfechtbar, wenn behauptet wird, die Schreibstütze zwinge zum selbstständigen Geradesitzen und „erziehe mit der Zeit zu einer guten Haltung“.

Die Haltung ist ebenso „unselbstständig“ wie bei jedem Geradehalter; jeder Geradehalter übt einen „Zwang“ aus und es kommt nur darauf an, welcher Zwang für Auge, Brust und Wirbelsäule der rationellste, vortheilhafteste ist. Mit der Zeit „erziehen“ kann ein Geradehalter nur bei gleichzeitiger Aufmerksamkeit und Selbstbeobachtung des Kindes und genügender Kraft desselben. Ob das Anstemmen des Kinnes oder Brustkastens vortheilhafter ist, als das Zurückziehen der Schultern, darüber kann selbst der Laie kaum im Zweifel sein.

Fig. 6. Verstellbarer Schulschreibtisch.   Fig. 7. Der Fürst’sche Geradehalter.   Fig. 8. Der Schreber’sche Geradehalter.

Diese Thatsache, daß die sämmtlichen bisher existirenden Vorrichtungen nur auf einem Druck der Brust oder des Kinnes gegen eine Widerstand bietende Querstange, gegen Pelotten, oder gegen eine runde, ausgehöhlte Holzplatte, also auf einem Anstemmen der Vorderfläche des Körpers beruhten, veranlaßte den Verfasser zu der Verwirklichung einer schon seit längerer Zeit von ihm in den Grundzügen festgestellten Idee eines jeden Druck vermeidenden „Geradehalters“.

Das leitende Princip mußte unstreitig ein Zug der Schultern nach hinten sein, der dem Brustkasten eine völlig ungehinderte Vorwölbung, Ausdehnung und Athembewegung ermöglicht, ja, eine solche womöglich begünstigt. Das Ergebniß dieser Versuche, die „krumme Rückenhaltung“ mancher Schüler und Schülerinnen auf rationelle Weise zu beseitigen, führte den Verfasser zur Angabe des folgenden Geradehalters[3] (vergl. Fig. 7 und 10).

Ein Eisenstab a ist in senkrechter Richtung an der hinteren Seite der Lehne L einer mit schräger, verschiebbarer Tischfläche versehenen Hausschulbank (zur Noth auch an der Lehne eines gewöhnlichen Stuhles) mit zwei Schrauben XX befestigt. In der Mitte dieses Stabes befindet sich ein Schlitz, in welchem ein vorn mit flachem Knopf versehener eiserner Querstab b hinten durch eine Schraube S in jeder beliebigen Höhe, wie sie den Schultern des Kindes entspricht, fest eingestellt werden kann. Letzteres geschieht bei Kindern mit normaler Haltung horizontal, bei Kindern, die eine einseitige schiefe Haltung oder bereits eine hohe Schulter haben, kann man diesen Querstab derartig schräg stellen, daß man die Seite, welche der zu hohen Schulter entspricht, tiefer stellt, wodurch man zugleich die Ausgleichung einer solcher Mißform begünstigt. Nahe den Enden des Querstabes befinden sich auf dessen hinterer Fläche zwei Knöpfe cc'[WS 1] zum Befestigen der Achselriemen RR', und ganz an den Enden zwei spiral nach aufwärts gedrehte Haken dd', in welche die an den Riemenenden befindlichen Ringe sehr leicht eingehakt werden können, ohne wieder herauszugleiten. Diese Riemen werden, der Größe jedes Kindes angemessen, ein- für allemal so eingeknöpft, daß, wenn die Riemen unter den Achseln nach vorn geführt und dann die Ringe oben eingehakt sind, das Kind in ganz ungezwungener, aufrechter Stellung dasitzt, ohne sich vorbiegen zu können.

  Fig. 9.   Fig. 10.   Fig. 11.

Mit nicht größerem Zwang, als bei dem gewohnten Schultornister, werden die Schultern zurückgezogen, die Wirbelsäule streckt sich ein wenig, der Brustkorb tritt dem entsprechend vor und doch bleibt für alle nöthigen Bewegungen genügend freier Spielraum. Das Kind kann während der Arbeit seine Haltung nicht vernachlässigen. Es schlüpft selbst leicht in die Riemen und fühlt kaum den Zwang, da es durch den Schutornister gerade an diesen Riemenzwang gewöhnt ist.

Wenn man zur Aufnahme des Tintenfasses beim Schreiben in bequemer Entfernung an der rechten Seite der Schultischplatte einen eisernen oder hölzernen Ring anbringt, aus welchem, nach [542] Arbeiten, das Tintenfaß wieder herausgenommen werden kann, um an seinen gehörigen Platz gebracht zu werden, so erleichtert dies den Gebrauch dieses Geradehalters noch besonders.

Hier ist also derselbe Effect erreicht, daß das Kind sich bei seinen häuslichen Schularbeiten – und hierfür ist die Vorrichtung zunächst bestimmt – nicht zu nahe vorbiegen kann, aber zugleich ist jeder Druck auf den Brustkasten, jede Behinderung der Lungen vollständig ausgeschlossen. Die oberen Lungengebiete, die sonst bei der bockigen Haltung keine Hebung der obersten Rippen, keine Vorwölbung ausführen können und bekanntlich am frühesten der Sitz unheilbarer Erkrankung werden, behalten hier eine freie Function, ja diese wird befördert. Diejenigen Augen- und Lungenleiden, die ihren Grund nur in vernachlässigter gebückter Haltung haben, werden, soweit dies überhaupt durch einen solchen Apparat zu verhüten ist, von Anfang an rationell bekämpft. Der Hauptzweck aber, die zwanglose Streckung der Wirbelsäule, die natürliche, freie, nicht tief herabgebückte Haltung des Kopfes, die ganz naturgemäß bleibende Blutcirculation, und die für jedes Kind leichte Anwendung mit gewohnten Handgriffen – alles dies dürfte wohl die Einführung einer sehr einfachen Vorrichtung in geeigneten Fällen als berechtigt erscheinen lassen. Dieselbe würde gewiß dazu beitragen, einer der häufigsten sogenannten „Schulkrankheiten“ mit mehr Erfolg. als bisher, vorzubeugen.

Und das Verhüten von Krankheiten ist ja beim Kinde von ungleich höherer Bedeutung, es ist besonders bei Verkrümmungen und Verbiegungen des noch nicht völlig verknöcherten Skelets dankbarer und erfolgreicher, als die orthopädische Verbesserung ausgebildeter, gewissermaßen erstarrter Mißgestaltungen, daß man stets hier an das Beachten und Bekämpfen der unscheinbarsten Anfänge denken sollte.

Natürlich schließe ich mich vollkommen der Ansicht an, daß ein Geradehalter niemals nützen, ja eher schaden kann, wenn die Muskulatur und der Knochenbau des Kindes für ein längeres freiwilliges Geradehalten noch zu schwach sind. Kräftigung des Körpers muß hier unzweifelhaft vorangehen.

Textdaten
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aus: Die Gartenlaube 1883, Heft 34, S. 554–556,558
[554]
Die „Nervosität“ im Schulalter. – Die Ansprüche des Hauses und der Schule an das Kind. – Störung der Hirn-Ernährung. – Krampfzustände mancher Schulkinder. – Seelische Erkrankungen in ihren ersten Anfängen. – Leiden der Athmungsorgane. – Die Schule als „Ansteckungsherd“. – Endergebnisse.

Sehr viel wird in unserer Zeit von der Nervosität und den Nervenleiden mancher Schulkinder gesprochen.

Natürlich wird auch diese Calamität nur den Einflüssen der Schule zugeschrieben. Daß unsere ganze Generation, in Folge des heutigen Culturzustandes, zu nervöser Ueberreizung neigt, daß in vielen Fällen ererbte oder frühzeitig ausgebildete Anlage vorhanden ist und gar oft die unzweckmäßige häusliche Erziehung, die frühzeitige Zerstreuungs- und Vergnügungssucht mindestens ebenso viel Schuld haben, wie die Schule – wer gesteht dies zu? – Der Balken im eigenen Auge wird eben nicht beachtet. Freilich ist es durchaus klar, daß eine Summe von Gelegenheitsursachen gleichzeitig mit dem Schulbesuch und auch zum Theil durch das Wesen und den Charakter der Schule in Thätigkeit tritt. Schon der gesetzlich festgestellte Termin der Schulpflicht ist, nach ärztlichen Begriffen, in ein zu zartes Alter verlegt und ohne Rücksicht auf die verschiedene Entwicklung der Kinder ein zu früher. Er zwingt alle Kinder gleichmäßig in einem Durchschnittsalter, ohne vorherige ärztliche Ausmusterung der noch nicht genügend Kräftigen, in das Joch des Schulzwanges, wo ihnen vielleicht das Spiel noch dienlicher wäre. Wer denkt dabei nicht an Schiller’s Worte:

„Spiele! Bald wird die Arbeit kommen, die hag’re und ernste,
Und der gebietenden Pflicht mangeln die Lust und der Muth.“

Wenn sich aus dieser für manches Kind entschieden verfrühten Anspannung eine geistige Schlaffheit entwickelt, so ist, wie man auf den ersten Blick meinen sollte, diese vorzeitige Schulpflicht mit ihren das noch nicht genügend ausgebildete Gehirn und noch nicht so widerstandsfähige Nervensystem abspannenden Aufgaben die Ursache.

In Wirklichkeit unterliegt aber die Familie gar nicht diesem Zwange, ein noch minderkräftiges Kind in die Schule zu schicken. Das Zeugniß des Arztes genügt schon, um den Beginn des Schulunterrichts bei reizbaren, schwächlichen Kindern noch hinauszuschieben.

Aber damit ist leider eben vielen Eltern, welche es kaum erwarten können, ihre Kinder der Schule zuzuführen, gar nicht gedient. Getrieben von einer Ungeduld und Eitelkeit sind sie es, gegen deren Anforderung sich noch mancher Leiter einer Schule abwehrend verhalten möchte. Anstatt es dem Urtheile ihres Hausarztes anheim zu geben, ob das Kind einer geregelten geistigen Anstrengung schon gewachsen ist, handeln sie nach eigenem Ermessen und schaffen dadurch jene Fälle von frühzeitiger Entwicklung, von vorzeitigem Verbrauch und überraschend schnellem Nachlaß der Energie des Gehirns, welche dem raschen Dahinwelken künstlich getriebener Pflanzen ähnelt.

Ueberhaupt gilt die „Nervosität“ vieler Schulkinder, die sich besonders in nervöser Reizbarkeit ausspricht, so recht eigentlich als der Typus einer Schulkrankheit. Eine gewisse Ueberhastung des Lehrganges, eine in höheren Schulen und Classen fast bis zur Unvernunft sich steigernde Ueberbürdung, eine von Jahr zu Jahr steigende Ueberfülle von Lehrgegenständen und ein Aufstellen zu hoher Ziele – das sind die allgemeinen Klagen der Eltern schulpflichtiger Kinder, Klagen, die eine gewisse Berechtigung haben.

Ja, es liegt in diesen gesteigerten Ansprüchen der Schule an das Kind geradezu eine Gefahr, die man erkannt und die bereits eine mächtige Gegenströmung hervorgerufen hat.

Und doch ist, wie es scheint, der Grund zum großen Theil erst in den gesteigerten Ansprüchen der Eltern an die Schule zu suchen, von welcher eine Fülle von Belehrungen in allen Fächern, eine rasche geistige Förderung auf den verschiedensten Gebieten verlangt oder doch erwartet wird. Diesen Wünschen glaubt die „Schule“ Rechnung tragen zu müssen, indem sie dieselben zugleich überflügelt. Zu den gesteigerten Anforderungen des Unterrichts in der Schule gesellen sich nicht nur die hier und da zu reichlichen häuslichen Aufgaben, sondern die kärgliche Erholungszeit wird noch durch Privatstunden in allen möglichen Fächern eingeschränkt. Hier ist also eine Entlastung der Schulkinder, nicht nur von Seiten der Schule, sondern noch viel mehr von Seiten des Hauses geboten. Erst wenn man sich daran gewöhnt haben wird, nicht jedes Kind in Lehrgegenständen, zu denen es oft absolut kein Talent hat, ausbilden zu wollen, werden jene Zustände nervöser Ueberreizung seltener werden, unter denen jetzt das übermäßig beschäftigte Schulkind leidet. Unser mehrfach citirter Gewährsmann trifft auch hier den Nagel auf den Kopf, indem er schreibt: „Häufig ist die Ueberbürdung der Familie zur Last zu legen, die aus Eitelkeitsrücksichten dem Kinde höhere Ziele steckt, als die Anlagen desselben es gestatten.“

Leider sind manche Kinder so erregbaren Naturells, daß schon der Beginn des Schulunterrichts trotz der in den ersten Jahren nur mäßigen Anforderungen nervösen Kopfschmerz und Reizzustände hervorruft, und letztere Erscheinungen sich in Aufregung, fieberhafter Unruhe, gestörtem Schlaf, Furcht- und Angstgefühl, Schreckhaftigkeit und Neigung zum Phantasiren äußern. In Delirien zeigt sich, daß die Gedanken nur bei der Schule verweilen. Man kann zuweilen sogar das Bild einer scheinbar drohenden Gehirnerkrankung vor sich haben. Gewiß ist es, daß übertriebene Strenge und Ueberspannung des Ehrgeizes, diese hauptsächlichsten Quellen solcher peinlicher Symptome, fast ebenso außer, wie in der Schule zu Tage treten, und daß es für gewisse Kinder deshalb geradezu geboten ist, daß die Eltern und Erzieherinnen Geduld, Nachsicht und Eingehen auf ihre Eigenthümlichkeiten nicht außer Augen lassen.

Anstacheln des Ehrgefühls einerseits, beschämende, kränkende Bestrafung andererseits sind gewiß für träge, faule Kinder am Platze. Strebsamen, eifrigen, lernbegierigen Kindernaturen gegenüber sind solche Mittel gefährlich; was für das eine heilsame Arznei ist, ist für das andere ein bedenkliches Gift.

Wie bekannt, ist der Blutreichthum der das Gehirn ernährenden Gefäße ein stets wechselnder. Manche Kinder neigen von Haus aus zu Blutmangel oder Blutüberfüllung des Gehirns, und beide schon lange vor der Schulzeit bestehende Zustände können, nachdem schon vorher die Zahnung, manche Aufregung, die Sonnenhitze und andere Einflüsse sie gesteigert hatten, mit Beginne des Schulbesuchs sich verstärken und gelegentlich sogar zu sehr stürmischen Symptomen Veranlassung geben. Blutarmut des Gehirns, meist eine Theilerscheinung allgemeiner Blutarmut, wird sich durch Neigung zu Schwindel, Ohnmacht, Erbrechen, Kopfschmerz und leichtes Ermüden der geistigen Thätigkeit äußern. Aehnlich ist das Bild bei Blutüberfüllung des Gehirns, die bekanntlich bei jeder Geistesarbeit und Gemüthsaufregung in Form von Congestion zunimmt, aber auch als Stauung durch anhaltendes Gebücktsitzen, durch gestörte Verdauung und Hindernisse eines freien Blutumlaufs auftritt.

Nur das Auge des Arztes kann in manchen Fällen, besonders bei allgemeiner Bleichsucht, entscheiden, ob es sich, trotz anscheinender Blutarmut, doch dabei um örtlichen Blutandrang handelt. Nur der Arzt also kann das hygienisch-diätetische Verhalten regeln und [555] dieser ungleichen Blutvertheilung, die man nicht mit Unrecht als eine bei Schulkindern häufige Krankheit bezeichnen kann, vorbeugen. Die Familie aber hat die Pflicht, solche Kinder, welche an Blutüberfüllung in der Schädelhöhle leiden, durch Erholung des Gehirns, durch Kühlhalten des Kopfes, durch Regelung der Verdauung, durch ableitende Douchen und Körperbewegung im Freien gesund zu erhalten, blutarmen Kindern aber vielen Schlaf, Milchkost und kräftigende, blutbildende Kost zu Theil werden zu lassen.

Von manchen Seiten wird das Auftreten von Krampfzuständen, insbesondere vom sogenannten „kleinen Veitstanz“, der Schule zugeschrieben. Das noch ebenso räthselhafte, wie unheimliche Zunehmen mancher Nervenkrankheiten während der Schuljahre, das zuweilen gruppenweise Auftreten derselben unter Schülern, und häufiger Schülerinnen einer Classe fordert wohl zu Nachdenken auf.

Geht man aber den einzelnen Fällen auf den Grund, und sucht man besonders die Vorgeschichte der zuerst erkrankten Kinder kennen zu lernen, so zeigt sich meist, daß diese schon in frühester Jugend an Krämpfen litten, daß ihre Schädelbildung abnorm angelegt war, daß die Verknöcherung des Schädels nicht regelmäßig erfolgte, und nicht selten gelingt es, eine erbliche Anlage von väterlicher oder mütterlicher Seite aufzuweisen. Oft läßt sich eine solche durch mehrere Generationen aufwärts an Familienmitgliedern constatiren.

Die Keime der Krankheit liegen also meist in der Körperbeschaffenheit des Individuums. Auch muß man bedenken, daß außer dieser angeborenen Anlage zu Nervenleiden eine früh erworbene vorhanden sein kann. Manche Krankheiten der ersten Lebensjahre hinterlassen schwere, nie ganz zu vertilgende Spuren in den edelsten Centralorganen des Nervensystems, und es bedarf manchmal nur eines äußeren Anlasses, um die schlummernden krankhaften Zustände wieder wachzurufen.

Dieser Anstoß, überhaupt die Gelegenheitsursache zu Erregung des Nervensystems wird freilich, wie man zugeben muß, bei einmal dazu disponirten Kindern in dem ganzen Schulleben mit seiner Disciplin, seinen Anforderungen und seinen Strafen begünstigt. Das stundenlange Zusammensein mit vielen Kindern in demselben Raume, die Anspannung der Aufmerksamkeit, die unvollkommene Respiration kommen dazu und der unvermeidliche Anblick ähnlicher plötzlicher Erkrankung anderer Kinder ist bisweilen, vielleicht in Folge eines noch unaufgeklärten Nachahmungstriebes, schuld, wenn bei mehreren Kindern nach einander ähnliche Leiden auftreten. Wie große Volkskrankheiten im Mittelalter sich auf diese Weise verbreiteten, so verbreiten sich auch derartige Nervenleiden (Veitstanz, Epilepsie, Starrsucht), indem sie einen mächtigen Eindruck auf die Umgebung machen, zuweilen in bestimmten Schulen.

Mindestens ebenso oft aber mögen an dem Auftreten von Nervenkrankheiten während der Schuljahre psychische Affecte in der häuslichen Erziehung schuld sein. Unverständige Strenge, Erregung von Furcht, Angst vor ungenügender Erfüllung der Pflichten, aufregende Vergnügungen, ungleichmäßige, launische Behandlung geben sicher häufig den ersten Anlaß.

„Es ist nicht recht,“ betont eine Autorität, „in jedem Falle zunächst die Schule für die nervöse Empfindlichkeit und geistige Schlaffheit der Schuljugend verantwortlich zu machen.“

Und ich möchte hinzufügen:

„Es ist Pflicht, den Ursachen in jedem einzelnen Falle in und außerhalb der Schule ohne Voreingenommenheit und Uebertreibung nachzugehen, um solche Kinder vor schwereren Schädigungen zu schützen.“

Solche Patienten können eben nicht schablonenmäßig genau wie gesunde Schulkinder behandelt werden, und es ist Sache des Arztes, die Disposition möglichst frühzeitig zu beseitigen, da die Nerven, je länger, desto hartnäckiger eine Gewöhnung an krankhafte Functionirung sich aneignen und schließlich der Wille ohne Einfluß bleibt.

Bekanntlich machte sich vor mehreren Jahren auch bezüglich der Geistesstörungen, besonders durch Hasse, die Behauptung geltend, daß die Schüler höherer Lehranstalten ein starkes Contingent zu der Zahl späterer Geisteskranken stellten. In der Ueberbürdung des Gehirns sollten reiche Quellen zu späteren psychischen Störungen entspringen.

Eine officielle, speciell darauf gerichtete Erörterung hat nun ergeben, daß diese Annahme sich nicht bestätigt und daß die Fälle von geistiger Erkrankung in Folge von Ueberanstrengung in der Schule jedenfalls viel seltener sind, als in dem ersteu Ansturm behauptet worden war.

Man muß in der Beurtheilung jedes einzelnen solchen Falles besonders vorsichtig sein und auch hier etwaige Erblichkeit oder anderweitige Entstehungsursachen ausschließen, ehe man die Schule dafür verantwortlich macht. Damit ist aber nicht gesagt, daß unsere heutige Organisation der höheren Schulen und die in denselben an die Schüler gestellten Anforderungen gleichgültig für Kinder sein müßten, welche irgendwie zu geistigen Störungen geneigt oder der geistigen Anstrengung und Anspannung nicht genug gewachsen sind.

Im Gegentheil wird auf solche jugendliche Individuen, deren ungenügende geistige Befähigung, Energie und Widerstandskraft nicht immer berücksichtigt werden kann, die Schule leicht ungünstig einwirken. Andererseits sind die Beispiele, daß die Schule auf ganz normale Kinder in gleicher Weise schädigend einwirke, gewiß zu den Seltenheiten zu rechnen, ein Umstand, der, wenn man die notorische Ueberlastung in manchen höheren Schulen in Betracht zieht, nur beweist, was ein gesundes Kinderhirn ohne Schädigung aushalten kann.

Nachdem Vierordt, Kußmaul, Wundt und Andere bereits der Entwickelung der Seelenthätigkeit des Kindes nachgegangen sind, hat neuerdings Preyer in seinem Werke „Die Seele des Kindes“ dies bisher noch dunkle Gebiet auf dem Wege der Beobachtung zu erforschen gesucht.

Indem er an seinem eigenen Kinde während der drei ersten Lebensjahre desselben regelmäßig dreimal täglich ganz methodische Beobachtungen angestellt hat und über Alles, was er erforschte oder wahrnahm, sofort Notizen machte, hat er uns in zusammenhängender Weise das Erwachen und die Entwicklung der Seelenthätigkeit geschildert. Die classische Arbeit, die jeder Denkende lesen sollte, zeigt uns deutlich, wie und wann sich aus den ersten Sinneswahrnehmungen der frühesten Organgefühle und Regungen von Lust und Unlust nach und nach Urtheil, Wille und Bewegung herausbilden.

Wir sehen, wie unmerklich der Uebergang von angeborenen, willenlosen und reflectorischen Bewegungen zu den bewußten, gewollten ist, sehen, wie der Wille die Brücke zum Intellect bildet, und belauschen die ersten Regungen des Verstandes- und Gemüthslebens.

Da mit dem ersten Verlangen, Wünschen und Begehren auch die ersten Affecte, wie Freude, Zorn, Furcht, Zuneigung sich einstellen, so liegt es auf der Hand, daß die ersten Spuren geistiger Anomalie schon sehr früh, im ersten Lebensjahre entstehen können und im zweiten Jahre schon das Temperament sich deutlich ausspricht. Lange vor der Schulzeit also sind die ersten Anfänge von geistigen Störungen, oft für die Umgebung nur als Eigenheiten, Sonderbarkeiten und Launen bemerkbar, angelegt. Wenn man die Biographie Geisteskranker aufmerksam zurückverfolgt und darin von Leuten unterstützt wird, welche die betreffenden Kranken schon in der Kindheit zu beobachten Gelegenheit hatten, so findet sich, wenn nicht Erblichkeit anzunehmen ist, schon sehr frühzeitig mancher ungewöhnliche psychische Zug, aus dem sich allmählich eine wirkliche, ausgesprochene psychische Störung entwickelte.

Die Schule kann unmöglich jede psychische Eigenart und Absonderlichkeit berücksichtigen, und dies um so weniger, als nur zu oft die häusliche Erziehung mit gewissen Verschrobenheiten, Inconsequenzen und unverständigen Grundsätzen die Quelle der ersten Anlage zu abnormer Richtung der Gemüths- und Charakerentwickelung bildet. Wenn ein solches Kind unter dem Eindrucke der Schuldisciplin, der gesteigerten Aufgaben und des höheren Pflichtenkreises geistige Störungen zeigt, so ist es wenig verständig und gerecht, zu behaupten, aus der Schule recrutirten sich die Irrenhäuser. Es wäre viel correcter, die häusliche Pflege des Gemüths und Charakters sorgsamer zu überwachen und zu leiten und durch eine normale, vernünftige, harmonische Erziehung, durch Erweckung und Pflege aller edlen Regungen, durch Abhalten und Entfernen schädlicher Einflüsse, durch Ueberwachen des Verkehrs und zweckmäßige, dem Gehirn angepaßte Einteilung der Zeit und Kraft das Kind zu einem normalen Menschen heranzubilden.

Man zügle die kleinen Leidenschaften, anstatt sie interessant zu finden, man dämpfe die Affecte, oder leite sie in richtige Bahnen, ehe sie zu bleibender Gewohnheit werden, man verhüte [556] Erregung, wo das Kind schon zu erhöhter Reizbarkeit neigt, und behandle es mit zarter Rücksichtnahme auf seine seelischen Regungen. Viel mehr, als durch viele Schularbeiten, wird ein Kind durch häusliche Lectüre in seiner Phantasie erregt. Viel mehr, als die, wenn auch angestrengte, so doch geregelte Beschäftigung in der Schule schadet manchem Kinde der Mangel an Einsicht seiner Umgebung, welche an sich ganz harmlose momentane „Stimmungen“ gestattet, die sich durch häufige Wiederkehr zu bleibenden Abnormitäten umgestalten.

Die Schule hat in erster Linie dem Kinde einen angemessenen Grad von Bildung beizubringen und kann nur im Anschluß hieran gewisse Grundsätze der Erziehung pflegen.

Die schöne Aufgabe, es seiner Natur nach zu erziehen, fällt dem Elternhause zu. Nur hier wird man mit feinem Gefühl im Stande sein, alles Rohe, Verletzende von dem Kinde fern zu halten, es an freudigen Gehorsam, an Ordnung und Sauberkeit, an Beherrschung des Willens zu gewöhnen, im Spiel und in freier Natur ihm Erholung zu verschaffen und seinen edlen Bestrebungen, seinem Thatentriebe und seinen Talenten Gelegenheit zur Entfaltung zu geben.

Ganz besonders verdienen größere Kinder, zumal Mädchen, zur Zeit ihrer Entwicklung sorgsamer Körperpflege und größter Schonung, da unverstandene Empfindungen ihr seelisches Gleichgewicht stören und ihre in diesen Jahren starke Reizbarkeit leicht steigern. Freilich ist es hierzu nöthig, daß die Schule die freie Zeit nicht durch ein Uebermaß häuslicher Aufgaben verkümmert, sondern diese auf das geringste Maß reducirt, daß sie Körperstrafen möglichst einschränkt und in der Wahl von Strafen die körperlich bedenklichen und die entehrenden vermeidet, überhaupt nur Charakerstärke, nur Pflichtgefühl, aber nie Furcht oder krankhaften Ehrgeiz erweckt. Dann werden gewiß die Anlagen zu psychischen Krankheiten der Kinder im Schulalter auf eine sehr geringe Zahl sinken und jene traurigen Selbstmorde älterer Schulkinder wegfallen, die zuweilen, besonders in Großstädten, als Ausdruck schwerer, krankhafter Zustände des Nervensystems sich ereignen. – –

Die Verantwortlichkeit der Schule für manche Krankheiten der Athmungsorgane ist nicht abzuleugnen. Die oft von Staub verunreinigte Luft in den zuweilen überheizten Schulclassen, das oberflächliche Athmen beim hockigen Sitzen, die unnatürliche Anstrengung, welche den Kindern in den Elementarclassen dadurch bereitet wird, daß man sie statt des deutlichen Articulirens schreien und an die Stelle eines auf regelrechter Stimmbildung begründeten Gesanges ein „Brüllen“ oder „Krähen im Chorus“ treten läßt - alles das und noch manches Andere öffnet den Krankheiten der Respirationsorgane Thür und Thor. Manche Kinder, die sich bis zum Besuche der Schule einer klaren Stimme und freien Athmung erfreuten, werden von da an den Husten, die Heiserkeit nicht recht los, oder ziehen sich wenigstens beides sehr oft zu. Der chronisch geröthete Hals wird zu einer häufigen Erscheinung; er wird, in Verbindung mit „den angeschwollenen Mandeln“, zu einem Schrecken der Eltern.

So wenig man den Einfluß der Schule auf diese Leiden verkennen kann, so wird man doch nur zu oft gewahr, wie die Kinder noch warm und erregt von dem Unterricht, mit dem letzten Ton der Schulglocke dem Gebäude entströmend, in einer weder der Jahreszeit noch dem Wetter entsprechenden Kleidung heim gehen, die einen dabei laufend, die andern trotz ungünstigen Windes unaufhörlich sprechend und schreiend. Die frische, sich austobende Lebenslust bildet manchmal einen grellen Contrast zu der übertriebenen, ängstlichen Vorsicht, unter der die Kinder bis dahin vor jedem Lüftchen behütet worden waren.

Auch zu Hause, in der Wohnung und noch mehr im Garten, sind übrigens der Gelegenheitsursachen nicht wenige, um eine katarrhalische Erkrankung in die Länge zu ziehen. Es ist in dieser Hinsicht zu bedauern, daß nicht in jeder Familie mit der nöthigen Vorsicht in Beobachtung der Windrichtung, der Trockenheit der Luft, der mehr praktischen als eleganten Kleidung und der Ventilation in den Kinderstuben, eine Abhärtung durch Abreibungen von Hals, Brust und Rücken, sowie durch frühzeitiges, kühles Gurgeln mit leicht desinficirenden Mundwässern einhergeht. Wenn diese sehr empfehlenswerthe Prophylaxe mehr eingebürgert wäre, würden gewiß die Dispositionen zu den in der Schulzeit auftretenden Katarrhen sich ermäßigen, die Widerstandskraft der Schleimhäute des Rachens, des Kehlkopfes, der Luftröhren sich erhöhen und das Einnisten von Krankheitskeimen in die Buchten, Grübchen und Falten dieser Organe verhütet werden.

Man würde sich einer nicht minderen Täuschung hingeben, wenn man für das mit Beginn des Schulbesuchs sichtbare Auftreten „allgemeiner Ernährungsstörungen“, vor Allem der Blutarmuth, die vorwiegende Ursache anderswo suchen wollte, als in den mit einem Schlage so wesentlich veränderten Lebensbedingungen des Kindes. Die frische Farbe schwindet durch den Aufenthalt in der sich mit Kohlensäure und organischen Stoffen erfüllenden Schulluft, und die oft recht hoch bemessenen Schulaufgaben bannen das Kind an das Zimmer, während draußen der helle Sonnenschein so verlockend zum Tummeln und zur Erholung winkt.

Aber die Gerechtigkeit gebietet, ohne Vorurtheil danach zu fragen: „Werden allgemeine Störungen der Ernährung lediglich durch die Schule hervorgerufen, lediglich durch sie in der Weise verschlimmert, daß man sie darum als ‚Schulkrankheiten‘ bezeichnen müßte?“ Und diese Frage ist zu verneinen. Blutarmuth, Skrophulose, Schwindsucht. Muskelschwäche und andere Anomalien gehören, abgesehen davon, daß sie häufig ererbt sind, zu denjenigen Leiden, die sich oft in den ersten Lebensjahren durch ungünstige hygienische Verhältnisse der Wohnung und der Kost, durch Stubenhocken mancher Kinder und durch die ängstliche Luftscheu mancher Eltern entwickeln.

Auch sind viele höchst unzweckmäßig eingerichtete Spielschulen, sogenannte Kindergärten, die, wie lucus a non lucendo[WS 2], oft ganz ohne Gärten, nur auf einige, natürlich dafür ganz ungeeignete Miethzimmer angewiesen sind, und manche überfüllte Kinderbewahranstalten sicher die Quellen solcher Leiden.

Ich bin überzeugt, daß, wenn man auf die Hygiene solcher Anstalten mehr Gewicht legte und sie besser überwachte, wenn man ferner während des Spielalters auf die Gesundheitspflege der Kinder mehr achtete, gewiß nicht so viele zarte, blasse, schlaffe Kinder der Schule zugeführt werden würden.

Wie wenig gerade die Schule allein, die man ja gern als Herd für die Verbreitung ansteckender Krankheiten bezeichnet, im Stande ist, die aus dem täglichen Zusammenströmen vieler Kinder aus den verschiedensten Familien sich ergebenden Nachtheile zu verhüten, ergiebt sich bei den Infektionskrankheiten ganz von selbst. Es ist ja leider wahr, aber auch ebenso erklärlich, daß sehr oft die Anfangsstadien einer ansteckenden Krankheit vom Lehrer selbst übersehen oder nicht beachtet werden; ist es doch selbst dem ärztlich geübten Blick zuweilen schwer, ein bedeutungsloses Unwohlsein vom Beginn übertragbarer Leiden zu unterscheiden, ganz abgesehen davon, daß das Kind, ohne selbst erkrankt zu sein oder sichtliche Merkmale von Krankheit zu haben, Zwischenträger und Verbreiter von Ansteckungsstoffen sein kann. Diese oft beobachtete Thatsache ist zwar neuerdings bestritten worden; man wird aber gut thun, an derselben nicht zu rütteln.

Muß auch die Schule als ein bedeutungsvolles Zwischenglied in der Kette der Uebertragungen von flüchtigen oder organisirten Krankheitserregern betrachtet werden, so ist doch, wie dies bereits von den Gesundheitsbehörden richtig erkannt und festgestellt worden ist, in vielen Fällen die Familie verantwortlich zu machen. Viel zu sehr dominirt hier der Egoismus und die Gleichgültigkeit gegen das Wohl Anderer. Aus einem Hause, in welchem Masern, Scharlach, Diphtherie, Keuchhusten, Pocken, Typhus herrschen – von Ziegenpeter, ansteckenden Hautausschlägen und Augenentzündungen ganz zu geschweigen – werden gesunde oder doch noch nicht deutlich erkrankte Geschwister, die mit den kranken in Berührung waren, zur Schule geschickt, die Erkrankung etwa noch nicht schulpflichtiger Kinder wird verheimlicht, und den Reconvalescenten zu früh der Schulbesuch wieder gestattet. Die Privatbesuche zwischen inficirten und gesunden Häusern, die Betheiligung an Privatstunden – überhaupt die ungenügende Abschließung in allen durch das sociale Leben sich ergebenden Formen - und die Sorglosigkeit oder Unkenntniß bezüglich der Verhütung ansteckender Krankheiten thun das Uebrige.

Hier läge eine echt humane, selbstlose Aufgabe der häuslichen Gesundheitspflege – aber wie Wenige sind sich derselben bewußt! Und „läßt man es gehen, wie’s Gott gefällt“, verbreiten sich dann die Epidemien von Haus zu Haus, lichten sich ganze Schulclassen, ja muß eine Schule zeitweise ganz geschlossen werden, dann denkt man selten daran, daß, wenn Jeder bei Zeiten seine [558] Pflicht gethan hätte, die Seuche in ihren vereinzelten Anfängen isolirt und unterdrückt worden wäre, wie dies bei Einschleppung eines Pockenfalles in einer Stadt durch strenge Ahschtießung desselben und durch Revaccination der mit seiner Pflege betrauten Personen meist erfolgreich geschieht. Hier ist das „principiis obsta“, die Quarantaine des ersten Krankheitsherdes im Elternhause die Hauptsache.

Und nun das Resultat dieser Betrachtung: Die Quelle aller Uebel, welche unsere Schulkinder treffen, nur in der Schule zu suchen, ist ein durch Mode, Gewohnheit und Bequemlichkeit entstandener Irrthum. Die großen Fortschritte der Schulhygiene durch Einzelforschungen und Sammelschriften – es seien hier nur die Werke von Erismann, Baginsky, Guillaume neben Uffelmann erwähnt – zeigen deutlich, daß man auf die Verbesserung der Gesundheitsverhältnisse in der Schule ein wachsames Auge hat und eifrig bemüht ist, die Rücksicht auf die Körperpflege mit der Aufgabe der Geistespflege in Einklang zu bringen. Aber alles Heil von der Schule zu erwarten, das wäre thöricht. Man denke an Herder’s Worte:

„Ein Thor, der klaget
Stets Andere an.
Sich selbst anklaget
Ein halb schon weiser Mann.
Nicht sich, nicht andere klaget
Der Weise an.“

Nicht mit Anklagen, sondern mit Selbsthülfe, nicht mit dem Zuschieben der Verantwortlichkeit auf Andere, sondern mit Erkennung und Erfüllung der eigenen Pflichten ist hier zu helfen. Familie, Arzt und Schule müssen eben, sich unterstützend, in viel regerem Verkehr stehen, müssen Hand in Hand gehen und ihre eigenen Interessen an dem Gedeihen eines Kindes so viel wie möglich mit den Zielen harmonischer Ausbildung und allgemeinen Wohles in Uebereinstimmung zu bringen suchen.

Bekämpfen wir die Vererbung der Krankheiten von Geschlecht zu Geschlecht, sichern wir durch rechtzeitige Regeneration dem Menschen noch vor seinem Eintritt in’s Leben eine möglichst gesunde Constitution und leiten wir die Aufziehung des Kindes im Säuglings- und Spielalter nach rationellen Grundsätzen, suchen wir ferner das Gleichgewicht zwischen geistiger und körperlicher Uebung, zwischen Arbeit und Erholung außerhalb der Schule festzuhalten und Schädigungen zu verhüten, kurz, handeln wir nach dem Grundsatze: Schul- und Hausgesundheitspflege auf verschiedenen Wegen demselben Ziele zustreben zu lassen, dann wird der Lohn nicht ausbleiben. Zwischen dem Erzieher, dem Arzte und dem Elternpaar giebt es einen für Jeden gleich wichtigen Berührungspunkt: die Hygiene.

Pflegt sie nur einer dieser drei Factoren, dann ist die Arbeit umsonst; sind alle drei einig, dann wird ein kräftiges, gesundes Geschlecht heranblühen und die Frage der „Schulkrankheiten“ mehr und mehr von der Tagesordnung verschwinden.


  1. Käuflich bei Bandagist Joh. Reichel, Leipzig.
  2. Käuflich bei Joh. Reichel in Leipzig,
  3. Käuflich bei Alex. Schädel in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: CC'
  2. Lucus a non lucendo.