Seite:Die Gartenlaube (1873) 744.JPG

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

Kind neben mir und sollte es vor meinen Augen sterben sehen. Dem tiefsten Impulse folgend, legte ich meinen Arm um sie und sagte stehend:

„Kann Vertrauen Ihnen helfen, Thea?“

Sie sah mich an. Nie wieder bin ich solchem Blicke begegnet. Mystisch und düster wie der Sonnenstrahl, der durch Gewitterwolken bricht, sprach das Auge noch vor der Lippe sein hoffnungsloses Wort:

„Mir kann nichts – Niemand helfen.“

„Wohl,“ sagte ich, indem ich ihre widerstrebende Hand losließ; „unsere dunkelsten Stunden müssen wir Alle in Einsamkeit bestehen, aber glauben Sie mir, wer selbst durch die Nacht gegangen, weiß auch, welcher Weg wieder zum Lichte führt.“

Sie senkte das Haupt tief hinab.

„Zum Lichte?“ sagte sie. „Ja, Der vielleicht, dem sein Liebstes gestorben. Der gewiß, der mit dem eigenen starken Herzen alle Bitterkeiten gekostet, die Untreue und Wankelmuth ihm gereicht. Zum Lichte gehen sie Alle, Alle, sobald sie ihr Stück Nacht überwältigt. Aber vor Sehnsucht sterben und doch mit den weitgeöffneten Armen nichts weiter umschließen dürfen als sich selbst – in Reue vergehen, und als Buße nichts Anderes opfern können als zugleich mit dem eigenen das fremde, theuerste Glück – das ist ewiges Dunkel.“

„Durch jedes Dunkel giebt es einen Weg,“ erwiderte ich ernst; „wer Muth hat, findet ihn. Reue und Buße! Wo sie vernichten, erkenne ich sie nicht an. Ein einziger Entschluß füllt den tiefsten Riß aus, als wäre er nie gewesen. Das gilt für uns selbst! Gilt es fremden Glück, dann wird solches Anklammern an Vergangenes zur neuen Schuld, zur größeren – denn nur Egoismus hat sie dictirt.“

Thea sah mich starr an. Tiefe Gluth bedeckte ihr Gesicht. Ich brach ab, denn ich empfand, daß es nichts mehr zu sagen gab. Nach einigen Minuten erhob ich mich, um zu gehen. Sie hielt mich nicht zurück und machte weder Miene, ihren Platz zu verlassen, noch schien sie meinen Abschiedsgruß zu beachten. Kaum hatte ich mich aber wenige Schritte entfernt, als ich plötzlich eine heiße Wange dicht an der meinigen fühlte. Thea’s Lippen berührten flüchtig meine Augen; sie zog meine Hände gegen ihre Brust und sagte tiefathmend:

„Dank! – Das war eine Offenbarung! Vielleicht – – vielleicht!“

Ihr Auge leuchtete in so wunderbarem Glanze, daß ihre Schönheit mich in diesem Augenblicke ganz überwältigte. Während ich sie noch sprachlos anblickte, nickte sie mir zu, löste sich mit leiser, unwiderstehlicher Bewegung und verschwand zwischen den Bäumen.

Ich sah sie diesen Abend nicht mehr, auch fehlte sie am nächsten Morgen unter dem Geleite der Freunde, die mich zum Bahnhof brachten. Doch trug ich einen stummen Gruß von ihr mit in die Ferne – eine prachtvolle Theerose, die sie mir in aller Frühe gesandt.



(Fortsetzung folgt.)



Goethe.
Ein Leben und Dichten in Vorträgen für Frauen geschildert.
Von Johannes Scherr.
XIII.

Für keinen Dichter haben die Frauen soviel gethan wie für Goethe; aber keiner that auch mehr für sie als er. Denn wie oft er als Mann durch Untreue diesem Mädchen oder jener Frau wehgethan haben mag, als Poet hat er die Sünden des Menschen herrlich gesühnt und gutgemacht, indem er im Allerheiligsten der Schönheit jene ewigen Weihgeschenke, jene Frauenbilder aufstellte, wie sie in solcher Lebenswahrheit nur noch ein Dichter, der Vater Julia’s, Desdemona’s und Kordelia’s, zu schaffen vermochte. Selbst die vollendetsten Gestalten des „Ewig-Weiblichen“, welche sonst in alter und neuer Zeit zur dichterischen Erscheinung gekommen sind: – die homerische Nausikaa und die sophokleische Antigone, die beiden Inderinnen Damajanti und Savitri, Firdusi’s Tehmime und Menische, unseres Wolframs Sigune und unseres Gottfrieds Isolde, Dante’s Francesca und Ariosto’s Isabella, Miltons Eva und Moreto’s Donna Diana – keine von allen reicht zu den shakspeare’schen und goethe’schen Frauen hinan, bei weitem nicht; denn in keiner ist so wie bei jenen der Realismus des Daseins von dem Hauche des Ideals durchathmet und umwittert. Zwei modernen Poeten jedoch ist in ihren besten Momenten die Bildung von weiblichen Charakteren gelungen, welche den shakspeare-goethe’schen sehr nahe kommen: ich rede von Lord Byron und Madame Dudevant. Des ersteren Haidee darf neben die Ophelia, seine Myrrha neben die Iphigenie, seine Abeline neben die Philine sich stellen.

Aurore Dudevant hat, namentlich in ihrer ersten Periode, Frauenfiguren geschaffen, in welchen die weibliche Seite der französischen Gesellschaft in einer mit souveräner Künstlerschaft wiedergegebenen Naturtreue sich darstellt, die zugleich Schrecken und Mitleid erregt. Ich meine nicht etwa die gänzlich vergeckten weiblichen Fauste und Manfrede der Dichterin, sondern vielmehr Gestalten wie ihre Valentine, Geneviéve und Indiana. Charakteristisch für die Ohnmacht unserer deutschen Romantiker ist es, daß aus ihrer Schule nicht ein einziges Frauenbild hervorgegangen, welches typischen Werth hätte und für unsterblich gelten konnte. Selbst der Romantiker, welcher von allen am meisten vom echten Himmelsfeuer der Poesie in sich trug, Heinrich von Kleist, hat entweder nur Traumwandlerinnen wie sein Heilbronner Käthchen oder mannweibliche Monstra wie seine Penthesilea und seine Thusnelda zu schaffen verstanden. In diese Kategorie gehört auch die relativ gelungenste Frauenschöpfung Tiecks, die Viktoria Aceorombona, während später Hebbel mittels Aufdonnerung seiner Judith, Mariamne u. s. w. den Kleist zu überkleisten versuchte. Das anmuthigste weibliche Geschöpf, welches die Romantik ersonnen hat, dürfte die Mathilde von Ofterdingen von Novalis sein. Endlich darf sich Grillparzer als Frauenschöpfer zwar nicht mit Goethe und Shakspeare, aber sonst mit jedem heimischen oder fremden Poeten kecklich vergleichen. Seine Medea ist und bleibt ein Prachtexemplar von einer tragischen Heldin, seine Hero darf sich eine Halbschwester von Goethe’s Gretchen und Klärchen nennen und seine Esther kann für eine Base von Goethe’s Eugenie gelten. …

Ja, die Frauen haben viel für unseren Dichter gethan, vielleicht zu viel. Denn mitunter macht sich doch in seinen Werken das „Ewig-Weibliche“ zu sehr bemerkbar und vermißt man dagegen das Ewig-Männliche. Gereicht ja schon im gewöhnlichen Leben einem Manne die Gabe, allen Frauen ein Wohlgefallen zu sein, mehr zum Fluch als zum Segen. Immerhin aber bleibt es fraglich, ob die Frau, welche zweifelsohne von allen den bedeutendsten Einfluß aus Goethe geübt und ihn, so zu sagen, ein Jahrdutzend hindurch souverän beherrscht hat, Lotte von Stein, wirklich ein Segen für ihn gewesen, obzwar sie als ein solcher in seinen Briefen an sie unzählig oft anerkannt und gefeiert wurde. Schade, daß wir nur seine Briefe besitzen! Sie sind köstlich, aber sie reichen zur endgültigen Beurtheilung des Romans der Wirklichkeit, betitelt „Wolfgang Goethe und Lotte von Stein“, nicht aus. Ihre Briefe an ihn hat sie bekanntlich, nachdem der Dichter aus Italien zurückgekommen und die Christiane Vulpius zu seiner Hausgenossin gemacht halte, zurückgefordert und vernichtet, in einem Zornanfall, welcher, alle Phrasen beiseite gethan, mit der allerordinärsten Eifersucht die bedenklichste Aehnlichkeit hatte. Das ganze Verhältniß ist von Anfang an kein gesundes gewesen. Lotte, die Tochter des Hofmarschalls von Schardt und Gattin des Oberstallmeisters von Stein, war 1742 geboren und demnach um sieben Jahre älter als Goethe. Diesen Altersunterschied hat auch der Umstand, daß sie, als der Dichter sie kennen und lieben lernte, Mutter von sieben Kindern war, nichts weniger als ausgeglichen.

Eine Schönheit ist sie selbst während ihrer Mädchenschaft

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 744. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_744.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)