ADB:Frerichs, Friedrich Theodor von
*): Friedrich Theodor v. F., geb. am 24. März 1819 zu Aurich, † am 14. März 1885 zu Berlin. Von seinen Zeitgenossen als der erste der deutschen Kliniker anerkannt, der Nestor unter seinen engeren Berufsgenossen, der bekannteste und berühmteste der deutschen Aerzte, hat Frerichs nicht nur [783] seinem Namen einen Weltruf verliehen, sondern auch wesentlich dazu beigetragen, der deutschen Medicin und insbesondere der deutschen Klinik das Ansehen in der Welt zu schaffen, dessen sie sich heute erfreut.
FrerichsF. stammte aus kleinbürgerlichen Verhältnissen und war durch und durch ein self-made Mann. Am 24. März 1819 in Aurich, der ehemals hannöverschen Landeshauptstadt von Friesland, geboren, verkörperte er in seltener Weise die Vorzüge und Sonderheiten seiner Landsleute, fühlte sich stets mit Stolz als Friese und kehrte bis in die letzten Jahre vor seinem Tode gern und oft in seine Heimath zurück.
Im J. 1838 begann F. das Studium der Medicin und Naturwissenschaften zu Göttingen und legte daselbst vornehmlich durch den Einfluß Wöhler’s bestimmt den Grund seiner chemischen Kenntnisse. Nachdem der Aufenthalt in Göttingen auf ein Semester mit Berlin vertauscht und 1842 die medicinischen Examina bestanden waren, ließ er sich äußerer Verhältnisse halber in Aurich als praktischer Arzt nieder, wo er in kurzer Zeit als Ophthalmologe, besonders als Operateur großen Ruf erlangte. Indessen kehrte er im Herbst 1846 nach Göttingen zurück, habilitirte sich dort als Privatdocent und wurde 1848 außerordentlicher Professor. Schon ein erstes Colleg über allgemeine Pathologie war von durchschlagendem Erfolg und erregte solches Aufsehen und soviel Beifall, daß ihn die Studenten, wie er später oft mit Stolz erzählte, am Schluß des Semesters durch einen Fackelzug ehrten. Seine physiologisch-chemischen Studien brachten ihn in nähere Verbindung mit Wöhler und Rudolf Wagner, der ihn zur Mitarbeiterschaft an seinem „Handwörterbuch der Physiologie“ heranzog. Zur Förderung seiner pathologischen Studien übernahm er die innere Poliklinik und die klinischen Leichenöffnungen, überall bemüht seine Kenntnisse selbst auf Kosten der gebotenen Vorsicht *) zu erweitern und durch manchen Triumph besonders in diagnostischer Hinsicht über den damaligen, noch ganz in der alten Schule stehenden Kliniker Professor Fuchs auch auf dem Gebiete der praktischen Medicin sich bethätigend. Welche Anerkennung dem jungen Gelehrten seine Arbeiten (s. u.) mittlerweile bei der wissenschaftlichen Welt eingebracht hatten, geht daraus hervor, daß er schon im J. 1850 einen Ruf als Director der inneren Klinik nach Kiel erhielt und damit seine glänzende Laufbahn als Kliniker betrat. Von Kiel, wo er übrigens vorübergehend auch die Oberleitung zweier in Rendsburg errichteten Kriegslazarethe hatte, folgte er schon 1852 einem Rufe nach Breslau und wurde, als sich Schönlein 1859 von der praktischen Thätigkeit zurückzog, der medicinischen Facultät durch Rescript des Ministers als Nachfolger desselben präsentirt, eine Berufung, die, obgleich gegen den herkömmlichen Usus, d. h. ohne die Initiative der Facultät geschehen, doch die allseitige Billigung fand. Damit wurde F. Director der sogenannten lateinischen Klinik, dirigirender Arzt in der Charité, sah sich nach Verlauf von kaum 10 Jahren auf dem ersten Lehrstuhl, welchen Deutschland für sein Fach zu vergeben hat und war, als er kurze Zeit darauf vortragender Rath im Ministerium sowie Mitglied der wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwesen wurde, von bestimmendem Einfluß auf die Gestaltung desselben. Unter dem Ministerium Mühler war sein Rath vornehmlich in Personalfragen ein vielvermögender, später büßte er die Geltung desselben zum Theil durch geflissentliche Abwehr der betreffenden Arbeiten erheblich ein, und wenn man F. vorgeworfen [784] hat, daß er in parteiischer Weise nach Gunst und Ungunst verfahren sei und dem Verdienste um seine Person das um die Allgemeinheit nachgestellt habe, so kann man ihm vielmehr negative wie positive Sünden und zwar in dem Sinne anrechnen, daß er wichtige Sachen verschleppt hat und durch lange Jahre ohne jede Initiative namentlich auf dem Gebiete der Medicinalreform und der Hygiene gewesen ist.
Sechsundzwanzig Jahre hat F. in dieser Stellung in Berlin gewirkt. In die Mitte dieser Zeit fällt seine Verheirathung mit Clara Offelsmeyer, der ebenso schönen wie klugen Tochter eines evangelischen Landgeistlichen, Enkelin des aus den Freiheitskriegen bekannten Feldpropstes. Aus dieser Ehe stammen drei blühende Kinder, ein Sohn und zwei Töchter, denen F. mit großer Zärtlichkeit zugethan war. In den seinem Tode vorausgehenden Jahren feierte er die 25jährige Wiederkehr seines Amtsantrittes an der Berliner Klinik, an dem ihm vielfache glänzende Ehrenbezeugungen dargebracht und der Adel verliehen wurde. Nur einmal war er im Verlauf dieser Jahre und zwar noch als Junggeselle genöthigt seine Thätigkeit auf längere Zeit zu unterbrechen. Wahrscheinlich in Folge einer unbeachtet gebliebenen diphtherischen Halserkrankung traten nervöse Lähmungen zunächst der Augenmuskeln (Doppelsehen) und der Stimmbänder auf. Durch Gräfe’s Rath veranlaßt unterbrach er die Vorlesungen und ging über Griechenland und die Türkei für einen Winter nach dem Orient. Als er zurückkam, war das Augenleiden völlig geheilt, die Stimmbandlähmung wesentlich gebessert. Doch blieb sein Kehlkopf zeitlebens ein locus minoris resistentiae, der fast allwinterlich mit mehr oder weniger heftigen Katarrhen erkrankte.
An äußeren Glücksgütern hat es F. nicht gefehlt. Er bewohnte eine mit solider Pracht und wirklichem Kunstsinn ausgestattete Villa, aber er sah – außer den geschäftlichen berufsmäßigen Besuchen – seine Collegen nur selten bei sich und eigentlichen Verkehr hat er mit Ausnahme des ihm von Breslau her persönlich nahe stehenden Anatomen Reichert mit keinem derselben gehabt. Sein engerer Umgang beschränkte sich auf einige Vertreter der hohen Finanzwelt, während er sich eine größere Geselligkeit aus den künstlerischen und wissenschaftlichen etc. Kreisen Berlins fern hielt. Ueberhaupt hat F. mit der Stadt, der er soviel zu verdanken hatte, niemals, wenn man so sagen darf, auf gutem Fuße gestanden. Er war nie gut zu sprechen auf Berlin und die Berliner und sein Unmuth machte sich oft in breiter Weise Luft. Er mochte es wol fühlen, daß Berlin in gewisser Weise, freilich ohne daß die Schuld auf Seiten der Stadt gelegen hätte, an ihm zum Capua geworden war.
Denn die wissenschaftliche Thätigkeit von F., sofern man darunter die Periode des Schaffens und der Veröffentlichung neuer wissenschaftlichen Leistungen verstehen muß, drängt sich auf die verhältnißmäßig kurze Zeit bis zu seiner Berufung nach Berlin zusammen. Später ist er nur noch einmal mit einer seinen früheren Werken keineswegs gleichkommenden Monographie bei Gelegenheit seines Jubiläums hervorgetreten. Aber die Arbeiten jener ersten Periode sind so bedeutender Natur, daß sie ihn für immer den ersten Männern seines Faches einreihen.
F. gehörte mit zu jener Elite bevorzugter Geister, denen es vergönnt war, den großen und folgenschweren Impuls, den die Medicin aus den Fortschritten der Naturwissenschaften, besonders der Chemie und Physik und aus der Uebertragung exacter naturwissenschaftlicher Methoden auf die Erforschung physiologischer und pathologischer Probleme gewann, in richtiger Erkenntniß zu würdigen und auszunutzen. Man warf die Formen der Speculation und der Phrase der naturphilosophischen Schule ab und stellte sich voll und ganz auf den nüchternen [785] Boden der Thatsachen, die auf dem Wege der strengen und voraussetzungslosen Forschung und Beobachtung, auf dem mühevollen Weg des Experimentes erlangt waren. Auf physiologischem Gebiet waren Männer wie Helmholtz, du Bois-Reymond, Brücke, auf pathologisch-anatomischem Virchow, Reinhardt, Leubuscher vorausgegangen oder mit F. auf gleichem Wege thätig; aber es ist der hervorragende Ruhmestitel Frerichs’, dieselbe Methode, die gleiche Art der Behandlung und Durchforschung des Materials als Einer der Ersten mit vollem Bewußtsein und voller Strenge auf das Studium des kranken lebenden Organismus, auf die Klinik übertragen zu haben. So erwarb er sich den Namen des bedeutendsten Pathologen Deutschlands und stellte seine Werke für alle Zeiten als unvergängliche Marksteine in der Geschichte der Medicin hin.
Zunächst aber waren ihm auf dem Gebiete der Physiologie und Chemie hervorragende, ja bahnbrechende Leistungen vergönnt. Die hauptsächlichste Frucht seiner chemischen Arbeiten waren die mit Wöhler veröffentlichten Untersuchungen „über die Veränderungen, welche namentlich organische Stoffe bei ihrem Uebergang in den Harn erleiden“ (Annalen der Chemie und Pharmacie 1848 S. 285), über das Maaß des Stoffwechsels (Müller’s Archiv für Anatomie und Physiologie 1849) und die mit Staedeler in Breslau (resp. Zürich) gemachten Arbeiten über die Allantoinausscheidung bei beschränkter Respiration, über das Vorkommen von Harnstoff, Taurin und Scyllit in den Organen der Plagiostomen. Von diesen ist die erstere der Beginn und der Ausgangspunkt aller der zahlreichen bis auf den heutigen Tag fortgesetzten Arbeiten geworden, welche die im Organismus wirkenden chemischen Kräfte der Stoffmetamorphose zu ergründen suchen, und als solche von unvergänglichem Werth. Die Untersuchungen über das Maaß des Stoffwechsels wurden durch die darin ausgeführten Versuche an hungernden Thieren auf lange Zeit grundlegend für die Arbeiten über den Eiweißstoffwechsel und sind es zum Theil noch, obgleich sich die F.’sche Anschauung, daß der Stoffwechsel im Hunger das niedrigste Maß des normalen Stoffwechsels sei, als irrig erwiesen hat. Von großer Bedeutung war auch die ebenfalls mit Staedeler gemachte Entdeckung des Vorkommens von Leucin und Tyrosin in den Lebern resp. Harn von Leber-, Typhus- und Variolakranken (1854) und bei der acuten gelben Leberatrophie (1856). Waren schon die erstgenannten Arbeiten geeignet die Aufmerksamkeit auf den jungen Göttinger Docenten hinzulenken, so wurde er mit einem Schlage ein berühmter Mann, als, von einem äußerst schmeichelhaften Nachwort des Herausgebers begleitet, seine Bearbeitung des Abschnittes „Verdauung“ in R. Wagner’s Handwörterbuch der Physiologie erschien. Wagner hatte ihm neben den kleineren Abhandlungen über die Synovia und die Thränensecretion diesen ursprünglich dem Professor J. Vogel übertragenen Artikel anvertraut. F. begnügte sich nicht mit einer oberflächlichen Bearbeitung des vorhandenen Materials, sondern brachte eine erschöpfende, auf zahlreichen Experimenten, chemischen und anatomischen Studien fußende Monographie mit vielen neuen Beobachtungen und vollständiger Beherrschung und umfassender Berücksichtigung des bisher auf diesem Gebiete Geleisteten. Er hob mit einem Schlage die Lehre von der Verdauung auf ein vollkommen neues Niveau. An Stelle von Vermuthungen traten Thatsachen, an Stelle von unklaren Hypothesen exacte Beweisführungen, gestützt auf Experimente chemischer und physiologischer Natur, von denen besonders die ersteren bei seinen Vorgängern nicht die gebührende Beachtung gefunden hatten. So war die „Verdauung“ in der That ein classisches Werk, das im Laufe der Zeit, soviel auch auf diesem Gebiete hinzugekommen und zum Theil verändert ist, an seiner fundamentalen Bedeutung nichts verloren hat.
Hatte sich F. durch diese Abhandlungen wesentlich als Physiologe bethätigt, so brachte ihm sein nächstes Werk, die Monographie über die Bright’sche [786] Nierenkrankheit und deren Behandlung den Ruf eines Pathologen ersten Ranges ein. Das Material dazu war theils noch in Göttingen, theils in Kiel, wo er das Buch 1851 herausgab, gesammelt. Die große und gerechtfertigte Anerkennung, welche diese Schrift weit über die Grenzen Deutschlands hinaus und namentlich auch in England, wo man der Krankheit wegen ihres häufigen Vorkommens von Alters her ein besonderes Interesse zugewendet hat, fand, beruhte einmal auf der schon oben erwähnten Einführung physiologischer Methoden in die klinische Beobachtung, dann aber in der allseitigen und durchdringenden Verarbeitung des Stoffes, deren Ergebnisse in meisterhaft klarer, knapper und treffender Sprache dargestellt werden. Bei der sogenannten Bright’schen Nierenkrankheit handelt es sich um höchst complicirte anatomische und functionelle Störungen der Nieren, deren gemeinsames Symptom eine mehr weniger reichliche Eiweißausscheidung im Harn und deren Folgen Wassersuchten, Herz-, Lungen- und Hirnerkrankungen sind. Diesen verwickelten Proceß, über den die verschiedensten Theorien scheinbar gleichberechtigt nebeneinander standen, hatte F. mit sichtender Hand entwirrt und von einem einheitlichen Standpunkte aus gedeutet. Seine Eintheilung der Krankheit in drei ineinander überführende Stadien ist, obgleich zeitweise von den späteren Autoren verlassen, in letzter Zeit wieder mit Nachdruck aufgenommen und mit neuen Waffen vertheidigt worden. Die Lücken der klinischen Beobachtung, die durch Messer und Mikroskop unlösbaren Fragen suchte er durch das Experiment zu entscheiden. Er stellte zuerst für die eigenthümlichen Hirnerscheinungen, welche man als urämische Intoxication von dem im Blute zurückgehaltenen Harnstoff ableitete, die Ansicht auf, daß nicht dieser, sondern ein giftiges Zersetzungsproduct desselben, das kohlensaure Ammoniak, die Ursache derselben sei und suchte seine Auffassung experimentell zu erhärten. Seine Beweisführung hat sich freilich als unhaltbar erwiesen, aber sie wurde der Ausgangspunkt zahlreicher anderer experimenteller Arbeiten über diesen Gegenstand und der ihr zu Grunde liegende Gedanke besteht auch heute noch zu Recht.
Durch Unterbindung der Nierenvenen bewies er, daß die Stauung des Blutes in denselben den Uebertritt von Eiweiß, Faserstoff und Blut in die Harnkanälchen zur Folge hat und die Entstehung eigenthümlicher, schon früher bekannter Gerinnsel in denselben bedingt, die später durch den Harn fortgeschwemmt und mit demselben ausgeschieden werden. Umgekehrt widerlegte die Unterbindung der Aorta die Ansicht, als ob der vermehrte arterielle Druck die Ursache der Eiweißausscheidung sei. Zu gleicher Zeit wurden die feineren geweblichen Veränderungen, soweit es die damaligen Hülfsmittel gestatteten, studirt und mit den Befunden beim Menschen in Relation gebracht. Exstirpationen der Nieren lehrten die Folgeerscheinungen einseitigen oder doppelten Nierenverlustes erkennen. Neben dem semiotischen und pathogenetischen Theil wurde aber auch entgegen der damaligen von der Wiener Schule ausgehenden nihilistischen Strömung ein besonderes Gewicht auf die Behandlung gelegt, das Bekannte einer scharfen Kritik unterzogen und, gestützt auf die neugewonnene Einsicht, werden neue Mittel resp. Verfahren anempfohlen.
Es ist fast selbstverständlich, daß sich schon vor F. auch andere Forscher mit den von ihm bearbeiteten Fragen beschäftigt haben, so H. Meyer, Rayer, Bowman, Johnson, Henle, Nasse, J. Vogel und viele Andere, originell ist F. eigentlich nur die Theorie der urämischen Intoxication und die scharfe Betonung der Stadienlehre. Aber durchaus sein eigen ist der wissenschaftliche Geist, der aus dem Ganzen spricht und die einheitliche, das Gebiet vollinhaltlich und nach allen Richtungen erschöpfende Bearbeitung, die auf dem Felde der deutschen Klinik eine durchaus neue und glänzende Erscheinung war.
In noch höherem Maße gilt dies letztere von dem nächsten großen Werke, [787] der „Klinik der Leberkrankheiten“, deren erster Theil gegen Ende seines Breslauer Aufenthaltes erschien. Auch hier finden sich neben einer bisher unerreichten Fülle und Gediegenheit der klinischen Beobachtungen und einer auf eingehende historische Studien fußenden classischen Darstellung eine Fülle histologischer und namentlich physiologisch-chemischer Befunde, die zum größten Theil seine eigenen Entdeckungen sind. Die genauere Einsicht in die anatomischen Veränderungen der Leber bei der sogenannten Cirrhose (Schrumpfung) derselben und bei den Folgezuständen der schweren Wechselfieber, die Veränderungen des Blutes bei der Melanaemie und endlich daß Vorkommen gewisser Zwischenproducte des Stoffwechsels in Leber und Harn, des Leucin und Tyrosin bei der acuten gelben Leberatrophie, das Verschwinden des Harnstoffs bei derselben, die chemische Kenntniß der Gallenpigmente u. m. a. verdanken wir F. Freilich hat gerade der wichtigste dieser Funde, die Entdeckung des Leucin und Tyrosin, zu einer heftigen Polemik resp. Zurückweisung zwischen ihm und Virchow geführt und je mehr sich F. der Tragweite dieses Befundes bewußt und von der Bedeutung desselben eingenommen war, desto mehr wurde er durch diesen Streit mitgenommen und verbittert. Auch seine ebenfalls in den Leberkrankheiten gegebenen Mittheilungen über die Entstehung der Gallenpigmente und Gallensäuren erwiesen sich weiteren Untersuchungen gegenüber als unzutreffend. So mag es vielleicht mit hierdurch veranlaßt sein, daß die Klinik der Leberkrankheiten unvollendet blieb und das Versprechen, weitere Theile der Digestionskrankheiten zu bearbeiten, nie eingelöst wurde.
Das letzte größere Werk Frerichs’ „Ueber den Diabetes“ erschien nach einer langen Periode litterarischer Unthätigkeit als Jubiläumsgabe. Es enthält ein großes Material eigener Beobachtungen und Erfahrungen über diese Krankheit, der F. stets eine ganz besondere Aufmerksamkeit zugewandt hatte und eine Reihe meist auf seine Veranlassung unternommener Untersuchungen seiner Assistenten – besonders neue Gesichtspunkte oder bahnbrechende Ergebnisse vermochte es nicht beizubringen. An die Bedeutung seiner früheren Arbeiten reicht es nicht heran.
Außer diesen großen Werken hat F. noch eine Anzahl kleinerer Mittheilungen zum Theil casuistischer Natur, wie den berühmten Fall über multiple Sklerose des Centralnervensystems u. A. veröffentlicht. Im Ganzen belaufen sich die mit seinem Namen veröffentlichten Publicationen auf 37, wovon 34 auf die ersten 15 Jahre seiner Thätigkeit fallen. Selbstredend ist er von einer um Vieles größeren Zahl von Arbeiten der intellectuelle Urheber gewesen. Allen ist der Gedanke gemeinsam, den er selbst in der Vorrede zu den Leberkrankheiten ausgesprochen hat, die Pathologie vom Standpunkte des Naturforschers und mit allen Hülfsmitteln desselben zu bearbeiten. In diesem Sinne hat er von dem ersten Hinaustreten in die Oeffentlichkeit an bis zu seinem Tode gedacht und gearbeitet. Nicht die specialistische, sondern die generelle Bildung, welche es versteht die Einzelheiten dem großen Ganzen unterzuordnen und sich den Blick für das Bedeutende frei zu halten, seine weite und große Auffassung war es, durch die er sich als Arzt zum wahren Naturforscher erhob und Großes leistete.
F. war ein außerordentlicher Diagnostiker und hat damit oft die Bewunderung seiner Collegen erregt. Freilich von dem Handwerksmäßigen, der Filigranarbeit der Specialisten, wollte er nichts wissen. Zahlreiche Anekdoten sind nach dieser Richtung nicht ganz mit Unrecht in Umlauf gesetzt. Aber in der Verwerthung des gegebenen Bestandes, in der Combination aller Möglichkeiten, in der Aussonderung des Unmöglichen, in der Sicherheit der schließlichen Diagnose thaten es ihm Wenige, vielleicht Niemand gleich. Hier kam ihm sein unfehlbares Gedächtniß und seine selten reiche Erfahrung im höchsten Maße zu Gute. Diese enorme Sicherheit erwarb ihm das Vertrauen der Patienten im hohen Grade und ließ sie von überall her seinen Rath einholen.
[788] F. huldigte einer rationellen Therapie. Er machte sich durchaus keine Illusionen über die Wirkung unseres Arzneischatzes und die Waffe, welche er uns den Krankheiten gegenüber in die Hand giebt. Er hat sich oft genug über das Dunkel in dem wir gerade in therapeutischer Beziehung herumtappen, bitter beklagt und nichts war seinem klaren Verstand mehr zuwider als das Verschwommene, Unklare und Unbestimmte, an dem die ärztliche Kunst so reich ist. Aber er war keineswegs ein Nihilist und unterschied sich dadurch wesentlich von der Richtung der seinen jungen Jahren zeitgenössischen Wiener Schule.
Die Frerichs’sche Klinik erfreute sich eines Weltrufes und mit Recht. Bereits in Kiel und in Breslau erregten seine Krankenvorstellungen und Epikrisen die Bewunderung seiner Zuhörer, unter denen sich schon damals zahlreiche Aerzte aus aller Herren Länder befanden. In weit höherem Maße war dies in Berlin der Fall. F. handhabte die Klinik nicht in dem Sinne, dem jungen Mediciner das ABC der ärztlichen Kunst beizubringen – dazu war die damalige propädeutische Klinik bestimmt. F. ging immer aufs Große und Ganze, aller Kleinkram, alles Düfteln und Tifteln war ihm zuwieder und er gestand lieber betreffenden Falles die Unzulänglichkeit unseres Wissens ein, als daß er sie durch geistreiche, aber unreife Hypothesen zu umschreiben suchte. Wer Frerichs’ Klinik mit Nutzen besuchen wollte, mußte eine gewisse Summe ärztlicher Kenntnisse bereits besitzen, aber er konnte nirgends gleich vollendete, abgerundete und klare Krankheitsbilder, nirgends eine so scharfsinnige, treffende Diagnose hören, einen ähnlichen Schatz von Erfahrungen mitgetheilt erhalten. Der Kranke spielte dabei eigentlich eine Nebenrolle, er diente F. nur als Beispiel, an welches er anknüpfte, als Typus für eine Gattung; gemeiniglich sah er den Kranken erst wenn er in das Auditorium gebracht war – die Krankensäle besuchte F. äußerst selten – während der Krankheitsverlauf von den Assistenten beobachtet und ihm berichtet wurde. Aber er war es, der als Meister das Gegebene verarbeitete, sein Urtheil abgab und die Behandlung bestimmte.
Es galt in Deutschland für eine besondere Auszeichnung sein Schüler zu sein und an seiner Klinik lernen und arbeiten zu dürfen, und seine Assistenten und Schüler, die er ohne jede Engherzigkeit schalten ließ und zur Bearbeitung mancher Frage anregte, werden ihm dafür stets ein dankbares Andenken bewahren. In engere persönliche Beziehungen ist er, soviel wir wissen, mit keinem derselben getreten. Andererseits war ihm die Art, Klinik abzuhalten, wie er sie in Berlin durchführte, nur durch seine Assistenten ermöglicht. Ihnen lag der äußere Gang der Klinik und der ärztliche Dienst auf den Krankensälen ob, sie fertigten mikroskopische und chemische Präparate an, die F. seinen Zuhörern demonstrirte u. s. f.
Für die allgemeinen ärztlichen Standesinteressen ist F., wenigstens nach außen hin, nie thätig gewesen. In wieweit ihm seine Stelle als vortragender Rath Gelegenheit gab für die akademischen Verhältnisse Preußens und für das Medicinalwesen im weiteren Sinne thätig zu sein, haben wir schon oben berührt.
Als consultirender Arzt hat F. lange Jahre die erste Stellung eingenommen. Unzähligen Kranken hat er Trost und Beruhigung gebracht, vielen durch seinen Rath geholfen. Seine ruhige, zuversichtliche und überlegene Art war ihnen außerordentlich sympathisch, tröstlich und beruhigend. Obgleich er es dem Patienten nicht leicht machte seine Hülfe zu holen und nicht Jedermann viel Zeit widmen konnte, blieb sein Rath stets gesucht und namentlich die ins Bad reisenden Patienten von allerwärts, besonders aus Rußland, füllten seine Wartezimmer.
Alles in Allem genommen war die ausgezeichnete Verbindung, in welcher sich bei F. die voraussetzungslose Beobachtung mit der erschöpfenden durch alle [789] Hülfsmittel unterstützten Verarbeitung des Materials paarte, der Anlaß des großartigen und unbestrittenen Erfolges seiner ärztlichen Thätigkeit. Hierin ist ihm nur L. Traube, der gedankenreiche Forscher, der ausgezeichnete, feinfühlige Lehrer und Arzt gleichgekommen. Aber wie diese beiden Männer, die Jahrelang in erbitterter Feindschaft keineswegs zum Exempel und zum Ruhm des Standes neben einander unter dem Dach der Charité einhergingen in ihrem Aeußeren zwei Typen waren, so auch in ihrem Wesen und Wirken. Traube, klein, specifisch jüdisch im Aeußeren, nervös, voller Ideen, mit talmudistischer Spitzfindigkeit grübelnd und spintisirend, von unermüdlicher Thätigkeit. Aber soviel er auch leistete, er hat es zu einem großen zusammenfassenden Werk nicht gebracht, und obgleich seine hinterlassenen Abhandlungen drei starke Bände füllen und eine Fundgrube ausgezeichneter Beobachtungen und überraschender Geistesblitze bilden – das einzige größere Buch, das er zu schreiben beabsichtigte, seine Krankheiten der Respirationsorgane, ist ein Torso geblieben.
F., groß, schlank, blond mit mächtigem Schädel über einem Gesicht, das in der Form, freilich nicht im Ausdruck, etwas kindliches hatte, langsam und linkisch in den Bewegungen, äußerlich kalt, nüchtern, mit scharfem kaustischem, häufig verletzendem Urtheil, aber von durchdringender Penetrationsgabe, stets vollen und greifbaren Zielen zugewendet, verstand es, seine Kraft und die seiner Mitarbeiter, an denen es ihm nie gefehlt hat, zu rechter Zeit zusammenzufassen und gleichsam in einer compacten Masse niederzulegen. Eine außerordentliche Zähigkeit im Verfolg aller seiner Ziele, die ihn auch ganz unbedeutende Dinge mit bohrender Hartnäckigkeit verfolgen ließ, ein rücksichtsloser Wille, wenn nöthig mit eisernem Fleiße gepaart, ein unerbittlich klarer Kopf, ein nie versagendes Gedächtniß, ein ausgebildetes Selbstbewußtsein und ein ungewöhnlich hoher Grad von Egoismus waren F. eigen. Dazu kam eine große Menschenkenntniß, verbunden mit einer Art instinctiver Klugheit, die ihm gestattete, aus den verschlungenen Fäden eines wissenschaftlichen Problems oder aus dem täuschenden Gewirr der Erscheinungen eines dunklen Krankheitsverlaufes den springenden Punkt zu finden, die Gabe, mit wenigen Worten einen Gedanken auszusprechen, wie man sagt, den Nagel auf den Kopf zu treffen und endlich in späteren Jahren eine Summe persönlicher ärztlicher Erfahrungen, wie sie nur der große Zulauf von Patienten aus aller Herren Länder ermöglichen konnte. Daß F. mit dieser Mitgift ein gefeierter Arzt wurde und durch seine Arbeiten an die erste Stelle seines Fachs kam, war unter Beihülfe einer glücklichen Constellation äußerer Umstände – und F. war ein Kind des Glücks – die nothwendige Consequenz derselben. Aber es war in gewissem Sinne ein Unglück, daß er diese Stelle zu früh erreichte unter Verhältnissen die ihm erlaubten mit einer Art otium cum dignitate die Früchte vorgängiger Arbeit einzuernten. Anderenfalls würde seiner Arbeitskraft und seinem Genie noch manche werthvolle Bereicherung unserer Wissenschaft geglückt sein und er hätte dem akademischen und dem practischen ärztlichen Leben in höherem Maße als es thatsächlich der Fall war, förderlich sein können. Er verstand es seinen Besitz durch 26 Jahre festzuhalten und selbstredend immer auf der Höhe der Wissenschaft zu bleiben, Titel, Orden und Vermögen sich zu erwerben – neue und bedeutende wissenschaftliche Productionen hat er ihm nicht zugeführt. Dies ist aber bei einem Mann wie F., der so glänzend begonnen hatte, so ausgezeichnet begabt und mit Hülfsmitteln aller Art so reich bedacht war, eine zum Mindesten auffallende Thatsache.
Man hat die mancherlei Kränkungen und Reibereien, welche die Uebernahme einer solchen Stellung mit sich brachte, und die scharfe und persönliche [790] Polemik, welche sich an seine Leberarbeiten knüpfte, dafür verantwortlich gemacht. Unseres Erachtens sprechen diese Motive, wenn überhaupt nur zum geringsten Theil dabei mit. Ein schaffensfreudiger Geist, dem die Wissenschaft und Forschung letzter und höchster Zweck ist, läßt sich dadurch auf die Dauer nicht hemmen. Aber F. hat entweder nie den inneren Drang selbstloser Forschung gekannt oder er hat ihn früh verloren, jedenfalls war er nicht mächtig genug seine Bequemlichkeit zu überwinden. F. war zu klug, um nicht selbst das Gefühl hiervon zu haben. So sehr er die Menschen im Allgemeinen gering schätzte, so ängstlich sah er auf die Erfüllung aller ihm zufallenden Pertinenzen, so fest hielt er daran, daß von seinen Arbeiten jeder Buchstabe zu Recht bestehen bliebe. Es lag in der Natur der Sache, daß sein Leben und Streben zu einem inneren Widerspruch führen mußten. Trotz seiner dictatorischen Außenseite war F. innerlich ein unfreier, verbitterter Mann, dem „das schöne Gleichmaß und die Harmonie der Seele“ nicht gegeben war, und das konnte einem so hervorragenden Kopf schließlich nur zum Nachtheil gereichen. Denn F. war eine groß angelegte Natur, die in vieler Beziehung an die Charakterköpfe des Cinque cento erinnerte. Aber wenn er Vieles in seinem Leben erreicht hat, wenn er den Triumph genossen hat, als einer der ersten Forscher seiner Zeit anerkannt und geschätzt zu werden, der Glanz seines Namens wurde den ihm näher Stehenden getrübt durch manche Flecken, die wir, wenn anders dieses Lebensbild ein der Wirklichkeit entsprechendes sein soll, nicht übergehen durften. Die Zeit wird die Schroffen und Schlacken im Leben Frerichs’ vergessen machen, den großen Namen in der Geschichte der ärztlichen Wissenschaften wird sie ihm nicht rauben können.
[782] *) Zu Bd. VII S. 352.
[783] *) Bei der Obduction eines außerhalb Göttingen gestorbenen Cholerakranken nahm er zum Studium der ihm unbekannten Krankheit Leichentheile und Darminhalt in einer Blechkapsel mit und entging nur mit Mühe einer gegen ihn beabsichtigten Untersuchung, da die Behörden davon Kenntniß erhielten.