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ADB:Lemcke, Ludwig

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Artikel „Lemcke, Ludwig“ von Edward Schröder in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 51 (1906), S. 639–642, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Lemcke,_Ludwig&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 10:04 Uhr UTC)
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Lemcke: Ludwig Gustav Constantin L., Litterarhistoriker, wurde am 25. December 1816 zu Brandenburg a. d. Havel als einziger Sohn eines sehr wohlhabenden und geistig regsamen Apothekers geboren und verzog mit der Mutter, als diese sich von dem excentrischen Gatten trennte, 1827 nach Braunschweig, das ihm zur eigentlichen Heimath wurde. Hier besuchte er das Gymnasium und demnächst die Vorlesungen des Collegium Carolinum, um dann im Herbst 1836, gründlich und höchst vielseitig vorbereitet, die Universität Berlin zu beziehen. Er hörte Philosophie bei Michelet, Eduard Gans und Trendelenburg, philologische, historische und geographische Collegien bei Boeckh und Lachmann, Ranke und Karl Ritter, trieb neben den classischen und modernen Sprachen Sanskrit und Arabisch durchaus ernsthaft, war ein fleißiger Besucher von Concert und Theater und gab sich einem eifrigen Büchersammeln hin, das schon den Knaben ausgezeichnet hatte und den Studenten in den Besitz einer ganz hervorragenden Bibliothek brachte. Für ein begrenztes Fachstudium aber und gar für einen Beruf konnte er sich nicht entscheiden, und so verließ er nach drei Jahren die Hochschule, ohne seinen Studien einen [640] äußeren Abschluß zu geben. Schon im J. 1840 verheirathete er sich und wohnte zunächst in Uslar in der Nähe der Schwiegereltern, seit 1841 in Braunschweig, wo er ein eignes Haus besaß und der stets gastliche Wirth eines angeregten Kreises wurde. „Beschäftigung, stete Beschäftigung, aber keine Arbeit!“ das war die Devise dieser glücklichen Jahre, in denen neben der vielbestaunten Bücherei, welche u. a. die vollständigste Reihe spanischer Dramen und die reichste Sammlung italienischer Novellen umfaßte, ein chemisches Laboratorium das Lemcke’sche Haus schmückte. Nach außen gaben von dem gediegenen Wissen und Urtheil und dem beneidenswerthen Besitz an litterarischen Seltenheiten, über den L. verfügte, zuerst ein paar Aufsätze „Zur Kenntniß der mundartlichen Literatur Italiens“ in Herrig’s Archiv für das Studium der neueren Sprachen Bd. 6. 7 und 9 (1849–1851) Kunde, die zu dem besten gehören, was vor Gaspary in Deutschland über italienische Litteraturgeschichte geschrieben worden ist. Aber während diese Artikel erschienen, war ein schweres Schicksal über L. hereingebrochen: er hatte durch widrige Zufälle und durch Untreue fast sein ganzes Vermögen eingebüßt, mußte die Bibliothek, an der sein Herz hing, verkaufen und sich nach einem Erwerb umsehen, der seiner Begabung und seinen Kenntnissen entsprach. So ist er zum Uebersetzer, zum Lehrer, zum wissenschaftlichen Schriftsteller und schließlich, 46jährig, zum Universitätsprofessor geworden – und er hat in jedem seinen Mann gestanden, ohne freilich den Erwartungen ganz zu entsprechen, die man an seinen Eintritt in die akademische Laufbahn knüpfen durfte. Jenen schwersten Schlag hat er innerlich nie völlig überwunden, auch dann nicht, als sich seine Vermögensverhältnisse wieder günstiger gestalteten, aber er hat ihn allezeit mit Würde und nach außen sogar mit Heiterkeit ertragen und sich so als eine durchaus vornehme Natur bewährt. Für den feinsten Lebensgenuß beanlagt und im freisten Gebrauch seiner Zeit aufgewachsen hat er auch in veränderter Lebenslage nie den Eindruck eines Menschen gemacht, der aus seiner Bahn geschleudert wäre.

L. unternahm zunächst eine Uebersetzung von Macaulay’s Englischer Geschichte und hat sich später an der deutschen Ausgabe der Werke von Fernan Caballero betheiligt, die unter der Aegide Ferd. Wolf’s erschien (Paderborn 1859 ff.). Dazwischen entschloß er sich zur Ausarbeitung eines „Handbuchs der Spanischen Litteratur“, einer Auswahl von Musterstücken mit biographisch-litterarischen Einleitungen, die in 3 Bänden zu Leipzig 1855, 1856 herauskam, nachdem er 1853 auf 1854 die Pariser Bibliothek für die Vorarbeiten gründlich ausgenutzt hatte. Die ausgebreitete Gelehrsamkeit, der sichere Tact in der Wahl der Proben und die zwar selten abgerundeten, aber stets von eigenem Urtheil und gebildetem Geschmack zeugenden Charakteristiken fanden die Anerkennung aller zum Urtheil Berufenen in Deutschland wie in Spanien – ein litterarischer Erfolg aber blieb dem Werke versagt, das zu einer Zeit erschien, wo das von der Romantik genährte Interesse am spanischen Geistesleben rasch zurückging: noch andere Gelehrte und Buchhändler haben damals die gleiche Erfahrung machen müssen wie L. und sein Verleger.

Die Vorrede zu Band 1 des Handbuchs ist noch von Paris datirt. Nach Braunschweig heimgekehrt hat L. an verschiedenen Anstalten der Heimathstadt Unterricht ertheilt, vor allem am Gymnasium Französisch und Englisch in den Oberclassen gelehrt. Im Frühjahr 1863 ward er als Nachfolger Adolf Ebert’s an die Universität Marburg berufen: die außerordentliche „Professur der abendländischen Sprachen“, die er hier bekleidete, wurde 1865 in ein Ordinariat umgewandelt. Im Herbst 1867 leistete L. einem Rufe nach Gießen Folge, und der Ludovica, an der man den Lehrer, Gelehrten und Menschen voll zu [641] würdigen wußte, ist er treu geblieben, obwol 1873 ein Ruf nach Breslau, 1874 die Rückberufung nach Marburg an ihn herantrat. Seine Vorlesungen und seit 1870 die Uebungen seiner romanisch-englischen Gesellschaft waren recht vielseitig und werden als lebhaft und anregend gerühmt. Naturgemäß standen hier die romanischen Sprachen und Litteraturen im Vordergrund, auch als sich seine wissenschaftliche Arbeit energischer dem Englischen zuwandte: den Herbst 1864 hatte er in England verbracht, um auf dem Britischen Museum den Vorarbeiten für eine umfassende Geschichte der Englischen Litteratur obzuliegen. Aber er löste den Contract, der ihn an einen Leipziger Verleger band, und das Werk blieb ungeschrieben. Wir glauben gern, daß damals Niemand in Deutschland ein besseres Rüstzeug dafür gehabt hätte, aber L. hat wol selbst eingesehen, daß der Mangel an Ausgaben und sonstigen Vorarbeiten für die mittelalterliche Litteratur Englands eine wissenschaftliche Darstellung zum mindesten dieser Periode unmöglich machte. Und wenn er auch kein englischer Philolog und kein romanischer Philolog im modernen Sinne war, er war eine wissenschaftliche Persönlichkeit und überblickte recht gut die Aufgaben, die der Philologie und ihr allein zu lösen blieben. Es ist nicht viel was er in den zwei Jahrzehnten seiner akademischen Lehrthätigkeit litterarisch producirt hat, aber es genügt doch, um dem Bilde des Gelehrten eine gewisse Abrundung zu geben. Von einem Vortrag „Shakspeare in seinem Verhältnisse zu Deutschland“ (Leipzig 1864), durch den er in Marburg das Jubiläum des großen Britten einleitete, und einer Marburger Gelegenheitsschrift abgesehen („Bruchstücke aus dem … Victorial des Gutierre Diez de Games“, 1865) ist das meiste in dem „Jahrbuch für romanische und englische Literatur“ enthalten: schon zum ersten Bande (1859) hatte L. den interessanten Aufsatz über Cintio dei Fabrizii und seine Sprichwort-Novellen beigesteuert, in Bd. 4 folgten (1862) neben scharfsinnigen Beiträgen zur Textkritik und Erklärung der Divina Commedia die drei Artikel „Ueber einige bei der Kritik der traditionellen schottischen Balladen zu beobachtende Grundsätze“, die es lebhaft bedauern lassen, daß L. durch das Zuvorkommen Child’s von seinem Plan einer kritischen Auswahl der englischen Balladen abgebracht wurde – mit Bd. 6 übernahm L. selbst die Redaction des Jahrbuchs. Das Programm, mit dem er dies that, ist für seine Einsicht wie für seine Selbstbescheidung gleich charakteristisch: er stellte die Vierteljahrschrift, die bisher ausschließlich der romanischen und englischen „Litteratur“ gewidmet gewesen war, nachdrücklich auch den rein philologischen Zweigen des Betriebes der neueren Sprachen: der historischen Grammatik, der Dialektforschung, der Textkritik und der Edition zur Verfügung, und er hat damit Ernst gemacht, ohne sich doch je in Dinge einzumischen, die seiner eigensten Begabung fernlagen. Was er zu den weiteren Jahrgängen noch selbst beigesteuert hat, ist nicht eben bedeutend, gibt aber fortgesetzt Zeugniß von seiner umfassenden Belesenheit, seinem stets präsenten Gedächtniß und der Sicherheit, mit der er die wissenschaftliche Seite jeder Frage aus seinem wahrlich nicht engen Gebiete zu erfassen wußte. Es war gewiß nicht nur Pietät, was Gustav Gröber bewog, nachdem das Jahrbuch eingegangen war und die „Zeitschrift für romanische Philologie“ die Mehrheit seiner Aufgaben übernommen hatte, L. als einen der guten Schutzgeister der romanischen Philologie zu ehrenvoller Mitarbeit heranzuziehen. Die Kritiken und kurzen Anzeigen, die L. dazu beigesteuert hat, sind die letzten Erzeugnisse seiner Feder. Jahrelang wurde L. durch den leidenden Zustand seiner Frau in gespannter Sorge gehalten, und bald nachdem ihm der Tod (1877) die treue Gefährtin geraubt hatte, begann er selbst an einem krebsartigen Leiden dahinzusiechen. [642] Im Sommer 1882 mußte er seine Vorlesungen einstellen, am 21. September 1884 ist er gestorben.

Ludwig L. – das bezeugt auch seine Rectoratsrede über „Die Wechselbeziehungen zwischen Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften“ (Gießen 1873) – war einer jener vornehmen Gelehrten und höchstgebildeten Menschen, welche würdig schienen, der Wissenschaft von den neueren Sprachen den akademischen Wirkungskreis zu erschließen, und deren Vorbild schon von der nächstfolgenden Generation oft allzuleicht vergessen wurde.

Knappe biographische Nachrichten bieten P. Zimmermann, Braunschw. Anzeigen 1884, Nr. 234 und Koldewey, Verzeichniß der Directoren und Lehrer des Gymnasiums Martino-Katharineum zu Braunschweig, Progr. 1894, S. 22 f. Ausführlich: H. Breymann, Beilage z. Allgem. Zeitung 1885, Nr. 72 – Archiv f. das Studium d. neueren Sprachen Bd. 74 (1885), S. 109–114; W. Mangold, Englische Studien Bd. 9 (1886), S. 496–505. – Mir standen außerdem durch freundliche Vermittlung Herm. Haupt’s kurze Aufzeichnungen eines Jugendfreundes (K. Hensel) und eingehendere von der Tochter Fräulein Helene Lemcke zur Verfügung, die auch schon Mangold, z. Th. wörtlich, benutzt hat. – Den litterarischen Nachlaß hat Paul Zimmermann in Wolfenbüttel in Verwahrung: daraus konnte E. Stengel, Beiträge z. Geschichte der roman. Philologie in Deutschland (Marburg 1886), S. 24–44 Mittheilungen über den Briefwechsel Lemcke’s machen; Briefe von Gaston Paris an L. hat derselbe neuerdings in der Zeitschrift f. französ. Sprache u. Litteratur Bd. 27 (1904), S. 209 bis 211) abgedruckt.