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ADB:Nesen, Wilhelm

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Artikel „Nesen, Wilhelm“ von Otto Kaemmel in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 23 (1886), S. 438–441, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Nesen,_Wilhelm&oldid=- (Version vom 21. November 2024, 02:57 Uhr UTC)
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Nesen: Wilhelm N., ältester Bruder des Vorigen, geb. 1493, studirte um 1514 in Basel, wo er auch mit Correcturen für die Froben’sche Druckerei sich beschäftigte. Hier schloß er wol auch die Freundschaft mit Ulrich Zwingli (seit 1506 Prediger in Glarus) und Heinrich Glareanus, der 1514–17 in Basel lebte (s. A. D. B. IX, 211) und trat mit Erasmus in Verbindung, der ebenfalls um diese Zeit in Basel sich aufhielt (s. A. D. B. VI, 167 f.) und von Antwerpen aus ihm 1516 die neue Auflage seiner „Copia rerum et verborum“ [439] widmete. Auf dessen Veranlassung wol kam N. in demselben Jahre noch nach Löwen und schloß sich dem großen Führer der Humanisten so eng an, daß dieser ihn gelegentlich seinen Pylades nannte. Nach seiner Promotion begab er sich spätestens Anfang des Jahres 1517 nach Paris und hörte hier besonders Cyprianus Taleus im Griechischen, lernte aber auch Nicolaus Beraldus, Wilhelm Budäus und andere hervorragende Vertreter des französischen Humanismus kennen. Zugleich leitete er die Studien zweier junger Patricier aus Frankfurt a. M., Nicolaus und Crato v. Stallburg, sowie eines Schweizers, Ludwig Carinus aus Luzern. Nicht ohne stillen Humor war er damals Zeuge der Unruhen, welche die Aufhebung der pragmatischen Sanction vom Jahre 1438 und damit der Wahlfreiheit auch der Universität unter den Studirenden erregte; sie gaben ihm Stoff zu einem ausführlichen Briefe an Zwingli (vom 27. April 1517). Bereits im nächsten Frühjahr folgte er dann der ehrenvollen Aufforderung des Erasmus, eine Professur an dem neugegründeten Collegium Buslidianum (trilingue) in Löwen anzunehmen. Hier wurde er sehr bald in den beginnenden Kampf der großen Gegensätze verwickelt. Ein selbständiger Kopf, hatte er sich schon in Basel sehr entschieden gegen die veraltete Weise der akademischen Studien ausgesprochen, und um so energischer den Humanismus ergriffen. Nun entfesselte Erasmus’ Ausgabe des Neuen Testaments (1516) einen wahren Sturm gegen den „König der Humanisten“, und als schon im nächsten Jahre Luther’s Ablaßthesen den Kampf gegen die herrschende Kirche eröffneten, da kannte die Wuth der „Nebulones“ keine Grenzen. Vor allem in Löwen selbst erhoben sich die leidenschaftlichsten Angriffe, allen voran der Carmeliter Nicolaus v. Egmont. Als warmer Bewunderer und jetzt auch Tischgenosse des Erasmus konnte N. in seiner Stellung nicht schwankend sein; aber mehr noch als die Beschuldigungen gegen Erasmus, der selbst gleichmüthig sie unerwidert ließ, regte ihn das Vorgehen der Orthodoxen gegen Luther auf, so zurückhaltend er sich auch über diesen noch äußerte. In den schärfsten Ausdrücken ergeht er sich in einem Briefe an Zwingli (vom April 1518) über die Gegner, denen es in ihrer Unwissenheit und Beschränktheit gar nicht um die Wahrheit, sondern nur um ihre eigene Herrschaft und ihren Verdienst zu thun sei, während Luther doch weiter nichts verlange als gehört zu werden und selbst zu hören. Nicht nur um einen Angriff auf Luther handle es sich hier, sondern um die Bekämpfung der ganzen neuen Wissenschaft. Da sind auch die Sympathien begreiflich, die N. Hutten widmete; er hat wol dessen 1518 erschienene Ausgabe von der Schrift des Laurentius Valla de donatione Constantini quid veri habeat im Auge, wenn er von dem „letzten Erzeugniß“ Hutten’s spricht, das die Billigung aller Gelehrten finde und ihm ein mehr als Nestorisches Alter wünscht. Bei so entschiedener Parteistellung ist es kein Wunder, wenn er selbst von den Gegnern zu leiden hatte; als er 1519 die Geographie des Pomponius Mela erklären wollte, wußten sie das zu verhindern. Solche Erfahrungen verleideten ihm allmählich den Aufenthalt in der „schönen Stadt“; Anfang des Jahres 1520 nahm er einen Ruf als Leiter einer neuen Lateinschule in Frankfurt a. M. an, wohin ihm außer früheren Beziehungen zu Frankfurter Patriciern eine Empfehlung des Erasmus den Weg bahnte, er wurde am 13. April in seine Stellung eingewiesen. Doch war die Anstalt, das jetzige städtische Gymnasium, zunächst ein Privatunternehmen einiger Patricier, vor allem des Klaus v. Stallburg (daher Schola patriciorum) und materiell gegenüber den alten fundirten geistlichen Stiftsschulen nicht eben sicher gestellt; es kostete deshalb nicht wenig Anstrengung, tüchtiges zu leisten. Bald jedoch nahm mindestens ebenso sehr wie seine Schule die kirchliche Bewegung N. in Anspruch. Aufs Entschiedenste trat er für Luther’s Lehre ein. Er wirkte für sie bei seinen Schülern und bei deren Eltern, setzte schon im Februar 1521 durch, daß Hartmann Ibach [440] am Sonntag Invocavit (17. Februar) in der Katharinenkirche die erste evangelische Predigt halten konnte, die Frankfurt hörte, nahm Oekolampadius bei sich auf und empfahl den ausgetretenen Karthäuser Otto v. Braunfels der Fürsorge Zwingli’s. Inmitten einer Zeit der höchsten Spannung hatte er dann die Freude, Luther selbst in Frankfurt zu begrüßen; er sah ihn auf der Reise zum Wormser Reichstage (14. April) und wieder, nachdem die verhängnißvolle Entscheidung dort gefallen war (27. April); der Reformator besuchte sogar seine Schule, der gegenüber er sein Quartier genommen hatte. Doch eben diese Haltung trug N. die heftigste Feindschaft der Anhänger des Alten ein, vor allem die des leidenschaftlichen Johannes Cochläus, der seit 1518 Decan des Liebfrauenstiftes war (s. A. D. B. IV, 382 f.). Mit Luther gestaltete sich inzwischen Nesen’s Verhältniß immer enger, so daß der Reformator ihm seine Gegenschrift gegen Cochläus widmete, die im Februar 1523 erschien („Adversus virum armatum Cochlaeum“). Kurz nachher folgte N. Luther’s Aufforderung, zu ihm zu kommen, da ihn seine Stellung in Frankfurt auf die Dauer nicht fesseln konnte. Am 22. April 1523 traf er freudig begrüßt in Wittenberg ein. Doch widmete er sich dort zunächst mit besonderem Eifer juristischen Studien, so wenig ihn die schwerfällige Methode befriedigte, ja er dachte den juristischen Doctorhut zu erwerben. Während er aber die herzliche Freundschaft Luther’s und Melanchthon’s gewann und sich jüngere Genossen wie Jacob Micyllus und Joachim Camerarius ihm innig anschlossen, trübte sich sein Verhältniß zu Erasmus. Der Hauptgrund liegt jedenfalls in der entschiedenen Parteinahme Nesen’s für die Sache der Wittenberger, von denen der große Humanist mehr und mehr sich abwandte; außerdem meinte Erasmus ihm einen bestimmenden Antheil an Luther’s Schrift De servo arbitrio zuschreiben zu dürfen und hegte den Verdacht, daß N., der die Correctur seiner zweiten Ausgabe des Seneca bei Froben in Basel besorgt hatte, seine nachträglich eingesandten Collectaneen aus den Handschriften bei Seite gebracht habe, ein Vorwurf, von dem N. gar nichts geahnt zu haben scheint. Mindestens bemühte er sich eifrig, bei Luther wie bei Spalatin Erasmus’ Haltung in einem günstigeren Lichte darzustellen. Eine Reise, die er im April 1524 mit Melanchthon und Camerarius nach Süddeutschland antrat, hat die Genossen einander wol nur noch mehr genähert. Die Anregung dazu ging von N. aus, der, wie es scheint, im Interesse der Lateinschule und ihres derzeitigen nur provisorischen Leiters, seines früheren Schülers Carinus, Frankfurt besuchen wollte; wenigstens blieb er dort, während seine Gefährten nach der Pfalz weiterreisten. Nach der Rückkehr im Juni nahm N. seine Vorlesungen über classische Autoren und Geographie wieder auf, doch wenige Wochen später entriß ihn ein jäher Tod in voller Jugendkraft der Wissenschaft und den Freunden. Als er am Nachmittage des heißen 6. Juli 1524 mit drei Begleitern über die Elbe fuhr, wobei er selbst das Fahrzeug steuerte – er liebte solche Wasserfahrten – stieß der Kahn heftig an einen halb im Wasser verborgenen Baumstamm; N. ward hinausgeschleudert und versank vor den Augen seiner entsetzten Genossen in den Wirbeln des Stromes. Die Trauer seiner Freunde war tief und aufrichtig; wenn er Todte auferwecken könnte, sagte Luther, so würde N. der erste sein, und Melanchthon würde den Verlust der einzigen Tochter leichter ertragen haben als den seinen. Er hielt dem Geschiedenen die Leichenpredigt und hat seiner noch 1557 in einer Universitätsschrift wehmüthig gedacht, auch sich bemüht, Erasmus’ hartnäckigen Groll zu beschwichtigen. Micyllus und Eobanus widmeten ihm warm empfundene Epicedia. – Wir wissen wenig genug von N., und doch genügen die erhaltenen Briefe und was seine Freunde von ihm aussagen, um eine Vorstellung von seinem Wesen zu geben. Ein freier und scharfer Geist von lebendiger Auffassung und kräftiger Empfindung, ohne Scheu vor Conflicten da energisch eintretend, wo es [441] seine Ueberzeugung galt, ein begeisterter Anhänger Luther’s und ein guter Deutscher, von natürlicher Beredsamkeit und frischem Humor, liebenswürdig und bescheiden im Umgange, so steht er vor uns. Die reichen Kenntnisse in beiden classischen Sprachen, in Recht und Theologie, die ihm nachgerühmt werden, hat er litterarisch nicht verwerthet; er scheint zu den Naturen gehört zu haben, die sich nicht zeitig ausgeben, um dann nur um so Größeres zu leisten, was ihm nun freilich versagt blieb. Aber der Mann, dem Erasmus, Luther und Melanchthon ihre Freundschaft schenkten und den beide Reformatoren tief betrauerten, ist schon um ihretwillen eines dauernden Andenkens werth. Ein äußeres Zeichen dieses Verhältnisses ist noch in dem kunstvollen Glaspokal vorhanden, den Wilhelm N. von Luther erhielt und an seinen Bruder Konrad vererbte. Lange in dessen Familie hoch gehalten, kam er 1793 durch Verfügung des letzten N. an die kurfürstliche Kunstkammer in Dresden und befindet sich jetzt im Grünen Gewölbe daselbst.

Für Wilhelm N. kommen in erster Linie seine Briefe in Betracht, die Schelhorn in Selecta commercii epist. Uffenbachiani (1704) IV, 302, 307, 319, Amoenitat. litt. (1725) I, 248 u. Hottinger, Hist. eccles. novi test. II, 469 f. publicirt haben, dann einzelne Briefe von Melanchthon u. Erasmus, Micyllus’ Epicedion in den Sylvae (1564), p. 1 ff. u. Eoban’s Epiced. in Oper. poet. farrag. (1539) I, 147b ff. Von Konrads Dialogus ist die erste Originalausgabe in Basel 1519 erschienen; nach dieser gibt den Text E. F. Haupt, Wilhelm u. Konrad Brüder Nesen (Zittau 1843), 77 ff. – Eine Lebensbeschreibung Wilhelms hat zuerst Schelhorn in den Select. commercii Uffenbach a. a. O. versucht, eine solche beider Brüder Chr. G. Pitschmann in der Vorrede zu den Dubia vexata historiae eccles. novi test. III. Theil, Zittau 1719, wo er auch eine Beschreibung u. Abbildung des Lutherglases bringt. Auf beiden fußt Haupt, doch mit sorgfältiger Benutzung der Originalquellen, die er zum Theil, wie Nesen’s Briefe, abdruckt, u. Herbeiziehung ergänzender, theilweise handschriftlicher Hilfsmittel namentlich für Konrad N. – Ueber Wilhelm N. handelt auch J. Classen, Jacob Micyllus (1859), 32 f., 38 ff. – Vgl. noch Otto, Oberlausitz. Schriftstellerlexikon II, 689 ff.