ADB:Reichard, Christian Gottlieb

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Artikel „Reichard, Christian Gottlieb“ von Friedrich Ratzel in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 27 (1888), S. 618–621, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Reichard,_Christian_Gottlieb&oldid=- (Version vom 28. März 2024, 10:17 Uhr UTC)
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Reichard: Christian Gottlieb R., geographischer Schriftsteller, geboren zu Schleiz am 6. Juni 1758, † zu Lobenstein am 11. September 1837. Reichard’s Vater war Justizamtmann zu Schleiz und hatte zugleich als tüchtiger Musiker die Leitung der Hofcapelle. Von ihm hat der Sohn Neigung und Anlage zur Musik geerbt, die sich mit mathematischer Begabung glücklich verband. Die Richtung auf das Geographische war ihm nicht minder schon im väterlichen Hause ertheilt worden, wo eine für diese Zeit beträchtliche Sammlung von Karten und geographischen Werken zu seiner Verfügung stand. R. empfing seine gelehrte Vorbildung auf dem Lyceum zu Schleiz und bezog, um Jura zu studiren, 1777 die Universität Leipzig. 1781 bestand er die Staatsprüfung zu Gera und verweilte in seiner Heimath, um das letzte Lebensjahr seines Vaters, der 1782 starb, durch die Hülfe zu erleichtern, welche er ihm in amtlichen und musikalischen Obliegenheiten gewährte. Am 9. Januar 1783 trat er zu Lobenstein die Stelle eines Stadtschreibers an, sah sich aber genöthigt, den kärglichen Einnahmen des Amtes durch advocatorische Praxis aufzuhelfen. Beide Thätigkeiten genügten indessen nicht, um R. vollauf zu beschäftigen, er fand Zeit genug zur Fortsetzung seiner geographischen und geschichtlichen Studien und zur [619] Pflege seiner musikalischen und zeichnerischen Neigungen. Für erstere fand er manche Förderung in der fürstlichen Bibliothek zu Lobenstein. 1787 vermählte er sich mit Marie Sophie Horn aus Lobenstein. Die seit lange in der Stille betriebenen Studien führten erst spät zur litterarischen Thätigkeit. R. hatte 1797 zum Unterricht seiner Söhne eine Erdkugel construirt, welche in Gotha, wohin er sie behufs Ausstattung mit Horizont und Meridian gesandt hatte, Aufsehen erregte und zur Anknüpfung einer Verbindung mit dem Baron v. Zach führte, welcher eben seinen Aufruf an Astronomen und Geographen zur Mitarbeit an den Allgemeinen geographischen Ephemeriden hatte ergehen lassen, deren erster Baud dann 1798 zu Gotha erschien. Seeberg, dessen Sternwarte Zach leitete, war zu dieser Zeit der Mittelpunkt eines lebhaften astronomischen und geographischen Verkehres und Austausches. R. betheiligte sich an demselben durch Mittheilungen und Besprechungen, welche in den Ephemeriden veröffentlicht wurden, und fand bei Zach, sowie bei seinem Freunde, dem Commissionsrath Geldern in Lobenstein, der gleich R. sich lebhaft mit Kartenzeichnen beschäftigte, aufmunternde Theilnahme und Hülfe. Es ist wesentlich des letzteren Anregung, welche R. veranlaßte, einen Erdatlas in 6 Blättern und in Centralprojection nach einer von Kästner im zweiten Bande der Ephemeriden gegebenen Idee auszuführen. Die reichlichen Hülfsmittel und Materialien, welche Seeberg bot, die im Zeichnen geübte Hand Reichard’s, endlich eine durch fünf Jahre fortgesetzte Arbeit machten dieses Werk, welches 1803 ans Licht trat, zu einer der hervorragendsten kartographischen Leistungen dieser Zeit. Seit 1800 war R. auch mit Bertuch und Gaspari in Verbindung getreten und lieferte mehrere Karten für den Atlas des letzteren (beide Amerika, Asien, Nördlicher Stiller Ocean u. a.). Von Gaspari’s Abgang nach Dorpat bis 1806 leitete R. mit Bertuch zusammen die Ephemeriden. Dabei blieb er mit Zach in anregendster Verbindung, von welcher der in dessen Monatlicher Korrespondenz zur Beförderung der Erd- und Himmelskunde im Mai 1802 erschienene Aufsatz „Niger, Nil, Gir“, der im folgenden Jahre auch in den Ephemeriden erschien, einen glänzenden Beweis ablegt. R. trat hier den Nachweis an, daß der von Mungo Park entdeckte Djoliba nicht mit dem zum Nil fließenden oder in der Wüste verdunstenden Niger der Alten identisch, sondern vielmehr jener Fluß sei, der mit deltaförmiger Doppelmündung in den Meerbusen von Benin trete. Von Maltebrun gebilligt, von Renell bekämpft, sah sich diese geistvolle Hypothese, die an Behm’s Hypothese der Congoquelle (Geogr. Mittheil. 1876) erinnert, 1830 durch Lander’s Nigerfahrt schlagend bestätigt. Kein Geringerer, als A. v. Humboldt machte die englischen Geographen, als sie seit Clapperton’s Rückkehr an die atlantische Mündung des Niger zu glauben begannen, darauf aufmerksam, daß ein deutscher Gelehrter, der in seinem Leben nie einen größeren Fluß als die Saale gesehen, die Wahrheit 25 Jahre früher erkannt habe. R., welcher bisher hauptsächlich in der großen compilirenden, rechnenden und combinirenden Geographie sich bethätigt hatte, wurde 1806 durch die von sächsischen Officieren begonnene Aufnahme der reußischen Lande, welche an seine Mitwirkung, besonders an seinen Rath in Sachen der graphischen Darstellung appellirte, veranlaßt, sich näher mit Topographie zu beschäftigen. Er gab im Verlage der Homann’schen Erben zu Nürnberg seit 1808 eine Reihe von deutschen Landeskarten heraus, beschäftigte sich mit Richtigstellung der veralteten Katastrirung des lobenstein’schen Stadtgebietes und verwandte viel Zeit auf die genaue Bestimmung der Mittagslinie von Lobenstein. Die 1812 von Stieler aus Gotha an ihn gelangte Aufforderung zur Mitarbeit an den neuen Perthes’schen Unternehmungen auf kartographischem Gebiet erweiterte seine Thätigkeit als Kartenzeichner und belebte seinen wissenschaftlichen Verkehr durch die mit Stieler und v. Hoff [620] in Gotha bald inniger sich knüpfenden Beziehungen. Der Buchhändler Campe in Nürnberg, welcher es wagte, die geographischen Traditionen des Homann’schen Kartenverlages mit neuen Kräften aufzunehmen, ließ durch R. einen 24blättrigen Handatlas und eine Reihe von Landkarten in dem bekannten großen Format der Nürnberger Atlanten zeichnen, unter welchen Merkatorkarten mit Schiffahrtslinien sich eines besonderen Beifalles erfreuten. R., der zu seiner Kenntniß des Französischen, Englischen und Italienischen noch mit 40 Jahren das Spanische fügte, wurde von Gotha und Nürnberg aus mit dem neuesten geographischen Materiale versorgt, in welches er sich mit der ihm eigenen Lebhaftigkeit des Geistes vertiefte, um Berichtigungen für seine und Anderer Karten zu gewinnen. Der Ehrgeiz, die Karten auf den neuesten Stand des Wissens von der Erde zu bringen, war in den Nürnberger und Augsburger Officinen eingeschlafen. R. gehört zu denen, welche ihn wieder belebt haben. So verfolgte er auch auf dem graphischen Gebiete eifrig die Fortschritte und gehörte zu den thätigsten Vertretern der neu aufgekommenen Lehmann’schen Gebirgszeichnung, der er ein eigenes, nicht zum Druck gelangtes Werkchen „Theorie der Lehmann’schen Bergzeichnungsmanier“ widmete, das zunächst bestimmt war, ihm eine Waffe in den endlosen Kämpfen mit den an älteren Systemen hängenden Kupferstechern zu sein. Ein Antrag Campe’s, den 1809 von Smith in London herausgegebenen Atlas Antiquus für Deutschland umzuarbeiten, gab Anlaß, dieses im Grunde sehr oberflächliche Werk zu prüfen und das Material, das seit d’Anville aufgehäuft worden, zu sichten. Campe vernichtete zwei nach Smith bereits angefertigte Karten und übertrug R. die Herstellung des nach 15jähriger Arbeit in 19 Blättern 1830 vollendeten „Orbis terrarum antiquus“, der, zusammen mit seinem ungemein fleißigen topographischen Commentar (I. und einziger Theil 1824) und in Verbindung mit der 1830 erschienenen Schulausgabe wesentlich die Kenntniß und das Studium der alten Geographie gefördert hat. Für die letzten beiden Jahrzehnte Reichard’s ist diese große Arbeit charaktergebend, denn sie bot den Anlaß zu einer Reihe von Einzeluntersuchungen über die alte Geographie, welche tiefe Studien voraussetzen und R. in neue anregende Verbindungen mit Männern wie Niebuhr, Ukert, Norrmann, Böttiger, Meusel, Klapproth, W. v. Humboldt, Berghaus, Parthey, Hammer-Purgstall u. v. a. brachten. Dem letztgenannten widmete er die Sammlung „Kleine geographische Schriften“, welche 1830 erschien und wesentlich aus Beiträgen zur alten Geographie besteht. Von den Reichard’schen Karten und Commentaren zur alten Geographie Asiens und Afrikas läßt sich ganz besonders behaupten, daß sie vollständig neuen Anschauungen Bahn gebrochen haben; eine Arbeit, wie die im 31. Band der Neuen geographischen Ephemeriden erschienene über die westliche und südöstliche Küste Arabiens im classischen Zeitalter wird immer anziehend bleiben. Zu allen diesen antiquarischen Studien brachte R. zwei Eigenschaften heran, welche in diesem Maße keiner seiner Vorgänger auf diesem Felde besessen hatte: Vertrautheit mit der Geographie der Gegenwart und kartographisches Können. Ein Mann wie Rüppell fühlte sich durch die Art angeregt und gefördert, wie R. z. B. die Reisen Niebuhr’s zur Aufhellung der alten Geographie des erythräischen Meeres verwerthet hatte, während A. v. Humboldt mit Anerkennung der theoretischen Schlüsse gedachte, zu welchen R. durch reiches Wissen befähigt ward und nur nicht begriff, wie dieser, in einem kleinen Bergstädtchen des reussischen Voigtlandes „ein so gründlicher, tief forschender Geographus“ hat werden können. In der kleinen Stadt, die er selten verließ, führte er an der Seite seiner fast 50 Jahre ihm erhaltenen Lebensgefährlin und im Kreise von vier meist in seiner Nähe weilenden Kindern (der jüngste Sohn, Eduard Joseph R., trat als Kartograph in die Fußstapfen seines Vaters und hat als Militärgeograph in preußischen [621] Diensten Tüchtiges geleistet) ein heiter thätiges Dasein. Seine Lebensweise war die einfachste, seine Thätigkeit bis ins hohe Alter fast ununterbrochen, seine Erholung bestand im Genuß von Werken der schönen Litteratur, besonders der classischen und der Musik. In letzterer ist er auch als Dirigent und Componist thätig gewesen.

Neuer Nekrolog 15. II. – A. v. Humboldt’s Briefwechsel mit Berghaus. – Rüppell, Reise nach Abyssinien I. – Justus Perthes in Gotha, 1785–1885.