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ADB:Reysmann, Dietrich

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Artikel „Reysmann, Dietrich“ von J. Bossert. in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 53 (1907), S. 325–329, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Reysmann,_Dietrich&oldid=- (Version vom 26. Dezember 2024, 02:59 Uhr UTC)
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Reysmann: Dietrich R. (Raismann), Humanist und Dichter, geboren ca. 1503, † 1543/44.

Der bisher in der Litteraturgeschichte ganz übersehene Dichter Theodoricus (Theodorus, Dietrich, Diether) Reysmann ist zu Heidelberg um das Jahr 1503 wohl als der Sohn eines sonst unbekannten Heinrich R. geboren, der 1487 dort inscribirt und 1492 Magister wurde. Seine erste Bildung empfing er in der Trivialschule seiner Vaterstadt durch einen Lehrer, der die jugendlichen Gemüther früh für die Poesie zu begeistern wußte (Epistola ad Romanos A 2), und der vielleicht kein anderer war als Erhard Schnepf, welchen R. in einem Briefe seinen Präceptor nennt. Am 6. Juli 1520 bezog er die Universität Heidelberg, wo er sich dem Studiengang der via moderna anschloß (Töpke, Matr. der Univ. Heidelberg 1, 524). Aber schon im Frühling 1521 zog es ihn nach Wittenberg, wo sein Landsmann Philipp Melanchthon neben dem in Heidelberg seit seiner Disputation 1518 hochverehrten Luther lehrte, und wo die via moderna von Anfang an blühte.

Freilich war Luther eben auf der Reise nach Worms, als R. am 8. April 1521 in Wittenberg inscribirt wurde, und blieb dann elf Monate ferne. Aber die ersten Werke Reysmann’s zeugen von dem starken Einfluß, den Wittenberg und vor allem Melanchthon auf den jungen Studenten ausübte. Dagegen stieß ihn Karlstadt’s Art ab, dessen Kampf gegen die akademischen Grade R. wahrscheinlich veranlaßte, anfang 1523 nach Heidelberg zurückzukehren, um dort am 5. März 1523 als Magister zu promoviren (Töpke 2, 441); doch blieb er in dauernder Verbindung mit Luther und Melanchthon, welche den begabten, äußerlich unscheinbaren und kleinen Jüngling, mit seiner Kenntniß [326] der „drei Sprachen“ 1524 als Schulmeister für die neugegründete Bartholomäusschule in Altenburg empfahlen. Spalatin nahm sich seiner an, nachdem Link nach Nürnberg berufen worden war. Aber der unreife Jüngling zeigte sich der Stellung nicht gewachsen. Er glaubte sich und seine Lehrthätigkeit nicht genügend gewürdigt zu sehen, klagte über unpünktliche Entrichtung seines Gehaltes und hielt es aus Rücksicht auf ärmere Schüler für unwürdig, streng auf Bezahlung des Schulgeldes zu dringen. Nachdem er sich verheirathet hatte, reichte er mit seinem Gehalt nicht und mußte sein väterliches Erbe zusetzen. Deshalb flüchtete er sich in die Oeffentlichkeit, indem er in einem gedruckten Sendschreiben „An die Erbarn und Weisen, die Eltisten der Gemeine und drei Räte zu Altenburg“ seine Lage darlegte, worauf der Stadtschreiber Val. Kolbe in einer derben Gegenschrift antwortete. Seine Lage war jetzt unhaltbar. Er zog eilig ab mit bitteren Vorwürfen gegen Spalatin und die anderen Prediger, die ihn nicht genügend geschützt hätten, und betrachtete sich als einen Märtyrer seiner Sache, der aber auch bei Wenz. Link, an den er sich gewandt hatte, kein geneigtes Ohr fand.

Die unfreiwillige Muße benutzte R. wohl, um sein erstes poetisches Werk, eine Paraphrase des Galaterbriefes in lateinischen Versen und vielleicht auch die im Verzeichniß seiner Dichtwerke (im Amos propheta) an erster Stelle genannte „Elegia de grue volucri“ zu schaffen und zum Druck zu bringen. Leider sind beide Werke bis jetzt nicht gefunden. In seiner leidenschaftlichen Erregung über seine Erlebnisse in Altenburg verlor der unbesonnene Jüngling das Gleichgewicht und zerfiel auch mit Melanchthon, dem er einen Schmähbrief schrieb (Corp. Ref. I, 1017 vom September 1526, nicht 1528). Dagegen nahm sich der Nördlinger Prediger Theobald Billikan, mit dem R. wohl in Heidelberg befreundet worden war, seiner an. Er verschaffte ihm das Amt des Schulmeisters in Nördlingen, das ihm am 11. Januar 1527 zunächst provisorisch mit 32 fl. Gehalt, bald aber definitiv mit 52 fl. übertragen wurde. Hier dichtete er eine lateinische Paraphrase des Römerbriefes in lateinischen Versen („Divi Pauli Apostoli epistola ad Romanos paraphrastico carmine descripta“, 40 Bl. 8°, 1529,), welche er im Mai 1529 dem Markgrafen Georg von Brandenburg-Ansbach widmete.

War R. bisher ein Vertreter der Wittenberger Reformation gewesen, so trat jetzt, wohl unter dem Einfluß Billikan’s, eine Wendung ein. Er gewann Fühlung mit den Anhängern der alten Kirche, mit Abt Kon. Reutter von Kaisersheim, einem Nördlinger Bürgerssohn, und dem Generalvicar des Bischofs von Augsburg Jakob Heinrichmann. Die Reformation erschien ihm jetzt als eine Quelle der Uneinigkeit Deutschlands und seiner Schwäche gegenüber den Türken, aber auch als die Ursache des Zerfalls der Wissenschaften und des Schulbetriebs, auf den jetzt kurzsichtige Handwerker im Rath der Städte einen banausischen Einfluß zu gewinnen drohten. R. wurde jetzt zum Lobredner der kaiserlichen Politik und des alten Glaubens, in dessen Dienst er jetzt seine Muse stellte. Den Wandel im Standpunkte des Dichters läßt schon das lustige Hochzeitsgedicht „Fescenninum, hoc est nuptiale poema“ (s. a. e. l., München) erkennen, in welchem er die Hochzeit einer Nichte des Abts von Kaisersheim besang. Zur vollen Entfaltung kommt die neu gewonnene Ueberzeugung in „De adventu secundo Caesaris semper Augusti Imperatoris Caroli V. in Germaniam epistola“ (10 Bl. 8°, Augsburg, Al. Weyssenhorn 1530). Dieser Lobpreis der kaiserlichen Politik als der rechten Arznei für Deutschlands Schäden trug R. die Ehre der feierlichen Krönung zum poeta laureatus auf dem Reichstage zu Augsburg durch König Ferdinand ein, dem das Werk gewidmet war.

[327] Wir sehen ihn jetzt in Beziehungen zu dem Kanzler des Königs, Joh. Ferenberger, und zu dessen Räthen, wie dem Bischof von Wien, zu Jak. Faber, Jak. Spiegel und Joh. Kneller, dem Leibarzt Georg Gundelfinger und vor allem zu dem Statthalter des Königs in Württemberg, Georg Truchseß von Waldburg. In dem jungen Pfälzer, dem Schüler Melanchthon’s, schien der königlichen Regierung der rechte Mann gefunden zu sein, um dem verknöcherten und senil gewordenen Wissenschaftsbetrieb in Tübingen neues Leben einzuhauchen. R. nahm am 25. September 1530 plötzlich seinen Abschied in Nördlingen und siedelte nach Tübingen über, wo er am 1. October inscribirt wurde. (Roth, Urk. der Univ. Tübingen 648, 19.) In der freien Stellung eines poeta laureatus an der Universität fühlte sich der ehemalige Schulmeister glücklich. Davon zeugt eine Reihe rasch nacheinander entstandener lateinischer Dichtwerke, von denen die beiden ersten in Blaubeuren, unweit Ulm, entstanden. Hierher hatte sich aus Furcht vor der Pest die Realistenburse unter der Führung des Astronomen Joh. Stöffler begeben, dem sich R. mit seinem Freunde Nic. Winmann und den jungen Speierer Domherren Otto v. Amelunxen und Christoph v. Münchingen angeschlossen hatte. Stöffler starb am 16. Februar 1532, worauf R. ein Trauergedicht „De obitu Johannis Stoefler Justingani, Mathematici Tubingensis elegia“ (8 Bl. 8°, Augsburg, Al. Weyssenhorn 1531. München) verfaßte und dem Augsburger Bischof Christoph v. Stadion widmete. Diese für die Biographie und Charakteristik Stöffler’s werthvolle Arbeit ist bisher völlig unbeachtet geblieben.

Die herrliche Lage Blaubeurens, die Schönheit des Blautopfes, die geheimnißvolle Albhöhle, welche R. und Winmann mit den beiden Domherren besuchten, die Lebens- und Anschauungsweise der dortigen Bevölkerung begeisterten den Dichter im Frühjahre 1531 zur Schaffung eines prächtigen Naturgemäldes in lateinischen Versen, das er unter dem Titel „Fons Blauus“ 1531 wahrscheinlich bei Joh. Grüner in Ulm erscheinen ließ und Georg Truchseß von Waldburg widmete. (Leider ist das einzige bis jetzt bekannte Exemplar in München am Schlusse unvollständig.)

Anfang Mai war die Realistenburse wieder nach Tübingen zurückgekehrt. R. folgte ihr, zog aber nach wenigen Wochen nach Speier, um seinen Freund Winmann und dessen Zögling Otto v. Amelunxen zu besuchen. Wahrscheinlich nahm ihn der Oheim des ebengenannten jungen Herrn, der Domcustos Otto von Falkenberg, als Gast bei sich auf. Der Aufenthalt in Speier vollendete Reysmann’s Umwandlung zum Dichter mittelalterlicher Romantik. Der herrliche Dom, die feierlichen Gottesdienste in ihrer Pracht und Ordnung, die Gewerbethätigkeit, der Handel und Verkehr der wohlbefestigten Stadt, der angenehme Umgang mit der vornehmen, humanistisch gebildeten Geistlichkeit, die behaglichen Genüsse, welche sich in Pfeddersheimer Gensfüsser und Rheinsalmen darboten, entzückten den Dichter, der sich dem vollen Zauber der alten Kaiserherrlichkeit, von welcher der Dom zeugte, und der entzückenden Schönheit der alten Kirche hingab. Dieser Stimmung entsprangen zwei Dichtungen Reysmann’s, 1. ein „Encomion Spirae“, das er am 23. October 1531 dem Domcapitel übergeben ließ, das aber mit Ausnahme von sechs Versen (Mittheilungen des hist. Vereins der Pfalz XXIII, 93) verloren ist; 2. „Pulcherrimae Spirae summique in ea templi enchromata“ (20 Bl. 4°, 8. s. a. e. l., aber gedruckt von U. Morhart in Tübingen). Dieses über 900 Hexameter zählende Werk widmete der Dichter dem König Ferdinand.

Seiner Dankbarkeit gegen seinen Gastfreund und Gönner Otto von Falkenberg gab R. im folgenden Jahre nach Otto’s Tod (24. Juni 1532) einen Ausdruck in „Lachrymae in Othonem Falkenbergiacum fusae“. Möglicherweise [328] gehört hierher noch die „Elegia de grue volucri“. Sie könnte das Wappen des ergrauten Seniors der Speierer Domgeistlichkeit, des Hans Kranich, besingen.

Für die nächsten Jahre verstummte die Leier Reysmann’s. Der Himmel der alten Kirche umdüsterte sich; die Macht und das Ansehen Habsburgs erlitt einen starken Stoß durch den Kriegszug Philipp’s von Hessen und die Flucht der Königischen bei Lauffen am 12. Mai 1534. Der gänzlich verarmte und machtlose Herzog Ulrich von Württemberg gewann sein Land wieder, das sich wie ein Keil in das vorderösterreichische Gebiet einschob. Die Reformation, der sich Habsburg in Süddeutschland mit Hülfe des Blutmenschen Berthold Aichelin, des Profosen, mit unumschränkter Machtvollkommenheit, zu erwehren gesucht hatte, fand jetzt offene Thüren in Württemberg. Einem Manne, der die Rettung Deutschlands in der Religionspolitik der Habsburger und der Aufrechterhaltung des alten Glaubens gesehen hatte, mußte der Tag von Lauffen als ein Gottesgericht erscheinen. Der ganze schöne Traum, in dem R. 1530 bis 1534 gelebt und gedichtet hatte, zerrann. Das Vertrauen auf den Kaiser und König, der Goldschimmer der alten Kirche, die Aussicht auf eine glänzende Zukunft im Schatten des Doppeladlers und Roms war dahin. Wie ein Bettler stand R. auf der Straße, als Ulrich Tübingen nahte. Er wandte sich nach Constanz und bat den Rath um ein kleines Aemtchen oder ein Stipendium zum Studium der Rechte in Italien oder wenigstens um ein Viaticum. (Schreiben an den Rath: Vadiana in St. Gallen.) Der Rheinfranke konnte jetzt plötzlich wieder anders. Er pries Constanz, den Hort des neuen Glaubens, wegen seiner Frömmigkeit und sah jetzt in der städtischen Freiheit die Quelle eines reichen Culturlebens. Nunmehr nahm sich Ambrosius Blarer seiner an. Er sandte ihn im Januar 1535 als Lesemeister in das Kloster Hirsau mit dem Auftrage, den Mönchen akademische Vorträge zu halten, aber ohne Vollmacht zur Gemeindepredigt. R. begann mit der Auslegung des Hebräerbriefes und gewann eine Anzahl Mönche für den neuen Glauben, verdarb sich aber durch stürmischen Eifer, durch Einführung seiner Gattin in die Klostermauern und ungehemmten Verkehr der Mönche mit seinem Hause ohne Erlaubniß des Abts, wie durch eigenmächtigen Beginn von Predigten in der Pfarrkirche seine Stellung. Obwohl Schnepf sich freute, daß Gottes Rathschluß den Theodorus den Musen entreiße und zum Predigtamt berufe, und ihn schützte, so gut es ging, mußte Blarer, sein nächster Vorgesetzter, ihn vor Ostern 1535 entlassen.

Wahrscheinlich versuchte R. jetzt mit Hülfe von Dionysius Melander, dem er zwei Gedichte: „Missae in Wirtembergensi ducatu languescentis conquestio“ und „Cuculus domino suo“ widmete (Otto Melander, Jocoseria II, 40, 50), in Frankfurt anzukommen; aber Melander erhielt selbst am Dienstag nach Ostern, am 27. März, seinen Abschied. Deshalb sah sich R. vermuthlich genöthigt, Erhard Schnepf um einen Dienst anzugehen. Wenigstens finden wir ihn 1537 als Pfarrer in Cleebronn, OA. Brackenheim, also in dem Theile Württembergs, der zu Schnepf’s Amtsbezirk gehörte. In jener weinreichen Gegend drohte dem Pfälzer Kinde die Gefahr, dem Alkoholismus zu verfallen. Zwar versah er seine Obliegenheiten als Pfarrer ohne Klage seiner Gemeinde, aber er gerieth beim Wein in schlechte Gesellschaft, machte in der Weinlaune thörichte Scherze und vergaß, was er seiner Würde schuldig war. Zwar ging er aus einem Streite mit dem Ortsvorsteher und dessen Gattin, die ihn schmählich verleumdeten, siegreich hervor, sollte aber doch nach Hettingen auf der Alb versetzt werden, wo es keinen Wein gab. Ehe es dazu kam, gerieth er im Mai 1543 im Wirthshaus in blutige Schlaghändel, wurde schwer verwundet [329] und mußte als Friedensbrecher das Land räumen. Im Herbst 1543 treffen wir den dahinsiechenden Mann, der eben eine heftige Krankheit überstanden hatte, zur Erholung beim Maier auf dem Burghof der Feste Neukastel bei Landau in der Pfalz. Sein Freund Bernh. Portius, Pfarrer zu Annweiler, las ihm des Mich. Toxites’ „Querela anseris vel de ingratitudine hominum elegia“ vor, in welcher sich sein eigenes Schicksal zu spiegeln schien. Noch raffte er sich in seiner Krankheit zu einer größeren Arbeit auf, nachdem seine Leier lange genug verstummt war. Er dichtete eine Paraphrase des Propheten Amos, ähnlich der des Galater- und Römerbriefes („Amos propheta carmine translatus“, Straßburg, Crato Mylius, im Mai 1544), und widmete sie dem Pfalzgrafen Ruprecht. Auch trug er sich mit dem Gedanken, eine Gesammtausgabe seiner Werke unter dem Titel „Lauretum“ zu veranstalten, welche aber nicht zustande gekommen zu sein scheint; denn der Tod raffte ihn zwischen Herbst 1543 und Mai 1544 dahin, sodaß Toxites seinen „Amos“ zum Druck befördern mußte.

Trotz aller Schwächen seines Charakters verdient R. mit seiner unleugbaren dichterischen Gabe, die sich am glänzendsten im „Fons Blauus“ offenbart, seinem warmen patriotischen Geist und seinem Idealismus, der in seinen Dichtungen alles Gemeine verschmäht, Beachtung in der Litteraturgeschichte.

Neuer lit. Anzeiger 1807, S. 552 ff. – Veesenmeyer, Miscellaneen, S. 42, und Kleine Beiträge zur Geschichte des Reichstags in Augsburg, S. 122 ff. – Blätter für württb. Kirchengeschichte 1893, S. 14 ff.; 1894, S. 24. – Württb. Vierteljahrshefte, N. F. 1906, S. 368–386, und Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, N. F. 1907. – Reysmann’s Pulcherimae Spirae enchromata kommen mit Einleitung und Uebersetzung zum Neudruck in den Mittheilungen des histor. Vereins der Pfalz 1907.
J. Bossert.