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ADB:Seemann, Salomon

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Artikel „Seemann, Salomon“ von Ludwig Julius Fränkel in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 33 (1891), S. 584–589, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Seemann,_Salomon&oldid=- (Version vom 24. November 2024, 16:15 Uhr UTC)
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Seemann: Salomon S., geboren 1691 zu Danzig, ungewiß, aus welcher Bildungsklasse, da über seine Familie und persönlichen Jugendverhältnisse nichts überliefert ist. Er muß ein sehr frühreifer Knabe gewesen sein; denn schon im Februar 1698 wurde er in das Akademische (evangelische) Gymnasium zu Danzig aufgenommen. Am 17. December 1709 wurde er in die Prima versetzt; von da an hören die Actennotizen über ihn auf. Auf der Schule, die er in regelrechtem Besuche durchlief, war seine Tüchtigkeit regelmäßig in den Censuren durch ‚iudicium‘ „laudatur ab omnibus“, was freilich nicht selten vorkommt, anerkannt. Seine späteren Dichtungen beweisen nach Inhalt, Stoffbehandlung und Form den gelehrten Unterricht, sowie daß die betreffende Anstalt schon freiere Bahnen einzuschlagen begonnen hatte. Nirgends fast in der Fülle seiner antik-classischen Reminiscenzen bricht die noch zur Zeit des dreißigjährigen Krieges allmächtige verknöcherte Auffassung des Alterthums durch. Von früh an scheint ein gewisser unsteter Drang, ein Trieb zum Wandern von Ort zu Ort in ihm gewohnt zu haben. Dieser ist es, der ihn nirgends festen Fuß fassen, an jedem Flecke nur schmetterlingsartig haften ließ und seinem ganzen Erdendasein den Stempel des Abenteuerlichen aufprägte, ihn aber auch zum Dichter erzog, für welchen Beruf S. vielleicht erst Schicksalsfügungen reiften. In der Periode der Robinsonaden und der politischen und socialen Weltwanderer in Wahrheit und Dichtung verdient die kurzgespannte Laufbahn eines begabten Dichters, der nur nicht ins passende Fahrwasser gelangte, aufrichtige Beachtung. Allerdings sind über ihn nur wenige sichere Daten zusammenzubringen. Er tritt uns erst im 22. Lebensjahre entgegen. Anfang des Jahres 1713 finden wir ihn im Gefolge der seit 1711 mit dem Zarewitsch Alexei, Sohn Peter’s des Großen, vermählten Prinzessin Charlotte Christine Sophie von Braunschweig-Wolfenbüttel. Er folgte ihr von Elbing aus, wo sie seit einigen Monaten allein Hof hielt, nach Petersburg. Hier verrichtete er „unterschiedliche Bedienungen“ und wurde dann Informator der beiden Kinder des kronprinzlichen Paares, Großfürstin Natalie (1714–28) und Großfürst Peter (1715–30; Zar als Peter II. seit 1727). 1724 bestellte Peter d. Gr. einen anderen Hofmeister, worauf S. seine Entlassung nachsuchte, die er „auch nach vielen sollicitiren erhalten“. Er ging nach Wien, sah sich aber in den Versprechungen, die ihm Graf (Franz Ferdinand?) Kinsky, vorher österreichischer Botschafter in Petersburg, gemacht hatte, getäuscht. Deshalb wandte er sich nach Braunschweig, wo er Zutritt bei der herzoglichen Familie fand. Der Herzog Ludwig Rudolf und seine Gemahlin Christine Luise, die Eltern der (1715 verstorbenen) russischen Kronprinzessin, sowie der letzteren jüngere Schwester gaben ihm eigenhändige „Recommendations-Schreiben“ an die Kaiserin Elisabeth Christine, Gemahlin Kaiser Karl’s VI., die älteste Tochter des herzogl. Paares, und so reiste er zum zweiten Male nach Wien. Die Kaiserin ließ ihm durch ihren Oberhofmeister, Fürst Cordona, bedeuten, daß er als Lutheraner bei Hofe keine Verwendung finden könne, verhieß ihm jedoch durch diesen wie auch mündlich ihre Hilfe, insbesondere Empfehlung seines Ansuchens an den Reichsvicekanzler. Als aber nichts für ihn geschah und seine Geldmittel knapp wurden, [585] begab er sich nach Dresden, im Vertrauen auf Graf Friedrich Vitzthum von Eckstädt (1675–1726), polnisch-kursächs. Minister, den er sich von dessen Petersburger Botschafterzeit (1714), wo er „ihn vieler sonderbaren Gnaden Bezeugungen gewürdiget“, gewogen glaubte. Da erhielt er die Nachricht von dem Ableben Peter’s des Großen (Februar 1725) und nun meinte er am russischen Hofe Wiedereinsetzung in seine Stellung bestimmt erwarten zu dürfen. Ein Brief, den er von Lübeck aus absandte, blieb unbeantwortet. Daher ging er nach Kurland, „um der Russischen Sachen fernere Veränderungen in der Nähe anzusehen und abzuharren“. Als 1727 auch die Zarin Katharina I. starb, wandte er sich an den Reichsvicekanzler Baron Ostermann, der Oberhofmeister des jungen Peter II., Seemann’s war, mit einem Schreiben, das aber ebenfalls unbeantwortet blieb. Darauf nahm er 1728 das Amt eines Erziehers beim Sohne des Ober-Burggrafen und Ober-Raths von Curland, des Barons Karl von Fircks, Erbherrn von Nurmhusen und Dubenalck, an und begleitete – ein „Informator adliger Jugend“ (E. L[enz] in der „Deutschen Rundschau“ 17, 7. 154), wie sie das ganze 18. Jahrhundert in den Ostseeprovinzen üblich waren – den jungen Edelmann auf einer Reise nach Berlin, Dresden und Marburg i. H., wo jener studiren sollte. Hier finden wir sie im Frühling 1729 als Kostgänger bei dem Professor Hofrath Wolff und in einer Behausung mit dem Begleiter eines fränkischen Edelmanns, Magister Jakob Friedrich Baader wohnend, demselben, der Seemann’s Dichtungen herausgab. S. hofft da noch, daß sich „Jetzige Ruszische Majest. Ihres vormaligen Praeceptoris, eines Menschen, der schon dero Hochseeligen Frauen Mutter gedienet, allergnädigst erinnern möchten“. Peter II. starb Anfang 1730, ohne daß sich Seemann’s heißes Sehnen irgendwie erfüllt hätte. Dieser scheint dann seinen Zögling, der mittlerweile der Beaufsichtigung entwachsen war, heimbegleitet zu haben. Denn die Zueignung zu Seemann’s „Orpheus“ ist „Riga, den 7. Februarii. 1734“ unterzeichnet. Das am Schlusse dieses Werkes abgedruckte Gespräch „Die Dicht-Kunst und der Dichter“, in dem S., ohne sich zu nennen, mit der brotkargen Poesie hadernd auftritt, zeigt ihn wiederum in arger Bedrängniß und setzt, nach einem starken Ausfall auf die hohen „Gönner“ („In Worten sind sie flinck in Werken trefflich lahm“), alle Hoffnung auf Graf Löwenwolde und Herrn und Frau von Völckersahm. Haben diese dem gestrandeten Dichter aufgeholfen und endlich ein sorgenloseres Dasein eröffnet, oder ist er, von materieller Not völlig an die Wand gedrückt, nach und nach verkommen? Fast möchte man das letztere glauben; denn kein Zeugniß seines Lebens oder Schaffens meldet fürder von ihm: er soll in Riga gestorben sein, niemand sagt wann.

So verschlungen und unglücklich auch Seemann’s Lebensschicksale waren, so tief ihn auch seine fragwürdige Laufbahn zum Hofschranzen und ständigen Bittsteller erniedrigt, er fand stets noch Drang und Lust zum Dichten in sich. Er beschränkte sich hier nicht auf die landläufige Gelegenheitsdichterei, wie sie bei Familienfesten von Förderern und Freunden im Schwange war. Denn wenn auch die wenigen lyrischen Nummern, die von ihm erhalten sind, in der Mehrzahl einen zufälligen Entstehungsgrund nicht verleugnen, so spricht sich doch in den beiden ,Traurigen Gedichten‘ (1715) auf den Tod der verehrten russischen Kronprinzessin ein so echtes Gefühl wärmster Anhänglichkeit und in den Eklogen trotz ihres antikisirenden Gewandes eine so gemüthvolle Freude an den Wundern der Schöpfung aus, daß man in S. eine selbständige Poetennatur erkennt. Unter den satirischen Stücken zeigen „Die ungleiche Heirath“ (1714) und „Die unglückliche Ehe“ (1714) entschiedene Anlage, menschliche Schwächen unter einem höheren, allgemeineren Gesichtspunkt darzustellen. Sein Neujahrswunsch an Karl von Fircks (1728) häuft auf den Gönner alle Einzelheiten einer officiellen Bettelgratulation, [586] allerdings nicht ohne auch die bedeutungsschwere Stellung des Angeredeten deutlich zu kennzeichnen und dabei z. B. die Gefährdung des Lutherthums in den Ostseeprovinzen weltgeschichtlich richtig zu erfassen. Seine Belesenheit in alten und neuen Litteraturen sowie seine Kenntniß historischer Begebenheiten belegen zahlreiche Anspielungen, auf Stellen Homer’s, Euripides’, Cäsar’s, Horaz’ (dem auch das Motto ars poet. 240, entstammt), Plinius’, Tacitus’, Guarini’s, Bellegarde’s u. a. sowie eingeflochtene Anekdoten. Mehrfach bricht bei ihm innerliche Empfindung durch, und seine poetischen Liebesäußerungen sind nicht nur romantischer Zunder (z. B.: „Dein Auge gleich dem Venus Stern, der voller Gluht und Liebe spielet“, und das knappe auch formell äußerst gewandte Hirtengespräch mit den Zeilen „Wie aber kann ich widerstehen? Ich seh zwei Augen auf mich blitzen u. s. w.“ Eine in jenen Jahrzehnten noch ungewohnte Herrschaft über Ausdruck und Form tritt in den Gedichten Seemann’s zu Tage. Interessant sind hymnenartige Einlagen in den Eklogen, vielleicht als melodramatisch vorzutragen gedacht.

Die nachdrückliche Beachtung der Nachwelt verdient S. aber erst durch sein Drama „Turnus“, das erste deutsche Stück, das mit umfänglicherer Regelmäßigkeit den iambischen Fünffüßler als dramatischen Grundvers anwendet. Er handhabt diesen nicht mühsam, wie B. Feind (s. d.) noch oft, sondern zeigt sich stellenweise sogar schon recht eingewohnt in ihn, wie er überhaupt die Sprache nicht ohne Geschick selbständig meistert. Wo es noth thut, weiß er sich kurz zu halten, und sucht nie durch saftlosen Wortschwall den Leser gleichsam hinterrücks zu umgarnen. Der Stoff ist in ganz moderner Weise erfaßt und vorgeführt. Sachlich hält sich S. mit beachtenswerther Ueberlegung von der Fixirung Virgil’s unabhängig und zeigt sich im Zuschnitt als Schüler der großen italienischen Epiker. Ob S. irgend eine bestimmte Behandlung des in der Renaissance nicht unbeliebten Themas als Materialvorlage benutzte, dürfte schwer zu entscheiden sein; im ganzen Wurfe aber, insbesondere in dem unleugbaren Anhauche romantischer Stimmung, ist sein Stück, trotz des glücklichen Ausganges, der Tragödie „La Hadriana“ von Luigi Groto Cieco di Hadria (1572) einigermaßen verwandt (vgl. Fränkel i. d. Ztschr. f. vglchd. Litgesch. u. Renaiss.-Lit. N. F. IV, 85 f.), die 1616 durch P. E. Schröter (s. A. D. B. XXXII, 574) als Marburger Studentenkomödie deutsch bearbeitet worden war (Rommel, Geschichte von Hessen, VI, 528; vgl. Goedeke, Grundriß2 II, 523). Auch sonst hatte man sich in deutscher Zunge an dem lockenden Problem des vergötterten Maro mehrfach versucht, daneben über seine Stoffgrenze hinausgegriffen, wie z. B. eine um 1600 geschriebene „Tragedia der zweyer Mächtiger Städt Rohm vnd Alba“ (Dresd. Hf. M. 225; vgl. Bolte, Alemannia 18, 80). Heinrich von Veldeke’s „Eneit“ mit ihrer Bevorzugung des erotisch-sentimentalen Elements und dem didaktischen Anstrich hat sichtlich in den weiteren Darstellungen mittelbar nachgewirkt. Insbesondere die italienische Oper weist unmittelbar vor S. eine Reihe von Bearbeitungen des Stoffes auf (vgl. Reimann, Opern-Handbuch S. 21 und 642, auch 273). Im einzelnen ist für S. anzumerken, daß das antinationale Ränkespiel der Pfaffenpartei am Hofe des Königs Latinus, vielleicht „irgend einer politischen Rücksicht in St. Petersburg zuzuschreiben“ (Menzel), in Blumauer’s Travestirung der Aeneide und Schaller’s Fortsetzung dazu (1794) beinahe nachzuklingen scheint. Auch die trefflich gebaute Intrigantenfigur des Drances, des alten vertrauten Rathes – ein wahres Gegenbild zu Escalus in Shakespeare’s „Measure for measure“ – sieht wie eine Vorarbeit zu dem später so stark verfeinerten und differenzirten Typus der Marinelli, Wurm u. s. w. aus.

Die zweite dramatische Arbeit Seemann’s, bis jetzt nirgends verzeichnet und vollständig unbekannt, ist „Orpheus zu einem Sing-Spiele entworffen. Riga, [587] Bey Samuel Lorens Frölich. 1734.“ Das Werkchen lag mir als Nr. 1 eines „German plays“ benannten Sammelbandes des British Museum (11 747. b. 50. – D. 14 825) vor und umfaßt 8 unpaginirte Seiten Titel, Vorrede und Inhaltsangabe und 38 gezählte Seiten. Es ist „Der Hoch-Wohl-Gebohrnen Frauen Sophia Elisabetha von Völckersahm gebohrnen Baronin von Mengden meiner gnädigen Frau“ gewidmet. Das folgende kurze Geleitswort „An den Leser“ theilt u. a. mit, daß S. „dieses Stück geschrieben, wie mein Turnus gedruckt worden, um etwas im Vorraht zu haben, wenn mich Liebhaber der Poesie besuchen würden, denen die gedruckten Sachen schon bekannt“. Weiter bemerkt er, daß er, wegen seiner Begabung für Arien gelobt, Turnus und als er diesen „verlohr“ Orpheus gedichtet habe. Doch dürfe „niemand etwas Verborgenes in diesem Stücke suchen“. Turnus „mag vielleicht mit Zähnen geboren seyn, aber dieser gewiß nicht. Daß man aber Gewürtz zu den Speisen thut, wird vielleicht gelobet werden, weil wir sie heut zu Tage alle, nicht anders gemessen. Die das Handwerck verstehen, wissen auch (wenn sie wollen) wieviel erlaubt sey, die anderen müssen nicht vom Gemählde, sondern vom Schu reden. Der Censor für seine Person, protestirte damahls schrifftlich wieder den Turnum, die sämtliche Facultet [zu Marburg] aber vertheidigte ihn; und Herr Doctor Pritius Senior in Frankfurt am Mayn, ein berühmter Theologus und über dem sehr gelehrter Mann, wie ich denselben Ihm zusandte, antwortete mir dieses: Viro Clarissimo Eruditissimoque Salomoni Seemanno …“ Das Stück selbst, dem eine ziemlich genaue Inhaltsangabe vorausgeschickt ist, zerfällt in drei „Handlungen“ und erneuert die antike Fabel von Orpheus und Eurydice selbständig, in öfters stark romantisch angehauchter, oft aber auch realistisch ausmalender Sprache. Für ein näheres Urtheil wären die vielen ähnlichen Gestaltungen des Stoffes aus der kurz vorausliegenden Zeit (vgl. z. B. Riemann, Opern-Handbuch, S. 389 f. u. 737) daneben zu halten. Eine doppelte Liebesgeschichte ist eingeflochten, die, allerdings ganz und gar der in dem Turnus-Drama behandelten nachgebildet, nicht ungeschickt die von der antiken Sage offen gelassene Frage nach dem Anlasse von Eurydice’s Tod beantwortet. Manches ist gedanklich recht interessant, so S. 2 Aristaeus’ Worte: „Den Göttern würde wohl der Himmel wenig nützen Wenn sie um aller Menschen Thorheit Um jede Sünd um jede Kleinigkeit Stündlich solten im Gerichte sitzen.“ Bezüglich des äußeren Gewandes vergleiche man z. B. S. 3: „Die Drachen haben dich gezeuget Und Tieger-Brüste dich gesäuget. Es ist kein menschlich Hertz in dir! u. s. w.“ Der Rhythmus ist meists iambisch, in wechselnden Maßen. Einzelne dialogische Stellen handhaben den iambischen Fünffüßler mit bedeutender Kunst, doch ist anderwärts die metrische Form öfters arg zerflossen.

Das Orpheus-Bändchen bietet außer dem Singspiel noch S. 33–38 eine „Ecloga. Ueber das Absterben Ihro Kayserl. Hoheit der Hochseel. Hertzogin von Holstein. Anna Gebohrenen Kayserl. Printzeßin von Rußland etc. 1728“; die auftretenden Personen sind: Tristis, Lugens, Arbiter. Sie besitzt keinerle höhern Werth. Ferner steht auf S. 38 ein Dialog in Alexandrinern, „Die Dicht-Kunst und der Dichter“, wo S. selbst mit der Poesie hadert, die ihn auffordert „Auf! schreibe mir ein Stück, das nicht auf Steltzen gehet, Ein Stück, das überall auf festen Füßen stehet“, aber doch nicht über Qual und Kummer des Alltags hinwegführt. Das Gespräch ist sprachlich äußerst gewandt und zeigt eine für jene Zeit sehr hohe Meinung von der Stellung und Aufgabe des Dichters, am Ende wieder speichelleckerische Bettelei vor hohen Herrschaften (s. o.).

Will man in Zeit- und Ortsverhältnissen, die für ernsteres Bühnenschaffen gar wenig veranlagt und interessirt waren, nach äußeren Anlässen für Seemann’s Bethätigung suchen, so gedenke man, daß in Danzig, dem [588] alten Sitze der Schulkomödie, 1591 Ph. Waimers (s. d.) „Elisa“ (nach dem pseudoshakespeare’schen „Edward III.“) aufs Theater kam, die englischen Comödianten gastliche Aufnahme fanden, ja schon 1615 eine deutsche Truppe öffentlich spielte (G. Löschin, Gesch. d. Stadt Danzig, 1822, I 388), endlich der 1703 verstorbene Bürgermeister Georg eine lebhafte Theilnahme für dramatisches Schaffen bewies (s. Bolte i. Niederdtsch. Jhrb. 12, 131). Wieweit ihm seine litterarische Bildung unmittelbare Anregung bot, vermögen wir kaum zu verfolgen. Daß er zur Gelehrtenpoesie lebhafte Beziehungen unterhielt, belegt das in fließendem Latein abgefaßte Gedicht „Auff eine Vermählung“ (1723, einer Anna, vielleicht der Anna Petrowna, zweiter Tochter Peter’s d. Gr.). Seine Kenntniß von Motiven des älteren Schriftthums ergeben die homerische Schilderung von Auroras Aufsteigen (Turn. S. 8 f.), die internationale Aufforderung an die Sonne für Liebende länger zu weilen (Turn. S. 110; vgl. Orph. S. 12), die Uebertragung des „Um Städte werben“–Gleichnisses (vgl. Fränkel i. d. Ztschr. f. dtsch. Philol. XXII, 336) auf die Liebe (Turn. S. 11 und S. 152), „der Hahn im Korbe“ im Minneabenteuer (ebd. S. 176) u. a. Was ihm aber nicht bloß die ernstliche Aufmerksamkeit des Litterarhistorikers, sondern Berücksichtigung seitens jedes Poesiefreundes erwerben sollte, das sind sein Talent für dichterisches Ausmünzen wahren Gefühls, seine kunstreiche Pflege der Muttersprache, seine überzeugte Annahme des modernen „dramatischen Verses“ – und all das bethätigt mit schöner Bescheidenheit (die Manuscripte zu den ersten in Druck gelangten Dichtungen wurden ihm halb gewaltsam abgerungen) und in mancherlei traurigen Fährlichkeiten des Lebens. Aus diesen Gründen ward dem bislang wider Gebühr übergangenen S. hier eine etwas eingehendere Besprechung gewidmet. Auch heute gilt noch im wesentlichen W. Menzel’s Wort (1859), „daß dieses interessanten Dichters in den bisherigen deutschen Litteraturgeschichten noch gar nicht gedacht worden ist“.

Eine Lebensbeschreibung oder gar eine litterarische Würdigung des im 18. Jahrhundert völlig verschollenen S. giebt es nicht. Das Verdienst, zuerst auf ihn hingewiesen zu haben, gebührt Wolfgang Menzel, Gesch. d. dtschn. Dchtg. II (1859) S. 509–11, doch fand er in keinem verwandten Werke Nachfolge. Verzeichnet ist S. noch in E. M. Oettinger’s Moniteur des Dates V (1868) S. 49, dessen Angaben wohl nur auf Menzel fußen. Somit ist man lediglich auf die beiläufigen Mittheilungen des Herausgebers der Seemann’schen Dichtungen von 1729 und seine dürftigen eigenen bloß gelegentlichen Angaben und Anspielungen angewiesen. Die Notizen über den Gymnasialbesuch verdanke ich Herrn Gymnasialdirector Professor Dr. O. Carnuth in Danzig; des Herrn Archidiakonus Aug. Bertling ebenda gütige Hinweise führten zu keinem Fund. Die allgemeinen Gelehrten-Lexika nennen ihn nicht. Da ihn Menzel „als der Prototyp jener Deutschrussen, die mit deutscher Bildung slavische Gewandtheit verbinden und insbesondere die Sprache mit Leichtigkeit handhaben“, bezeichnet, so befragte ich beispielshalber das ausführliche Schriftsteller- und Gelehrtenlexikon der Provinzen Liv-, Est- und Kurland von Recke und Napiersky (Mitau 1831) nebst dessen Supplement, aber ebenso ohne Erfolg wie die historischen Quellenwerke: Herrmann, Geschichte des russischen Staates; Bernhardi, Geschichte Rußlands; Guerrier, Die Kronprinzessin Charlotte von Rußland (Bonn 1875); A. Brückner, der Zarewitsch Alexei (Heidelb. 1880).

Was das Bibliographische anlangt, so bietet Goedeke’s Grundriß2 (dessen 1. Ausgabe S. noch nicht aufführt) III S. 354 den Titel von Turnus richtig wie folgt: „Hn. Salomon Seemanns [daher in Goedekes Register falsch ‚Seemanns‘] jetziger Kayserl. Majest. von Rußland gewesenen Praeceptoris, Turnus und andere Teutsche Gedichte, welche mit einer Vorrede ans Licht stellet [589] M. Jacob Friedrich Baader, H. B. H. V. S. Marburg MDCCXXIX. In Verlegung Philipp Casimir Müller, Universitäts-Buchdr. und Händler“ (Kl. 8. 12 (unpaginierte) S. Vorrede und 202 Seiten). Abweichend hatte W. Heinsius’ Allgem. Bücher-Lexikon III 1812) S. 696 aufgeführt: „Seemann, Sal., Turnus und andere deutsche Gedichte. 8. Marb. Keßler. (1) 729“, sichtlich nicht nach Augenschein. Verglichen habe ich die Exemplare aus der Bibliothek der Deutschen Gesellschaft zu Leipzig, der Großherzogl. zu Weimar, der Königl. Oeffentl. zu Stuttgart, der Universitätsbibliothek zu Göttingen. Für Orpheus ist mir nur das des Londoner British Museum bekannt.