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ADB:Stephan, Heinrich von

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Artikel „Stephan, Heinrich (v.)“ von Hermann von Petersdorff in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 54 (1908), S. 477–501, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Stephan,_Heinrich_von&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 16:29 Uhr UTC)
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Stephan: Ernst Heinrich Wilhelm (v.) St., der geniale Organisator des deutschen Postwesens und Begründer des Weltpostvereins, wurde am 7. Januar 1831 zu Stolp in Hinterpommern, Holzenthorstraße (Nr. 31), als Sohn evangelischer Eltern geboren. Am 3. Februar wurde er in der elterlichen Wohnung getauft. Sein Vater Ernst Friedrich St., der damals das Schneiderhandwerk betrieb, war ein geistig angeregter Mann, wie sich schon daraus schließen läßt, daß ihm von seinen Mitbürgern verschiedene Ehrenämter in der Schul- und Kirchenverwaltung übertragen wurden. Zuletzt wurde er Rathsherr der Stadt Stolp. Heinrich St. genoß von seinem vierten Jahre an [478] beim Vater Unterricht. Wenn man der Angabe seines ersten Biographen trauen darf, fand er schon während seiner Kindheit Gelegenheit, in Privatstunden fremde Sprachen, so Italienisch, Spanisch und Englisch zu erlernen. Daneben eignete er sich humanistische Bildung an, indem der Vater sich entschloß, den reichbegabten Knaben auf die Rathsschule zu Stolp zu schicken, die früher ein berühmtes Lyceum gewesen war, damals allerdings nur noch die Stellung einer höheren Bürgerschule einnahm, auf der aber immerhin ein guter Unterricht im Latein und Französischen und nebenher auch im Griechischen ertheilt wurde. Dieses Bestreben des Schneidermeisters, seinem Sohn eine tüchtige Bildung zu theil werden zu lassen, verdient um so mehr Anerkennung, als die Familie recht zahlreich war. War doch Heinrich das siebente von zehn Kindern. Neben der Ausbildung des großen Sprachtalentes, das Heinrich entwickelte, ließ der Vater es sich auch angelegen sein, dessen Sinn für Musik zu entwickeln. Früh lernte Heinrich St. die Geige spielen. Der Sohn hat es dem Vater unendlichen Dank gewußt, daß er sich solche Mühe um seine Erziehung gab. Davon legt insbesondere die Widmung auf seiner ersten größeren Schrift, der Geschichte der preußischen Post, Zeugniß ab. Im Hause des Schneidermeisters St. herrschte ein frommer, gottesfürchtiger Sinn. Auf der Werkstatt lag die Bibel. Jeden Abend mußten die Kinder daraus ein Capitel vorlesen. Wie Bismarck, so hat sich auch St. durch seine Bibelfestigkeit ausgezeichnet. Nicht zum mindesten wird er sie sich durch jenes im Elternhause geübte Bibellesen angeeignet haben. Er selbst hat oft gesagt, daß das beste ihm von seinem Vater überkommene Erbtheil das Gottvertrauen sei. Die Mutter, Luise geborene Döring, scheint eine durch ihren wirthschaftlichen und ordnenden Sinn ausgezeichnete Frau gewesen zu sein. Auch elterliche Strenge hat der Knabe empfunden. Auf der Schule trat Heinrich sowohl durch gute Leistungen wie durch Lebhaftigkeit des Geistes hervor. Als ihn einer seiner Lehrer einst zurechtwies, weil er sich mit Mitschülern geprügelt hatte, da erklärte der kleine Naseweis dem strafenden Pädagogen, er habe doch an demselben Morgen erst ausgeführt: vivere est militare. In jenem Augenblick ging jenem Lehrer die Ahnung auf, daß in dem Schneidersohn etwas Ungewöhnliches stecke. Da St. in diesen Jahren etwas klein und schmächtig war, so ließ er es sich angelegen sein, eifrig körperlichen Sport zu treiben. Vor allem turnte und schwamm er. Im Alter von 16 Jahren rettete er einen Mitschüler vor dem Ertrinken. Im Laufe der Zeit erwarb er sich eine stählerne Natur. Da es mit dem väterlichen Auskommen natürlich nur knapp bestellt war, so erwarb er sich durch Nachhülfestunden in Mathematik, Latein und Französisch ein kleines Taschengeld. Von seinen Lehrern übte der Mathematiker und Naturwissenschaftler Berndt einen besonders anregenden Einfluß auf ihn aus. Anderthalb Jahre stritt er sich mit einem seiner Mitschüler um den Platz des primus omnium. Kurz vor Vollendung seines 17. Jahres bestand er zu Ausgang des Jahres 1847 die Abgangesprüfung mit „vorzüglich“. Es ist wohl gesagt worden, daß St. wegen der Mittellosigkeit des Vaters nicht habe studiren können. Das mag zutreffen. Zunächst berechtigte ihn aber auch seine ganze Schulbildung gar nicht zum Ergreifen eines akademischen Berufs. Denn die Stolper Rathsschule entsprach ja nicht einem Gymnasium, sondern etwa nur einem Progymnasium. Es ist festzustellen, daß St. nicht die volle Gymnasialbildung genossen hat. Nach Absolvirung der Rathsschule entschied er sich sofort für die Wahl eines Berufes, und zwar wählte er das Postfach.

Noch hatte er nicht das vorschriftsmäßige Alter, um als Schreiber bei der Post angenommen werden zu können. Er setzte daher das Nachhülfestundengeben [479] fort und freundete sich zugleich mit einem Buchhändler an, durch den er Gelegenheit erhielt, seinem ungewöhnlichen Lesetriebe nachzugehen. „Die ersten und einzigen Schulden, die ich im Leben gemacht habe, standen im Buche des Sortimenters meiner Vaterstadt,“ hat der Generalpostmeister später bekannt. Am 20. Februar 1848, also kurz vor der Märzrevolution, erfolgte seine Einstellung als Postschreiber in Stolp. Es ist nicht überliefert, ob sein junges Gemüth von der politischen Bewegung jener Tage berührt wurde. Die Stadt Stolp wurde es bekanntlich sehr. Wühlten dort doch damals Lothar Bucher und andere die demokratischen Leidenschaften der Bevölkerung auf. Stephan’s Vater stand im königstreuen Lager und war sogar einer der Wortführer der conservativen Partei, wie aus einem von ihm mitunterzeichneten Aufruf an die wohlgesinnten Bürger Stolps vom 7. Juni 1849 hervorgeht. Nach anderthalb Jahren Dienstes in seiner Vaterstadt, am 30. September 1849, wurde St. nach Marienburg versetzt. Hier machte das Deutschordensschloß einen tiefen Eindruck auf den nachmaligen kunstsinnigen Schöpfer zahlreicher monumentaler Postbauten. Wie St. am Abend seines Lebens im Reichstage erzählte, hat die Begeisterung dafür den Schriftsteller in ihm geweckt. Seine erste litterarische Arbeit war der „nordischen Alhambra“ gewidmet. Nach kaum einem Jahre, am 30. August 1850, wurde er wieder versetzt, und zwar an die Oberpostdirection in Danzig. Dort unterzog er sich am 21. September 1850 der Postassistentenprüfung, die dem späteren Secretärexamen entsprach, und bestand sie mit „besonderer Auszeichnung“. Damals erregte er zuerst das Aufsehen seiner Vorgesetzten durch seine Sprachkenntnisse. Die Prüfungscommission war einigermaßen verlegen, als der junge Postschreiber, dem es überlassen war, die Sprachen zu bezeichnen, in denen er geprüft sein wollte, Spanisch und Italienisch angab. Gleich nach seiner Prüfung verließ er Danzig wieder, um in Magdeburg bei der Artillerie sein Jahr abzudienen. Nach beendigter Dienstzeit wurde er im September 1851 aushülfsweise am Rechnungsbureau des Generalpostamtes in Berlin beschäftigt. Er ließ sich sofort seine Bücher aus Stolp kommen, seinen „größten Schatz“, wie er seinem Vater schrieb, doch schon am 6. November wurde er nach Köln versetzt. Seine Bücher folgten ihm nun dahin nach. Er begann sich jetzt mit Feuereifer in geschichtliche, philosophische und staatswissenschaftliche Lectüre zu versenken. Die Marienburger schriftstellerischen Versuche wurden wieder aufgenommen. Für „eine der gelesensten Zeitungen“, welche, ist noch nicht bekannt geworden und wäre werth festgestellt zu werden – vermuthlich war es die „Kölnische Zeitung“ – lieferte er Theater- und Musikreferate, die „Aufsehen erregten“. Er selbst hat noch nach langen Jahren wohlgefällig erzählt: „Einige meiner Aufsätze in den Blättern blieben nicht unbemerkt, und wenn man hier und da fragte, was ist dieser junge Mann? dann lautete die Antwort auf gut Kölnisch: „He schrif am Pohß“. Diese Nebenbeschäftigungen brachten ihn einigermaßen in Zwiespalt mit seinem Dienst, dessen Bewältigung nicht leicht war. Aber der junge Mann suchte der sich ihm entgegenstellenden Schwierigkeiten Herr zu werden. Nicht ganz mit Erfolg, wie einer seiner den Eltern erstatteten Berichte lehrt, in dem es heißt: „Ich habe mir, weil ich beim Nachtarbeiten (zu privaten Studien) manchmal die Füße in kaltes Wasser setzte, eine große Erkältung zugezogen, infolge deren mir die Schleimhaut auf der Brust und im Halse gerissen ist“. Der Kölner Dienst war im übrigen ungemein lehrreich für ihn. Er war dort, außer dem Stadtpostamt, auch noch auf der Bahnpost zwischen Verviers und Köln und bei der Oberpostdirection beschäftigt und lernte in der verkehrsreichen Stadt alle Zweige eines großen Postbetriebes, vornehmlich aber den Auslandsverkehr mit seinen verwickelten Taxberechnungen [480] und kleinlichen Vorschriften aus dem Grunde kennen. Hier schärfte sich sein für die Organisation geschaffener, auf Vereinfachung und Vereinheitlichung gerichteten Geist. Hier begann es ihm klar zu werden, daß das überkommene Postwesen einer umfassenden Reform benöthige, wenn der Verkehr nicht dauernd auf das lästigste gehemmt werden sollte. Wie er selbst hervorgehoben hat, suchte man damals durch mehr als ein halbes Tausend verschiedener Postverträge mit Tausenden von Tarifsätzen, die zu fassen das „Gehirn eines Megatherion“ erheischte, den Verkehr zu regeln, schuf aber nur einen „kosmischen Nebel am Posthorizont“. Zu Zeiten mag ihm dieser verwickelte Dienst wohl öde vorgekommen sein, so daß er ihn über seinen Liebhabereien vernachlässigte. Das brachte ihm Rügen ein. Auch eine gewisse burschikose Art im Verkehr fiel zuweilen unliebsam an ihm auf. Als er im J. 1855 nach vierjährigem Aufenthalte wieder von Köln versetzt wurde, da konnte es sich einer seiner Vorgesetzten, der im Einerlei des geisttötenden Bureaudienstes die Begabung seines Untergebenen für das Postfach nicht erkannt hatte, aber doch so etwas von dem Funken des Genius in St. verspürt haben mochte, nicht versagen, ihm den wohlgemeinten Rath zu ertheilen, sich bei der „Kölnischen Zeitung“ anstellen zu lassen: „Da können Sie noch einmal reicher werden, als der Oppenheim“. Es bereitete dem Generalpostmeister später ein eigenes Vergnügen, den inzwischen ergrauten Anhänger des heiligen Bureaukratius an jenes Wort zu erinnern. Noch in Köln bestand St. am 13. Januar 1855 die Prüfung für die höhere Postlaufbahn mit Auszeichnung. Damals gewann der junge Assistent auch Herz und Hand einer ungarischen Sängerin, Anna Tomala (geboren am 18. October 1834), die er in Frankfurt a. M. kennen lernte und im J. 1855 ehelichte.

Nachdem er am 2. Februar 1855 zum Postsecretär ernannt war, kam er am 1. Mai 1855 nach Frankfurt a. O. und versah dort bei der Oberpostdirection die Stelle eines Postkassencontrolleurs. Schon am 13. Januar 1856 berief ihn der Generalpostmeister Schmückert, wie St. ein Pommer, der den jungen Assistenten auf einer Dienstreise in Köln kennen gelernt hatte, in das Generalpostamt nach Berlin. Er befriedigte damit einen dringenden Wunsch Stephan’s. Die vielfach und in verschiedenen Fassungen in Umlauf gesetzte artige Geschichte, daß St., von Schmückert anfangs abgewiesen, dessen Aufmerksamkeit durch die ritterliche und gewandte Art, mit der er vermöge seiner Sprachkenntnisse auf der Straße einer mit einem Kutscher verhandelnden Ausländerin aus der Verlegenheit half, auf sich gelenkt habe, wird in das Reich der Fabel zu verweisen sein und kann als ein Wellenschlag des Eindrucks, den Stephan’s ungewöhnliches, in seinen Fachkreisen damals aber längst bekanntes Sprachtalent hervorgerufen hatte, angesehen werden. St. würde überhaupt bei seinen Bewerbungen um die Versetzung nach Berlin, wenn es noch nöthig gewesen wäre, von selbst den Generalpostmeister auf seine Sprachkenntnisse hingewiesen haben. Das Geschichtchen ist ein Zeichen der Volksthümlichkeit Stephan’s. Denn nur der populärsten Figuren bemächtigt sich schon bei Lebzeiten die Sage. Schmückert beschäftigte St. zunächst commissarisch. Doch schon am 1. Mai 1856 ernannte er ihn zum Geheimen expedirenden Secretär. Er schenkte ihm in immer wachsendem Maße sein Vertrauen. Bald beauftragte er ihn mit der Ausarbeitung eines neuen Fahrposttarifs für den Paketverkehr innerhalb des Gebiets des deutsch-österreichischen Postvereins. Dieser Tarif wurde bereits auf der Münchener Postconferenz im J. 1857 von den betheiligten Ländern angenommen. Außerdem verfaßte er eine Instruction für das Abrechnungswesen, die im wesentlichen noch nach Jahrzehnten Geltung besaß. Daneben fand sein ungewöhnlicher Schaffenstrieb Gelegenheit, sich [481] wissenschaftlich zu bethätigen. Damals erschien (im Postamtsblatt für 1858) seine erste fachwissenschaftliche Arbeit, sehr bezeichnender Weise eine Besprechung des Werkchens des belgischen Postdirectors Bronne „Ueber die britische Portoreform von 1840“. Schon nach zweijährigem Aufenthalte in Berlin vollendete er sodann ein auf gründlichem Studium der einschlägigen Litteratur und vor allem des Actenmaterials im Generalpostamt beruhendes umfangreiches Werk (es war mehr als 800 Seiten stark) über die „Geschichte der preußischen Post von ihrem Ursprunge bis auf die Gegenwart“. Es erschien 1859 bei R. Decker in Berlin. Sein modern gerichteter Geist tritt darin deutlich hervor. Er ist der geborene Culturhistoriker. Mit einer gewissen Animosität wendet er sich gegen die politische Geschichtschreibung. Schmoller’schen Ideen vorauseilend, bezeichnet er es als wünschenswerth, daß eine allgemeine Geschichte der preußischen Verwaltung erscheine. „Man muß nur die Mühe nicht scheuen und nicht gleich des ‚trockenen Tones satt‘ sein wollen.“ Mit feinsinnigem und zugleich prophetischem Blicke legte er die einigende Wirkung des Verkehrswesens klar. „Ein zweihundert Meilen langer ununterbrochener Postenweg umschlang als erstes sichtbares Band der Einheit die kurfürstlichen Staaten,“ urtheilte er über den vom Großen Kurfürsten im J. 1654 mit Danzig geschlossenen Postvertrag. Er hebt hervor, daß derselbe Kurfürst der erste deutsche Reichsfürst gewesen sei, welcher seine Territorialposten „nach heutiger Weise“ eingerichtet habe. Auch der Organisationssinn Friedrich Wilhelm’s I. machte ihm Freude. Jubelnd grub er einzelne der lapidaren Sätze dieses Königs aus, die er immer wieder zu citiren pflegte: „Ich will haben ein landt, das kultiviret sein soll, höret Post dazu“. „Die Post ist das Oehl vor die gantze Staatsmaschiene“. Selbst Luther’s Schriften boten ihm Material zu seinem Werke. Er führt von ihm den Satz an: „Kein größerer Brieffälscher ist auf Erden, denn wer einen frembden Brief zu eigen machet“, und verzeichnet, daß Luther die Verletzung des Briefgeheimnisses geradezu als Todsünde gebrandmarkt habe. Mit Genugthuung stellt er fest, daß die preußische Post fast die einzige von allen ähnlichen Anstalten Europas war, welche ununterbrochen durch den Staat betrieben und verwaltet wurde. Es ist merkwürdig, daß dieses bedeutende Werk Stephan’s, das noch in keiner Weise überholt worden ist, in einem halben Jahrhundert nicht eine neue Auflage erfahren hat. Zwar ist seine Disponirung etwas schwerfällig. Der junge Forscher war der Stoffmassen in der kurzen Spanne Zeit doch nicht vollkommen Herr geworden. Aber man sollte meinen, daß in der weiten Organisation der deutschen Post dieses hervorragendste Werk ihres weltberühmten Chefs im Laufe der Jahrzehnte mehr Käufer gefunden haben müßte.

Als das Buch herauskam, war der 27jährige Verfasser am 14. August 1858 bereits zum Postrath ernannt worden. Zur selben Zeit kam er an die Oberpostdirection in Potsdam. Damals etwa verfaßte er auch seinen „Leitfaden für die schriftlichen Arbeiten im Postwesen“, den späteren „kleinen Stephan“, der im J. 1863 unter dem Titel „Anleitung zur Anfertigung der Berichte, Verhandlungen und Schreiben etc., ein Leitfaden für jüngere Postbeamte (Telegraphen-Beamte)“ in Berlin bei Decker im Druck erschien und 1880 eine zweite Auflage erlebte. In Potsdam schloß er sich dem Freimaurerorden an, indem er im October 1858 in die Loge „Teutonia“ eintrat. Er soll ein eifriges Mitglied des Ordens gewesen sein. Am 27. Juni 1859 wurde er nach Berlin zurückversetzt und dort mit der Neubearbeitung der Dienstanweisung beschäftigt. Bald darauf, am 8. März 1860, verlor er seinen Vater. Zwei Jahre später raubte ihm der Tod seinen väterlichen Gönner Schmückert, der [482] die großen Gaben Stephan’s vollauf erkannt hatte. Als Schmückert auf dem Sterbebette lag, ließ er St. zu sich rufen und sprach lange mit ihm. „Er hat mich wie einen Sohn geliebt,“ rief ihm St. nach, „ich war der letzte Postbeamte, den er sprach“. In derselben Zeit, wo er diesen Gönner verlor, starb seine Gattin. Sie hinterließ ihm einen Sohn, der die juristische Laufbahn einschlug. Etwa nach Jahresfrist, am 24. October 1863, schloß er einen neuen Lebensbund, indem er sich mit einer Tochter des Oberpostdirectors Balde vermählte. Sie schenkte ihm im Laufe der Jahre drei Kinder, einen Sohn und zwei Töchter.

In demselben Jahre, in dem er sich zum zweiten Male verheirathete, zum Oberpostrath befördert, erhielt er nunmehr im Generalpostamt das Fach zuertheilt, das den größten Reiz auf ihn ausübte: die Bearbeitung der Postverbindungen mit dem Auslande. Die Zeit stellte ihn bald vor große Aufgaben. Der Krieg von 1864 veranlaßte es, daß ihm die Ueberführung des schleswig-holsteinschen Postwesens in die Landespostanstalt, eine höchst verwickelte Arbeit, aufgetragen wurde. Sie beschäftigte ihn mehr als zwei Jahre. Noch war dieses Werk nicht zu Ende geführt, da trat an ihn, der inzwischen (1865) zum Geheimen Postrath und vortragenden Rath für die postalischen Verhältnisse ernannt worden war, eine Aufgabe heran, deren Lösung seinen Ruf begründete: die Beseitigung des Thurn- und Taxis’schen Postwesens. Schon zwei Mal war sie vergebens angestrebt worden. Im J. 1866 führte Preußens Krieg gegen Oesterreich die entscheidende Stunde herbei. Kaum je konnte ein veraltetes Gebilde reifer für den Untergang erscheinen als dies alte Reichslehn. Immerhin erforderte die Wegräumung des weitmaschigen Organismus eine ganz ungewöhnliche Kraft, und als eine solche erwies sich St. Was ein langjähriger Freund und Mitarbeiter Stephan’s von diesem gesagt hat: „Wie dem Riesen in der griechischen Göttersage wuchsen ihm, wenn es darauf ankam, Schwierigkeiten zu überwinden, hundert Hände, alle entschlossen zugreifend und alle zielbewußt“, das zeigte sich hier zum ersten Male so recht vor Aller Augen. Es war staunenswürdig, wie er seine Kräfte anzuspannen wußte, wenn es galt. Je mehr und je Schwereres es zu thun gab, um so freudiger war er dabei. Was er später als seinen Wahlspruch bezeichnete:

Ziel erkannt, Kraft gespannt,
Pflicht gethan, Herz obenan

veranschaulicht den ganzen Mann. Als die Ereignisse in Fluß kamen, schrieb St. eine Denkschrift über die Nothwendigkeit der Ueberführung der Turn- und Taxis’schen Post in die preußische Postverwaltung. Daraufhin faßte der Handelsminister Graf Itzenplitz, zu dessen Ressort das Postwesen damals gehörte, St. für die Regelung der Frage ins Auge. Auf die Nachricht von der Besetzung Frankfurts verfügte er am 18. Juli 1866 die Entsendung des sachkundigen Beamten dahin. In Frankfurt eingetroffen, erwirkte sich St. von dem Oberbefehlshaber der Main-Armee, dem General Edwin v. Manteuffel, einen „Befehl“, der ihm die Uebernahme der Oberleitung der fürstlichen Postverwaltung auftrug, und begann darauf am 21. Juli das Werk, indem er sich vertraulich mit dem Taxis’schen Generalpostdirector Freiherrn v. Schele über die zu treffenden Maßnahmen verständigte. Schele hielt es für gerathen, auf seinen Posten zu verzichten, stellte sich aber St. zur Verfügung. Dieser ließ sämmtliche Beamte einen Revers unterschreiben, durch den sie sich der siegreichen Macht unterstellten und trat unter Vermittlung Schele’s in Verbindung mit dem Fürsten von Thurn und Taxis. Der Fürst entsandte den Chef der fürstlichen Gesammtverwaltung Grafen v. Dörnberg zur Verhandlung mit St. nach Würzburg. Man besprach dort (am 12. August) sofort die Entschädigungsfrage. [483] Der Vertreter des Fürsten legte den Reinertrag des letzten Jahres seiner Berechnung zu Grunde und verlangte 10¼ Millionen Thaler, St. wollte nur den Durchschnitt der letzten fünf Jahre und demgemäß 4 Millionen Thaler bewilligen. Trotz dieser Differenz konnte Dörnberg nicht umhin, den „freien und staatsmännischen Takt und das conciliante Wesen“ Stephan’s zu rühmen. Die preußische Verwaltung zog nun, anstatt St. freie Hand zu geben, die Verhandlungen dadurch in die Länge, daß ein Assessor mit der Prüfung der rechtlichen Frage betraut wurde, dem St. unendlich in der Behandlung der Dinge überlegen war. Durch Stephan’s rasches und energisches Eingreifen waren die im übrigen vortrefflich geführten Geschäftsbücher der Taxis’schen Verwaltung in preußische Hände gelangt, sodaß die bis dahin ängstlich verheimlichten Erträge genau festgestellt werden konnten. Schließlich wurde die Frage in Conferenzen zu Berlin erledigt, bei denen Stephan’s Entwürfe zu Grunde gelegt wurden und in denen St. die thatsächliche Führung der Berathung übernahm. Am 28. Januar 1867 wurde der Vertrag unterzeichnet, nach dem die Thurn- und Taxis’sche Post am 1. Juli 1867 von Preußen übernommen werden sollte. Als Entschädigungssumme war gegen Stephan’s Wunsch unter dem Drucke Bismarck’s der Durchschnitt der letzten zehn Jahre, drei Millionen Thaler, eine Million weniger, als der Fürst von Taxis zuletzt verlangt hatte, festgesetzt. Im Anschluß an jene Berliner Conferenzen ging St. im März des Jahres als preußischer Commissar zur Verhandlung mit den an der Taxis’schen Verwaltung betheiligten Kleinstaaten ab, zunächst nach Weimar, von dort nach Sondershausen, Meiningen, Gotha und kam dort überall nach mehr oder minder langen Berathungen zum Schluß. Gleichartige Verträge schloß er mit Schwarzburg-Rudolstadt, den beiden Reuß und den beiden Lippe. Nur zu oft erwuchsen dabei die weitläufigsten Schwierigkeiten. Aber St. wußte die Vertreter der Einzelstaaten sämmtlich zu behandeln. Verstanden jene doch auch großentheils blutwenig von den Dingen. Händeringend schrieb der Vertreter des Herzogs Ernst von Coburg-Gotha, Samwer, nach gethaner Arbeit: „Es ist mir, als ob 10 000 Postwagen in meinem Kopfe herumführen“. Aber auch mit der eigenen Regierung hatte St. Schwierigketten. Der Nachfolger Schmückert’s, Philipsborn, und sämmtliche Geheimen Posträthe im Generalpostamt machten geschlossen gegen eine der wichtigsten Festsetzungen in dem Vertrage mit Weimar Front. Sie vertraten dabei einen rein fiskalischen Standpunkt. Diesmal aber stellte sich der Minister Graf Itzenplitz auf Stephan’s Seite und verhalf dadurch dessen Ansicht zum Siege. Schließlich blieb nur noch das Großherzogthum Hessen übrig, mit dem lange vergebliche Verhandlungen gepflogen wurden. Es kam sogar zum Abbruch der Conferenzen mit diesem, weil St. seinem Staate, wie schon vorher bei den Verhandlungen mit den Taxis’schen Vertretern, nichts bieten ließ. Erst am 19. Juli 1867 entschloß sich auch Hessen zum Einlenken. Nun galt es mit den Mißbräuchen in der Taxis’schen Verwaltung selbst aufzuräumen. Zunächst wurde das Portofreithum, das sämmtliche Postbeamten, einschließlich der Posthalter, genossen hatten, aufgehoben. St. constatirte selbst den colossalen Unfug, den diese Vergünstigung zur Folge gehabt hatte, indem er einige Tage persönlich diese Sendungen bei ihrem Eingang in Frankfurt controllirte. Aber seine ganze Art des Auftretens hatte ihm doch die Herzen der Taxis’schen Beamten gewonnen. Am 30. Juni 1867 bereiteten sie ihm eine große Abschiedsfeier, bei der ihm ein silberner, aus hanauscher Kunstwerkstätte hervorgegangener Becher überreicht wurde. St. hielt dabei eine seiner stimmungsvollsten Reden.

[484] Durch das Werk der Beseitigung des Thurn- und Taxis’schen Postwesens wurde die Zahl der deutschen Landespostverwaltungen mit einem Schlage um zehn vermindert. Vielleicht der größeste Zopf, den das deutsche Staatsleben noch kannte, lag nun Dank Stephan zerschnitten am Boden. Nun bestanden außer Preußen in Norddeutschland nur noch sechs Landesposten. Aber St. zweifelte nicht daran, daß auch diese bald der Auflösung verfallen würden, „inmitten eines Fluidums, das die benachbarten nahezu aufgelöst hatte“. Schon im October 1866 hatte er seinem Minister aus Frankfurt geschrieben: „Bei unerschütterlicher Energie bekommen wir in ganz Norddeutschland ein preußisches Postwesen. Dies ist mein Glaubensartikel.“ Stolzen Herzens schrieb er nach vollbrachter That am 30. Juni 1867 an seine Mutter: „Mein großes Werk ist mit Gottes Hülfe fertig. Als ich den Vertrag unterzeichnete, der diesen 350 Jahre alten Krebsschaden Deutschlands beseitigte und meinen Namen ‚Heinrich Stephan‘ schrieb, dachte ich an unseren theuren unvergeßlichen Todten.“

Ihm lag es nun ob, 502 Postanstalten und 3100 Taxis’sche Beamte in den Mechanismus der preußischen Postverwaltung einzufügen, was mit großer Schnelligkeit geschah. Noch fast drei Jahrzehnte später erlebte er gewissermaßen ein Nachspiel zu jener geschichtlichen Umwälzung, als 1895 das Frankfurter Reichspostgebäude in preußischen Besitz überging. Nach der Verschmelzung der Taxis’schen Post mit der preußischen wurde das gesammte Gebiet des Norddeutschen Bundes unter einheitliche Post- und Telegraphenverwaltung gesetzt. Das preußische Generalpostamt wurde Generalpostamt des Norddeutschen Bundes und das ganze Postwesen des Norddeutschen Postbezirkes dem Bundeskanzler unterstellt. In dieser Zeit, insbesondere bei Abfassung des Gesetzes über das Postwesen des Norddeutschen Bundes vom 2. November 1867, das am 1. Januar 1868 für den größten Theil des Bundes in Kraft trat, gewann St. nähere Fühlung mit Bismarck. Gemeinsam mit diesem gelang es ihm, in Anlehnung an das in England von Rowland Hill seit 1840 eingeführte Pennyportosystem, auch in Norddeutschland den Groschentarif zur Durchführung zu bringen, für den schon lange gestritten war. Er erwies sich hierbei als einen besonnenen Realpolitiker. Denn im Gegensatz zu der überstürzten Einführung des Pennysystems in England, das 33 Jahre hindurch finanzielle Einbußen verursachte, bis 1874 die Einnahmen von 1839 endlich wieder eingeholt wurden, gab es bei dem Groschentarif nur in den nächsten zwei Jahren einen kleinen Ausfall in den Einnahmen. Seit 1870 aber steigerten sich diese wieder.

Seitdem St. die Bearbeitung der Postverbindungen mit dem Auslande unter sich hatte, entfaltete er eine unermüdliche Thätigkeit zur Regelung der Postverhältnisse mit den fremden Staaten. Bereits 1863 ging er nach Madrid, dann nach Lissabon. Dann schloß er mit Belgien, den Niederlanden und Dänemark Verträge ab, 1868 mit Norwegen, der Schweiz, wieder mit Belgien, dann mit Rumänien, abermals mit den Niederlanden und Dänemark, dann mit Italien, 1869 mit Schweden, 1870 mit Großbritannien. Bei diesen Verhandlungen reifte in ihm der Plan zur Gründung eines Weltpostvereins. Er brachte ihn im November 1868 in einer Denkschrift zu Papier. An sich war der Gedanke sehr alt. Bereits 1811 hatte ihn Klüber in einer Schrift über das deutsche Postwesen ausgesprochen. Seiner Verwirklichung stellten sich aber gewaltige Hindernisse entgegen, da die Transiteinnahmen der Einzelstaaten durch eine Erleichterung des internationalen Verkehrs Einbuße erleiden mußten. Aber seit dem Jahre 1862 trat man der Ausführung des Gedankens näher, dazu angeregt durch die Bundesregierung der Vereinigten Staaten in Amerika. [485] Den Anstoß hatte die Denkschrift des nordamerikanischen Postmeisters Blair gegeben. Im Mai 1863 trat in Paris eine internationale Conferenz zusammen, die über eine einheitliche Gewichtsstufe und Gewichtsprogression und Regelung des gesammten Transits nach einheitlichen Gesichtspunkten beriet. Man kam jedoch zu keinem Ergebnisse. Ein am 21. October 1867 zwischen der Postverwaltung des Norddeutschen Bundes und derjenigen der Vereinigten Staaten von Amerika abgeschlossener Postvertrag, den St. vermittelte, und der eine Ermäßigung des Portos nach Amerika herbeiführte, wurde nun, nach Stephan’s Ausdruck, der „Gährungserreger“ im internationalen Postverkehr, weil diese Ermäßigung auch anderweitig eine herabdrückende Wirkung ausüben mußte. Im Anschluß daran schrieb nun St. seine epochemachende Denkschrift über einen allgemeinen Postverein, in der er mäßige Einheitstaxe, Transitfreiheit und Portovertheilung nach dem Princip, daß jeder Staat das eingegangene Porto für sich behalten sollte, verlangte. Vorerst sollten der Verkehrsgemeinschaft nur die europäischen Staaten nebst Russisch-Asien, der asiatischen Türkei, Aegypten, Algier, den Kanarischen Inseln und Madeira, sowie die Vereinigten Staaten von Amerika, Kanada und die sonstigen britischen Besitzungen in Nordamerika sowie Grönland angehören. Es war wohl in dieser Denkschrift, in der St. das Wort niederschrieb: „Der Verkehr ist eine Kraft des menschlichen Geistes, wie die Wärme eine Kraft der Natur; die Kräfte aber erkennt man an ihren Wirkungen“. Sein Plan zündete in Deutschland. Bismarck griff sofort Stephan’s Vorschlag zur Einberufung eines Postcongresses auf und leitete zunächst (1869) diplomatische Verhandlungen mit Frankreich als dem am Transitverkehr am meisten betheiligten Staate ein. Noch am 6. Juni 1870 wurde der Botschafter in Paris, Freiherr v. Werther, angewiesen, auf jenen Vorschlag der Postconferenz zurückzukommen. St. hat dies als einen Beweis dafür angeführt, wie ahnungslos man in Deutschland der drohenden Kriegsgefahr gegenüberstand. Frankreich lehnte freilich ab wegen der zu befürchtenden Einbuße an Einnahmen. Die Ausführung der großen Idee mußte daher einstweilen wieder vertagt werden.

In diesem Augenblick, gleichsam an der Schwelle vor dem Eintritt in seinen größten Lebensabschnitt stehend, verlor St. (am 27. November 1869) seine greise Mutter.

Neben der amtlichen Thätigkeit fand er immer noch die Muße zu wissenschaftlichen Arbeiten. So lieferte er für den 11. Band der 3. Auflage von Rotteck und Welcker’s Staatslexikon, das Leipzig 1864 erschien, den Artikel „Postwesen“, im 14. Bande desselben Werkes (1865) den Artikel „Telegraphenwesen“. Der Gedanke der universellen Regelung der internationalen Postbeziehungen klingt in diesen Arbeiten schon an. In den Jahren 1868 und 1869 erschienen sodann aus seiner Feder im 9. und 10. Jahrgange der 4. Folge von Raumer’s historischem Taschenbuch die umfangreichen Abhandlungen „Das Verkehrsleben im Alterthum“ (a. a. O. S. 1–136) und „Das Verkehrsleben im Mittelalter“ (a. a. O. S. 279–438), die wieder einen staunenswerthen Beweis von seiner Arbeitskraft, seiner reichen Bildung und von großer methodischer Begabung lieferten. Immer drängte sein Geist auf die Verbindung der Völker. Von den Alten sagte er: „Sie bleiben in dem Begriff Bürger und Staat befangen. Ueber diesen hinaus zu dem Postulat Mensch und Gesellschaft zu gelangen, ist ihnen nicht gegeben. Das Schöpferwort lautet aber: ‚Lasset uns Menschen machen, die da herrschen über die ganze Erde‘“. Seine tiefe Auffassung des Christenthums, das ihm im Elternhause eingeimpft worden war, spiegelte sich in gelegentlichen Gedanken wie dem: „Die schroffe Gegenüberstellung von Innerem und Aeußerem, wie sie in dem [486] Worte der Schrift: ‚Gehe hin, verkaufe alles und komm, folge mir nach‘ sich bekundet, mochte zu den nothwendigen Forderungen der neuen Lehre gehören, welche die höchste – nicht die höchstmögliche Freiheit erstrebte“. Derselbe Gedanke von dem befreienden Einfluß des Christenthums kehrt in einem anderen Werke Stephan’s wieder, wo er den Koran mit der Bibel vergleicht. „Die Bibel sagt: ,Ihr seid zur Freiheit berufen!‘ und spricht damit eine der tiefsten Wahrheiten, die edelste Auffassung des Verhältnisses des Menschen zu Gott aus“. Dieser Gedanke wurzelte also tief in Stephan’s Seele. Ueberhaupt citirte er die Bibel recht oft, daneben aber nicht minder Aussprüche zahlreicher Schriftsteller des Alterthums, mit besonderer Vorliebe Herodot und Horaz. Er liebte es überhaupt, Stellen aus fremdsprachigen Werken einzustreuen. Jene beiden historischen Aufsätze im Raumer’schen Taschenbuche wie Stephan’s Schriften überhaupt sind besonders deshalb so werthvoll, weil darin die Bedingungen erfüllt sind, die die glücklichste Behandlung des Themas gewährleisten, neben der wissenschaftlichen und schriftstellerischen Befähigung die fachmännische Kenntniß, eine Vereinigung, die leider nicht allzu häufig beobachtet werden kann. Damals scheint Stephan’s Ausscheiden aus der Postverwaltung und seine Verwendung in einem anderen Dienstzweig in Frage gekommen zu sein. Man ist versucht anzunehmen, daß seine Sprachkenntnisse und seine Kunst in der Menschenbehandlung ihn für das diplomatische Fach geeignet erscheinen ließen. Ohne Zweifel wäre die Diplomatie dabei gut gefahren. Aber es war doch besser für die Gestaltung des Weltverkehrs und die Entwicklung des deutschen Postwesens, daß er der Postverwaltung erhalten blieb.

Seit der glänzenden Operation, die er am Organismus des deutschen Volkskörpers durch die Beseitigung der Taxis’schen Verwaltung vollzogen hatte, war er ein berühmter Mann geworden. So kam es, daß er vom Vicekönig von Aegypten im J. 1869 zur Einweihungsfeier des Suezcanals eingeladen wurde. Von den zahlreichen namhaften deutschen Theilnehmern an der Feier jenes weltgeschichtlichen Ereignisses im November des genannten Jahres war St. vielleicht Derjenige, in dessen Herzen und Kopfe es die mächtigste Bewegung auslöste. Das zeigen die litterarischen Früchte dieser Reise. Zunächst erschien wieder ein umfangreicher Aufsatz, und zwar in der ersten Hälfte des 6. Jahrganges der Brockhaus’schen Revue „Unsere Zeit“ (Leipzig 1870): „Der Suezkanal und seine Eröffnung“ (a. a. O. S. 1–20 und 97–127). Dann folgte abermals ein stattliches Werk „Das heutige Aegypten. Ein Abriß seiner physischen, politischen, wirthschaftlichen und Culturzustände“, dessen Fertigstellung sich durch den deutschfranzösischen Krieg bis zum Spätsommer 1871 verzögerte und das dann 1872 ebenfalls bei Brockhaus herauskam. Die gewaltigen Ausblicke in die Zukunft, die die Eröffnung des Canals gewährte, und der Rückblick in die Vorgeschichte jener Länder und des Werkes selbst, packte den feurigen Bahnbrecher des Verkehrs unwiderstehlich. Daher verspürte er den Drang, seine Mitwelt über die Bedeutung des Ereignisses aufzuklären, und er that das mit eindringender Sachkenntniß und weitem historischem und verkehrspolitischem Blicke. Zugleich setzte er, namentlich in seinem Werke über Aegypten, die Gebundenheit der orientalischen Welt auseinander, der jetzt Freiheit zugetragen wurde. Und auch der deutsche Mann läßt sich vernehmen: „Gemüth darf man bei Festen im Orient nicht erwarten: es fehlt der Glockenklang, das Volkslied und das weibliche Element; was an Weiblichkeit vorhanden, gehört nicht mehr zur Weiblichkeit“. Der Aufsatz in „Unsere Zeit“ war wesentlich fachwissenschaftlich gehalten. Sein Buch über Aegypten zeichnete sich außer durch Reichthum des Wissens und glänzende Beobachtungsgabe durch farbenfrische, zum Theil launige Schilderung aus, die etwas den Charakter [487] des Feuilletons annimmt. Im Anschluß an den Aufsatz über die Eröffnung des Suezcanals würdigte er in demselben Jahrgange jener Zeitschrift (S. 513 bis 541) zwei andere verkehrspolitische Ereignisse, die die Welt damals bewegten, nämlich die Eröffnung der Pacificeisenbahn und die Expedition zur Aufnahme des Isthmus von Darien (Panama) in einer gründlichen Abhandlung: „Die Weltverkehrsstraßen zur Verbindung des Atlantischen und des Stillen Oceans.“

Während jene beiden Aufsätze in der Revue „Unsere Zeit“ erschienen, entschied sich seine amtliche Laufbahn. Als zu Beginn des Jahres 1870 der Generalpostdirector v. Philipsborn zurücktrat, schlug der Chef des Reichskanzleramtes, Rudolf Delbrück, St. zu dessen Nachfolger vor. Bismarck befürwortete seine Ernennung bei König Wilhelm mit den Worten: „Mit einer nicht gewöhnlichen Bildung, die er sich während seiner Laufbahn im Postdienst selbst angeeignet hat, und mit einer vollständigen Kenntniß der einzelnen Zweige der Postverwaltung verbindet er die geistige Frische, die für den Leiter einer mitten in der Entwicklung des Verkehrslebens stehenden Verwaltung unentbehrlich ist, und die persönliche Gewandtheit, deren der Generalpostdirector des Bundes für die Beziehungen zu den Behörden der einzelnen Bundesstaaten bedarf.“ Am 26. April 1870 erfolgte die königliche Bestätigung. Der Erste, dessen St. in jenem Augenblick gedachte, war sein alter Lehrer Berndt in Stolp.

Die Leitung des norddeutschen Postwesens begann der neue Generalpostdirector sofort mit einer bedeutsamen Reform, die er schon seit Jahren vergeblich angestrebt hatte, der Einführung der Postkarte. Schon 1865 hatte er Philipsborn den Gedanken der Einführung eines „Postblattes“, wie er die Postkarte damals bezeichnete, unterbreitet. In der Denkschrift, die er darüber verfaßte, führte er aus, daß die Zeitentwicklung ständig auf Vereinfachung der Form des Schriftverkehrs dränge. Von der Wachstafel sei man zur Pergamentrolle übergegangen, dann hätte der Brief die Form gefalteter Blätter angenommen. Es genüge vielfach auch eine noch einfachere Form. Philipsborn ließ die Idee auf der Postconferenz zu Karlsruhe im October 1865 zur Sprache bringen. Dort stieß Stephan’s Vorschlag aber auf Bedenken. Man fand das „Postblatt“ „unanständig“ u. s. w. Inzwischen war aber der von dem österreichischen Professor der Nationalökonomie Emanuel Hermann ausgesprochene Gedanke in Oesterreich durch den späteren Generalpostdirector v. Kolbensteiner aufgegriffen und dort am 1. October 1869 die „Correspondenzkarte“ eingeführt worden. Nach Eintritt Stephan’s in das Amt des Generalpostdirectors verfügte Bismarck unter dem 6. Juni 1870 die Einführung der „Correspondenzkarte“ im Norddeutschen Postbezirk. Sie vollzog sich am 25. Juni. Zunächst betrug das Porto für sie noch einen Groschen, vom 17. October 1871 ab wurde es, dem Porto für Drucksachen entsprechend, auf 1/3 Groschen festgesetzt, doch da sich dies als zu niedrig erwies, wurde es am 1. Juli 1872 wieder auf 1/2 Groschen erhöht. Am 1. Januar 1872 kam die Correspondenzkarte mit Rückantwort, am 1. März 1872 der Name Postkarte.

Kaum hatte St. die Neuerung der Correspondenzkarte getroffen, die sich bald einer außerordentlichen Beliebtheit erfreute und den Urheber der Neuerung selbst schnell zu einem der volksthümlichsten Männer machte, da stellte der Ausbruch des deutsch-französischen Krieges wieder gewaltige Anforderungen an Stephan’s Organisationstalent. Wieder war er mit Feuereifer dabei. Er schuf die große Einrichtung der Feldpost. Schon am 24. Juli stand sie zum Abmarsch bereit. Aber erst Mitte August gelang es, den Mechanismus in Betrieb zu setzen. St. selbst war überall thätig, um persönlich an Ort und [488] Stelle wichtige Feldpostämter zu bilden. Er stellte eine Hauptcourier-Postlinie her, ebenso eine Gürtelpost vor Paris, Feld-Eisenbahn-Postämter, schloß einen Postvertrag mit Belgien wegen der Beförderung der Feldpostsachen ab, bildete in Straßburg und Metz Oberpostdirectionen. Seit Anfang December konnte er auch einen Feldpacketverkehr organisiren. Während des Krieges wurden im J. 1871 durch die Norddeutsche Feldpost täglich nicht weniger als 43 800 Packete auf den Kriegsschauplatz befördert. Fast alle diese Sendungen waren durch Fuhrwerk zu besorgen. Während des ganzen Feldzuges waren gegen neun Millionen Briefe und Postkarten zu bestellen. Dazu kam die Lieferung der Zeitungen und die Erledigung der Geldsendungen. Ein Sachkenner, Ludwig Bamberger, stellte der Feldpost nach dem Kriege im Reichstage ein glänzendes Zeugniß aus.

Nach dem Friedensschluß galt es, das elsaß-lothringische Postwesen dem deutschen einzugliedern, was wieder höchst schwierig war, weil in Frankreich im Gegensatz zu dem seit 1850 in Preußen bestehenden Decentralisationssystem, über das der junge St. einst eine vortreffliche Prüfungsarbeit geliefert hatte, das Centralisationssystem herrschte, weil es dort ferner keinen Päckereiverkehr, auch keine Postkarte gab, weil es außerdem an Beamten mangelte und ebenso keine staatlichen Postgebäude vorhanden waren. Dieser Arbeit schloß sich die sehr viel leichtere der Einverleibung der badischen Post an. In Anlehnung an das Gesetz über das Postwesen vom 2. November 1867 wurde dann unter dem 28. October 1871 ein Gesetz über denselben Gegenstand für das ganze Reich erlassen, das am 1. Januar 1872 in Kraft trat und ein gemeinsames Postrecht für das deutsche Reich darstellte. Württemberg und Baiern blieben freilich ausgeschlossen. Das Gesetz erleichterte u. a. den Zeitungsverkehr, setzte das Briefgewicht auf 15 Gramm fest und hob das Landbriefbestellgeld auf. Eine wichtige, in damaliger Zeit von St. getroffene Neuerung war ferner die Beseitigung der in mancher Hinsicht geradezu entsittlichend wirkenden Einrichtung der Postvorschüsse, an deren Stelle das nach einem Plan Stephan’s eingerichtete Nachnahmeverfahren trat. Am 13. Mai 1871 begründete St. die Abschaffung der Postvorschüsse im Reichstage. Am 17. Mai 1873 erging das Gesetz über den Geld- und Packetverkehr, in dem St. vor allem als Einheitstarif für Packete 25 Pfennig für 10 Pfund auf 10 Meilen und 50 Pfennig für 10 Pfund auf eine Entfernung von über 10 Meilen festsetzte und dadurch mit einigen Federstrichen unerhört verwickelten Zuständen ein Ende machte. Es gab vorher nicht weniger als 1705 verschiedene Packetportosätze. Das neue Gesetz rief eine gewaltige Steigerung des Packetverkehrs, namentlich in Nahrungsmitteln, hervor. Schon 1883 hatte, wie das internationale Postbureau zu Bern feststellte, der deutsche Päckereiverkehr durch die von St. gewährte Erleichterung einen größeren Umfang erreicht als der sämmtlicher übrigen Länder der Erde zusammengenommen. Denn während diese nur 52 Millionen Packete versandten, wurden in Deutschland 79 Millionen verschickt. Freilich arbeitete der deutsche Packetdienst trotz aller Steigerung des Verkehrs stets mit Unterbilanz. Aber St. kam es um diese Zeit nicht so auf fiskalische Erträge an sich an. Er stellte die wirthschaftlichen und ideellen Vortheile des erleichterten Verkehrs höher in Ansatz. Im Hinblick auf den Orient hatte er einst gesagt: „Der wirksamste Missionar ist der Verkehr.“ Ein ander Mal meinte er: „Im Organismus unseres Volkslebens kann man die Post als die Lunge ansehen. Tritt eine Störung ein, eine Verstopfung in einem der Luftröhrenzweige, dann werden wir sofort der wichtigen Bedeutung des wichtigen Organs für den ganzen Lebensproceß inne.“

Gleichzeitig mit diesen weittragenden Neuerungen im Reichspostverkehr [489] nahm St. seinen im Frühjahr 1870 zurückgestellten Plan des Weltpostvereins wieder auf. Unter Anwendung eines gewissen Druckes gelang es ihm, am 14. Februar 1872 mit Frankreich einen Postvertrag abzuschließen, durch den das Porto für den einfachen Brief auf 40 Centimes festgesetzt und die Transitfreiheit gewährleistet wurde. Nachdem St. dann 1873 in Brüssel und im Haag mit den Generalpostdirectoren von Belgien und den Niederlanden eine vorbereitende Conferenz wegen des einheitlichen Weltportos abgehalten hatte, stellte er beim Reichskanzler abermals den Antrag auf Einberufung einer allgemeinen Postconferenz. Bismarck hieß ihn natürlich auch diesmal gut. Am 9. Juli 1873 lud daher das Deutsche Reich nach Bern zu dieser Conferenz ein. Frankreich verhielt sich wieder ablehnend und Rußland bat um Vertagung. Man schob die Conferenz infolge dessen bis zum Jahre 1874 auf. Wie St. nachher hervorhob, war dies dem Unternehmen nur förderlich. Am 15. September 1874 trat die Conferenz endlich in Bern zusammen. Zweiundzwanzig Staaten waren betheiligt. St. übernahm den Vorsitz. Am 9. October 1874 kam das große Werk zu Stande. Sämmtliche anwesende Staaten mit Ausnahme Frankreichs schlossen sich zu einem Allgemeinen Postverein zusammen. Auch Frankreich trat schließlich im Mai 1875 dem Vertrage bei. Dadurch wurden 350 Millionen Menschen zu einer großen Verkehrsfamilie vereinigt. Einige Staaten, wie Frankreich und Belgien, brachten dem allgemeinen Besten ein Opfer. Denn sie erlitten durch den Anschluß an den Verein finanzielle Einbußen. Aber auch sie mögen sich nicht der Erkenntniß verschlossen haben, daß der Hauptwerth des Vertrages, wie St. nicht müde wurde zu predigen, auf geistigem und ideellem Gebiete liege. Am 1. Juli 1875 trat der „Allgemeine Postverein“ praktisch ins Leben. Es war wohl der stolzeste Augenblick in der Laufbahn Stephan’s, als er am 28. November 1874 dem Deutschen Reichstage das Werk seiner Initiative zur Genehmigung vorlegen konnte. Damals prägte er in seiner feinsinnigen Einführungsrede das schöne Wort: Si vis pacem, para concordiam. Er suchte dabei die Bedeutung des Vertrages zu kennzeichnen: „Im Vergleich mit großen politischen Fragen nur von bescheidener Bedeutung, kann dieser Vertrag vielleicht doch als die kleine organische Zelle betrachtet werden, aus der sich im Leben der Völker unter der Wärmeentwicklung stärkerer Berührung und durch den Lichteinfluß der Gesittung vielleicht weitere homogene Gebilde lebenskräftig gestalten werden. In jedem Falle verwerthet er die Solidarität der Interessen als ein kräftiges Einigungselement.“ Nicht zum wenigsten erfreute ihn das große Verständniß, welches sein Friedensswerk bei der Kaiserin Augusta fand. Aber auch in der Welt der Industriellen begegnete er sofort diesem Verständniß. So begrüßte der feinsinnigste Kopf unter den rheinischen Großkaufleuten, Gustav Mevissen, die Schöpfung des Weltpostvereins in einem Schreiben an St. mit begeisterten Worten als „die eminenteste That der Gegenwart“. Wie beifällig Stephan’s Werk im Auslande aufgenommen wurde, zeigen gelegentliche Stichproben. So erklärte der Balte Graf Keyserling, der Freund Bismarck’s, St. für einen der größten Wohlthäter der Menschheit, den er, wie er launig hinzusetzte, darum zu seinem Privatheiligen gemacht habe: Er habe das Kunststück fertig gebracht, daß die Gedanken für sieben Kopeken um die Erde flögen.

Im Mai 1878 fand eine zweite Vereinsconferenz in Paris statt. Jetzt war die Zahl der theilnehmenden Staaten schon auf 28 gewachsen. 32 unterzeichneten den Vereinsvertrag. Der Verein gab sich nunmehr den Namen „Weltpostverein“. Vor allem aber wurde jetzt eine noch viel einfachere Regelung des Portowesens getroffen als vier Jahre vorher in Bern. Jetzt wurde [490] als einziger Satz der von 25 Centimes = 20 Pfennig festgestellt und dadurch mit einem Strich eine große Zahl verschiedener Portosätze abgeschafft. Ebenso wurde ein internationaler Postanweisungsverkehr eingeführt. Nicht verwirklichen ließ sich einstweilen ein Weltpacketverkehr, weil viele Länder überhaupt keine staatliche Fahrpost besaßen. Aber schon auf der Pariser Conferenz von 1882 gelang es zwischen 22 Staaten einen einheitlichen Packettarif zu vereinbaren. Auf der Postconferenz zu Lissabon im J. 1885 gehörten dem Verein bereits 46 Länder an, 1891 auf dem Wiener Congreß folgte der letzte der fünf Welttheile, Australien, 1893 die südafrikanische Republik, 1895 das Kapland. So war durch den 1868 von St. entwickelten und im J. 1875 von ihm in die That umgesetzten Plan bei dem Tode des Begründers allmählich etwa eine Millarde Menschen zu einer Verkehrsgemeinschaft zusammengeschlossen worden. Neben der nationalen Popularität, die ihm schon seine ersten Reformen im inneren Reichspostverkehr verschafften, erwarb St. sich auf diese Weise eine große internationale Volksthümlichkeit.

Sehr bald nach der Gründung des Weltpostvereins erfuhr die Wirksamkeit Stephan’s im Reiche eine wesentliche Erweiterung dadurch, daß ihm (am 22. December 1875) auch die Telegraphenverwaltung unterstellt wurde. Zugleich wurde die Verbindung seines Ressorts mit dem Reichskanzleramt gelöst und seine Stellung erhielt den Charakter des Chefs eines selbständigen Reichsamts, das anfänglich den Namen „Oberste Post- und Telegraphenbehörde“ führte. Als Chef dieser Behörde hieß St. nunmehr nicht mehr Generalpostdirector, sondern Generalpostmeister. Unter dem 2. September 1876 wurde er zum Kaiserlichen Wirklichen Geheimrath mit dem Prädicat Excellenz ernannt. Im Jahr darauf erfuhr sein Wirkungskreis eine neue Erweiterung, indem ihm die vom Reiche übernommene Decker’sche Buchdruckerei unterstellt wurde, da diese für die Post- und Telegraphenverwaltung außerordentlich viel Arbeiten zu liefern hatte. Mit dieser wurde 1879 die preußische Staatsdruckerei vereinigt. Durch Allerhöchsten Erlaß vom 23. Februar 1880 erhielt schließlich das Ressort des Generalpostmeisters die Bezeichnung Reichspostamt und der Ressortchef den Titel eines Staatssecretärs. Der Name Generalpostmeister, der präciser war, nun aber in die historische Rumpelkammer geworfen wurde und allmählich nur noch Erinnerungen an die Thurn und Taxis’sche Periode weckte, war St. lieber gewesen. Der neue Titel erinnerte sehr an den Titel einer großen Classe von Beamten des Postfachs.

Die Vereinigung von Post und Telegraphie war nur sinngemäß. Bis 1866 hatte sie auch schon bestanden. Da die Telegraphenverwaltung aber mit einem ständigen Fehlbetrage gewirthschaftet hatte, der immer größer geworden war, so hatte man es vorgezogen, zum früheren System zurückzukehren. Bisher hatte ein höherer Officier das Telegraphenwesen geleitet. Jetzt kam diese Verwaltung bei St. in die denkbar beste Hand. Mit geradezu erstaunlicher Thatkraft vollzog er die Verschmelzung der beiden Organisationen. Schon am 1. Januar 1876 trat sie ins Leben, und alsbald machte sich der neue Chef auch hier an umfassende Reformen. Es war diese Vereinigung der beiden verwandten Organisationen, wie einer von Stephan’s Mitarbeitern hervorhebt, wieder einmal eine jener Aufgaben, denen St., nach einem seiner Lieblingsbibelworte, gegenüberstand wie das Roß, das den Streit von ferne riecht und freudig ist. „Die ganze Unternehmungslust, die Schnell- und Spannkraft seines Wesens loderten mächtig empor und flößten seinen Mitarbeitern Vertrauen und Entschlossenheit ein.“ Binnen drei Jahren hatte er die Zahl der Telegraphenanstalten von 1945 auf 4143, also um erheblich mehr als das Doppelte erhöht. Noch zu seinen Lebzeiten überflügelte das [491] Deutsche Reich alle Staaten der Erde in der Ausbildung der Telegraphie. In einer seiner letzten Reichstagsreden hob St. stolz hervor, daß sich die Zahl der Telegraphenanstalten während seiner Verwaltung um das Siebzehnfache vermehrt hätten. Sofort bei Uebernahme des neuen Verwaltungszweiges ging er auch an die Anlegung unterirdischer Telegraphenlinien. Schon 1848 hatten Siemens & Halske in dieser Richtung Versuche unternommen, die aber nicht erfolgreich waren. Unter Stephan’s glücklicher und thatkräftiger Hand gelangte man zum Ziele. Am 22. November 1875 entwickelte er dem Reichstage seine dahingehenden Pläne. Am 13. März 1876 wurde mit der Anlage der Versuchsstrecke Berlin-Halle begonnen. Schon am 28. Juni war die Linie fertig und zeigte sich als brauchbar. Nun wurde eine Reihe von Anleihen, nach einer späteren Berechnung Stephan’s in Höhe von 52 Millionen, zur Herstellung eines umfangreichen Systems unterirdischer Telegraphenlinien aufgenommen. Sieben Jahre waren dafür in Aussicht gefaßt, aber schon 1881 war die Anlage beendet. Anfänglich hatte man die Kabel aus England bezogen. Aber bereits 1879 übernahmen die deutschen Firmen Siemens & Halske und Felten & Guillaume deren Anfertigung. St. betrieb dann auch, daß das Reich die Privatunternehmern gehörigen Seekabel nach Helgoland, England und Norwegen erwarb, im Verein mit den dabei interessirten Ländern neue Kabel zwischen Warnemünde und Gjedser sowie zwischen Emden und Barton, ferner auf eigene Kosten ein Reichskabel von Borkum nach Valencia legte. Durch das Kabel nach Valencia an der irischen Westküste, wo die großen atlantischen Kabel landen, kam Deutschland in unmittelbare Verbindung mit Amerika. Noch kurz vor Stephan’s Tode fand die Legung des Kabels Emden-Vigo statt, durch das Deutschland eine eigene überseeische Verbindung mit Spanien und einen Anschluß an die dort landenden Kabel erhielt. Es ist die Frage aufzuwerfen, ob St. dieses überseeische Kabelnetz nicht noch mehr hätte ausgestalten können und ob hier nicht ein schließliches Erlahmen seiner Thatkraft und ein mangelnder Weitblick bei ihm vorliegt. Denn die Zahl der Seekabel, die Deutschland erwarb oder anlegte, blieb im Verhältniß zu andern großen Handelsstaaten auffällig gering, und dieser Umstand mußte, wie sich nachher insbesondere während des Burenkrieges und schon vor diesem, noch zu Stephan’s Lebzeiten, beim japanisch-chinesischen Kriege, den St. selbst bereits 1884 kommen sah, zeigen sollte, ganz ungemein die internationale Stellung des deutschen Reiches erschweren.

Auch bei der Telegraphenverwaltung ließ St. es sich angelegen sein, eine Verbilligung des Tarifs herbeizuführen. Am 1. März 1876 erließ er eine Telegrammtaxe, durch die eine Grundgebühr von 20 Pfennig und ein Einheitssatz von 5 Pfennig für jedes Wort festgesetzt wurde. Es gab anfangs heftigen Widerspruch gegen diese Neuerung. Aber siehe da, trotz der Ermäßigung steigerte sich der Ertrag. Dem deutschen Vorbilde folgten alsbald Frankreich, die Schweiz und Oesterreich-Ungarn. Nun dachte St. auch eine internationale Regelung durchsetzen zu können. Auf der Telegraphenconferenz zu London im J. 1879 stellte er einen dahingehenden Antrag. Noch hatte er keinen Erfolg. Aber schon 1885 wurde auf der Berliner Telegraphenconferenz ein Welttelegraphenverein gegründet unter Annahme des reinen Worttarifs und einheitlicher Regelung des gesammten Transitsystems. Auf jener Conferenz war es, wo St. sich den Spaß machte, einen Trinkspruch auf ihn in der Sprache fast aller vertretenen Staaten zu erwiedern. In der eigenen Verwaltung entschloß er sich noch am 1. Februar 1891 auch die Grundtaxe bei den Depeschen fortfallen zu lassen und nur noch eine Worttaxe von 5 Pfennig zu erheben.

[492] Einer der sichtbarsten Beweise für sein scharfblickendes, schnelles und umsichtiges Eingreifen im gegebenen Augenblick, wenn es sich um eine Vervollkommnung seiner Verwaltung und eine Förderung des Verkehrs handelte, ist sein Vorgehen bei Erfindung des Fernsprechers. Die Nachricht von dessen Erprobung durch den Amerikaner Bell gelangte am 6. October 1877 zu ihm. Augenblicklich stellte er Nachprüfungen an, und schon am 5. November 1877 war eine Fernsprechleitung von seinem Amtsimmer nach dem des Generaltelegraphenamtes in Thätigkeit. Am 9. November berichtete St. über die Angelegenheit an Bismarck. Schon am 12. November wurde darauf in Varzin ein Fernsprecher und am selben Tage das erste öffentliche Fernsprechamt in Friedrichsberg bei Berlin angelegt. Kaiser Wilhelm I. äußerte damals staunend in seiner schelmisch-liebenswürdigen Art zu seinem Generalpostmeister: „Es ist Ihr Glück, daß Sie das nicht vor vier Jahrhunderten gemacht haben, sonst wären Sie als Hexenmeister verbrannt worden.“ St. sorgte sofort dafür, daß das Fernsprechwesen als in das Regal der Telegraphie fallend bezeichnet wurde. Mit Ausnahme der Schweiz ließen die anderen Staaten sich dies Regal entgehen und überließen die Anlage von Fernsprechern zunächst Privatgesellschaften. Später mußten sie sich wohl oder übel entschließen, diesen Gesellschaften ihre Anlagen abzukaufen. Das weitblickende Vorgehen Stephan’s in diesem Falle legt den Rückschluß nahe, daß er ähnlich gehandelt haben würde, als die Eisenbahnen aufkamen. Er hat es thatsächlich einmal im Reichstage (9. Februar 1894) bedauert, daß im J. 1840 der Augenblick versäumt worden sei, das Postmonopol auf die Eisenbahn auszudehnen. Der Fernsprecher leistete sehr bald für das platte Land die größesten Dienste, so z. B. beim Unfallmeldedienst. Von den Städten zeichnete sich im Laufe der Zeit besonders Berlin, zu seinem Vorgehen angeregt durch St., durch die verhältnißmäßig große Zahl der Fernsprechstellen aus. Es besaß schon zu Stephan’s Lebzeiten die meisten Fernsprecher von allen Städten der Welt, mehr als ganz Frankreich. St. war schließlich auch in diesem Falle bedacht, die Ehre des deutschen Namens und Geistes zu wahren, indem er der Wittwe des Lehrers Philipp Reis in Friedrichsdorf bei Homburg vor der Höhe, der nur nicht die nöthigen Mittel zur völligen Ausbildung seiner Erfindung gehabt und von dem Bell seine Kenntniß bezogen hatte, ein Gnadengehalt von 1000 Mark beim deutschen Kaiser erwirkte. Das von Reis im J. 1861 zusammengesetzte Vorbild des Telephons nahm die deutsche Reichspost in Verwahrung.

Zur Entlastung der Telegraphie ordnete St. außerdem (schon 1875) in Berlin, Hamburg und Frankfurt a. M. die Einrichtung einer pneumatischen Post (Rohrpost) an. Am 1. December 1876 wurde die erste Rohrpostanlage von 26 Kilometer Länge dem Verkehr übergeben. Für den Dienstbetrieb bedeutete diese Einrichtung in der That eine wesentliche Erleichterung. Weniger fühlbar war der Nutzen für den Privatverkehr.

Seitdem die Reichsdruckerei ihm unterstellt war, ließ sich St. auch deren Hebung angelegen sein. Früher stand das deutsche Druckereigewerbe hinter den vervielfältigenden Künsten des Auslandes zurück. Unter Stephan’s Verwaltung wurde der Reichsdruckerei die Auszeichnung zu Theil, daß ihr von der „internationalen chalkographischen Gesellschaft“, an deren Spitze die Directoren der Pariser Bibliothek und des britischen Museums standen, die Lieferungen übertragen wurden. Am 15. Februar 1894 hielt das kunstverständige Centrumsmitglied Freiherr v. Heeremann es im Reichstage für angezeigt, dem Staatssecretär für diese technische Vervollkommnung der Reichsdruckerei schrankenlose Anerkennung zu zollen.

[493] Eine der letzten großen Schöpfungen Stephan’s bildet die Schaffung von Reichspostdampferlinien. Schon im Frühjahr 1882 verfaßte er eine dahin zielende Denkschrift, die er im August jenes Jahres dem Reichskanzler nach Kissingen nachschickte. Er wollte durch solche Linien den Zwischenhandel im deutschen überseeischen Verkehr verdrängen, directe Einfuhr vermitteln, neue Märkte erobern, den deutschen Schiffsbau heben und überhaupt den Nationalsinn stärken. Schon nach drei Tagen gab ihm Bismarck sein Einverständniß mit seinen Ausführungen zu erkennen. Im J. 1884 brachte St. darauf eine Vorlage auf Einrichtung einer directen deutschen Schiffsverbindung zwischen Ostasien und Australien ein, die vom Reiche mit je 4 Millionen auf 15 Jahre unterstützt werden sollte. In seiner begründenden Rede sagte er am 14. Juni im Reichstage: „Unsere Briefe, Passagiere, Schnellwaaren, unsere Gelder, unsere Wechsel, sie werden befördert auf Schiffen, die auf fremden Werften gebaut sind, ihre Mannschaften bestehen leider z. Th. aus Deutschen. Es werden also die Unternehmungen fremder Staaten mit gestärkt durch deutsche Production, durch deutsche Capitalkraft, durch deutsche Arme. Es ist auch klar, daß es unter Umständen nicht sehr zu empfehlen ist, unsere Post an fremde Verwaltungen auszuliefern und eine directe Postverbindung mit den Ländern völlig zu entbehren. Denken Sie nur an gespannte Zeiten. Ich will hier nicht von dem Kriegsfalle sprechen, der in den asiatischen Meeren ausbrechen kann.“ Er erinnerte dabei auch an den Satz: trade follows the flag. Angesichts der Neuheit des Gedankens gab es heftige Debatten. Neben Bismarck setzte sich auch der Kronprinz Friedrich Wilhelm warm für die Sache ein. Am 6. April 1885 wurde die Vorlage Gesetz. Sogleich rief der Norddeutsche Lloyd eine Postdampferlinie von Bremerhaven nach China, Japan und Australien sowie eine Zwischenlinie von Triest über Brindisi nach Alexandrien ins Leben. Bereits am 30. Juni 1886 ging der erste Reichspostdampfer „Oder“ von Bremerhaven nach Ostasien ab. St. hielt dabei die Einweihungsrede, in der er etwas kühn und zum Theil schief, aber nicht ganz ohne Wahrheit ausführte: „Der Verkehr ist in unserem Zeitalter das herrschende Princip, wie es zu den Zeiten der Hellenen die schönen Künste und Wissenschaften, der Römer das Staats- und Rechtsleben, zur Zeit der arabischen Herrschaft der religiöse Fanatismus, im Mittelalter die religiöse Vertiefung war, endlich in der zunächst hinter uns liegenden Zeit die humanistischen und philanthropischen Ideen. Heute ist der Verkehr die beherrschende Macht.“ Die Einrichtung bewährte sich außerordentlich. Mit Neid verfolgte England die Entwicklung der ostasiatischen Postdampferlinien. So wurden allmählich immer mehr solcher Linien gegründet. Der Hauptbekämpfer des Stephan’schen Gedankens bei diesen Unternehmungen war Ludwig Bamberger, mit dem St. mehrmals im Reichstage die Klinge zu kreuzen hatte. Er meinte wohl von den Ausführungen Bamberger’s, sie hätten das Eigenthümliche, daß sie immer zur Hälfte richtig wären, die zweite Hälfte sei dann aber um mehr als doppelt so falsch, daß man sagen könne: Desinit in piscem mulier formosa superne[WS 1].

Einer seiner Lieblingtsträume war die Einrichtung der Ballonpost. Im Feldzuge gegen Frankreich hatte er die ersten Erfahrungen mit dieser gemacht. Seine Phantasie beschäftigte sich seitdem unausgesetzt mit dem Gedanken, welche Veränderungen das lenkbare Luftschiff im Postverkehr herbeiführen würde. Im Winter 1874 hielt er im Berliner Wissenschaftlichen Verein einen überaus geistvollen Vortrag: „Weltpost und Lustschifffahrt“, der auch im Druck (Berlin 1874) erschien, und auch für das unter dem Pseudonym E. Veredarius im J. 1885 erschienene populäre Werk „Das Buch von der Weltpost“ steuerte er [494] einen Beitrag bei: „Die Post im Reiche der Lüfte“. In jenem Vortrage pries er begeistert die sittliche Macht des Verkehrs: „Verkehr und Cultur verhalten sich in der Welt zueinander wie Blutumlauf und Gehirnthätigkeit im menschlichen Körper.“ „So bewegt sich der Verkehr, einem Sturmwinde gleich, um die ganze Erde. Auch Nachts nicht ruhend, wie jener den Erdball umkreisende Genius des Märchens, ist er der fast überall freudig begrüßte Volksbote: ein Träger der magnetischen Kraft in den Beziehungen der Culturgruppen auf unserm Planeten.“ „Mit freudigem Gefühl werden wir auch bei diesem anscheinend so materiellen Gegenstand die geistige Grundlage, das Wirken der ideellen Mächte gewahr.“ Es ist gar nicht auszudenken, was das Genie eines Stephan auf dem Gebiete der Ballonpost geleistet haben würde, wenn er die Erfindung des lenkbaren Luftschiffs noch erlebt hätte. Dies Ereigniß würde seine mit den Jahren erlahmende Elasticität sicherlich in hohem Maße neubelebt haben.

Den Tarifreformen und den Neuschöpfungen im nationalen und internationalen Verkehr stellt sich die Thätigkeit Stephan’s für die Förderung und den Ausbau der in seinem ursprünglichsten und eigensten Verwaltungsbereiche, der Post, vorhandenen Organisationen zur Seite. Als er an die Spitze der Postverwaltung trat, gab es 4619 Postanstalten im Gebiete der Reichspost. Nach einem Vierteljahrhundert war diese Zahl versechsfacht. Die Zahl seiner Beamten wurde ebenfalls in außerordentlichem Maßstabe vermehrt, in den beiden Jahrzehnten von 1876–1895 annähernd um das Dreifache. Zuletzt commandirte er eine Armee von 160 000 Beamten. Wesentlich verbessert wurde insbesondere der Landpostbestelldienst. Der großen Zahl von Post- und Telegraphenanstalten und dem gewaltigen Beamtenheere entsprach der Geldumsatz. Die Einnahmen der Reichspost wurden im Etat von 1896/97 auf 294 Millionen veranschlagt. Die Ausgaben erreichten trotz der vielen Aufwendungen nie den Einnahmebetrag, vielmehr erzielte St. stets einen großen Millionenüberschuß. Mit den Einnahmen der Reichsdruckerei hatte St. am Schluß seiner Laufbahn ein Budget von rund 300 Millionen Mark. Diese enormen Zahlen veranschaulichen die hohe Entwicklung des deutschen Post- und Telegraphenverkehrs. Sie sind nicht lediglich das Ergebniß der natürlichen Steigerung des Verkehrs. Vielmehr unterliegt es gar keiner Frage, daß die umfassenden und weitverzweigten Reformen Stephan’s zur Steigerung des Verkehrslebens im deutschen Reiche in ganz außerordentlichem Maße beigetragen haben. Jeder Vergleich mit den übrigen Ländern lehrt das. Als St. am 20. Januar 1896 im Reichstag einen Rückblick auf das von ihm Erreichte warf, da durfte er mit Stolzgefühl sagen: „Sie werden aus dem Bilde, das ich die Ehre hatte, vor Ihnen zu entwickeln, gewiß entnommen haben, welch eine volle, ja hundertfältige Frucht wir auf diesem hier vorliegenden Gebiet von dem Baume des Deutschen Reichs gepflückt haben.“

Der innere Dienstbetrieb der Post- und Telegraphenverwaltung erfuhr gleichfalls, daß in St. eine ruhelose Thatkraft lebte. Der Generalpostmeister St. war ein recht strenger Vorgesetzter, der überall seine Augen und Ohren hatte und vor dem die Untergebenen einen gehörigen Respect hegten. Wie oft ist er unvermuthet auf einem Postamt erschienen und hat es revidirt! Eine gewisse derbe Art scheint ihn dabei ausgezeichnet zu haben. Unter der Beamtenschaft nahm er eine Personalreform vor, indem er die Postlaufbahn in eine höhere und niedere schied. Die Anwärter für die höhere Laufbahn mußten das Reifezeugniß für die Universität haben. Er rief ferner eine Fürsorge für die Hinterbliebenen seiner Verwaltung ins Leben, ebenso die Postspar- und Vorschußvereine und damit verbunden Consumvereine, einen [495] Töchterhort, eine Kaiser Wilhelm-Stiftung für Hülfsbedürftige in der Reichspostverwaltung und die Postunterstützungscasse. Diese Einrichtungen erwiesen sich als nützlich und segensreich. Er hätte aber unleugbar noch mehr für die Wohlfahrt seiner Untergebenen thun können. Es ist seltsam, aber unbestreitbar: bei diesem Sohne eines kleinen Handwerkers war das Verständniß für die Socialpolitik am geringsten entwickelt. Als im Juni 1872 die Frage der Beschäftigung der Frauen im Reichspostdienst an ihn herantrat, erklärte er (5. Juni 1872) im Reichstag rundweg: „Ich glaube in der That, daß keine Anstalten weniger als die Reichsverkehrsanstalten dazu geeignet sind, Frauen in Beschäftigung zu setzen“ und suchte diese wichtige Angelegenheit mit Witzen abzuthun. Dabei war das Problem in zahlreichen andern Staaten schon im gegentheiligen Sinne gelöst. Später konnte er sich nicht mehr dagegen verschließen, daß die Verwendung weiblicher Hülfskräfte in seiner Verwaltung zweckmäßig war. Wenigstens im Fernsprechdienst und bei der Telegraphen-Verwaltung stellte er Frauen an. Völlig ablehnend verhielt er sich zu Anfang auch gegen alle Bestrebungen, die auf Erwirkung von Sonntagsruhe im Bereiche der Postverwaltung hinstrebten. Das zeigt seine Rede im Reichstage am 12. April 1878. Und noch am 3. Februar 1885 brachte er es fertig, eine Rede gegen die Sonntagsruhe höhnisch zu beendigen mit den Worten: „Schließen Sie die Häfen, schließen Sie die Flüsse, schließen Sie die Eisenbahnen, schließen Sie den sämmtlichen Verkehr auf den Straßen, in den Läden u. s. w., vor allen Dingen die Vergnügungslocale: dann wird die Post auch nicht nöthig haben, ihren Dienst am Sonntag zu verrichten.“ Er hat dann Schritt für Schritt nachgeben müssen. Aehnlich war es mit dem Druck, den er auf den eine bessere materielle Lage erstrebenden Postassistentenverband ausübte. Die Methode, die er dabei anwandte, war schließlich eine dem Staatsinteresse schädliche, weil sie ganz naturgemäß unerfreuliche Erscheinungen zeitigte, den Geist der Unzufriedenheit züchtete, ja Verbitterung hervorrief. Das beweisen die häufigen heftigen Angriffe, die von den verschiedensten Parteien gegen Stephan’s Verwaltung deswegen erhoben wurden. Ein Abgeordneter der Rechten vertrat St. gegenüber doch wohl den richtigen Standpunkt, wenn er bemerkte: „Zwischen Autorität und Freiheit liegen gerade diese freien Vereinigungen und Verbände. Werden sie richtig behandelt, so können sie in den Händen der Behörde ein Mittel und Werkzeug werden, um die persönliche Freudigkeit zu stärken und den Geist der Disciplin kräftiger zu machen.“ In St. steckte aber etwas von der Rücksichtslosigkeit einer Autokratennatur, die ihn verhinderte, die rechte Mitte bei dieser Angelegenheit zu bewahren.

Mit den Jahren ließ auch auf dem Felde, auf dem er wahrhafte Triumphe gefeiert hatte, auf dem der Erleichterung der Verkehrsbedingungen, seine Spannkraft nach. Wie hat er sich beispielsweise gesträubt, das 20 Gramm-Gewicht für Briefe einzuführen! Man glaubt nicht recht zu lesen, wenn man in seiner Reichstagsrede vom 10. December 1889 gedruckt sieht: „Es wird nicht ein Brief mehr geschrieben, wenn wir auf 20 Gramm gehen.“ Bis zuletzt leistete er entschlossenen Widerstand gegen die Ermäßigung des Stadtportos und mußte infolge dessen ein üppiges Emporwuchern der Privatposten erleben. Aehnlich hielt er in der wichtigen Kabelfrage zuletzt nicht mehr Schritt mit der Zeitentwicklung. Wohl war er von jeher ein Realist, der den gegebenen Verhältnissen Rechnung trug, kaum etwas übereilte und darum auch im allgemeinen vor Fehlschlägen bewahrt blieb. Sein Wirklichkeitssinn verräth sich u. a. auch in der Antwort, die er den Verfechtern einr Weltsprache einmal ertheilte, als sie sich an den Begründer des Weltpostvereins heranmachten. Er wies solche Ideen leichthin ab. Aber in manchen Dingen [496] der nächstliegenden Praxis senkte es sich doch wie Mehlthau auf die Frische seiner Entschlußkraft nieder. Großentheils wurde er dabei von dem einst von ihm selbst so erfolreich bekämpften Geist des Fiskalismus bestimmt. Die vielen Millionen Ueberschüsse, die er jahraus jahrein erzielte, ließen sich nicht nur zur Verbesserung der Lage seiner Beamten verwerthen. Sie wären noch zinsbringender in anderen Reformen und Schöpfungen, z. B. in dem Ausbau des Kabelnetzes anzulegen gewesen.

Nur ein Feld bebaute er mit den Jahren immer eifriger, das der Außenwelt besonders auffiel, die Schaffung stattlicher Postgebäude. Es ist viel an dieser Liebhaberei – denn eine Liebhaberei war es – des genialen Mannes gemäkelt worden, und mit der materiellen Bedürftigkeit vieler Classen von Postbeamten standen die anscheinend verschwenderisch ausgestatteten Postbauten in der That in einem grellen Widerspruche. Aber man wird nicht verkennen können, daß es auch etwas für sich hatte, wenn die Reichspost mit dem System der Nüchternheit, das im altpreußischen Behördenbaustil vorherrschte, brach und Werth auf Schönheit in der Ausführung legte. Die betheiligten Städte freuten sich meist der schönen Bauten, und es kamen auch Imponderabilien dabei in Betracht, wenn das deutsche Reich so glänzend auftrat. Erfreulich bei der Sache war ferner, daß St. für ausschließliche Verwendung von einheimischem Material bei jenen Bauten Sorge trug. Er beobachtete als Grundsatz, die Bauten in dem Stil herzustellen, der am besten zu der Physiognomie der einzelnen Städte in deren Blüthezeit paßte. Manches Mal bekam der Reichstag von dem kunstsinnigen Staatssecretär bei seinen Berathungen geradezu einen kunstgeschichtlichen Vortrag zu hören (so am 14. März 1881). St. ging seinen Schritt sehr sicher, und wenn man an dem Stil seiner Bauten nörgelte, dann lachte er wohl behaglich und citirte den Spruch am Rathhaus zu Wernigerode: „Der Erste erdacht’s, der Zweite acht’s, der Dritte verlacht’s, was macht’s?“ Freilich regte sich zuweilen ein gewisser Unwille unter den Volksvertretern gegen die Stephan’sche Baulust, und der Staatssecretär mußte sich dann große Streichungen in seinem Etat gefallen lassen. In seinen letzten Jahren fand er in Kaiser Wilhelm II. einen eifrigen Förderer bei seinen Bestrebungen, die Postbauten dem Rahmen der Städte harmonisch anzupassen. Im ganzen sind unter seiner Verwaltung rund 300 reichseigene Postgebäude aufgeführt worden, zu denen die Mittel fast sämmtlich aus den Einnahmen der Post bestritten wurden.

Neben der Liebhaberei für schöne Bauten hatte er noch eine ganze Reihe anderer Liebhabereien oder Nebenbeschäftigungen, die weniger oder gar nichts mit seinem Amte zu thun hatten. So war er ein eifriger Bekämpfer des Fremdwörterunfugs und hat durch die systematische und auch im allgemeinen verständnißvolle Ausrottung dieses Unkrauts in seinem Verwaltungszweige fraglos Nutzen gestiftet. In Betracht kommen hierfür namentlich seine Verfügungen vom 31. Dezember 1874 und 21. Juni 1875. Sein Beispiel wirkte aber auch außerordentlich auf die gesammte Bevölkerung ein. Die Freunde der Sprachreinigung begrüßten sein Vorgehen mit Begeisterung. Der allgemeine deutsche Sprachverein ernannte ihn im J. 1887 zu seinem Ehrenmitgliede. Er hielt über die Fremdwörterfrage am 17. Februar 1877 einen Vortrag im Berliner Wissenschaftlichen Verein und veröffentlichte hier und da Aufsätze darüber. Zuweilen vergriff er sich auch wohl in seinen Verdeutschungen. Im J. 1879 gründete er zusammen mit Werner Siemens den elektrotechnischen Verein. In ihm pflegte er zu Beginn der Wintersitzungen alljährlich Vorträge zu halten. Die Rede, die er in Frankfurt a. M. im J. 1891 bei Eröffnung der elektrotechnischen Ausstellung hielt, hat man wohl eine Philosophie [497] der Elektrotechnik genannt. Die Poesie im Leben der Post suchte er dadurch zu heben, daß er ein Poststammbuch herausgab, in dem Lieder und Gedichte, die sich auf das Postwesen beziehen, und Aehnliches gesammelt wurden. Wissenschaftlichen Geist suchte er bei seinen Beamten großzuziehen durch die Gewährung größtmöglicher litterarischer Freiheit. In dem Reichspostmuseum, für das er unablässig mit leidenschaftlicher Liebe gesammelt hat, schuf er eine wissenschaftliche Sammlung größten Stiles. Seine Vorliebe für Horaz ließ ihn einen Horazclub gründen. Gelegentlich versuchte er sich auch als Botaniker. So hat er eine Studie über die Flora Misdroys verfaßt, die allerdings nicht veröffentlicht worden ist. Außerdem gefiel sich St. im Versemachen. So sandte er einmal dem Maler Anton v. Werner eine während eines Sommeraufenthalts in Rappoltsweiler im Elsaß unter dem Pseudonym Curt Rappolt erschienene Sammlung von ihm verfaßter Gedichte. Seine größte Liebhaberei aber wurde im Laufe der Zeit die Jagd. Diese Thätigkeit entspricht auch seinem ganzen ruhelosen Wesen, das in Spannung leben wollte. Der athemlos jagende Postillon und der wilde Jäger erlebten in ihm eine gewisse Verschmelzung. Im Herrenhaus hat er einmal seiner Auffassung vom Jagdhandwerk einen bezeichnenden Ausdruck verliehen, indem er meinte, daß jenes bei allen germanischen Nationen als ein Kraftzusatz aufgefaßt worden sei. Die minutiöseste Monographie über ihn behandelt ihn als Waidmann. Sie ist aufgebaut auf seinem sorgfältig geführten generellen Schußbuch, zu dem sieben dicke Quarthefte mit näheren Angaben vorliegen. Danach hat er in den Jahren 1879–1896 nicht weniger als 17917 Stück Wild einschließlich 1367 Stück Hochwild erlegt. Ueberall in deutschen Landen hat er gejagt, im Samlande am kurischen Haff, in der Göhrde, im Spreewalde, in der Schorfheide, in Holstein, in Dessau, auf Rügen, in Westpreußen, im Spessart, in Oberösterreich, in den bairischen Alpen und in Tirol und an tausend anderen Stellen. Eine zähe Natur befähigte ihn zu dem Ertragen großer Anstrengungen und stärkte sich aufs neue auf diesen Jagden. Noch im J. 1866 fiel dem Landrath Gustav v. Diest das schwächliche Ansehen des jugendlichen Geheimen Postraths auf, der als Knabe so mit seiner Gesundheit zu kämpfen gehabt hatte. Alexander Meyer aber, der ihn als Parlamentarier gut kannte, meinte, daß ein schlanker und dabei doch muskulöser Körper, eine tiefbräunliche Gesichtsfarbe, die auf Wetterfestigkeit deutete, St. als ein Urbild der Gesundheit erschienen ließen. Jedenfalls war St. allen körperlichen Anstrengungen, namentlich auch auf Reisen, gewachsen. So mancher seiner Untergebenen hat darüber eindrucksvolle Erfahrungen gemacht. In der Stille des Waldes oder angesichts der Bergriesen ging ihm das Herz auf. „In wundervoller Pracht stieg der junge Tag zur Erde nieder. Welches Jägerherz hätte nicht schon gejauchzt bei den Eindrücken eines solchen Morgens! Es ist, als ob die Seele Hochzeit feiere mit der Natur!“ schreibt er einmal in sein Jagdbuch; ein ander Mal: „Großartige Wirkung der Natur mit einfachen, wenigen Mitteln. Felsen, Arven, Latschen, Alpenrosen und Gras – voilà tout. Felsen nach der Edda aus den Knochen Ymirs. Die bei allen Völkern vorhandene Idee der Riesen beruht auf dem Bedürfniß des Menschen, überall ein Belebtes, eine Seele hineinzulegen.“ Aber auch sein Humor regte sich auf den Birschfahrten gar lebhaft. Er war einer der beliebtesten Jagdgäste der deutschen Grandseigneure. War doch der Stolper Schneiderssohn selbst ein Grandseigneur großen Stiles geworden. Nicht zum wenigsten machte ihn seine glänzende Unterhaltungsgabe in der großen Welt beliebt. Das überquellende Leben in ihm zog jedermann an.

[498] Seine große persönliche Bedeutung brachte ihm Auszeichnungen und Ehrenämter aller Art ein. Schon am 30. November 1872 wurde er ins Herrenhaus berufen, am 30. October 1873 verlieh ihm die philosophische Facultät der Universität Halle-Wittenberg anläßlich seiner Schrift über Aegypten die Doctorwürde honoris causa, die Städte Stolp, Köln, Bremerhaven, Schwerin, dieses noch kurz vor seinem Tode aus Dankbarkeit für das in Schwerin errichtete schöne Postgebäude, ernannten ihn im Laufe der Jahre zu ihrem Ehrenbürger, am 11. Juni 1884 wurde er in den Staatssrath berufen, am 19. März 1885 erhielt er den Adel, am 7. September 1890 ernannte ihn Kaiser Wilhelm II., unter Entbindung von der vorgeschriebenen Bedingung der adeligen Geburt, zum Domcapitular in Merseburg, am 27. Januar 1895 erhielt er auch den Rang eines Staatsministers. Das Herrenhaus entsandte ihn in die dem Ministerium des Innern unterstellte statistische Centralcommission, in der er sich besonders die Fürsorge für die Poststatistik angelegen sein ließ. Auch eine Erhöhung seiner amtlichen Stellung sowie eine Erweiterung seines Wirkungskreises ist in Erwägung gezogen worden. Nach dem Abgange Otto Camphausen’s im J. 1878 wurde St. vom Fürsten Bismarck das preußische Finanzministerium angeboten. Bismarck hatte am 21. März 1878 zwei Unterredungen mit ihm deswegen. St. lehnte das Amt jedoch ab. Es war offenbar auch nur ein Verlegenheitsact Bismarck’s gewesen, der ihn damals auf St. greifen ließ, ein Act, der einen Beweis dafür lieferte, für wie befähigt der leitende Staatsmann den Generalpostmeister hielt. Ernstlicher kam St. wohl in Frage für den Posten des Eisenbahnministers. Er war im Herrenhause Mitglied und lange Jahre (von 1879–1890) auch Vorsitzender der Eisenbahncommission. Er vertrat geradezu die Ansicht, daß eine Vereinigung von Post und Eisenbahn zweckmäßig sei. Bismarck holte in Eisenbahnfragen auch gern seinen Rath ein. So scheint er mit ihm am 16. Januar 1879 in Friedrichsruh die Frage der reichsgesetzlichen Regelung des Eisenbahngütertarifwesens besprochen zu haben, die dann am 7. Februar jenes Jahres zu völliger Ueberraschung des damaligen Ministers der öffentlichen Arbeiten, Maybach, erfolgte und diesen auf Rücktrittsgedanken brachte. Den Entwurf zu dem Schreiben Bismarck’s an den Bundesrath vom 7. Februar 1879 hat St. aufgesetzt. Ein ander Mal bereitete St. dem Minister Maybach eine starke Verstimmung, indem er ihn am 30. März und 1. April 1889 vor dem versammelten Herrenhause in äußerst wohldurchdachten Reden angriff. Er bemängelte es, daß die Personentarife in den letzten 30–40 Jahren unverändert geblieben seien, „während es doch sonst ein wirkliches und durch die Erfahrung bestätigtes wirthschaftliches Gesetz ist, daß bei jeder Massenbewegung die Preise für die einzelnen Waaren und für den einzelnen Bewegungssact sinken müssen, mithin der Verkehr die Keimkraft der Tarifreform in sich selbst trägt“. Er verlangte Vereinfachung und Ermäßigung der Tarife. Sodann rügte er die Beschaffung des rollenden Materials durch Anleihen. Maybach erwiderte schließlich sehr gereizt. Der Fall erregte damals in politischen Kreisen Aufsehen. Vielfach neigte man zu der Annahme, daß diese Angriffe Stephan’s auf Maybach im Einverständniß mit Bismarck geschahen. Jedenfalls wird man in dem Vorgehen Stephan’s dessen starken Ehrgeiz zu erkennen haben. Der Gegensatz, in den er zu Maybach gekommen war, führte schließlich seinen Rücktritt vom Vorsitz in der Eisenbahncommission des Herrenhauses herbei.

Seine Stellung zu Bismarck war nicht die beste. Der leitende Staatsmann sah in ihm nicht das gefügige Werkzeug, das er zu haben wünschte, und hatte guten Grund zu der Annahme, daß St. mitunter mit den Gegenströmungen, die dem Reichskanzler das Leben sauer machten, tripotirte. So [499] besorgte St. auf Wunsch der Kronprinzessin im Feldzuge des Jahres 1870 für die Lazarethe bestimmte Zeitungen, deren Farbe besonders dem Könige nicht angenehm war. Dieser und auch Bismarck waren im höchsten Grade ungehalten darüber, und Bismarck erwog, so erzählt er wenigstens in seinen Erinnerungen, bereits Stephan’s Entlassung. In Anbetracht der großen Befähigung des Generalpostdirectors nahm er jedoch davon Abstand und bestimmte den König zur Nachsicht. Die Maigesetze mißbilligte St. Es wird Bismarck schwerlich entgangen sein, daß St. in der Zeit des kirchenpolitischen Streites mit dem Centrum liebäugelte, worüber A. Reichensperger’s Aufzeichnungen Material enthalten. Der Reichskanzler empfand „die geringe Durchsichtigkeit“ seiner Beziehungen zum Reichspostamte dauernd als lästig. Immerhin begegnete er den Eigenmächtigkeiten, die aus Stephan’s von Bismarck wohl erkanntem Ressortpatriotismus hervorgingen, wie er angibt, „stets mit dem Wohlwollen, das die Achtung vor seiner eminenten Begabung mir einflößte“. Zuweilen kehrte er sich aber doch nicht an ihn, wie er z. B. im November 1880 im Gegensatz zu St. die Beschickung der elektrischen und Telegraphen-Ausstellung zu Paris im nächstfolgenden Jahre zusagte. Gegen Moritz Busch schimpfte der Kanzler gelegentlich wohl über „Flegeleien“ Stephan’s und nannte ihn „ganz disciplinlos“. „Das kommt aber davon, daß er so viel Selbstgefühl hat“, meinte er im weiteren launig, „König Stephan gegen König Wilhelm, das geht nicht; das könnte man ihm einmal sagen“. Er gab dann wieder allgemeineren Anregungen Stephan’s nach, so als ihm St. im J. 1880 eine Denkschrift über die Versorgung der Hinterbliebenen der Reichsbeamten vorlegte. Sie wurde die Grundlage des dieses Gebiet regelnden Gesetzes vom 20. April 1881. Dem Bestreben Stephan’s, sich direct mit dem Reichskanzler unter Umgehung der zuständigen Behörde über Finanzfragen seines Ressorts zu verständigen, schob dieser aber bald einen Riegel vor. Gelegentlich sah der Fürst sich auch veranlaßt, öffentlich seine Stellung als vielfach von der Stephanschen Auffassung abweichend zu bezeichnen, so in der Reichstagssitzung vom 21. Februar 1879. Um so bemerkenswerther und der stärkste Beweis dafür, daß ihm St. ungewöhnlich imponirte, ist es, daß er überhaupt daran denken konnte, Stephan’s schwierig zu behandelnde Persönlichkeit noch auf höherem Posten zu verwenden. Als er seine Memoiren dictirte, hat Bismarck von St. gesagt: „Ich kann nur wünschen, daß er in seinem Amte alt und gesund bleibe, und würde seinen Verlust für schwer ersetzlich halten, vermuthe aber, daß auch er bei meinem Abgange zu Denen gehörte, welche eine Erleichterung zu empfinden glaubten“.

Sichtlich erwärmt wurde durch Stephan’s ganze großzügige Persönlichkeit Kaiser Wilhelm II. Am deutlichsten prägt sich das, abgesehen von anderen Ehrungen, die er St. zu theil werden ließ, in jener Unterschrift unter ein von ihm dem Gründer des Weltpostvereines zu dessen 60. Geburtstage geschenktes Bildniß aus, aus der ein bekanntes geflügeltes Wort erwuchs: „Die Welt am Ende des 19. Jahrhunderts steht unter dem Zeichen des Verkehrs; er durchbricht die Schranken, welche die Völker trennen, und knüpft zwischen den Nationen neue Beziehungen an.“ Das Wort nimmt sich wie ein von St. selbst geschaffenes Motto für seine Schriften und Thaten aus.

Es ist begreiflich, wenn der Stolper Schneiderssohn angesichts seiner Errungenschaften eitel wurde. Nur wenige starke Persönlichkeiten bewahren in solcher Lage bescheidenen Gleichmuth. St. hatte ein starkes Bedürfniß, gefeiert zu werden, und einen unwiderstehlichen Drang, von sich reden zu machen. Diese Schwäche hat gerade Bismarck mit besonderem Bedauern an ihm wahrgenommen. Schon früh fiel sie dem Kanzler und seinem Stabe unangenehm [500] auf. Moritz Busch schmälte bereits am 8. Januar 1872 darüber, daß St. über jede kleine Reform in zehn Zeitungen die Glocke läuten lasse. Mit den Jahren wuchs diese Reklamesucht. Jedermann kannte schließlich diese Stephan’sche Methode, und man sprach ziemlich öffentlich von den „bekannten classischen Dithyramben ad Stephanici operis laudem“. Darum verwundete es den genialen Mann am Abend seines Lebens auf das Tiefste, als man – wie es sich gezeigt hat, mit großem Rechte – von einem Nachlassen seiner Leistungsfähigkeit zu sprechen begann. So kam es, daß sein urwüchsiger Humor, der etwas von pommerschem Erdgeruch hatte, im Laufe der Zeit eine satirische Färbung annahm. In dem alternden Stephan lag ein Zug der Bitterkeit. Dazu gesellte sich ein hoher Grad von Eigensinn. Jeder Widerspruch pflegte ihn schwer zu reizen. Darunter litt offensichtlich die alte Freudigkeit seines Schaffens. Noch im J. 1880 hatte er wohl der Geschäftlast, die auf ihm ruhte, leicht gespottet: „Jam valent humeri“. Im März 1895 klagte er im Reichsstage über die geringe freie Zeit, die ihm zur Verfügung stände. Auch in den Urlaub folgten ihm die Mappen nach; „sie verfolgen mich wie die Furien des Orestes“.

Aber er behauptete doch noch bis zuletzt eine große Stellung. Bei den parlamentarischen Kämpfen erfocht er, auch wenn seine Position ungünstig war, meistens noch glänzende Siege, nicht nur, weil er in der Regel überlegene Sachkenntniß zeigte und seine rednerische Gewandtheit ihn stützte, sondern insbesondere, weil sein geschichtliches Ansehen die Gegenströmungen niederhielt. Seine Popularität war eben trotz allem noch derartig, daß sich darin mit ihm nur wenige Menschen messen konnten. Er war der Vertrauensmann der gesammten internationalen Postwelt, und das deutsche Volk hatte schon deswegen alle Ursache, ihm Einiges nachzusehen. Mit Theilnahme vernahm die ganze gebildete Welt die ersten Nachrichten von seiner Erkrankung an der Zuckerruhr[WS 2]. Schon seit 1883 zeigten sich deren Spuren. Im Winter 1896 traten Furunkeln bei ihm auf. Außerdem wollte eine Wunde an einer Zehe nicht wieder heilen. Noch im Januar 1897 vertrat er mit außerordentlicher Ueberwindung seiner selbst im Reichstage seinen Etat, obwohl er schon ein sterbender Mann war. Am 22. Februar 1897 mußte die Zehe amputirt werden. Am 7. April nahm Bergmann[WS 3] ihm den rechten Unterschenkel ab. Es schien so, als wenn er, wie sein Vorgänger und Gönner Schmückert, auf einem Bein durchs Leben wandern sollte. Aber schon in der ersten Morgenstunde des 8. April nahm ein früher Tod den Sechsundsechzigjährigen hinweg. Die für ihn auf Anordnung Kaiser Wilhelm’s II. in dem großartigen Lichthofe des Neubaues des Reichspostmuseums, dessen Fertigstellung zu erleben ihm nicht vergönnt sein sollte, am 11. April veranstaltete glänzende Leichenfeier, auf der Oberhofprediger Dryander die Rede hielt und bei der das Kaiserpaar, der Reichskanzler Fürst Hohenlohe, die Botschafter und eine große Zahl sonstiger höchster Würdenträger zugegen waren, bildete den würdigen Schlußaccord dieses thaten- und erfolgreichen Lebens. Er ruht auf dem Dreifaltigkeitskirchhofe zu Berlin.

Unstreitig ist St. eine der glänzendsten Erscheinungen in der Geschichte Wilhelm’s I. gewesen. Doch wird man sich bei einer Würdigung seines historischen Verdienstes davor zu bewahren haben, seine verkehrspolitischen Errungenschaften allzu hoch einzuschätzen. St. selbst zeigte zuweilen ein ganz richtiges Augenmaß für deren Unterschied von den eigentlichen politischen Thaten. Vor allen Dingen aber muß man bei einer solchen Würdigung berücksichtigen, daß St. durch die Zeit emporgetragen wurde. Die Bismarck’schen Großthaten ebneten ihm den Weg. Ohne sie wären Stephan’s Erfolge gar nicht denkbar. Immerhin nimmt der geniale Generalpostmeister Wilhelm’s I. in der Geschichte [501] der Post eine unvergleichliche Stellung ein. Die Popularität seines Namens, die sich auch in der Bezeichnung der untersten Organe seiner Verwaltung als „Stephansboten“ ausdrückt, wird dauernd bleiben.

Ein kleineres Denkmal für ihn wurde am 17. December 1898 in Schwerin enthüllt, ein stattliches Marmorstandbild schuf Uphues[WS 4] für den Lichthof des Reichspostmuseums, wo es seit dem Mai 1899 seinen Platz hat. Verwunderlich ist es, daß sich in der großen Postverwaltung noch Niemand gefunden hat, der auf Grund der amtlichen Acten und des offenbar stattlichen schriftlichen Nachlasses Stephan’s eine Biographie von monumentalem Charakter schrieb.

E. Krickeberg (Postsecretär)[WS 5], Heinrich von Stephan. Ein Lebensbild. Dresden u. Leipzig 1897. Auch unter dem Titel: Männer der Zeit. Lebensbilder hervorragender Persönlichkeiten der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit. Herausgeg. von Dr. Gustav Diercks. 1. Band. (Nach Materialien, die von Stephan’s Familie geliefert wurden.) – Ferdinand Hennicker (Geh. Postrath), Unter dem Zeichen des Verkehrs. Berlin 1895. (Nach Angaben Stephan’s.) – P. D. Fischer (Unterstaatssecretär im Reichspostamt) in der Cosmopolis, Berlin und Wien. April bis Juni 1897. S. 843 ff. – Alexander Meyer im Biographischen Jahrbuch, 2. Band, 1898, S. 196–207. – Stenographische Berichte des Deutschen Reichstages und des Preußischen Herrenhauses. – Die oben citirten Werke Stephan’s. – Mittheilung des Pfarramts der St. Johannisgemeinde zu Stolp i. P. – Karl Hilliger, 1848/49, historisch-politische Zeitbilder, insbesondere aus der Stadt Stolp. Stolp i. P. 1898, S. 109. – Dr. Neumann, Die Geschichte des Stolper Gymnasiums. Stolp i. P. 1907. – Fürst Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. – Moritz Busch, Tagebuchblätter. – Poschinger, Bismarck und der Bundesrath. – Sybel, Begründung des Deutschen Reiches, Band 6, S. 32 ff. – Oskar Grosse, Die Beseitigung des Thurn- und Taxis’schen Postwesens in Deutschland durch Heinrich Stephan. Minden i. W. 1898. (Weist Heinrich v. Sybel eine Reihe von Irrthümern nach.) – Gustav v. Diest, Aus dem Leben eines Glücklichen. Berlin 1904, S. 307 f. – Hugo Weithase, Geschichte des Weltpostvereins. Straßburg 1893. – R. Weise, Dr. Heinrich v. Stephan. Ein waidmännisches Erinnerungsblatt. Aus dem handschriftlichen Nachlaß des Verstorbenen zusammengestellt. Neudamm 1898. – Josef Hansen, Gustav v. Mevissen. Berlin 1906. – Der deutsch-französische Krieg. Redigirt vom Großen Generalstabe. – Ferdinand Hennicke, Heinrich v. Stephan. Westermann’s Monatshefte, 42. Jahrgang (1898), S. 25 ff. – Theodor Barth, H. v. Stephan. Nation, 14. Jahrgang 1897, 10. April. – Adolf Kohut, Moderne Geistesheroen. 3. Aufl. Berlin 1886, S. 44–92. – Otto Vieth, die Aera Stephan. Neue Zeit, 15. Jahrgang, Stuttgart 1897, S. 171–178. – A. v. Werner, Erinnerungen an Heinrich v. Stephan. Deutsche Revue, 22. Jahrgang, 2. Band, S. 257–266. – Zeitschrift des allgemeinen deutschen Sprachvereins. 10. Jahrgang, Nr. 6. – E. Hoffmann, Ein Stück nationaler Arbeit im deutschen Verkehrswesen, Deutsche Rundschau, Band 33 (1882), S. 30 ff. – J. Ronge, Ein Vierteljahrhundert Generalpostmeister, ebenda Band 83 (Mai 1895), S. 303 ff. – Zeitschrift des statistischen Bureaus. 1899, S. 204. – Ludwig Pastor, A. Reichensperger. Band 2, S. 100. – Ludw. Bamberger[1], Eine Erinnerung aus dem Jahre 1866. Nation, 15. Jahrgang, S. 491. – H. v. Taube, Graf Alexander Keyserling. Berlin 1902. – Chlodwig Hohenlohe. Band 2, S. 307. – Leipziger Illustrirte Zeitung, 27. April 1899. – Ueber Land und Meer, 41. Jahrgang (1899), Nr. 15.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 501, Z. 6 v. u. lies: Rudolf Bamberger (statt Ludw.). [Bd. 54, S. 795]


Anmerkungen (Wikisource)

  1. „In einem Fisch(schwanz) endet die oben schöne Frau“, schreibt Horaz in seiner „Ars poetica“.
  2. Diabetes mellitus.
  3. Ernst von Bergmann (1836-1907), Chirurg und Professor der Medizin, seit 1882 in Berlin.
  4. Joseph Uphues (1850-1911), deutscher Bildhauer.
  5. Elisabeth Krickeberg geb. Leeske (1861-1944), deutsche Schriftstellerin.