Begriff und Wesen des Staates

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Autor: Adolf Menzel
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Titel: Begriff und Wesen des Staates
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aus: Handbuch der Politik Erster Band: Die Grundlagen der Politik, Zweites Hauptstück: Der Staat, Abschnitt 6, S. 35−45
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
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Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
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[35]
Zweites Hauptstück.


Der Staat.




6. Abschnitt.


a) Begriff und Wesen des Staates.
Von
Hofrat Dr. Adolf Menzel,
o. Professor der Rechte an der Universität Wien.


Literatur:[Bearbeiten]

G. Jellinek, allg. Staatslehre 2. Aufl. 1905;
H. Rehm, allg. Staatslehre 1899;
R. Schmidt, allg. Staatslehre I, II 1901–03;
E. Loening Art. „Staat“ im Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 3. Aufl. Bd. 7, S. 692 ff (1911);
L. Gumplowicz, allg. Staatsrecht 3. Aufl. 1908;
Fr. Berolzheimer, Rechts- und Wirtschaftsphilosophie Bd. 3, 1906;
H. Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 1911;
H. Treitschke, Politik I, II, 1898;
I. Hatschek, allg. Staatsrecht 1910;
Ed. Meyer, Geschichte des Altertums 2. Aufl., 1907 Bd. I, Einleitung. Elemente der Anthropologie;
E. Bernatzik im Archiv f. öffentl. Recht Bd. 5 S. 242 ff;
G. Seidler, das juristische Kriterium des Staates, 1905;
P. Laband, das Staatsrecht des deutschen Reiches 5. Aufl. I S. 55 ff.;
O. Mayer in der Festschrift für Laband Bd. I, S. 46 ff. 1909);
G. Anschütz in der Enzyclopädie der Rechtswissenschaft, herausgegeben v. J. Kohler Bd. 2, S. 451 ff.

In allen diesen Werken, welche im folgenden nur mit dem Namen der Verfasser zitiert werden, finden sich auch weitere Literaturangaben. – Aus der französischen und englischen Literatur sind hervorzuheben:

H. Michel, l’idée del’Etat 1896;
L. Duguit, études de droit public I II 1901, 1903, traité d. dr. constit. 1911;
Burgess, political science 1892,
Bosanquet, philosphical theory of the State 2. ed. 1910,
W. Wilson, the State, elements of historical and practical politics, gekürzte deutsche Ausgabe von Thomas 1913.

Infolge der in diesem Handbuche getroffenen Stoff-Einteilung werden in den folgenden Zeilen einige Fragen, welche sonst gewöhnlich im Zusammenhange mit dem Begriffe des Staates zur Erörterung gelangen, wie das Verhältnis des Staates zur Gesellschaft, Staat und Recht, die Lehre von der Souveränetät und von der Einteilung der Staatsformen ausser Betracht gelassen, da diesen Themen besondere Abschnitte des Werkes gewidmet sind.

Inhaltsübersicht:[Bearbeiten]

I. Methodische Vorbemerkungen. II. Die soziologische Staatsidee. III. Organische Theorie. VI. Juristische Theorie. V. Energetische Theorie. VI. Die Lehre vom Staatszweck.

Methodische Vorbemerkungen.[Bearbeiten]

Eine wissenschaftliche Begriffsbestimmung des Staates muss sich vor Augen halten, dass es ihr Zweck ist, die Wirklichkeit zu erfassen; nur dann hat sie einen Erkenntniswert. Gewiss erscheint [36] es auch zulässig, eine Idee vom Staate in Worte zu fassen, d. h. auszuführen, welche Merkmale der Staat an sich tragen soll. Eine solche Betrachtungsweise muss sogar, vom kulturgeschichtlichen Standpunkte, als höchst bedeutungsvoll bezeichnet werden. Derartige philosophische Staatsbegriffe haben in der Geschichte der Menschheit eine wichtige Rolle gespielt. Dennoch sind sie nicht geeignet, dem rein wissenschaftlichen Bedürfnisse Rechnung zu tragen, das auf die Erkenntnis der Wirklichkeit gerichtet ist. Dieses Bedürfnis kann nur durch Anwendung der induktiven Methode erfüllt werden, also in der Weise, dass alle konkreten hierhergehörigen Erscheinungen, wie sie uns die Weltgeschichte in einer überwältigenden Fülle darbietet, zusammengefasst werden. Es muss der Versuch gemacht werden, gemeinsame Merkmale aufzufinden und in einen abstrakten Begriff zusammenzufassen.

Dieses methodische Prinzip wird zwar in der Gegenwart ziemlich allgemein anerkannt;[1] allein in seiner praktischen Durchführung ergeben sich doch gewisse Schwierigkeiten. Zunächst ereignet es sich nicht selten, dass in die Definition des Staatsbegriffes ein Merkmal Aufnahme findet, welches, wenn auch vielleicht unbewusst;[2] ein ideales Moment enthält. Wenn z. B. in einer der neuesten Darstellungen der allgemeinen Staatslehre[3] in die Definition des Staates der Satz aufgenommen wird, dass der Staat den Schutz und die Beförderung der Interessen der Beherrschten zu seinem Zwecke habe, so dürfte hier wohl eine Verwechslung zwischen den Kategorien des Seins und des Sollens vorgenommen sein.[4] Allein auch abgesehen von solchen dem empirischen Staatsbegriffe fremdartigen Zusätzen bietet die Anwendung der reinen Induktion noch manche Gefahren. Es ist nämlich gar nicht so einfach, eine Abgrenzung des gewaltigen Materials vorzunehmen, welches einem empirischen Staatsbegriffe zugrunde gelegt werden soll. Jemehr Erscheinungen aus dem Sozialleben der Menschheit für diesen Zweck herangezogen werden, jemehr der Forscher auch die primitiven Kulturzustände mit in Betracht zieht, desto geringer wird naturgemäss die Zahl der gemeinsamen Merkmale für den zu bildenden Staatsbegriff.[5] Umgekehrt hat eine Ausscheidung aller gesellschaftlichen Bildungen, welche der Urzeit oder den nur halbzivilisierten Völkern angehören, zur Folge, dass der Staatsbegriff schärfer definiert, aber auch in seinem Geltungsbereiche bedeutend eingeschränkt wird.

Eine weitere Gefahr ist darin gelegen, dass unter den Merkmalen des Staatsbegriffes nicht selten ein einzelnes besonders hervorgehoben und zum entscheidenden Kriterium des Staatsbegriffes erhoben wird, während es in Wirklichkeit entweder überhaupt nicht bei allen staatlichen Bildungen festgestellt werden kann oder doch wenigstens nur in verkümmerter Gestalt vorzukommen pflegt. Daraus erklären sich die grossen Meinungsverschiedenheiten, welche selbst noch in der Gegenwart in bezug auf das Wesen des Staates bestehen, obwohl manche Irrtümer der älteren Staatslehre erkannt und vermieden worden sind.

[37]

II. Die soziologische Staatsidee.[Bearbeiten]

Die soziologische Staatsidee,[6] welche auf deutschem Boden von Ludwig Gumplovicz begründet wurde,[7] erklärt den Staat als eine gesellschaftliche Einrichtung, die von einer siegreichen Menschengruppe einer besiegten Menschengruppe aufgezwungen wurde mit dem einzigen Zwecke, die Herrschaft der ersteren über die letztere zu regeln und gegen innere Aufstände und äussere Angriffe zu sichern. Als Hauptstütze dieser Auffassung dient der Hinweis auf die angeblich allbekannte Tatsache, dass die Entstehung von Staaten in der geschilderten Weise immer vor sich gegangen sei. Zwischen dem siegreichen Stamme und dem unterworfenen sei ursprünglich eine ethnische Verschiedenheit vorhanden (Rassenkampf), welche sich später zu einer sozialen Klassenbildung gestalte. Die Ungleichheit, sowie die Herrschaft einer Bevölkerungsklasse über die andere gehört demnach zum Wesen des Staates, welcher nichts anderes bedeute als eine Organisation dieser Herrschaft. Während sich Gumplowicz in fatalistischer Weise damit begnügt, diesen angeblich ewigen Charakter des Staates festzustellen, haben einzelne seiner Schüler die Hoffnung ausgesprochen, dass der Staat der Zukunft seinen gewaltsamen, ausbeuterischen Charakter verlieren wird.[8]

Die skizzierte Lehre vom Staate bezeichnet sich als die einzig wissenschaftliche Theorie, der gegenüber die bisherigen Auffassungen, obwohl sie eine mehr als zweitausendjährige Entwicklung aufweisen können, als blosse Klassentheorien verächtlich beiseite geschoben werden.[9] Dieses starke Selbstbewusstsein, mit welchem die soziologische Staatslehre auftritt, ist jedoch kaum geeignet, über ihre höchst mangelhafte Begründung hinwegzutäuschen. Zunächst ist in methodischer Beziehung zu bemerken, dass aus der Art der Entstehung des Staates ein sicherer Schluss auf das innere Wesen desselben nicht gezogen werden kann. Selbst wenn der Nachweis gelungen wäre, dass die Unterjochung eines Volksstammes durch einen andern den Ursprung der staatlichen Verbindung darstelle, so folgt daraus keineswegs mit Notwendigkeit, dass das Wesen des Staates zu allen Zeiten in der Klassenherrschaft gelegen sei. Es ist die Möglichkeit nicht abzuweisen, dass der Staat seinen ursprünglichen Charakter (Organisation einer siegreichen Menschengruppe) geändert haben kann.

Der empirische Beweis für die Lehre, dass die kriegerische Unterwerfung den einzigen oder auch nur den häufigsten Entstehungsgrund des Staates darstelle, ist keineswegs erbracht worden. Ohne auf dieses Thema näher einzugehen, da ihm ja ein besonderer Abschnitt dieses Werkes gewidmet ist, kann jedoch hier soviel bemerkt werden, dass die Vertreter der soziologischen Staatsidee konsequent die Veränderungen innerhalb der bestehenden Staatenwelt mit der ursprünglichen Entstehung des Staates verwechseln. Wenn z. B. darauf hingewiesen wird,[10] dass sich im Zweistromlande ein Staat nach dem andern durch Eroberung gebildet habe (Babylonier, Assyrer, Meder, Perser, Makedonier usw.), so ist damit gar nichts bewiesen. In allen diesen Fällen haben nicht staatslose Volksstämme miteinander gekämpft und durch Unterwerfung einen bisher nicht existierenden staatlichen Verband erzeugt, sondern es haben bereits bestehende Staaten von hoher Kultur miteinander gerungen. Der Siegeszug Alexanders des Grossen vernichtete das Reich der Perser und erweiterte in grossartigem Umfange das Gebiet des makedonischen Königreichs; was damit für die Entstehung des Staates bewiesen werden soll, bleibt unerfindlich. Übrigens zeigt die Geschichte auch zahlreiche Staaten, welche durch Kolonisation auf bisher unbesiedeltem Boden, ohne jede kriegerische Aktion entstanden sind.[11]

[38] Die Weltgeschichte kennt überhaupt nur staatlich organisierte Völker; die soziologische Theorie kann daher nur als eine Hypothese für die vorgeschichtliche Zeit angesehen werden. Übrigens hat einer der bedeutendsten Historiker der Gegenwart den überzeugenden Nachweis erbracht,[12] dass die Annahme eines staatlosen Urzustandes der Menschheit weder empirisch noch deduktiv begründet werden kann, dass der Staat ebenso alt ist wie das Menschengeschlecht, ja in einem gewissen Sinne älter als dasselbe. Schliesst man sich dieser Auffassung an, dann verliert die soziologische Staatsidee völlig ihre geschichtliche Grundlage. Dazu kommt, dass die Bildung von Kasten und Klassen nachweisbar häufig andere Ursachen gehabt hat als die kriegerische Unterwerfung eines Volksstammes. Die Herrschaft des Priesterstandes z. B. kann schwerlich auf derartige Ereignisse zurückgeführt werden; der Untergang des freien Bauernstandes in Deutschland hat mit der Unterjochung durch eine siegreiche Volksgruppe nicht das mindeste zu tun.

Die soziologische Richtung hat das grosse Verdienst, die Aufmerksamkeit auf die gesellschaftlichen Gegensätze innerhalb des Staatsganzen hingewiesen, die Klassenbildung und die sozialen Abhängigkeitsverhältnisse in scharfe Beleuchtung gerückt zu haben. Ihr Irrtum besteht jedoch darin, dass sie die trotz aller Gegensätze bestehende Solidarität der Interessen des staatlich geeinten Volkes ignoriert und namentlich jene Faktoren nicht würdigt, welche gegenüber den Klassengegensätzen die Gesamtaufgaben des Staates wahrnehmen und verteidigen. Heer und Beamtentum und in den monarchischen Staaten die Krone stellen solche Faktoren dar, welche geeignet sind, dem Staate den Charakter einer Klassenherrschaft zu benehmen. Ist doch selbst der Hauptvertreter der soziologischen Staatsidee genötigt anzuerkennen,[13] dass der Staat als oberster Friedensbewahrer und Verteidiger aller mit seinem Bestande nicht unvereinbarer Interessen der sozialen Kreise und Gruppen eine natürliche Funktion ausübe. Trifft dies zu, dann ist der Staat doch etwas anderes als organisierte Klassenherrschaft, dann ist er nicht ein Fabelwesen, wie ihn Anton Menger bezeichnet hat;[14] er fällt dann nicht zusammen mit der im politischen oder wirtschaftlichen Kampfe siegreichen Menschengruppe, so gross auch der Einfluss sein mag, den dieselbe innerhalb einer zeitlich beschränkten Epoche auf die Aktionen des Staates auszuüben vermag. Die Gesamtinteressen des staatlich geeinigten Volkes verstehen sich dessenungeachtet durchzusetzen.

III. Organische Theorie.[Bearbeiten]

Die Auffassung des Staates als Organismus bedeutet zunächst, dass die politischen Assoziationen der Menschheit auf naturgegebener Grundlage beruhen. Der Staat erscheint demzufolge nicht als eine künstliche Schöpfung reflektierender Vernunft, sondern als ein notwendiges Produkt menschlicher Anlagen, er bildet keinen Mechanismus, sondern einen Organismus. Dies gilt nicht nur vom Staat im allgemeinen, sondern auch von der konkreten Gestaltung, welche die politische Organisation eines Volkes angenommen hat. In dieser Beziehung wirken drei Faktoren zusammen für die Ausgestaltung der individuellen Staaten: die geographischen Bedingungen des Territoriums, die ethnische Veranlagung (Rasse und Nationalität) und schliesslich die geschichtliche Entwickelung des betreffenden Volkes. Innerhalb der dadurch gegebenen Schranken verbleibt der bewussten Einwirkung des menschlichen Willens ein beschränkter Raum für seine Betätigung.

In dieser allgemeinen Bedeutung wird die Richtigkeit der organischen Staatsauffassung in der Gegenwart kaum ernstlich bestritten. Neben der hohen Wertschätzung, welche dem geschichtlichen Faktor schon in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts beigelegt wurde, sind in der zweiten Hälfte desselben eingehende Untersuchungen über die geographischen Grundlagen der staatlichen Entwicklung[15] und über die politische Anthropologie gefolgt, welche, wie alle neuen [39] Richtungen es zu tun pflegen, von Übertreibungen nicht freigeblieben sind.[16] Dasselbe gilt auch von der bekannten These des wissenschaftlichen Sozialismus, welche im Staate lediglich einen Niederschlag der wirtschaftlichen Machtverhältnisse erblickt. Diese Theorie hat insofern eine innere Verwandtschaft mit der organischen Staatslehre, als sie die ganze politische Organisation als notwendige Folge sozialer und geschichtlicher Faktoren auffasst. Die praktisch-politischen Konsequenzen dieser Lehre sind freilich gänzlich verschieden von denjenigen der organischen Staatsauffassung, welche in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts vorgeherrscht hat.

Die Lehren der historischen Schule sowie der Philosophen Schelling und Hegel vom „Staat als Organismus“ waren zum grossen Teil gegen die naturrechtlichen Theorien gerichtet, welche den Staat als Kunstwerk, als Werk vernünftiger Überlegung angesehen und der Revolution das wissenschaftliche Werkzeug geliefert haben. Die organische Auffassung sollte jeden gewaltsamen Eingriff in die bestehenden staatlichen Zustände, jede künstliche Ausgestaltung des politischen Lebens nach allgemeinen Idealen als naturwidrig und gefährlich bezeichnen; die organische Theorie dieser Zeit trägt daher einen entschieden konservativen Charakter an sich. Wenn die radikalen Soziologen der Gegenwart zu ganz anderen Folgerungen gelangen, indem sie eine gänzliche Umwälzung der bestehenden staatlichen Verhältnisse als Ziel verkündigen, so ist dies mit dem theoretischen Ausgangspunkte, der Naturbedingtheit der politischen Organisation und der Einflusslosigkeit menschlichen Wollens im sozialen Organismus, schwer zu vereinigen.

Die organische Theorie im engeren Sinne begnügt sich aber nicht damit, den Staat als notwendiges Produkt bestimmter geschichtlicher, geographischer, ethnologischer und ökonomischer Faktoren hinzustellen, sondern sie sucht das Wesen des Staates dadurch zu erfassen, dass sie ihn als einen Organismus erklärt. Eine mächtige Förderung erhielt diese im Keime schon der antiken Staatslehre geläufige Vorstellung durch die grossartige Entwicklung der biologischen Wissenschaft im neunzehnten Jahrhundert. Ihre Ergebnisse auf die menschliche Gesellschaft anzuwenden war das Hauptbestreben namhafter Denker, welche den Ausbau einer besonderen Wissenschaft, der biologischen Soziologie, in Angriff genommen haben.[17] So anregend auch dieser Versuch für die Gesellschaftswissenschaft im allgemeinen gewirkt hat, so kann doch der Ertrag für die eigentliche Staatslehre nicht gerade hoch veranschlagt werden. Neben einigen wirklich vorhandenen Ähnlichkeiten, welche man zwischen dem Staate und einem physischen Organismus finden kann, wie in dem Zusammenwirken der verschiedenen Glieder auf Grund einer Arbeitsteilung, zeigen sich doch auch erhebliche Unterschiede zwischen einem gesellschaftlichen und einem physischen Organismus. Dies tritt namentlich hervor in dem Mangel eines körperlichen Zusammenhanges der einzelnen Teile und in der Unbestimmtheit der Abgrenzung sozialer Organisationen; dazu kommt, dass die Begriffe von Wachstum, Krankheit, Tod und Fortpflanzung nur in höchst gezwungener Weise auf die staatlichen Organismen übertragen werden können.

Die Vertreter der biologischen Richtung zeigen übrigens eine grosse Unsicherheit in bezug auf die Frage, ob die Gesellschaft oder der Staat als Organismus aufzufassen sei. Beides anzunehmen ist offenbar unmöglich, da sonst zwei verschiedene, dieselben Glieder umfassende oder mindestens sich teilweise deckende Lebewesen konstruiert werden müssten, wofür die Pflanzen- und Tierwelt keine Analogie bietet. Daher entscheidet sich die Mehrzahl dieser Soziologen dafür, nur der Gesellschaft und nicht dem Staate die Eigenschaft eines Organismus zuzusprechen; der Staat selbst erscheint dann nur als besonderes Organ, z. B. als das Gehirn des gesellschaftlichen Organismus oder gar als Parasit desselben (Lester Ward). Von dieser Seite wird daher der Staatslehre kaum eine ernste Förderung zuteil.

Unabhängig von dieser biologischen Richtung wurde die organische Theorie des Staates als eines geistig-sittlichen Organismus von dem Philosophen Krause und seinen Schülern, namentlich aber von dem grossen Germanisten Otto Gierke in einer Weise ausgestaltet, welche ihr zahlreiche [40] Anhänger verschafft hat.[18] Die Hauptgedanken dieser Theorie können in folgender Weise zusammengefasst werden. Es gibt neben den physischen Personen Verbandspersonen, welche zwar nicht sinnlich wahrnehmbar, aber wie jene wirkliche, lebendige Wesen sind. Ihre Substanz ist der allgemeine Wille, welcher aus den Willenssplittern der einzelnen Menschen gebildet wird und eine eigene reale Wesenheit besitzt; dadurch ist der Verband zu einem einheitlichen Leben befähigt. Die höchste und umfassendste dieser realen Verbandspersonen ist der Staat; er hat die machtvolle Durchführung des allgemeinen Willens zum Inhalte, lässt aber neben sich den Willen der einzelnen Menschen und der dem Staate eingegliederten Körperschaften bestehen. Gegen diese Auffassung ist häufig das Bedenken erhoben worden, dass die Wissenschaft nur sinnlich wahrnehmbare Objekte anzuerkennen in der Lage sei, dass daher die Annahme solcher von den Einzelmenschen verschiedenen, lebendigen Verbandswesen in das Gebiet des Transzendenten, also des Glaubens gehöre.[19] Diese Einwendung ist unbegründet, da alles Psychische, auch das des Einzelmenschen nur aus seinen Wirkungen erkannt werden kann.[20]

Mehr Beachtung verdient die Behauptung, dass der Gesamtwille auch als psychische Realität in der Erfahrung nicht gegeben sei, dass die Wirkungen, welche als Emanationen des Gemeinwillens von der organischen Theorie behauptet werden, sich bei näherer Betrachtung nur als Willensakte einzelner physischer Personen darstellen. Allein namhafte Psychologen der Gegenwart nehmen keinen Anstand, den Gesamtwillen als eine psychische Realität anzuerkennen und gewähren damit der organischen Staatslehre eine wissenschaftliche Basis.[21] Entscheidend dürfte jedoch die Erwägung sein, dass auf Grund der geschichtlichen Erfahrung eine gemeinsame Willensrichtung der Staatsbürger als Grundlage des Gesamtwillens nur in jenen Staatsformen festgestellt werden kann, bei welchen in den wichtigsten Aktionen des Staates auf eine Mitwirkung des Volkes, mindestens in der Gestalt der öffentlichen Meinung Rücksicht genommen wird.[22] In der absoluten Monarchie, aber auch in der reinen Aristokratie wird der Wille des Staates gewiss nicht in der Weise gebildet, dass er sich als eine Zusammenfassung der Individualwillen darstellt. Mit anderen Worten, die organische Staatslehre enthält überwiegend ein ideales Moment, dem sich der moderne Kulturstaat zusehends nähert; sie versagt aber, wenn man die älteren Epochen des Staatslebens, insbesondere die despotischen Staatsformen in Betracht zieht, und kann daher als eine allgemeine Theorie des Staates schwerlich Richtigkeit haben.[23]

IV. Juristische Theorie.[Bearbeiten]

Die juristische Theorie des Staates sucht sein Wesen in der Weise zu erfassen, dass er als Rechtsbegriff erscheint; dabei wird von der Mehrzahl derjenigen, welche diese Auffassung vertreten, zugegeben, dass damit nicht das ganze Wesen des Staates erschöpft sei,[24] sondern nur eine, [41] allerdings besonders wichtige Seite des Staatsbegriffes erfasst werde. Gemeinsam ist allen juristischen Lehren vom Staate der Gedanke, dass zwischen ihm und den seiner Herrschergewalt unterworfenen Personen ein Rechtsverhältnis mit wechselseitigen Rechten und Pflichten bestehe, dass auch der Herrscher Rechtsnormen unterworfen sei und dass er seine Gewalt nur im Namen des Staates ausübe. Meist[25] fällt diese Lehre zusammen mit der sogenannten Persönlichkeitstheorie, der zufolge der Staat den Charakter einer juristischen Person besitzt, mag die Grundlage derselben als natürliche Verbandseinheit (organische Theorie) oder als teleologische Einheit (Persönlichkeitstheorie im engeren Sinne) formuliert werden.[26]

Es ist nicht zu bezweifeln, dass diese juristische Staatstheorie den Vorstellungen durchaus entspricht, welche die Kulturstaaten der Gegenwart beherrschen. Ob sie aber geeignet ist, die Grundlage für eine allgemeine Theorie des Staates abzugeben, muss denn doch bezweifelt werden. Der Nachweis, dass in Wirklichkeit zu allen Zeiten das Verhältnis zwischen der Staatsgewalt und den Staatsbürgern den Charakter eines Rechtsverhältnisses besass, dass auch der Inhaber der Herrschergewalt durch das Recht gebunden war, wird wohl schwerlich erbracht werden können.[27] Den grossen Kulturstaaten des alten Orients ist der Gedanke offensichtlich ganz fremd, dass zwischen dem Herrscher und den Untertanen ein Rechtsverhältnis bestehe. Aber auch die griechische Staatenwelt und das römische Imperium enthalten nur schwache Spuren der rechtsstaatlichen Idee. In der Staatslehre des Aristoteles, welche einen so hohen Rang in der Geschichte der politischen Wissenschaft einnimmt, wird man nur wenige Bemerkungen finden, welche als eine juristische Auffassung des Staates gedeutet werden können. Soll man wirklich annehmen, dass diesem umfassenden Geiste das entscheidende Merkmal des Staatsbegriffes völlig entgangen sei ? Das ist höchst unwahrscheinlich; vielmehr liegt es nahe zu vermuten, dass die wirkliche Staatenwelt, die er so gründlich erforscht hatte, ihm keinen Anlass bot, den Staat als Rechtsbegriff zu erfassen.[28]

Wenn man dennoch an dieser juristischen Auffassung festhalten wollte, dann wäre man genötigt, den Geltungsbereich des Staatsbegriffes auf die heutige europäisch-amerikanische Staatenwelt einzuschränken; es würde dann die grosse geschichtliche Entwicklung bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts herausfallen. Ein solches Verfahren kann aber vom wissenschaftlichen Standpunkt nicht empfohlen werden. Unter diesen Umständen kann daher die juristische Formulierung des Staatsbegriffes nur als eine historische Kategorie in der staatlichen Entwicklung, keineswegs aber als ein notwendiger Bestandteil des allgemeinen Staatsbegriffes aufgefasst werden. Wir können also nur sagen, dass der Staat in der Gegenwart, vielleicht in der Zukunft, auch ein Rechtsbegriff sei.

V. Energetische Theorie.[Bearbeiten]

Die juristische Theorie des Staates kann aber auch aus dem Grunde nicht als eine das Wesen dieser Einrichtung erfassende Begriffsbestimmung angesehen werden, weil sie doch immer [42] den Staat nur als eine gedankliche Operation, als eine zu bestimmten Zwecken vorgenommene Synthese erfasst.[29] Wenn wir nun aber in Erwägung ziehen, dass die ganze Weltgeschichte erfüllt ist von den Wirkungen, welche die staatlichen Verbindungen der Menschen nach aussen und im Innern ausgeübt haben, so ist der Gedanke unabweislich, dass wir es beim Staate mit einer Realität, mit einer der Welt des Seins angehörigen Erscheinung zu tun haben. Die organische Theorie hat dies richtig herausgefühlt, aber eine Erklärung versucht, welche nicht vollkommen befriedigt, da für eine Reihe von staatlichen Gebilden die Konstruktion eines Gesamtwillens aus der Vereinigung der Einzelwillen kein Abbild der Wirklichkeit darstellt. Es muss also ein anderer Weg gesucht werden, welcher dahin führt, die reale Natur des Staates so zu beschreiben, dass alle im Laufe der Weltgeschichte auftauchenden staatlichen Verbindungen der Menschen dadurch erfasst werden können.

In dem Begriffe der Energie, wie ihn die moderne Naturwissenschaft ausgebildet hat, dürfte dieses Ziel annäherungsweise erreicht werden. Dieser Begriff beschränkt sich nicht auf die mechanischen und chemischen Kräfte, sondern hat bereits in der Biologie seine Anwendung gefunden in der viel geschmähten, aber doch unentbehrlichen Lebenskraft. Dieselbe setzt sich allerdings in letzter Linie aus mechanischen und chemischen Kräften zusammen, bildet aber doch eine eigenartige, von diesen Elementen verschiedene, höhere Gestaltung der Energie. Es steht nichts im Wege, eine neue Erscheinungsform, die soziale Energie als die Ursache aller jener Wirkungen zu bezeichnen, welche aus einer eigentümlichen Zusammenfassung biologischer Energien hervorgeht. In der Tat ist es nicht zu bezweifeln, dass wir es beim Staate mit einer Kraft-Erscheinung zu tun haben,[30] deren Elemente zwar in den physischen und psychischen Energien der einzelnen zum Staate gehörigen Menschen gegeben sind, welche aber doch verschieden ist von einer blossen Summierung dieser Kräfte. Schon der Umstand, dass die Komponenten dieser Gesamtkraft im ständigen Wechsel begriffen sind, während diese einen dauernden Charakter an sich trägt, bezeugt die Selbständigkeit der aus dem Zusammenwirken hervorgehenden Energie.

Indem die einzelnen, staatlich vereinigten Menschen physische, ökonomische, geistige und moralische Kräfte dem Ganzen, das wir Staat nennen, zur Verfügung stellen, hören sie aber durchaus nicht auf, selbständige Kraft-Zentren zu bilden. Dadurch entsteht eine eigentümliche Wechselwirkung zwischen der zur Selbständigkeit erhobenen Gesamtenergie und den Einzelkräften, welche das ständige Reservoir der Gesamtkraft darstellen. Es können daraus Gegensätze und Reibungen entstehen, für welche der physische Organismus kein Vorbild abgeben kann, weil hier von vornherein alles auf ein geordnetes Zusammenwirken abgestellt ist. Die Tatsache, der zufolge die einzelnen Staatsglieder einen Teil ihrer Kräfte und Leistungen dem Staate zur Verfügung stellen, [43] kann verschiedene Ursachen haben. Sie kann einfach die Folge eines urwüchsigen Instinktes sein, wie er schon in den sog. Tierstaaten zum Ausdruck kommt. Es kann das Gefühl der Furcht vor einer höheren göttlichen oder menschlichen Gewalt, es kann das Gefühl der Liebe zum Herrscher oder zum genossenschaftlichen Verbande ausschlaggebend sein; es kann die Gewohnheit oder einfach die Indolenz dieses Verhalten der Menschen herbeiführen; es kann schliesslich vernünftige Erwägung, bewusste Reflexion denselben Effekt haben.[31]

Die so gesammelten, sachlichen und persönlichen Dienstleistungen führen zu dauernden Einrichtungen, in welchen die Gesamtkraft ihren Ausdruck findet. Dabei ist es durchaus nicht notwendig, dass jene Menschen, welche als Glieder des Staatsverbandes die Quellen für diese höhere Energie darstellen, auch die Verfügung über dieselbe ganz oder teilweise besitzen. In den despotischen Staatsformen tritt dies am klarsten hervor; aber auch in den zivilisierten Staatsformen ist die Verfügungsgewalt keineswegs so geordnet, dass sie gleichmässig auf diejenigen verteilt ist, welche ihre Kräfte zur Bildung der Gesamtenergie zur Verfügung stellen. Zum Begriffe des Rechtsstaates genügt es vollkommen, wenn allgemeine Regeln darüber bestehen, unter welchen Voraussetzungen von den einzelnen Bürgern Leistungen für den Staat in Anspruch genommen werden können und darüber, welche Personen berechtigt sind, über die geschaffene Gesamtkraft zu verfügen. Erst die Ziehung solcher Grenzen bewirkt, dass das Verhältnis der Einzelnen zum Staate durch Rechtsregeln bestimmt wird; erst unter dieser Voraussetzung wird der Staat auch zum Rechtsbegriffe, ohne damit seine wahre Natur zu ändern, nämlich seinen energetischen Charakter. Darnach erscheint der Staat als die Gesamtheit der Einrichtungen, welche dazu dienen, die Kollektivkraft eines Volkes zu bilden und über sie zu verfügen.

VI. Die Lehre vom Staatszweck.[Bearbeiten]

In einem Handbuche der Politik darf eine prinzipielle Erörterung über den Staatszweck nicht fehlen.[32] Da finden wir zunächst die auffallende Erscheinung, dass manche Autoren die Berechtigung der Frage nach dem Staatszwecke überhaupt in Abrede stellen. In dieser Auffassung begegnen sich merkwürdigerweise einzelne begeisterte Apostel der Staatsidee mit radikalen Gegnern derselben. Wer in dem Staate eine göttliche Einrichtung erblickt, wer auch nur annimmt, dass derselbe eine Verkörperung der sittlichen Idee oder eine Inkarnation der Vernunft bedeute, wird leicht geneigt sein, die Frage nach dem Zwecke des Staates als eine Herabwürdigung dieser erhabenen Institution, mindestens als eine überflüssige Problemstellung zu bezeichnen. Umgekehrt behaupten die Vertreter der soziologischen Staatsidee, namentlich aber die Theoretiker des Sozialismus und Anarchismus, dass der Staat überhaupt oder mindestens der Staat in der bisherigen Geschichtsentwicklung als nackte Klassenherrschaft keinen besonderen Zweckgedanken zum Ausdruck bringe. Er sei ein Fabelwesen; in Wirklichkeit handelt es sich dabei immer nur um die egoistischen Zwecke der herrschenden Gesellschaftsgruppen.[33]

[44] Es gibt aber noch eine dritte Gruppe von Schriftstellern, welche die Stellung einer Frage nach dem Zwecke des Staates aus rein theoretischen Gründen ablehnen zu müssen glauben. Die Organiker, welchen der Staat als wirkliches Lebewesen erscheint, erklären, dass man nach einem Zwecke des Staates ebensowenig fragen könne, wie nach dem Zwecke eines Tieres oder einer Pflanze; von diesem Standpunkte aus könne man höchstens behaupten, dass der Staat Selbstzweck sei.[34] Zuweilen wird auch darauf hingewiesen, dass die Annahme eines Zweckes die Existenz von Vorstellungen und Gefühlen voraussetze; solche sind aber in der bisherigen Erfahrung nur im Bereiche der Einzelseelen festgestellt worden. Der Staat könne sich daher keine Zwecke setzen, weil ihm die entsprechenden seelischen Voraussetzungen fehlen, die selbst dann, wenn man die Existenz eines Gesamtwillens anzunehmen geneigt ist.[35] Ohne dass hier auf die Widerlegung der vorstehenden Bedenken näher eingegangen werden kann, muss darauf verwiesen werden, dass das Problem des Staatszweckes doch einen Sinn und eine Berechtigung besitzen muss, weil es sonst unbegreiflich wäre, wie sich eine Reihe der hervorragendsten Philosophen und Politiker im Verlaufe vieler Jahrhunderte mit diesem Gegenstande eingehend beschäftigt haben. Es gilt nun, den Sinn des ganzen Problems in Kürze festzustellen.

Von einem Staatszwecke im objektiven Sinne kann insofern die Rede sein, als die Institution des Staates bestimmte geschichtliche und kulturelle Wirkungen mit sich bringt. Diese Folgewirkungen des Staates knüpfen sich entweder gleichartig an alle geschichtlich bekannten Volksgemeinschaften, oder sie tragen einen spezifischen Charakter, d. h. sie bilden eine spezifische Wirkung konkreter Staatseinrichtungen. In diesem Sinne kann man von allgemeinen und besonderen Staatszwecken in objektivem Sinne sprechen. Der Gebrauch dieses Ausdruckes ist ebenso berechtigt wie in der Naturforschung, welche z. B. von den Zwecken einzelner Organe der Tiere und Pflanzen spricht; es wird gesagt, dass ein Organ der Abwehr äusserer Gefahren, ein anderes der Ernährung, ein anderes der Fortpflanzung dient. Bei dieser Betrachtung des Staates handelt es sich keineswegs um eine spekulative Untersuchung, um etwas, was dem Bereiche der Metaphysik angehört; der Staatszweck im objektiven Sinne bewegt sich vielmehr durchaus auf dem Boden der Empirie.[36]

Man kann aber auch die Frage so formulieren, dass der Staatszweck im subjektiven Sinn festgestellt werden soll, d. h. die Summe jener Zweckvorstellungen, welche die im Namen des Staates handelnden Personen beherrschen. Auch diese Vorstellungen gehören der Wirklichkeit an, sind aber nur für denjenigen unmittelbar gegeben, welcher Staatszwecke realisiert. Für andere Menschen kann nur auf indirektem Wege das Dasein dieser Zweckvorstellungen festgestellt werden. Besonders schwierig erscheint die Konstatierung solcher Vorstellungen für eine weit zurückliegende Vergangenheit; ausgeschlossen ist es jedoch keineswegs, dass mit Hilfe historischer Dokumente eine Rekonstruktion der subjektiven Zweckvorstellungen herbeigeführt wird. Das Ergebnis solcher Forschungen muss keineswegs mit jenen Tatsachen übereinstimmen, welche vorhin als objektiver Staatszweck bezeichnet worden sind. Ereignet es sich doch nicht selten, dass die tatsächlichen Wirkungen von Willensakten anders gestaltet sind, als sie nach der subjektiven Zweckvorstellung eintreten sollten. So wäre es insbesondere möglich, dass die zunächst im eigenen Interesse von einem Monarchen oder einer herrschenden Gruppe inszenierten Massregeln in Wirklichkeit Folgen herbeiführen, welche den Interessen der Untertanen dienen. In der Regel wird allerdings der Staatszweck im objektiven und im subjektiven Sinne vielfach zusammentreffen.

Eine dritte Bedeutung, welche der Frage nach dem Zwecke des Staates beigelegt werden kann, ist darin gelegen, welche Aufgaben der Staat verfolgen soll, also Staatszweck im ethisch-politischen Sinne. Dabei kann man wieder unterscheiden zwischen dem sog. absoluten Staatszwecke, welcher für alle Staaten als verbindlich behauptet wird, und dem relativen Staatszwecke, welcher nur für einen bestimmten Staat oder doch für die Staaten einer bestimmten Kulturperiode ermittelt werden soll. Wer die unendliche Fülle der Vorschläge betrachtet, welche im Laufe der [45] Jahrhunderte gemacht worden sind, um dieses Problem zu lösen, muss zur Überzeugung gelangen, dass es unmöglich ist, in einer abstrakten Formel das Problem des Staatszweckes im ethisch-politischen Sinne zu lösen. Das zeigt sich auch bei den Erörterungen, welche die Staatslehre der Gegenwart dieser Frage gewidmet hat.

Wenn z. B. Jellinek die Mitarbeit an der fortschreitenden Entwicklung der dem Staate eingegliederten Personen und dann die Mitarbeit an der Entwicklung der menschlichen Gattung als Endziel des Staates bezeichnet,[37] so zeigt eine nähere Betrachtung, dass hier mit unbestimmten mehrdeutigen Ausdrücken (Fortschritt, Entwicklung) operiert wird. Wenn ferner Richard Schmidt aus dem Wesen der staatlichen Organisation folgern zu können glaubt, dass sich die Tätigkeit der Staatsorgane nach den Bestrebungen der Gesamtheit der einzelnen Staatsglieder richten müsse,[38] so bleibt es unklar, was zu geschehen hat, wenn diese Bestrebungen differieren. Die Beschaffung aller Mittel zur Entfaltung des menschlichen Lebens in höchster Vollkommenheit, wie G. Seidler[39] den Staatszweck formuliert, hat das Bedenken gegen sich, dass der Begriff der Vollkommenheit sehr verschieden gedeutet werden kann. Der Satz, dass die Herrschergewalt die Interessen der Beherrschten zu schützen und zu fördern hat (E. Loening) bedarf, wie sein Urheber selbst anerkennt, der Ausführung und Erläuterung.[40] Ebenso bieten die Formeln: Schutz der Gesamtinteressen, der Durchschnittsinteressen aller Bürger, Verwirklichung des Gemeinwillens, das Wohl des Volkes, die Erzielung der grössten Freiheit, die Realisierung der Solidarität usw. keinerlei Lösung des aufgeworfenen Problems.[41]

Es liegt in der Natur eines ethisch-politischen Problems, dass die Versuche zur Lösung desselben immer einen subjektiven Charakter an sich tragen oder doch nur zu mehrdeutigen, inhaltsleeren Formeln führen. Nur in bezug auf einzelne Aufgaben des Staates kann auf Grund der geschichtlichen Erfahrung mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die Behauptung aufgestellt werden, dass die betreffenden Ziele auch in Zukunft vom Staate werden verfolgt werden. Dies gilt in erster Linie vom Machtzwecke des Staates; doch könnte auch hier, wenn sich die allgemeine Friedensidee einmal realisieren sollte, eine Einschränkung der auf den Machtzweck gerichteten Massnahmen des Staates eintreten. Aber auch dann wird die Ansammlung von Machtmitteln zum Schutze der Ordnung im Innern des Staates immer noch unentbehrlich bleiben. Die Erzeugung und Fortbildung des Rechtes sowie der Schutz der Rechtsordnung wird nach aller menschlichen Voraussicht immer als eine wesentliche Aufgabe des Staates anzusehen sein. Was aber den sog. Kulturzweck anbelangt, so kann, trotz der in der Gegenwart herrschenden Tendenz zu einer ständigen Erweiterung dieses Zweiges der Staatstätigkeit nicht mit voller Sicherheit behauptet werden, dass wir es dabei mit einem sozialen Gesetze zu tun haben; vielmehr ist die Möglichkeit in der Zukunft gegeben, dass wieder eine Einschränkung der Staatsfunktionen oder doch eine Übertragung derselben auf öffentliche Korporationen, insbesondere auf Interessentenvertretungen erfolgen könne.





  1. Jellinek S. 130 ff unterscheidet eine objektive und eine subjektive Betrachtungsweise des Staates, je nachdem die äusseren Vorgänge, welche sich in Zeit und Raum abspielen, oder die psychischen Akte, welche mit dem staatlichen Handeln verbunden sind, der Forschung zu Grunde gelegt werden. Diese Unterscheidung ist nicht glücklich formuliert. Jede wissenschaftliche Betrachtung muss objektiv sein; die psychischen Vorgänge, welche mit dem Staatsleben zusammenhängen, müssen ebenso objektiv festgestellt und verglichen werden, als die äusseren Geschehnisse. Subjektiv ist hingegen eine Untersuchung, wenn der Gesichtspunkt des Wertes zugrunde gelegt wird.
  2. Diese unbewusste Einwirkung von Zweck- und Wertgedanken ist ein charakteristisches Merkmal der Sozialwissenschaften; vgl. meine Schrift „Natur- und Kulturwissenschaften“ Leipzig 1903.
  3. Loening a. a. O. Übrigens ist dieser Artikel eine der besten Darstellungen der allgemeinen Staatslehre.
  4. Dass auch der organischen und der juristischen Staatstheorie ein ideales Moment zu Grunde liegt, wird unten gezeigt werden. Die soziologische Staatslehre enthält gewissermassen ein negatives Ideal; sie malt den Staat der Vergangenheit und der Gegenwart in den düstersten Farben.
  5. Dies ist die Verfahrungsweise von Ed. Meyer a. a. O., weshalb er z. B. das Gebiet nicht als Begriffsmerkmal des Staates anerkennt.
  6. Streng genommen gibt es nicht eine einheitliche soziologische Staatsidee. Die zahlreichen Richtungen, welche in der soziologischen Wissenschaft vertreten sind (vgl. meine Schrift „Naturrecht und Soziologie“ 1912), bedingen auch verschiedene Staatsauffassungen. Allein es ist üblich geworden, jenen Ausdruck in dem eingeschränkten Sinne der Rassen- oder Klassentheorie zu verwenden. In den meisten Darstellungen der allgemeinen Staatslehre wird übrigens diese Lehre ignoriert.
  7. Namentlich in dem Werke „Die soziologische Staatsidee“, 2, Aufl. 1902; als Schüler sind zu nennen G. Ratzenhofer und F. Oppenheimer.
  8. So bes. F. Oppenheimer in dem Werke „Der Staat“ 1909.
  9. Oppenheimer a. a. O. S. 6.
  10. Oppenheimer S. 9, 10.
  11. Die gewaltige Ausnahme, welche die United States, in bezug auf die Kampf-Theorie bedeuten, wird von Oppenheimer S. 10 damit erklärt, dass sich hier die auszubeutende Menschenrasse selbst importiert hat!
  12. Ed. Meyer a. a. O.
  13. Gumplowicz S. 102: „Dabei fällt dem Staate die Rolle zu, die ungleichen sozialen Elemente durch eine ihnen aufgezwungene Rechtsordnung stets in einem labilen Gleichgewicht zu erhalten.“ Wie kann aber der „Staat“ dann identisch sein mit der herrschenden Gruppe?
  14. „Neue Staatslehre“ S. 201.
  15. Hierher gehören namentlich die bedeutenden Werke von Fr. Ratzel.
  16. Eine ganz neue Richtung, welche auch für die Staatslehre bedeutungsvoll ist, hat K. Lamprecht eingeschlagen, indem er in seiner „Deutschen Geschichte“ die Abhängigkeit des jeweiligen Charakters der staatlichen Einrichtungen von dem nationalen Seelenleben, von der psychischen Grundstimmung des Zeitalters dargelegt hat.
  17. Ihre Hauptvertreter sind: H. Spencer, P. von Lilienfeld, A. Schäffle, R Worms.
  18. O. Gierke, die Grundbegriffe des Staatsrechts 1874, das deutsche Genossenschaftsrecht, 1868–1881, die Genossenschaftstheorie und die deutsche Rechtssprechung 1887, das Wesen der menschlichen Verbände 1892.
  19. So besonders Loening a. a. O. 699 und Dugnit a. a. O.
  20. Auch der Einzelwille ist nicht unmittelbar wahrnehmbar. Es kann sich also nur darum handeln, ob genügende Gründe aus der Erfahrung zu entnehmen sind, um auf die Existenz eines Gesamtwillens schliessen zu können.
  21. So bes. W. Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie 5. Aufl. III, S. 277, System der Philosophie 2. Aufl. S. 624, 626, Völkerpsychologie, 2. Aufl. I, 1, S. 7 ff.
  22. Darauf weist auch hin Preuss „über Organpersönlichkeit“ in Schmollers Jahrbuch 1902 II S. 125, welcher in der öffentlichen Meinung eine charakteristische Erscheinungsform des Gemeinwillens erblickt.
  23. Die organische Theorie enthält das ideale Moment, dass sich der Wille des Staates möglichst den Interessen der Staatsglieder anpassen solle; darauf hat R. Schmidt a. a. O. I S. 236 aufmerksam gemacht.
  24. So die herrschende Meinung, wie sie namentlich durch Jellinek vertreten wird; sie unterscheidet einen sozialen und einen juristischen Staatsbegriff. Hingegen erklärt Loening S. 694, dass der Staatsbegriff ein einheitlicher u. zw. ein Rechtsbegriff sei. Dieselbe Auffassung vertritt neuestens Kelsen a. a. O., welcher (S. 163 ff) sowohl einen realen Gesamtwillen des Staatsvolkes als auch eine teleologische Einheit desselben verwirft und erklärt, dass durch einen rein juristischen Akt die heterogensten Elemente zum Staatsvolke vereinigt werden; die Gesellschaft sei eine davon ganz verschiedene, an die Staatsgrenzen nicht gebundene, innerhalb derselben vielfach gespaltene geistige Gemeinschaft. Ja, er geht so weit zu bezweifeln, (S. 173) dass es irgend einen gemeinsamen Zweck gibt, den alle innerhalb der Staatsgrenzen vereinigten Menschen verfolgen. Allein das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit der Bürger eines Staates, das Streben nach gemeinsamen Zielen, die Opferwilligkeit bei den Staat bedrohenden Gefahren, sind elementare Tatsachen der Weltgeschichte, welche nicht ignoriert werden dürfen.
  25. Anders Loening a. a. O. Er erblickt im Staate ein Rechtsverhältnis. Jellinek meint, dass es noch eine dritte Möglichkeit einer juristischen Auffassung des Staates gebe, der Staat als Rechtsobjekt (S. 157). Das ist ein Irrtum; hierin liegt eine Negation von Rechtsbeziehungen zwischen dem Herrscher und den Beherrschten.
  26. Gegen die Konstruktion des Staates als juristische Person erklärt sieh mit beachtenswerten Argumenten Otto Mayer in der oben zitierten Festschrift; vgl. auch Dugnit a. a. O.
  27. Loening anerkennt S. 694, dass in der absoluten Monarchie der Herrscher seine Gewalt rechtlich unbeschränkt auszuüben hat. Bezüglich Russlands bemerkt er S. 720, dass hier bis 1905 die reine Form der unbeschränkten Monarchie bestand; nicht einmal die Thronfolge-Ordnung habe den Kaiser gebunden. Wie stimmt es aber damit, dass (S. 704) der Staat stets ein Rechtsverhältnis zwischen dem Inhaber der Gewalt und der Beherrschten sei, dass (S. 713) auch der Herrscher dem Rechte unterworfen sei? War also denn Russland bis 1905 kein Staat?
  28. Jellinek erklärt einmal (S. 361) es als eine historische Frage, ob der Staat durch das Recht gebunden sei. Das ist ganz richtig, aber im Widerspruch mit seiner Darstellung auf S. 132 ff, wonach der Staat stets ein Rechtsbegriff sei. „Die juristische Erkenntnis des Staates hat zum Gegenstande die Erkenntnis der vom Staate ausgehenden, seine Institute und Funktionen zu beherrschen bestimmten Rechtsnormen.“ (S. 132.)
  29. Daher dürfte auch die vom methodologischen Standpunkte interessante Ausführung Max Webers im Archiv für Sozialpolitik Bd. 19, S. 71), derzufolge der Staat nur eine gedankliche Synthese von Handlungen der Menschen bedeute, dem Wesen des Staates nicht gerecht werden. Dann wäre der letztere abhängig von den jeweiligen, unter sich verschiedenen Vorstellungen, welche die Menschen sich vom Staate bilden; so richtig Loening S. 701. Allein auch dieser Schriftsteller bleibt im Bereiche der blossen Vorstellung vom Staate, wenn er ihn als Rechtsverhältniß bezeichnet. Durch die Hinzufügung des Beiwortes „real“ hört dasselbe nicht auf, etwas bloss Gedachtes zu bilden.
  30. Der Hauptvertreter der modernen Energetik, W. Ostwald, hat in seinem Werke „Die energetischen Grundlagen der Kulturwissenschaft“ (1909) das 12. Kapitel der Betrachtung des Staates gewidmet („der Staat und seine Gewalt"). Der erwartungsvolle Leser erfährt dabei eine gewisse Enttäuschung. Hier wird von der Bedeutung der Kriegsheere und von der Konzentration des Geldkapitals gesprochen; jener Staat sei am mächtigsten, welcher über die beste Armee und über das meiste Geld verfüge (S. 159 ff). Dass das heilige Römische Reich zu Grunde gegangen ist, weil es keine zusammengefasste Energie darstellte (S. 160), dürfte schwerlich als eine neue Auffassung bezeichnet werden können. Auch was Ostwald S. 110 über die Lehre Rousseaus vorbringt, zeigt, dass er auf dem Gebiet der Staatslehre nicht genügend orientiert ist. Spuren der energetischen Auffassung des Staates finden sich schon bei Spinoza, dessen Lehre vom Staatsvertrage, wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, keinen juristischen, sondern einen realpsychologischen Charakter an sich trägt. Vgl. meine Abhandlung in Grünhuts Zeitschrift Bd. 34 S. 451 und jetzt Rosin in der Festschrift für Gierke „Bismarck und Spinoza“ S. 383 ff.
  31. Eine gewisse Verwandtschaft hat die hier angedeutete Auffassung des Staates mit der Lehre Berolzheimers. Er erblickt (a. a. O. S. 23, 24) im Staate den rechtsartifiziellen Grund-Kraftquell. Kraft ist, was Wirkung tatsächlich verursacht; artifiziell ist jene Kraft, die mit der Bildung menschlicher Gemeinschaftsverbände geschaffen wird. Die staatlich organisierte Menschheit weist gegenüber der vorstaatlichen Gruppengemeinschaft ein Plus an Kraft auf. Dieser Kraftgewinn erfolgt aber nicht durch bewusst planmässiges Handeln, vielmehr regelmässig durch religiöse Illusion (S. 57). Dazu möchte ich, eingehende Auseinandersetzung vorbehalten, kurz bemerken, dass die religiöse Illusion für die Anfänger des Staatslebens gewiss höchst bedeutungsvoll erscheint, aber später durch andere psychologische Momente ersetzt wird. Auch würde der Staat richtiger nicht als Kraftquelle zu bezeichnen sein (denn die Quelle der erhöhten Kraft liegt immer in dem einzelnen Menschen), vielmehr ist der Staat identisch mit der Gesamtkraft des Volkes, bei deren Bildung und Organisation die Rechtsordnung, wie ich im Gegensatze zu Berolzheimer glaube, nur eine sekundäre Rolle spielt. Jedenfalls verdienen die originellen Darlegungen des genannten Schriftstellers vollste Beachtung.
  32. Dass diese Frage für eine rein juristische Betrachtung des Staates keine Bedeutung besitzt, hebt treffend hervor Bernatzik a. a. O. S. 235, 241.
  33. So bes. A. Menger a. a. O. S. 201: „Die Staaten als solche haben gar keinen Zweck, sondern nur ihre Machthaber.“
  34. Preuss in Schmollers Jahrb. 1902 II S. 118, 119.
  35. So neuestens Kelsen a. a. O, S. 495, 603.
  36. Ich stehe hier im vollen Gegensatz zu den Ausführungen Jellineks S. 223 ff.
  37. A. a. O. S. 255. Eine treffende Kritik dieser Formel bei Preuss a. a. O.
  38. Allg. Staatslehre I S. 146, 7.
  39. Das juristische Kriterium des Staates S. 41.
  40. Loening S. 705. Aus seiner Ausführung ergibt sich die Elastizität der vorgeschlagenen Formel.
  41. Zutreffende Kritik einiger dieser Formeln bei Loening a. a. O.