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Das höhere Schulwesen (1914)

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Autor: Paul Cauer
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Titel: Das höhere Schulwesen
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aus: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band, Neuntes Buch, S. 34–50
Herausgeber: Siegfried Körte, Friedrich Wilhelm von Loebell, Georg von Rheinbaben, Hans von Schwerin-Löwitz, Adolph Wagner
Auflage:
Entstehungsdatum: 1913
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Reimar Hobbing
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Erscheinungsort: Berlin
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[1084]
Das höhere Schulwesen
Von Dr. Paul Cauer, Geh. Reg.-Rat und Universitätsprofessor in Münster


Schule und Staat.

Daß Erziehungskunst ein Teil der Staatskunst sei, galt den Alten als selbstverständlich; bei uns ist erst während des Menschenalters, das auf den großen Krieg folgte, dieser Zusammenhang wieder zu rechter Geltung gekommen. Die Einigung des deutschen Volkes, die Neugründung des Reiches stellte auch dem Bildungswesen neue Aufgaben. Mit voller Entschiedenheit vertrat Kaiser Wilhelm II. von vornherein den Gedanken, auf die Jugend in Zucht und Lehre so zu wirken, daß sie, erwachsen, dereinst möglichst vollkommen imstande wäre die Pflichten gegen das Vaterland und den Staat zu erfüllen. Alle eingreifenden Änderungen, die wir erlebt haben, sind im Grunde auf dieses Ziel gerichtet. Um den Weg dahin einzuschlagen, mußten herkömmliche Anschauungen durchbrochen, überlieferte Bildungsideale, die den Bedürfnissen der Zeit nicht mehr entsprachen, gestürzt werden. An Ansätzen dazu, an kühnen Forderungen und Entwürfen fehlte es auch vorher nicht; aber nun galt es, das, was einzelne gedacht hatten, in die Wirklichkeit zu übertragen. Dadurch, daß hierbei der Staat die Führung übernahm, fiel ihm, im Kampfe gegen Tradition und Vorurteil, die Rolle eines Befreiers zu. Und doch konnte er veraltete Formen kaum anders überwinden, als indem er neue schuf, in die sich von jetzt an das fortschreitende Leben einzufügen hätte. So ergab sich in der Schulpolitik dieser Zeit ein eigentümliches Zusammenwirken lösender und bindender Kräfte, eine Mischung, die auf beiden Gebieten, dem der männlichen wie der weiblichen Erziehung, in verschiedenen Gestalten, aber gleich merkbar und merkwürdig hervortritt.

Die höheren Knabenschulen vor 1890.

I. Ursprünglich war das schön und erhaben gedacht: es gebe eine einzige Art höherer Geistesbildung, die aus dem Studium der Griechen und Römer zu schöpfen sei, und sie müsse und könne alle Stände und Berufskreise einigend umfassen. Dieser Glaube war seit den Zeiten Wilhelms von Humboldt herrschend geblieben. Unaufhaltsam freilich wuchs, in einer immer reicher sich entwickelnden Kultur, die Mannigfaltigkeit der geistigen Kräfte, die an dem tätigen Leben der Nation Anteil hatten und deshalb mit gutem Recht einen Anteil auch an der Bildung des heranwachsenden Geschlechtes verlangten. Aber immer wieder wurde versucht, und immer wieder schien es zu gelingen, die Auswahl dessen, was auf der Schule zu lernen wäre, so zu treffen, daß von dem Alten nichts Wertvolles aufgegeben und kein wertvolles Neue vernachlässigt würde. Dies war [1085] der Sinn auch der Lehrpläne von 1882. Zwar widmeten sie den realistischen Anstalten, dem Realgymnasium und der Oberrealschule wie sie fortan genannt wurden, erhöhte Fürsorge; aber die Blüte beider wurde dadurch hintangehalten, daß für den Eintritt in fast alle höheren Berufe nach wie vor die Beibringung des Reifezeugnisses von einem Gymnasium unerläßlich sein sollte. Diesen Anspruch hofften die Freunde der „klassischen Bildung“ dadurch aufrecht erhalten zu können, daß innerhalb des gymnasialen Lehrplanes die alten Sprachen weiter zugunsten der realistischen Fächer eingeschränkt waren. Aber das bedeutete einen Verlust an innerer Einheit und Kraft, während andrerseits den beiden Schwesteranstalten das äußere Wachstum gehemmt blieb. Mehr als die Bedenken der Regierung waren daran die Vorurteile der Gesellschaft schuld, die namentlich der Oberrealschule auch da – bei den preußischen Architekten und Ingenieuren – entgegenstanden, wo die Bildung, die sie gewährte, als Berufsvorbereitung besonders geeignet war. Von zwei Seiten wurde der Vorschlag gemacht, die Gegensätze in friedlicher Zusammenfassung zu versöhnen. Die einen empfahlen die „deutsche Einheitsschule“, die in Wahrheit nichts anderes war als das Gymnasium, nur mit fortgesetzter Einschränkung der alten Sprachen und entsprechender Verstärkung der modernen Elemente; die andern, von dem Abgeordneten v. Schenckendorff geführt, forderten, nach einem älteren Plane von Ostendorf (1873) und jetzt nach schwedisch-norwegischem Vorbild, eine „Einheitsschule mit Gabelung“, d. h. ein groß angelegtes System, in welchem die verschiedenen Formen, die bisher nebeneinander gestanden hatten, als Zweige alle aus demselben Stamm hervorwachsen sollten. Da nun der gemeinsame Unterbau, den Bedürfnissen der größeren Menge entsprechend, lateinlos gedacht war, so ergab sich für die alten Sprachen ein um mehrere Jahre späterer Anfang, als das Gymnasium ihn hatte, und damit ein so erheblicher weiterer Verlust an Wirksamkeit, daß sie als grundlegendes Element höherer Schulbildung hätten ausscheiden müssen.

Ein Grundirrtum.

Alle Parteien stimmten in einem Grundverlangen überein: jede begehrte für sich und ihr Ideal nicht nur freie Betätigung, sondern Herrschaft; eben daher die Erbitterung des Kampfes. Demgegenüber war doch schon damals der Gedanke laut geworden, verschiedene Geistesrichtungen und Bildungswege als gleichberechtigt anzuerkennen, so daß von dem feindlichen Gegensatze nur die Mannigfaltigkeit frischer, wetteifernder Kräfte zurückbliebe. Aber der Ruf zum Wettkampf und zum Frieden verhallte damals, wo nicht ungehört, doch unverstanden.

Dezember-Konferenz 1890.

Das zeigte sich auf der Konferenz, die im Dezember 1890 im Kultusministerium in Berlin zusammentrat. Kaiser Wilhelm eröffnete die Verhandlungen in eigner Person mit einer programmatischen Rede, in der er zu erkennen gab, was er bisher an den höheren Schulen vermißt habe und nun von ihnen erwarte: mehr Spielraum und Eifer für die Ausbildung körperlicher Kraft und Gewandtheit, bewußtere Pflege einer deutsch-nationalen Gesinnung, lebendigere Beziehung alles Lernens und Übens auf die Bedürfnisse und Aufgaben der Gegenwart. Auch dem Verlangen nach einer reinlicheren Scheidung [1086] verschiedener Bildungstypen gab der Monarch entschlossenen Ausdruck. Aber in der Versammlung, deren Mitglieder durch das Ministerium wohl nicht ganz im Sinne des Allerhöchsten Auftrags ausgewählt waren, überwog allzusehr ein konservativer Zug, der Wunsch, das Bestehende auch in den Einrichtungen zu erhalten. So wurde im einzelnen zwar manches gebessert; im ganzen aber bedeuteten die Beschlüsse der Konferenz und die auf deren Grundlage ausgearbeiteten Bestimmungen von 1891 doch nur einen weiteren Schritt auf der bisher schon begangenen Bahn, einen abermaligen Versuch, immer noch alles, was gelernt werden sollte, in einem einzigen Lehrplan unterzubringen. Den beiden realistischen Anstalten wurden die wichtigsten Berechtigungen auch diesmal versagt; dem Gymnasium blieb seine äußere Vorzugsstellung noch gewahrt, dafür wurde es im Innern dem Realgymnasium wieder um einiges ähnlicher gemacht, also in seiner Eigenart, seinem Lebensnerv geschwächt.

Die Grenzen des Einjährigenrechtes.

Und nicht nur verschiedene Arten, sondern auch verschiedene Stufen der Bildung wurden aufs neue und mit verschärfter Wirkung in eins zusammengedrängt. Seit der ersten umfassenden Organisation des höheren Schulwesens in Preußen (1809/10) hatte der Grundsatz gegolten, daß die Vorbildung für praktische Berufe nicht ein selbständiger Zweck sei neben der Vorbereitung auf gelehrte Studien, sondern daß der künftige Kaufmann oder Gewerbetreibende oder mittlere Beamte sich begnügen müsse, einen Teil jenes allgemeinen, weiter hinaufreichenden Bildungsganges, bis zu dieser oder jener Klassenstufe, durchzumachen. So war es mehr und mehr dahin gekommen, daß den „Vollanstalten“ in Masse auch solche Schüler zuströmten, die gar nicht daran dachten das Reifezeugnis zu erlangen, sondern von vornherein bloß den Wunsch hatten, mit irgend einer bescheidneren Berechtigung, in der Regel mit der für den einjährigen Militärdienst, abzugehen. Bei einer Aufnahme des Tatbestandes für das Schuljahr 1889/90 stellte sich heraus, daß auf je 200 Schüler, die von neunklassigen höheren Schulen abgegangen waren, nur 41 kamen, die das Ziel ihrer Anstalt erreicht hatten; und doch war auf dieses Ziel hin der ganze Lehrgang angelegt. Es erschien unbillig, daß unter der Fürsorge für ein Fünftel der Schüler alle übrigen zu leiden hätten; nun wollte man zum Schutze der Mehrheit eingreifen. Zunächst wurde an den unvollständigen Anstalten, die bis zur Versetzung nach Prima geführt hatten, die oberste Klasse eingezogen, so daß sie mit Untersekunda und mit Erlangung des Einjährigenzeugnisses abschlossen. Auf dieses Ziel hin wurde ihr Lehrplan eingerichtet, und dieser Lehrplan fortan für die entsprechende Klassenreihe auch bei den Vollanstalten zu grundegelegt, – die doch ihre eigene Aufgabe nur dann recht erfüllen konnten, wenn es ihnen möglich war, durchweg in der Erziehung der Geisteskräfte einen frühen Anfang auf das späte Ende zu richten. Unter der Rücksicht auf die Mehrzahl mochte nun die Minderheit leiden; das waren aber gerade diejenigen Jünglinge und Knaben, die zu künftigen Führern der Nation erzogen werden sollten.

Die Lehrer

Der Gefahr, die durch solche Maßregeln unleugbar heraufbeschworen war, konnte nur durch unermüdliche, aufopfernde Tätigkeit der Lehrer [1087] entgegengearbeitet werden. Und schon war auch Sorge getragen, die Ausbildung derer, die sich diesem Berufe widmeten, zu fördern. Die im Jahre 1887 erlassene Prüfungsordnung suchte gegenüber dem früheren Reglement eine sachgemäßere Abgrenzung der Forderungen, immer noch in drei Stufen der Lehrbefähigung, durchzuführen. An sie schloß sich 1890, noch vor Zusammentritt der Dezemberkonferenz, eine wichtige Neuerung: die Zeit der praktischen Ausbildung – bisher nur das „Probejahr“ – wurde verdoppelt. In einer größeren, nach Bedarf zu vermehrenden Zahl pädagogischer Seminare sollten alle angehenden Lehrer eine gründliche und sorgsame Anleitung erhalten, so daß sie dann schon einigermaßen gerüstet in das Probejahr einträten, um sich an selbständigeren Aufgaben zu versuchen. Die Einrichtung dieser pädagogischen Seminare, zunächst mit manchen Mängeln behaftet und immer wieder der Vervollkommnung fähig, hat sich doch, aus der ursprünglichen Absicht heraus, vortrefflich entwickelt, indem sie den Jüngeren einen festen Anhalt zur Einarbeitung gab, den Älteren vielfache Anregung zu bewußterem Tun und vertiefter Berufsauffassung. – Daß den erhöhten Anforderungen, die an den Lehrer gestellt wurden, auch ein besserer materieller Lohn seiner Arbeit und ein etwas sichtbarerer Anteil an den Ehren, die der Staat zu verteilen hat, entsprechen solle, hatte Seine Majestät ausdrücklich erklärt. Der Allerhöchsten Initiative verdankte so der höhere Lehrerstand neben einer Umgestaltung seiner Titel- und Rangverhältnisse den Normaletat von 1892, der ganz neue Grundsätze der Besoldung und Beförderung aufstellte und für die Gesamtheit eine wesentliche Verbesserung der Lage, vielen einzelnen einen lang entbehrten Aufstieg in der Lebenshaltung brachte.

Die Mädchenschulen in früherer Zeit.

II. Die feste Einordnung des höheren Schulwesens in den Zusammenhang staatlicher Ansprüche und Wirkungen, die für die männliche Jugend seit der Zeit der Freiheitskriege erfolgt war, wurde für die weibliche sehr viel später erreicht, auch viel später begehrt. Während der beiden ersten Drittel des Jahrhunderts führten die höheren Mädchenschulen eine Art von Stilleben; die Erziehung der künftigen Frauen und Mütter blieb, soweit sie nicht ohnehin Sache des Hauses war, auch in der Schule fast ganz der privaten Tätigkeit, meist unter weiblicher Leitung, überlassen. Die erste entschiedene Kundgebung für straffere Organisation ging von einer Versammlung aus, die im September 1872 in Weimar tagte. Hier wünschte man: deutliche Sonderung von den Zwischenformen, die zur Bürgerschule hinüberführten, Zuweisung der anerkannten höheren Mädchenschulen an dieselben Aufsichtsbehörden, denen die Gymnasien und Realschulen unterstünden, Einführung eines für alle Schulen verbindlichen Lehrplanes. Im Auftrage der Versammlung wurde eine Denkschrift verfaßt, um die Richtung anzugeben, die man bei Auswahl und Abgrenzung des Lehrstoffes einzuhalten dachte. Die weibliche Bildung sollte der Geistesbildung des Mannes ebenbürtig werden, hauptsächlich doch zu dem Zwecke, daß die Frau mit Verständnis und lebendigem Gefühl die höheren Interessen des Mannes begleiten könne. Diese Denkschrift wurde den deutschen Staatsregierungen überreicht und fand vielfache Beachtung. Was in Preußen von Amts wegen geschah, bewegte sich zwar zuerst (1873) auf der vorgezeichneten Bahn, führte aber nicht weiter [1088] und nicht zu einer festen Regelung. Eifriger tätig waren die Unzufriedenen. Der Gedanke, daß das Weib eigentlich nur für den Mann erzogen werden solle, sei es um ihn zu unterhalten oder um seine Arbeit zu fördern, erregte bei allen denen Anstoß, die dem Geschlecht eine gleichberechtigte Stellung, wo nicht im Berufsleben, so doch im Geistesleben zu erobern gedachten. Nicht um dem Manne, der es erwählen würde, zu dienen, sondern um das eigne Dasein sich inhaltvoll zu schaffen, mit selbständigem Anteil an den Aufgaben, Kämpfen und Fortschritten einer reichbewegten Zeit, dazu sollte das Mädchen erzogen werden; ein Unterricht aber, der zu solcher Erziehung hülfe, schien nur von Frauen erteilt werden zu können. So traf das ideale Verlangen nach erhöhter weiblicher Bildung mit dem praktischen zusammen, daß den Frauen mehr Anteil an dem wissenschaftlichen Unterricht der oberen Klassen gegeben werden müsse. Und dies war wieder nur ein besonderer Fall des allgemeinen Strebens nach Eröffnung neuer und erweiterter Berufswege und Erwerbsmöglichkeiten für die alleinstehende gebildete Frau.

Die Frauenfrage.

Wie es zu gehen pflegt: im Kampfe der Interessen vermag der harte, aus einer Not erwachsene praktische Zweck eher sich durchzusetzen als das reinste und edelste, nur aus geistigem Stoffe genährte Ideal. Die Bemühungen um bessere Geistesbildung für die weibliche Jugend fanden stärkste Hilfe in der Entwicklung des wirtschaftlichen Lebens seit 1871, den Verhältnissen des Arbeitsmarktes, in dem Anwachsen der Zahl unverheirateter Frauen, die darauf angewiesen waren, sich den Lebensunterhalt selbst zu verdienen.

Anfänge mit Real- und Gymnasialkursen.

Erwägungen der angedeuteten Art kamen, soweit sie überhaupt die Schule betrafen, in einer Petition zum Ausdruck, die im Jahre 1887 von Berliner Frauen dem Kultusministerium eingereicht wurde. Unmittelbar hatte sie keinen Erfolg. Durch die Begleitschrift aber, in der Helene Lange die gestellten Anträge begründet hatte, wurden die neuen Gedanken in die Öffentlichkeit getragen und wirkten anregend und erregend weiter. Auch begnügte sich die Verfasserin nicht, ihre Forderungen theoretisch zu vertreten, sondern ging dazu über, sie auf eigne Hand und mit privaten Mitteln zu verwirklichen. Im Jahre 1889 wurden in Berlin Realkurse für Frauen eröffnet; wer diese durchgemacht hatte, mochte in der Schweiz das Zeugnis der Reife erwerben, und dann entweder dort oder an einer der deutschen Universitäten, die damals schon Frauen als außerordentliche Hörerinnen zuließen, studieren. Aber die Freunde und Freundinnen des Fortschritts ruhten nicht. Petitionen wurden zuerst an alle deutschen Unterrichtsministerien, dann an den Reichstag und die einzelnen Landtage geschickt: es möge grundsätzlich den Frauen gestattet werden, das Maturitätsexamen abzulegen, auf Universitäten und anderen Hochschulen zu studieren und später, nach Bestehen der vorgeschriebenen Prüfungen, in den ärztlichen Beruf und den wissenschaftlichen Lehrberuf einzutreten. Der Reichstag beschäftigte sich zum erstenmal im Frühjahr 1891 mit dieser Frage, und ging über die Petitionen zur Tagesordnung über. Etwas besseren Erfolg hatten sie in den Landtagen der Einzelstaaten, von denen sich besonders der badische freundlich zu der Bewegung [1089] stellte, so daß in Karlsruhe im Herbst 1893 ein sechsklassiges Mädchengymnasium gegründet werden konnte. Zur selben Zeit wurden in Leipzig Gymnasialkurse für Frauen eröffnet und die Berliner Kurse nach dem gymnasialen Lehrplan umgestaltet. Ostern 1896 bestanden sechs Schülerinnen dieser Kurse die Reifeprüfung an einem Berliner Gymnasium, zu der sie mit besonderer Genehmigung des Ministers in derselben Weise wie männliche Extraneer zugelassen worden waren.

Preußische Neuordnung 1894.

Das langsame, doch schließlich nicht versagte Entgegenkommen, mit dem die preußische Regierung das Abiturientenexamen als ein an sich mögliches Ziel weiblicher Ausbildung anerkannt hatte, blieb zunächst noch ohne Einfluß auf die allgemeinen Verhältnisse. Im Mai 1894 erging endlich die langersehnte, vielbesprochene Neuordnung des höheren Mädchenschulwesens. Aber der Lehrplan, den sie brachte, tat keinen Schritt vorwärts auf jenes Ziel hin; ja, er schien sogar von der Ausführung des Planes zurückzuweichen, den zwei Jahrzehnte vorher die Weimarer Versammlung aufgestellt hatte. Denn statt des zehnjährigen Kursus, der gefordert war und sich an vielen Orten, zumal im Westen der Monarchie, schon eingebürgert hatte, setzte der Minister wieder einen neunjährigen fest, gestattete nur da, wo man an zehn Jahre gewöhnt war, daß es dabei sein Bewenden behalte; im übrigen empfahl er, wahlfreie Lehrkurse, zur Fortbildung der Mädchen nach ihrem Abgang, den Schulen anzugliedern. Immerhin war dem Verlangen der beteiligten Kreise nach bestimmteren, einheitlichen Vorschriften jetzt nachgegeben. Und einen Keim zu weiterer Entwicklung enthielt die neue Ordnung doch: stärkere Beteiligung der Lehrerinnen an dem Unterrichte der oberen Klassen wurde als erwünscht bezeichnet, und um dafür tüchtige Kräfte zu gewinnen, eine besondere „wissenschaftliche Prüfung“ eingeführt.

Die „Oberlehrerinnen“-Prüfung.

Diese Prüfung war in zwei Gegenständen abzulegen und hatte den Zweck, die Befähigung für eine Anstellung als „Oberlehrerin“ und für die Leitung einer vollentwickelten höheren Mädchenschule festzustellen; in den revidierten Bestimmungen von 1900 kam dazu noch eine allgemeine Prüfung in Philosophie. Bewerben durften sich nur solche Lehrerinnen, die mindestens fünf Jahre im praktischen Beruf gestanden hatten. Um ihnen Gelegenheit zum Studium zu geben, diente in Berlin das – seit 1868 bestehende – Viktoria-Lyzeum; in Göttingen, Königsberg, Bonn, Münster und Breslau richtete man im Laufe der Jahre Fortbildungskurse ein, Vorträge und Übungen, die teils von Schulmännern, teils von Universitätslehrern abgehalten wurden. Einsichtige städtische Patronate gingen gern darauf ein, bewährte und begabte Lehrerinnen zum Zweck dieser höheren Ausbildung zu beurlauben. Mit Eifer wurde gearbeitet und den in der Prüfung gestellten Anforderungen meist in recht erfreulicher, oft in glänzender Weise entsprochen. Durch die so ausgebildeten „Oberlehrerinnen“ wurde eine Vertretung wissenschaftlicher Fächer durch Frauen als ein eigenartiges Element des Unterrichts an höheren Mädchenschulen mehr und mehr begründet.

[1090]

Folgen der Lehrpläne von 1891.

III. Auf dem Gebiete des Knabenschulwesens war in dem Jahrzehnt, das auf die Reform von 1891 folgte, ein hervortretender Zug die Abnahme der Realgymnasien, denen die Dezemberkonferenz nicht günstig gewesen war, wogegen die Realschulen und Oberrealschulen einen erheblichen Zuwachs zu verzeichnen hatten. In der Bevorzugung eines lateinlosen Lehrplanes, dessen Stärke Mathematik und Naturwissenschaft ausmachen, kam unmittelbar zum Ausdruck, wie sehr diese Art von Bildung einem wachsenden Bedürfnis entsprach: inmitten einer kraftvoll sich entwickelnden wirtschaftlichen Blüte richteten sich die Gedanken der Menschen mehr und mehr auf praktische Zwecke und Leistungen. Die Anzahl der Gymnasien war immer noch reichlich groß, um ein Gegengewicht zu bilden, wenn sie nur hoffen durften, daß durch ruhiger gesammelte und vertiefte Arbeit im Innern ihre eigentümliche Bestimmung, auf dem Umwege durch das Altertum junge Deutsche zum Verständnis der Gegenwart zu führen, um so besser erfüllt werden könnte. Aber freilich, für solches Streben bot der Lehrplan von 1891 mit seiner Beschränkung gerade der Kernfächer keinen Anhalt. Allenthalben ertönte die Klage, daß es mit dem Können der Schüler abwärts gehe, besonders auch im Deutschen, das zu fördern doch die Absicht gewesen war. Das Märchen von Menenius Agrippa bestätigte sich aufs neue: wie dort dem Magen, so hatte man hier dem Lateinunterricht seine Vorzugsstellung nicht gegönnt; und nun machte sich der Mangel an kräftigem Blut fühlbar, das vom Ernährungszentrum aus allen Gliedern zuströmen sollte.

Vereinsbestrebungen. Der „gemeinsame Unterbau.“

Angesichts dieser Verhältnisse konnte es nicht wundernehmen, daß der Kampf um die höhere Schule unvermindert fortgesetzt wurde. Der Realschulmännerverein unter Steinbarts Führung machte seine alten Forderungen, in erster Linie zugunsten des Realgymnasiums, geltend. Daneben vertrat ein jüngerer „Verein für Schulreform“, an dessen Spitze Friedrich Lange und Th. Peters standen, mit Eifer jenen Plan, als Grundlage sprachlicher Erziehung das Französische nicht nur an den lateinlosen Anstalten zu verwerten, sondern auch an denjenigen, die das Lateinische festhalten wollten. Der Gedanke, alle verschiedenen Schulen in ein System zusammenzufassen, bot unverkennbare wirtschaftliche Vorteile. Und für das Realgymnasium konnte die Bedeutung des Lateinischen recht wohl als eine sekundäre gefaßt werden, zu tieferem Verständnis der neueren Sprachen beizutragen; das mußte sich auch dann erreichen lassen, wenn die alte erst später hinzutrat. So war es ein durchaus gesunder Gedanke, der zuerst unter Direktor Schlee in Altona (seit 1878) verwirklicht wurde, die Lehrpläne der Realschule und des Realgymnasiums in den drei unteren Klassen einander gleich zu machen. Der Versuch bewährte sich; und das stärkte, zunächst bei Außenstehenden, den Glauben, daß es gelingen müsse, auch das Gymnasium mit seinen beiden alten Sprachen in das lateinlos angelegte System hereinzuziehen. Als Oberbürgermeister Adickes von Altona 1890 nach Frankfurt a. M. berufen wurde, brachte er den Wunsch mit, nach diesem Plan eine eingreifende Neugestaltung des höheren Schulwesens zu unternehmen. Dafür fand er den geeigneten Helfer in dem Gymnasialdirektor Karl Reinhardt, der die gestellte Aufgabe [1091] mit Lebhaftigkeit ergriff (1892). Den feinsinnigen Freund der Antike machte es nicht irre, daß der gemeinsame lateinlose Unterbau von einer mächtigen schulpolitischen Partei zu dem ausgesprochenen Zwecke gefordert wurde, den alten Sprachen ihren grundlegenden Anteil an der Bildungsarbeit zu nehmen; er hoffte, den Verlust an Zeit (Latein mußte in sechs, Griechisch in vier Jahre zusammengedrängt werden) durch um so gründlichere Behandlung auf der Mittel- und Oberstufe reichlich wieder einzubringen. Im Zusammenarbeiten mit einem auserlesenen Kollegium ist ihm das bei den intelligenten und eifrigen Schülern der Großstadt in der Tat gelungen. Der geänderte Lehrplan erforderte neue Verteilung der Stoffe, neue Wege des Unterrichts; diese mußten erdacht und erprobt werden, und solcher Zwang ward ein Sporn für Tatkraft und Erfindsamkeit. Allgemeines Interesse wandte sich dem Frankfurter Betriebe zu; es schien, als sei hier wirklich die Lösung des Rätsels gefunden, das Mittel, allen begründeten Ansprüchen im Rahmen einer einheitlichen, alle Schulen der Monarchie umfassenden Organisation gerecht zu werden.

Juni-Konferenz 1900.

In dieser Lage war es von großer Bedeutung, daß damals der Leiter des höheren Unterrichtswesens in Preußen ein Mann von klarem Blick und ruhigem Urteil war. Bei aller Schätzung des Verdienstes der Männer, die in Frankfurt so Schönes leisteten, blieb es ihm doch nicht verborgen, daß der Erfolg zum guten Teil auf Rechnung außerordentlicher Umstände zu setzen und daß es mehr als zweifelhaft war, ob sich mit durchschnittlichen Lehrkräften und Lernkräften überall dasselbe oder nur ähnliches werde erreichen lassen. Zu einer ernstlichen Gefährdung aber des gymnasialen Bildungselements wollte Althoff nicht die Hand bieten. – Um eine solche handelte es sich im Frühjahr 1900. Latein sollte aufs neue eingeschränkt, Griechisch allgemein bis Untersekunda hinaufgeschoben, und auch in den vier oberen Klassen nur als fakultatives Fach beibehalten werden. Nach reiflicher Erwägung verwarf er diese Pläne. Dazu hatte es wohl beigetragen, daß man ihnen in Süddeutschland wie in Sachsen entschieden abgeneigt war. Auch die Universitäten hielten sich diesmal weniger als 1890 zurück; an der neuen Schulkonferenz, die im Juni 1900 in Berlin versammelt war, nahmen Felix Klein, Adolf Harnack, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff hervorragenden Anteil, indem sie mit sicheren Schritten auf der Bahn vorangingen, in die Althoff die Verhandlung zu lenken suchte. Oskar Jäger selbst, im Einverständnis mit einem großen Kreise von Gymnasialmännern, stimmte dafür, das „Bildungsmonopol“ preiszugeben und dafür den Charakter des Gymnasiums wieder kräftiger auszuprägen. Der Wunsch nach deutlicher Differenzierung der Bildungswege, mit dem Kaiser Wilhelm die erste Konferenz eröffnet hatte, fand jetzt überall ein gereiftes Verständnis. In freiem Wettkampf mochte sich herausstellen, welche Art der Vorbereitung für jeden Beruf die geeignetste sei; um in solchem Kampfe ihr Bestes zum Heile der Nation zu leisten, sollte jede der drei vorhandenen Schulen – Gymnasium, Realgymnasium, Oberrealschule – grundsätzlich die gleichen äußeren Rechte haben und dabei die Freiheit genießen, sich im Inneren ihrer Eigenart gemäß zu entwickeln und auszuwirken. Durch Allerhöchsten Erlaß vom 26. November 1900 wurde der Gedanke zum [1092] Beschluß erhoben; nach kurzem Zögern haben sich auch die übrigen deutschen Staaten auf diesen Boden gestellt.

Der Allerhöchste Erlaß vom 26.11.1900 und seine Wirkung.

Die Lehrpläne von 1901 machten einen Anfang damit, jede Schulform innerlich so auszugestalten, wie es ihrem didaktischen Grundgedanken entspräche. So erhielt die Oberrealschule als einen besonderen Vorzug, auch dem Realgymnasium gegenüber, geographischen Unterricht bis in die oberste Klasse, und damit eine wertvolle Handhabe zur Konzentration, zu fruchtbarer Verbindung verschiedener wissenschaftlicher Betrachtungsarten; am Gymnasium wurden die altsprachlichen Stunden, wenn auch vorerst nur um ein geringes, vermehrt. Den Lehrplan der Untersekunda hatte vor zehn Jahren die „Abschlußprüfung“ ins Gedränge gebracht und zu hastiger Vorwegnahme mancher Dinge genötigt, die erst auf höherer Stufe gründlich erklärt werden sollten; jetzt, da diese Prüfung nicht bestehen blieb, konnten die schlimmsten Störungen beseitigt und die Klasse ihrer eigentlichen Aufgabe, zu der wissenschaftlichen Arbeit der Oberstufe hinzuleiten, wieder mehr genähert werden. Die mit den Lehrplänen zugleich erlassene neue Ordnung der Reifeprüfung bildete den schon 1891 aufgestellten Grundsatz weiter aus, daß Nebenfächer schwächer zu werten seien als Hauptfächer: das entsprach dem leitenden Gedanken, an jeder Anstalt das hervorzukehren, worin ihre besondere Kraft beruhte. Und indem die mündliche Prüfung wieder zur Regel, die Befreiung davon wieder zur ehrenden Ausnahme gemacht wurde, was sie Jahrzehnte hindurch (bis 1891) gewesen war, schien dafür gesorgt, daß strenge Anforderungen aufrecht erhalten würden; im Interesse des Hochschulstudiums wie des Berufslebens war das ja nötig, wenn die gewährte Freizügigkeit nicht einen Zustrom unberufener Elemente herbeiführen sollte. So konnte man mit bestem Vertrauen einer gesunden Entwicklung entgegensehen.

Fortschritte in höherer Ausbildung der Mädchen.

IV. Inzwischen war auch für die Hebung des weiblichen Bildungswesens rüstig weitergearbeitet worden. An das Karlsruher Mädchengymnasium schloß sich 1899 ein gleiches in Stuttgart, ebenfalls zu sechs Klassen, deren unterste mit Latein begann. In Preußen wurden Schulen dieses Typus noch nicht gestattet, sondern einstweilen nur Fortbildungskurse von kürzerer Dauer, die den erfolgreichen Besuch einer vollständigen höheren Mädchenschule voraussetzten. Solche entstanden in Breslau, Hannover, Frankfurt a. M. Allgemein aber wurden Veranstaltungen für wissenschaftliche Fortbildung ein immer dringenderes Bedürfnis. Es war erreicht worden, daß ein Bundesratsbeschluß von 1899 die Zulassung von Frauen zur medizinischen Staatsprüfung aussprach. Die Folgerung, daß man ihnen dann auch das volle Recht geben müsse zu studieren, wurde zuerst in Baden gezogen (1900/1901); die bayrische, die württembergische Regierung folgten dem Beispiel: Preußen durfte nicht länger zurückbleiben. Die ärztliche Prüfung wurde jetzt von Frauen bestanden, die Zulassung zum Staatsexamen für das höhere Lehrfach erst einer einzelnen, dann allgemein gewährt (1905/1906). Die Festung war so gut wie bezwungen; es konnte sich nur noch um die Bedingungen des Einzugs handeln.

[1093]

Januar-Konferenz 1906.

Diese zu vereinbaren war die Aufgabe der Konferenz, die im Januar 1906 im Kultusministerium zusammentrat. Die Hauptfrage war: Gabelung oder Aufbau? Das heißt: sollte nun doch eine sechsklassige Studienanstalt, der Mittel- und Oberstufe einer höheren Knabenschule entsprechend, von der Mädchenschule abgezweigt werden, oder sollten weiter auch diejenigen Mädchen, die von vornherein die Absicht hatten zu studieren, erst mit den anderen die Schule bis zu Ende durchmachen, um sich dann in einem daran anschließenden Kursus auf die Universität vorzubereiten? Auf der einen Seite stand die Forderung, daß dem weiblichen Geschlecht eine Bildung zugänglich gemacht werde, die mit der männlichen gleichberechtigt und gleichwertig wäre; dies könne nur dann als völlig gesichert gelten, wenn auch äußerlich der Bildungsgang gleich gemacht würde. Der anderen Partei schien es bedenklich, den Tatbestand der höheren Knabenschulen in dem Augenblicke zum Muster zu nehmen, wo er selber im Fluß begriffen und immer noch Gegenstand heftiger Angriffe war. Etwas der Art nach Neues müsse geschaffen werden, mit sorgsamem Eingehen auf die psychische Natur der Frau. Dagegen wurde eingewandt: die verbesserte Mädchenschule nehme 10 Jahre in Anspruch; komme dazu ein fortsetzender Kursus von 3 oder gar 4 Jahren, so hätten die Mädchen einen 14- oder doch 13jährigen Lehrgang durchzumachen, um ein Ziel zu erreichen, an das die Knaben in 12 Jahren gelangen könnten. – Trotzdem gewann in der Konferenz der „Aufbau“ den Sieg; auch hervorragende Universitätslehrer, wie Adolf Harnack, stimmten dafür.

Die Neuordnung von 1908.

So war es für Außenstehende eine Überraschung, als die mit Allerhöchster Kabinettsorder vom 15. August 1908 eingeführte Neuordnung des höheren Mädchenschulwesens doch anders entschied. Drei Arten einer Studienanstalt wurden von der höheren Mädchenschule abgezweigt: für die Oberrealschule machte das gar keine Schwierigkeit, für Realgymnasium und Gymnasium gab, wie schon in Karlsruhe und Stuttgart, der Frankfurter Lehrplan mit seinem lateinlosen Unterbau ein fertiges Vorbild. Die höhere Mädchenschule selbst, seit 1912 „Lyzeum“ genannt, wurde auf den zehnjährigen Lehrgang, der tatsächlich doch schon der herrschende geworden war, eingerichtet. Daran konnte sich ein höheres Lehrerinnenseminar anschließen, das drei Jahre wissenschaftlichen Unterrichts und ein praktisches Jahr umfaßte. Seminare dieser Art hatte es in Verbindung mit höheren Mädchenschulen, privaten wie öffentlichen, schon vielfach gegeben; jetzt erhielten sie zum erstenmal einen festen Lehrplan, vier Jahre später die Benennung „Oberlyzeum“. Endlich sollte denjenigen jungen Mädchen, die weder daran dächten die Universität zu beziehen noch sich zu Lehrerinnen auszubilden, Gelegenheit geboten werden, ihre Bildung in der Richtung der künftigen Lebensaufgaben einer deutschen Frau zu erweitern. Etwas Ähnliches war schon 1894 empfohlen worden; jetzt wurde für solche „Frauenschule“ ein planmäßiger Unterricht vorgesehen, der nach Umständen ein oder zwei Jahre dauern konnte. Aber auch der Bildungsgang in den zehn Jahren der höheren Mädchenschule, der doch immer noch als der eigentlich normale gedacht war, wurde verbessert. Mathematik sollte helfen, die weibliche Natur zur Exaktheit des Denkens zu erziehen, der deutsche wie [1094] der fremdsprachliche Unterricht das Element der Verstandestätigkeit gegenüber der ästhetischen und Gefühlsbildung mehr hervortreten lassen. Diese Zwecke zu fördern diente der Grundsatz, daß an einer anerkannten höheren Mädchenschule mindestens die Hälfte der Lehrer und Lehrerinnen akademisch gebildet sein müsse. Dabei war den Frauen ein erheblicher Anteil am Unterricht auch der Oberstufe zugedacht; nur unter ein Drittel der Gesamtzahl in einem Kollegium sollte die Zahl der männlichen – ebenso andrerseits der weiblichen – Lehrkräfte nicht herabgehen dürfen. Auch die Leitung konnte in Händen einer Frau liegen, die dann den Titel „Frau Direktorin“ zu führen hatte. Endlich war einer allmählichen Angleichung des gesamten Betriebes an den der höheren Knabenschulen dadurch der Weg bereitet, daß alle höheren Bildungsanstalten für die weibliche Jugend von jetzt an mit zum Aufsichtsbereiche der Provinzial-Schulkollegien gehörten.

Ausführende und ergänzende Bestimmungen.

Mit diesen Grundzügen der neuen Organisation war doch Großes erreicht. Zwar mochte hier und da die Erfüllung eines heiß gehegten Wunsches, in der Gestalt, in der er nun erfüllt war, dem Wünschenden nicht sogleich erkennbar sein; darüber wie über so manchen anderen Zweifel konnte nur der tatsächliche Verlauf die Entscheidung bringen. Die Möglichkeit einer frisch aufstrebenden, aus den Bedürfnissen der Wirklichkeit Kraft und Richtung gewinnenden Entwicklung war jetzt gegeben. An dieser mitzuarbeiten wurde auch die Unterrichtsverwaltung nicht müde. Dem ersten Erlaß folgten im selben Jahre noch (Dezember 1908) genaue Ausführungsbestimmungen, die namentlich den Übergang in die neuen Verhältnisse zu regeln suchten. In den folgenden Jahren wurden für die Reifeprüfung an Studienanstalten wie an Oberlyzeen, für die Lehramtsprüfung am Schluß des praktischen Jahres (1912 als „Seminarklasse“ bezeichnet) genaue Vorschriften veröffentlicht, dann auch eine allgemeine „Dienstanweisung“ erlassen. Überall hatten die entsprechenden Bestimmungen für die Knabenschulen als Muster gedient, aber auf Grund gemachter Erfahrungen schon in manchen Einzelheiten verbessert werden können.

Entstehung des „vierten Weges“.

Eine Schwierigkeit entstand mit Bezug auf die Ausbildung der Oberlehrerinnen, weil es hier eine besondere Prüfungsordnung (von 1894/1900) und besondere Kurse zur Vorbereitung schon gab. Sollten die wissenschaftlichen Lehrerinnen, die diesen Weg zurückgelegt oder eingeschlagen hatten, hinter denen zurückstehen, die künftig durch eine Studienanstalt zur Universität und von da zur Oberlehrerprüfung nach männlichem Ritus gelangen würden? Die „Ausführungsbestimmungen“ erklärten, daß beide Arten von Oberlehrerinnen gleiche Rechte haben sollten; auf die Dauer aber konnten zwei Arten von Vorbereitung und Prüfung nebeneinander nicht bestehen: die ältere, weniger vollständige mußte wegfallen. Und doch war sie nicht bloß ein Surrogat gewesen. Wer nach längerer praktischer Tätigkeit (fünf Jahre waren ja das Minimum) sich höheren Studien widmet, bringt eine ganz andere Kraft des Arbeitens mit, als sie Studenten in der [1095] Regel haben, und versteht auch mit reiferem Sinne die Wissenschaft anzusehen, aus ihr nicht, was so leicht in den Vordergrund rückt, das fürs Examen Notwendigste, sondern freier blickend das für die Aufgaben des Berufes Fruchtbare und Erzieherisch-Verwertbare herauszufinden. Diese Möglichkeit wünschte man festzuhalten; und das konnte nur so geschehen, daß bewährten Lehrerinnen jetzt statt jenes besonderen Kursus das Universitätsstudium eröffnet wurde. Dieses dauerte aber länger; deshalb schien es geboten, an andrer Stelle die Zeit wieder einzusparen. Ein Ministerialerlaß vom April 1909 regelte die Dinge in diesem Sinne: eine praktische Tätigkeit von zwei Jahren sollte für die Zulassung zum Studium und weiter zum vollen Examen pro facultate docendi ausreichen. Ein wohl gemeinter, doch folgenschwerer Entschluß! Denn zwei statt fünf ist kein bloßer Gradunterschied: jetzt war das nicht mehr eine Einrichtung, um erprobten Lehrerinnen, die zum Bewußtsein der eignen Leistungsfähigkeit gelangt wären, eine höhere Ausbildung nachträglich zu eröffnen; sondern ein junges Mädchen konnte von vornherein den Plan fassen, erst Lyzeum und Oberlyzeum durchzumachen, dann zwei Jahre lang mit „vollem Unterricht“ (d. h. mit 12 Stunden wöchentlich) an einer höheren Schule zu arbeiten und so allmählich und sicher an die Universität heranzukommen. Im Grunde war das ja der Aufbau, die geradlinige Fortsetzung, die 1906 auf der Konferenz unterlegen war, nur mit dem Unterschiede, daß damals beabsichtigt gewesen war, die Fortsetzung auch innerlich auf das Universitätsstudium zu richten, während jetzt Oberlyzeum, Seminarklasse und zweijährige Berufsarbeit an und für sich einem ganz andern Zwecke dienten. Aus diesem Unterschied erklärt es sich, daß die neue Einrichtung bei früheren Anhängern des Aufbaus ebenso ernste Bedenken hervorrief wie bei den Freunden der Studienanstalten, daß vor allem aus den Kreisen der Universitätslehrer lebhafter Widerspruch laut wurde. Der Erfolg wird entscheiden müssen. Dieser „vierte Weg“ – neben den drei Formen der Studienanstalt – ist einmal da und wird schwerlich wieder abgeschafft werden; ja man darf beinahe erwarten, daß er von den beiden Jahren praktischer Tätigkeit, die in diesem Zusammenhange keinen rechten Sinn mehr haben, auch noch entlastet werden wird. Dann muß sich zeigen, ob der Lehrplan des Oberlyzeums so ausgestaltet werden kann, daß er zwei verschiedenen Aufgaben zugleich gerecht wird, der Vorbereitung auf den Beruf der Lehrerin und der auf ein akademisches Studium.

Die Studienanstalten.

Das Ergebnis der Erfahrungen, die auf dieser Seite gesammelt werden, wird wesentlich mitbestimmend sein auch für den Bestand und das Wachstum der Studienanstalten. Zurzeit gibt es deren in Preußen 14, dazu reichlich doppelt so viele, die in Entwicklung begriffen sind. Vereinzelt ist dabei, wie schon 1901 in Mannheim, der Lehrplan der Oberrealschule gewählt worden; an den meisten Orten legte man doch Wert auf das Lateinische. Nur ganz selten wird Griechisch hinzugenommen, obwohl es mit seiner Literatur dem weiblichen Interesse besonders viel bieten könnte. Fast alle Studienanstalten sind Realgymnasien, auch die alten Berliner Kurse sind 1902 zu dieser Form zurückgekehrt: es zeigt sich auch hier, daß lateinloser Unterbau und gymnasiale Bildung eigentlich nicht zusammenstimmen.

[1096]

Frauenschule und Lyzeum.

Zwischen Oberlyzeum und Studienanstalt hat die Frauenschule einen schweren Stand; sie will nicht recht aufkommen. Auch da, wo die Einrichtung beschlossen worden war, hat sie sich nicht immer verwirklichen lassen, es fehlte an Schülerinnen. Und diese blieben aus doch wohl deshalb, weil auf diesem Wege nichts von „Berechtigungen“ zu erlangen war. Sucht man dem abzuhelfen und, womit Anfänge gemacht sind, die Ausbildung von technischen Lehrerinnen, Kindergärtnerinnen, Haushaltungslehrerinnen auf diesen Weg zu leiten, so wird auch die Frauenschule zur Berufsschule – und das war doch eigentlich nicht ihr Sinn. Ein ähnlicher Wandel scheint sich für die höhere Mädchenschule selbst, das Lyzeum, vorzubereiten. Männer und Frauen, die im übrigen der Neuordnung von 1908 freudig zustimmten, vermißten doch nach dem zehnjährigen Lehrgang einen formellen Abschluß. Im Königreich Sachsen hat man die höhere Mädchenschule einer bis zum Einjährigenrecht führenden Realschule gleichgestellt, mit Abgangsprüfung und entsprechenden Berechtigungen: im Grunde ganz folgerichtig. Die gleiche Maßregel wird sich schließlich auch in Preußen kaum vermeiden lassen.

Ungewollte Folgen.

Das vollzog sich alles zur selben Zeit, wo an den Knabenschulen die künstliche Abstufung der Berechtigungen mehr und mehr als peinlicher Druck empfunden wurde. Die Anpassung der weiblichen Geistesbildung an die Aufgaben eines höheren Berufslebens, die Eingliederung der Mädchenschulen in das Gefüge staatlicher Ordnungen war ein großer Gedanke; seine Verwirklichung bedeutete ein Freimachen aus überlieferten Anschauungen. Jetzt, da es erreicht ist, muß man auch diejenigen Folgen hinnehmen, die vielleicht niemand gewünscht hat. Allgemein menschliches Interesse ist doch an sich etwas Gutes; nun droht die Gefahr, daß dieses Gut auch den Frauen, seinen berufenen Hüterinnen, verloren gehe durch allzu frühes Hinblicken auf Broterwerb und gelehrtes Studium. Die weiter gesteckten Ziele, von den einen freudig begrüßt, werden andern zum Zwang. Viele Schulen in kleineren Städten und überall die Privatschulen sind in üble Lage gebracht. Konnten sie den neuen Ansprüchen in bezug auf Lehrräume und Lehrkräfte nicht genügen, so wurden sie zur Minderwertigkeit gestempelt; zwangen sie sich aber, die Mittel aufzubringen, so war damit in vielen Fällen eine unerträgliche Last übernommen. Die erste Wirkung wurde dadurch gemildert, daß bei der Neubenennung von 1912 der Name „höhere Mädchenschule“ für die nicht voll ausgestalteten Anstalten wieder frei wurde; manche wird sich nun eher entschließen, auf die Anerkennung als „Lyzeum“ zu verzichten, und kann weiter in bescheidenem Rahmen Segen stiften. Dagegen werden die hohen Kosten, die mit der Unterhaltung einer höheren Mädchenschule neuen Stils – eines Lyzeums – verbunden sind, nicht mehr zurückgehen, ohne Zuschüsse aus öffentlichen Mitteln wird sie nirgends bestehen können; gar als Erwerbsunternehmen ist sie in Zukunft nicht mehr denkbar. Dies bedeutet, daß die Privatschulen allmählich verschwinden müssen; und daraus ergibt sich eine weitere Folge. Auch wo es, wie in Preußen, gestattet ist, Frauen zu Direktorinnen staatlicher und städtischer Anstalten zu berufen, wird das tatsächlich nicht allzuoft geschehen; so wird ihr Anteil an der Leitung geringer [1097] werden, als er gewesen ist. Ihren maßgebenden Einfluß aber auf das gesamte Werk der weiblichen Erziehung von andern Seiten her wieder zu stärken bleibt eine Aufgabe der Zukunft.

Äußere Blüte der höheren Knabenschulen.

V. Hat die Entwicklung der höheren Knabenschulen das gehalten, was man nach der befreienden Tat, mit der das pädagogische Jahrhundert begann, erwarten durfte? – Die weitere Verschiebung zugunsten der realistischen Anstalten läßt jedenfalls erkennen, wie es mehr und mehr Brauch wird, für die einzelnen wie für ganze Gemeinden die Schulart nicht nach gesellschaftlichem Vorurteil, sondern nach praktischen Bedürfnissen zu wählen. Die Realgymnasien speziell haben sich von dem Verluste, den die Schulkonferenz von 1890 verursacht hatte, kräftig erholt. Unter ihnen überwiegt heute fast schon der Typus mit französischem Anfangsunterricht, während dieselbe Anlage im Gebiete des Gymnasiums nicht rechten Boden zu gewinnen vermocht hat. An mehreren Stellen sind Versuche in dieser Richtung nach Verlauf einiger Jahre wieder aufgegeben worden; zurzeit gibt es Reformgymnasien in Preußen 25. Der Gedanke, auf lateinloser Grundlage das gesamte höhere Schulwesen aufzubauen – und mit ihm die Gefahr der Zerstörung des Gymnasiums – ist, für Preußen wenigstens, ferner gerückt.

Die allgemeinen Verhältnisse im Bereiche der preußischen Monarchie mag eine Übersicht, nach amtlichen Feststellungen, deutlich machen.

1890       1900       1912       1913
Gymnasien 268 295 342 345
Realgymnasien 87 76 168 180
Oberrealschulen 9 37 102 105
Progymnasien 46 59 30 28
Realprogymnasien 86 21 44 43
Realschulen 20 138 177 180
Zusammen: 516 626 863 881
Gesamtschülerzahl 139801 164885 236173 239471

Gewaltig ist die Vermehrung im ganzen, ein Ausdruck zunehmenden Bildungsdranges und wachsenden Wohlstandes. Zu gleicher Zeit haben die deutschen Schulen im Ausland einen erfreulichen Aufschwung genommen. Bis zum Jahre 1901 stand nur die von Konstantinopel in festen amtlichen Beziehungen zur Heimat; seitdem sind elf weitere, die entferntesten in Tsingtau und Buenos Aires, hinzugekommen, die zum Aufsichtsbereich der Reichsschulkommission gehören und auf Grund einer Schlußprüfung das Zeugnis für den einjährigen Militärdienst erteilen können. Auf der Weltausstellung in Brüssel (1910) hat deutsches Schulwesen hohen Ruhm geerntet. Und auch daheim fehlt es nicht an Gelegenheit, daß jeder sich selbst überzeuge, was unsre Jugend leistet: Schülerkonzerte, Turnfeste, Schaustellung von Schülerzeichnungen sind überall beliebt geworden.

[1098]

Bedenken gegen die innere Tüchtigkeit.

Freilich der wertvollste Teil, das Innenleben der Schule wie der Menschen, läßt sich nicht ausstellen, auch nicht, ob es gesund und kräftig sei, durch Prüfungen und Revisionen feststellen. Darüber entscheidet spät erst die Bewährung im äußeren Leben, das von Natur ein Wettkampf ist. Das war ja der Sinn der Gleichberechtigung, der Bestärkung verschiedener Schulen in ihrer Eigenart, daß jede zeigen sollte, was sie vermöchte, um ihre Zöglinge für die Aufgaben des Berufs tüchtig zu machen. Unmerklich hat sich dieses Verhältnis in der Richtung zu verschieben begonnen, daß die Anstalten wetteifern, welche ihre Zöglinge am sichersten an das vorläufige Ziel des Eintritts in die Berufsstudien bringt. Diese Verschiebung hängt mit einem Wandel zusammen, der sich in der Organisation unseres öffentlichen Lebens immer weiter vollzieht; der Grund liegt also außerhalb des Machtbereichs der Schule. Was sie tun kann, um den Staat und die Gesellschaft vor Schaden bewahren zu helfen, ist, daß sie es mit der Gewährung jenes Zutritts, d. h. mit der Erteilung ihrer Zeugnisse, streng nimmt; um so strenger, je größer durch die Menge derer, die sich anbieten, die Gefahr wird, daß auch Untüchtige mit hereinkommen. Und ob in dieser Beziehung an unseren höheren Schulen alles geschehen ist, was zum Wohl der Gesamtheit nötig war, ist eine Frage, über die eben jetzt lebhaft gestritten wird. Auf der einen Seite schienen ernste Symptome darauf hinzudeuten, daß viele der Heranwachsenden den Druck dessen, was die Schule fordert, nicht mehr ertragen konnten; und so ist es zu verstehen, daß man durch fortgesetzte Verminderung der häuslichen Arbeit, durch verkürzte Unterrichtszeit, durch erleichternde Versetzungs- und Prüfungsbestimmungen zu helfen suchte. Andrerseits mehrten sich nun die Klagen, daß junge Leute, die mit dem Zeugnis der Reife die Universitäten bezogen, nicht das Maß von Arbeitskraft und Denkfähigkeit mitbrächten, dessen sie zu gründlichem, innerlich erfolgreichem Studium bedürften. Der Streit ist noch nicht geschlichtet und gehört noch nicht der Geschichte an.

„Bewegungsfreiheit“.

Ein Mittel, das nach beiden Seiten zugleich heilsame Wirkung versprach, war zuerst (1905) von Friedrich Paulsen vorgeschlagen worden: dem Unterricht in den höheren Klassen möge eine mehr akademische Gestalt gegeben werden. Man hoffte, gerade für begabte Schüler, die Last der schulmäßig auferlegten Arbeit zu vermindern und zu eigener wissenschaftlicher Vertiefung Zeit und Kräfte frei zu machen. Der Plan, anfänglich von vielen mit Freude begrüßt, hat doch in dieser Form keinen rechten Erfolg gehabt, vor allem deshalb weil, trotz ausgesprochener Warnung, sehr bald der Fehler begangen wurde, die Wahlfreiheit auch auf solche Gegenstände auszudehnen, die im Lehrplan der einzelnen Schule den Hauptbestand bildeten, wie Latein und Griechisch am Gymnasium, Mathematik und Naturwissenschaften an der Oberrealschule. Das widersprach dem Geiste des Allerhöchsten Erlasses, der ja verlangt hatte, daß immer die wichtigsten Unterrichtsfächer, nach der Eigenart der verschiedenen Anstalten, in den Vordergrund gerückt und vertieft würden. Und das doch mit vollstem Rechte. Für freie Bewegung liegt der gegebene Spielraum im Innern, in der Art wie der Unterricht erteilt, wie das Denken [1099] der erwachsenen Schüler geleitet wird: nicht in gegebene Formen eingezwängt, sondern zu selbständiger Betätigung angeregt.

Die Lehrer. Fragen der Prüfung und Beförderung.

Unendlich viel hängt von dem Können und Wollen des Lehrers ab. Eine neue Prüfungsordnung (von 1898) hatte den ausgesprochenen Zweck, nur solche in den Beruf einzulassen, die von vornherein gerüstet wären auch in Prima zu unterrichten; eine Lehrbefähigung für die Unterstufe gab es nun überhaupt nicht mehr. Durch wiederholte materielle Verbesserungen, zuletzt durch den Normaletat von 1908, der die lange versprochene Gleichstellung der wissenschaftlichen Lehrer mit den juristisch vorgebildeten Beamten brachte, wurde dahin gewirkt, die Berufsfreudigkeit zu erhöhen. Wer einmal zu fester Anstellung als Oberlehrer gelangt ist, kann sicher darauf rechnen, mit Rang und Einkommen in bestimmten Fristen aufzurücken; Zufall oder Willkür, ungünstige Beurteilung seitens eines Vorgesetzten können keinen mehr zurückhalten. Damit war allerdings auch ein Ansporn zum Wetteifer beseitigt und eine Mahnung unbeachtet geblieben, die auf der Junikonferenz 1900 einer der hohen Offiziere ausgesprochen hatte: die wichtigste Reform sei im Personal zu suchen, strebsamen Kräften müsse Gelegenheit gegeben werden sich zu entwickeln; man solle die mittelmäßigen Kräfte auf das richtige Niveau zurückweisen und ihnen nicht die gleiche Stellung einräumen wie hervorragenden Lehrern. In der Tat, auf diesem Grundsatze beruht die Stärke unserer herrlichen Armee; die festen Traditionen eines altmonarchischen Staatswesens sichern seine Durchführung. Daß dieser Schutz auch der Arbeit im höheren Lehrberuf zugute komme, liegt im Interesse aller, um derentwillen sie getan wird. Denn auch da handelt es sich um Aufgaben, für deren Lösung es nicht ausreicht, überlieferte Methoden der Vorschrift gemäß anzuwenden.

Fortschritte im Unterrichtsbetrieb.

Wer geistige Güter – nicht anders als materielle – fruchtbar erhalten will, muß ihren Wert zu steigern suchen. Dieser Gedanke ist, seit dem Erlaß vom 26. November 1900, durch den Verlust der äußeren Vorrechte des Gymnasiums kräftig aufgeweckt worden. Man fragte, man forschte nach den eigentlichen, für die Gegenwart noch wirksamen Bildungselementen in den alten Sprachen, in den Kunstwerken der alten Dichter und Denker; so wurde die Behandlung des Lateinischen und Griechischen belebt und vertieft und damit der Glaube gestärkt, daß für kleinere Kreise empfänglicher Jugend die Antike und die im Ringen mit ihr sich bildende deutsche Geisteskultur immer wieder erhöhte Bedeutung gewinnen wird. Auf der andern Seite empfanden die Realanstalten den Antrieb, Sorge zu tragen, daß die äußere Gleichberechtigung, die ihnen verliehen war, keine bloß äußere bleibe; man suchte den Unterricht im Französischen und Englischen so wissenschaftlich auszubauen, daß er an Verstand schärfender, das Urteil übender Kraft dem in den alten Sprachen immer näher käme. Frisches Leben regt sich überall in Mathematik und Naturwissenschaften; der methodische Fortschritt der letzten zwölf Jahre ist an keiner Stelle deutlicher zu spüren. Schülerübungen in Physik, Chemie, Biologie [1100] haben sich an Oberrealschulen wie Realgymnasien eingebürgert und geben den Zöglingen Gelegenheit, an der Arbeit des Suchens und Untersuchens selber teilzunehmen. Der Geschichte ist die Pflicht erwachsen, zu staatsbürgerlicher Gesinnung zu erziehen. Ins Innere dringen und die Seele erfassen wollen auch Deutsch und Religion; aber je feiner ein geistiger Stoff ist und je keuscher verborgen die Kräfte liegen, die er wecken und nähren soll, desto weniger verträgt er es, in Formeln gefaßt und nach Regeln verarbeitet zu werden. Von Jahr zu Jahr wächst vor unsern Augen die Fülle des Wissenswerten, den Geist Bildenden. Unmöglich, jede neu aufblühende Wissenschaft überall in den Stundenplan aufzunehmen; immer mehr bliebe dann die Schule eine Lernschule, während sie eine „Arbeitsschule“ sein oder werden soll. In weiser Selbstbeschränkung muß eine jede versuchen, anstatt eines äußeren Vielerlei innere Vielseitigkeit zu pflegen und die Hauptgebiete, in denen gerade ihre Stärke beruht, nach immer neuen Gesichtspunkten, wie das Denken der Menschheit fortschreitet, zu durchdringen. Unendlich ist diese Forderung und ewig neu; für sie gibt es keine amtlichen Lehrpläne. Nur der lebendige Sinn freischaffender Persönlichkeit vermag das große Werk wirksam zu fördern.

Kommende Aufgaben.

Ein Unterrichtssystem kann nur dann heilsam und gut sein, wenn es einen wichtigen Platz der Aufgabe einräumt, die Auslese und das Wachstum der Besten zu fördern: das gilt wie für die Schule den Knaben und Jünglingen, so für die Verwaltung den Männern gegenüber. Die schnelle Zunahme der Zahlen, mit denen beide zu rechnen haben, an sich eine so erfreuliche Erscheinung, brachte doch die Gefahr eines Verlustes an Einzelwerten. Ein weites Gebiet der Tätigkeit ist in einheitlicher Organisation umfaßt, der Gebrauch der Methoden, der Lehrmittel wird von der Zentralstelle aus geregelt; eine gemeinsame Dienstanweisung ordnet (seit 1910) in allen preußischen Provinzen gleichmäßig das Zusammenarbeiten von Direktor und Lehrern; die Beziehungen der Schule, ja ihrer einzelnen Klassen zu den Erfordernissen der verschiedenen Berufsarten sind genau erwogen und in sorgfältiger Abstufung festgelegt. Das alles mußte wohl so geschehen, wenn ernst gemacht wurde, im Hinblick auf den Dienst der Gesamtheit die Jugend zu erziehen. Nun kommt es darauf an, im gleichmäßigen Betriebe die Mannigfaltigkeit, in der Ordnung die Freiheit, innerhalb des festen Gefüges der Einrichtungen das lebendige Wirken der Menschen wieder mehr zur Geltung zu bringen. Nicht so, wie man es wohl versucht hat, daß um individueller Wünsche willen die Ordnung durchbrochen wird; wir bedürfen ihrer, und wir bedürfen zur Erziehung des Prinzips der Autorität. Die Stelle, wo es mit dem der Freiheit vermählt werden kann, ist die verantwortliche Tätigkeit des einzelnen tüchtigen Mannes. Ohne der Staatsfürsorge Abbruch zu tun, doch die Selbstverantwortung steigern: wenn das gelingen könnte! Eine große, weitverzweigte Aufgabe; wie wichtig sie ist, das hat gerade die Entwicklung des Zeitraumes, der hier überblickt wurde, deutlich gemacht. Und darin liegt die vorwärts drängende Kraft dieser Entwicklung. Wie in der Wissenschaft die Entdeckungen den größten Wert haben, die dem Forscher neue Probleme stellen, so sind im Bereiche des Handelns diejenigen Taten und Erfolge die fruchtbarsten, aus denen neue Aufgaben erwachsen.