Die Gartenlaube (1858)/Heft 33
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No. 33. | 1858. |
Der Oberst benutzte die erste Pause, die Therese ihrer zitternden, fast athemlosen Stimme erlaubte, um mit widerspruchsvollem Tone die letzte Bemerkung zurückzuwerfen:
„Was? Gottes Finger? Unser Zusammentreffen? Gnädige Frau, Sie halten mich wohl für einen Komödienvater, aber Gottlob, da irren Sie sich. In meinen Ansichten kann weder Zeit noch Entbehrung etwas ändern und was die Verminderung meiner Vaterfreuden betrifft, so haben Sie mir jetzt eben wenig Lust gemacht, diese durch Ihre persönliche Einwirkung zu vergrößern. Befehlen Sie noch irgend etwas, meine Gnädige, so stehe ich zu Diensten, sonst aber möchte ich Sie bitten, sich wieder hinter die Coulissen, wohinter Sie das Stichwort Ihrer Rolle abgepaßt haben, zu verziehen, denn wir Beide können nicht in einem Zimmer leben.“
Das Mienenspiel der würdigen Medicinalräthin hatte hinlänglich verrathen, daß sie nichts Anderes erwartet hatte, als diese untröstliche Erwiderung, und Frau Therese, von der Sprödigkeit, woran ihr Sühnungsversuch abprallte, auf’s Aeußerste erschreckt, stand leichenblaß da, bis es ihr gewiß wurde, daß für jetzt und für immer die Brücke abgebrochen war, worauf eine wiederherzustellende Verbindung versucht werden konnte. Sie wagte kein Wort. Sie wußte auch keins. Schmerzlich betroffen, ohnedies leidend, schlug sie mit unsäglich leidendem Ausdrucke die Augen einen blitzschnellen Moment zu dem harten Manne auf und verschwand im Nebenzimmer.
Eine peinliche Stille folgte ihrem Abgange. Der Oberst ließ sich nicht wieder nieder, sondern machte Anstalt, sich zu entfernen. Die Medicinalräthin, eigentlich etwas erzürnt auf Therese, weil sie dennoch, gegen ihren Rath, einen Auftritt herbeigeführt hatte, stellte ihm ein Hinderniß entgegen. Sie klingelte ihrem Mädchen, befahl ihr, dem Oberst Paletot und Mütze zu reichen, fragte, ob der Bediente des Obersten da sei, der ihn zu seiner Wohnung führen könnte, und gab sich keine Mühe, ihre ungnädige Laune irgendwie zu verbergen.
Die alte Dame wußte ihn zu behandeln. Ihr Benehmen hatte den Erfolg, daß er mit sarkastischer Gutmüthigkeit beim Abschiede sagte:
„Gehaben Sie sich wohl, Frau Schwester. Wenn des Schlossers Töchterlein abgereist ist, komme ich wieder, eher aber nicht. Sie hätten wissen können, Dame Weisheit, daß bei meiner Strategie solche Empfindungs- und Ueberraschungsexplosionen verpuffen ohne den mindesten Nachhall. Nun gehen Sie und trösten Sie Ihren weinenden Schützling, denn ohne Thränen geht’s nicht ab – nicht wahr?“
Er lachte und verabschiedete sich.
Acht volle Tage verflossen, ohne daß es dem Obersten einfiel, sich nach dem Wohlbefinden seiner „Frau Schwester“ zu erkundigen. Er fühlte sich behaglich und wohl in seiner sehr netten Wohnung, welche eine Aussicht auf den See und die ihn begrenzenden Berge hatte, und begann unter der Leitung des Wasserheilanstaltarztes seine vorgeschriebene Cur.
Während der Zeit war Frau Therese abgereist. Ihr Aufenthalt, von Anfang bis Ende Mai festgesetzt, kürzte sich des Rencontre’s wegen um einige Tage, da zwischen ihr und der Medicinalräthin nach demselben eine kleine Verstimmung eingetreten war, die ihrem Beisammenleben den sonstigen Reiz raubte. Die junge Frau, von den Vorwürfen der alten Dame belehrt, war tief betrübt über ihren Fehlgriff, den sie sich aus Unkenntniß und Selbstüberschätzung hatte zu Schulden kommen lassen, und es fehlte ihr fast der Muth, ihrem Gatten, der ihr bis zur Hälfte des Weges entgegengereist war, den mißlungenen Versöhnungsversuch zu beichten. Nur ihr eigenthümliches, auf unbeschränktem Vertrauen beruhendes Verhältniß vermochte sie endlich dazu und da war es ihr ein Trost, daß Eberhard nicht allein ihre Handlungsweise vollkommen billigte, sondern den Tadel der alten Tante mit seinen Tröstungen gänzlich entkräftigte. Der junge Mann war empört über die Härte seines Vaters der lieblichen, sanften Frau gegenüber und in seinem Innern regten sich rachsüchtige Gefühle. Was hatte ihm Therese gethan? Wie konnte er sie aus seiner Nähe verweisen, ohne den Versuch zu machen, sie nur oberflächlich zu prüfen? Er überantwortete mit einer stillen Verwünschung denjenigen einer rächenden Nemesis, der ihm zwar das Leben gegeben, aber es ihm auch vergällt hatte.
Und der Himmel erhörte die Bitte des schwer gekränkten Sohnes.
Der Oberst hatte vorsichtig durch seinen Bedienten Erkundigungen einziehen lassen und kam richtig am Tage nach der Abreise Theresens im Hause der Medicinalräthin an. Sie empfing ihn, als wäre nichts vorgefallen.
Unter den leichten und amüsanten Plaudereien, wie der Oberst [466] sie liebte, wurde abermals der Thee servirt und in ganz natürlicher Gedankenassociation verfiel der alte Herr darauf, sich angelegentlich nach dem „hübschen kleinen Fräulein, welches Pauline hieß,“ zu erkundigen und zu fragen, warum sie nicht mit Thee trinke.
„Die Kleine ist ja abgereist, Herr Schwager,“ entgegnete die Medicinalräthin in der Voraussetzung, er wisse jetzt, wem das Kind angehöre. „Die Mutter würde doch ihr Kind nicht hier lassen, und da die arme Therese von Ihnen eben nicht handgreiflicher aus dem Hause gewiesen werden konnte, so machte sie sich mit ihrer Kleinen natürlich so eilig als möglich davon.“
Dem Obersten ging es wie ein Stich mit tausend Widerhaken durch’s alte, verhärtete Herz, während er mäuschenstill zuhörte und aus den Erklärungen seiner Frau Schwester erkannte, daß die engelhübsche freundliche Kleine „sein Enkelkind, seines Sohnes Tochter“ gewesen sei. Zu seiner Qual war sein Gedächtniß nie treuer gewesen, als in diesem Augenblicke, wo des Kindes reizendes Lächeln, ihre Verheißung, ihn zu belohnen, weil er ein „guter Mann“ sei, ihr süßes Anschmiegen und ihre anmuthige Artigkeit wie ein bitterer Vorwurf vor ihn hintrat.
„Warum haben Sie mir denn nicht gesagt, daß Pauline meine Enkelin sei?“ fuhr er etwas unsanft auf.
„Was hätte das geholfen?“ warf die alte Dame ganz gelassen ein. „Pauline ist ihrer Mutter Tochter.“
„So, Dame Weisheit? Das Kindchen zeigte aber eine liebenswürdige Hinneigung zu dem alten Großpapa –“
„Die zeigte ihre Mutter auch,“ fiel die „Frau Schwester“ prompt ein, „sonst würde sie wahrhaftig nicht um die Liebe des Schwiegervaters, der sich nie liebenswürdig gegen sie gezeigt hatte, gebettelt haben. Die Sache ist vorbei, lassen wir sie ruhen.“
Zum ersten Male in seinem ganzen Leben war der Oberst mit diesem Beschlusse nicht zufrieden und schwieg dennoch. Das Bild des kleinen Mädchens, auf das er ein Recht hatte, das zu ihm gehörte, das sein Herz mit einem Gefühle voll süßer Frühlingsgedanken erfüllte, wie er sie seit seiner ersten Liebe gehabt zu haben sich nicht erinnerte, das Bild wich und wankte nicht aus seiner Erinnerung. Er sah sie sitzen und Thee trinken – sein Blick suchte die Stelle – da stand der kleine Polsterstuhl, worauf sie es sich so allerliebst bequem gemacht – jetzt hatte die große graue Katze der Medicinalräthin darauf Platz genommen und blinzeltle ihn mißtrauisch an, als er mit unzufriedenen Mienen zu ihr hinsah – er machte eine verscheuchende Gebehrde und schnitt ihr ein grimmiges Gesicht zu. Die Katze rührte sich natürlich nicht.
„Was hat ihnen denn meine Mieze gethan, Herr Schwager?“ fragte die alte Dame. „Lassen Sie doch das alte gute Thier in Ruhe.“
„Ach was – sie soll nicht auf dem Stuhle liegen, wo Pauline gesessen hat,“ brummte der Oberst beschämt.
„Was Sie doch herrschsüchtig sind,“ meinte sie und setzte sich neben ihn.
Er sah immerfort die Katze an – die Katze ihn ebenfalls. Zuletzt wurde ihm die Geschichte Ernst – er stand leise auf und näherte sich dem kleinen Stuhle. Die Katze hob mit naseweisem Zwinkern den Kopf zu ihm auf – patsch, hatte sie einen Schub, daß sie bis in die Mitte der Stube flog.
„Aber Sie sind doch der unerträglichste Tyrann auf Gottes Erdhoden,“ schalt die alte Dame, indem sie sich erhob und die Katze hinausjagte. Ihre Stirn stand dabei voller Donnerwetter. Der Oberst lachte herzlich.
„Nehmen Sie mir es nicht übel, Frau Schwester,“ rief er, „aber es war mir unmöglich, dies abscheuliche Katzengesicht da sitzen zu sehen, wo ich zuletzt mein herziges Paulinchen bewundert hatte. Stellen Sie den Stuhl fort. Ich will ihn nicht wieder sehen, will überhaupt an Nichts erinnert sein, was geschehen ist. Ertragen Sie mich nur die fünf Wochen lang, die ich hier bleibe, nachher nehemen wir Abschied von dieser Welt und sehen uns hoffentlich nicht wieder. Ich bin’s nachgerade satt auf der Erde – mein Abschied vom Dienst kann nicht lange mehr ausbleiben, dann kaufe ich mir eine Eremitage und thue Buße!“
„Ah bah,“ entgegnete die Dame. „Wenn Sie Buße thun wollen, so hätten Sie keine Eremitage nöthig, sondern könnten des Lebens Herrlichkeit im schönsten Familienkreise genießen!“
„Basta!“ schrie der Oberst mit gewaltiger Stimme.
Es wurde von dieser Zeit an bis zum Ende seines Aufenthaltes hier nicht ein Wort wieder gesprochen, weder von Pauline, noch von Therese und Eberhard.
Die Wohnungen am See vereinigten die Annehmlichkeiten eines Landhauses mit den Bequemlichkeiten städtischer Eleganz. Die Kaltwasseranstalt lag mitten in der Gruppe dieser Häuser und wurde nur von den ganz absonderlich leidenden Fremdem bewohnt, während die gewöhnlichen Cur- und Brunnengäste es vorzogen, den größeren Comfort in den Privatwohnungen zu genießen.
Am Tage nach der eben beschriebenen Scene erblickte der Oberst, der seine Leidensgenossen mit theilnehmender Artigkeit zu behandeln pflegte, ein paar Damen langsam unter den Acacien am Strande entlang promeniren, die er bis dahin noch nicht bemerkt hatte. Sie schienen einfach und solid zu sein, obwohl ihr Anstand jene angeborene Sicherheit aufwies, welche Damen aus den mittleren Lebensstellungen sich selten anzueignen wissen. Die ältere Dame war sichtlich leidend, sie trat unsicher auf und hielt den Arm ihrer Begleiterin als nothwendige Stütze umfaßt. Das junge Mädchen, in schlichten, grauen Stoffen, mit großem Kragen und breitrandigem Strohhute hatte ein Etwas an sich, was die Blicke der Menschen ganz unwillkürlich fesselt, obwohl es nicht auf bedeutender äußerer Schönheit beruht. Braunes Haar, braune Augen, blühende Farbe, purpurrothe Lippen und schön geformte Wangen mit einem Grübchen, die den ernsten Mienen einen wunderbaren Reiz mittheilten, das war ungefähr dasjenige, was dem prüfenden Auge sogleich auffiel. Es mußte im Geiste der jungen Dame liegen, daß sich diesen oftmals dagewesenen Reizen die Bedeutung einprägte, welche sie auszeichnete.
Die Damen gingen an dem Platze vorüber, wo der Oberst am Ufer unter den Bäumen stand und in Gedanken versunken die schöne Gegend betrachtete.
Er grüßte sie achtungsvoll, wendete sich aber, da er sie nicht kannte, ohne sie anzureden, wieder nach dem Wasser um.
Kaum hatte er dies gethan, so hörte er, augenscheinlich von der älteren Frau gesprochen, die Worte:
„Das muß er sein, Valeska.“
„Daran habe ich gar nicht gezweifelt, Mama, schon als ich ihn von fern erblickte,“ entgegnete die Tochter mit einem sonoren, wohlklingenden Organe.
Der Oberst hatte das Wechselgespräch ganz deutlich verstanden und sah sich befremdet nach den Damen um. Wer mochte das sein? Er tröstete sich, daß nicht vierundzwanzig Stunden vergehen würden, ohne seine Neugier zu befriedigen. Es sollte früher geschehen.
Rachdem die Fremden eine kleine Tour um den See, gleichsam nur, um sich an dem Anblicke zu erlaben, gemacht hatten, führte das Fräulein ihre Mutter wieder in das Kaltwasser-Curhaus zurück und kam eilig und entschlossenen Schrittes auf den Oberst zu, der sich eben auf eine Bank niedergelassen hatte.
Sie verneigte sich nochmals leicht mit den fragenden Worten: „Herr Oberst Hußlar, wenn ich nicht irre?“
Der Oberst, angenehm überrascht von dem leichten, gewandten Wesen und dem Ausdrucke des hübschen Gesichtes, bejahte mit ausgezeichneter Ritterlichkeit und sah dann erwartungsvoll in die braunen, lebhaften Augen des jungen Mädchens.
„Ich setze mich ihrem Tadel aus, Herr Oberst, indem ich es nicht dem conventionellen Herkommen überlasse, unsere Bekanntschaft zu vermitteln,“ begann sie, schnell sprechend und mit dem Bewußtsein geistiger Sicherheit. „Allein, da wir nicht viel Zeit haben, die Pläne zu verschieben, die nothwendig geworden sind, und da wir nur Ihretwegen Fürstenhall zur Cur meiner armen Mutter gewählt haben, so beeile ich unser Zusammentreffen. Ich bin Valeska Sundwihl und habe die Ehre, von Ihrem Sohne Lothar innig geliebt zu sein.“
Der Oberst, der am liebsten jetzt „rechts schwenkt“ gemacht hätte, entgegnete einige gewöhnliche Gesellschaftsfloskeln mit einer spöttischen Manier, die bedeutend gegen seine Empfangsfeierlichkeit abstach. Fräulein Valeska schien dadurch nicht im Geringsten beirrt zu sein. Sie fuhr eben so schnell fort:
„Sie sollen und müssen mich kennen lernen, mein Herr Oberst, und da dies auf keine andere Art zu bewerkstelligen war, so gab [467] meine Mutter meinen Bitten nach und kam hierher, als Eberhard uns mitgetheilt, daß Sie hier wären.“
Der Oberst, mit sarkastischem Lächeln die Redefertigkeit des Mädchens bewundernd, unterbrach sie und sagte, auf die Bank neben ihnen deutend:
„Setzen wir uns, mein Fräulein, damit es nicht scheine, als gäbe ich in fürstlicher Laune eine Audienz. Das würde Ihnen nicht angenehm sein, meine ich.“
„Gewiß nicht, denn es zeigte eine Ueberhebung von Ihrer Seite, die ich Ihrer Klugheit nicht zutraue.“ warf Valeska kurz hin, ohne den Blitz zu beachten, der aus seinen Augen über sie hinfuhr. „Ich rufe Ihren Gerechtigkeitssinn an, Herr Oberst, und stelle mich Ihnen zu einer Prüfung. Vier Wochen werden für einen Mann von Ihrer Welterfahrung und von Ihrer Menschenkenntniß hinreichen, um zu beurtheilen, ob ich werth bin, Ihres Sohnes Gattin zu werden. Unterbrechen Sie mich nicht, mein Herr. Ich habe noch viel zu sagen und meine Zeit gehört meiner Mutter, so lange sie nicht, wie jetzt, unter den Händen der Badefrauen ist. Ich rufe Ihre Gerechtigkeit auf bei der Feststellung eines Verhältnisses, das mich beglücken würde. Ich verlange Ihre Billigung – nicht Ihre Liebe, sondern Ihre Achtung. Ihre Liebe kann ich entbehren, denn ich habe sie nie besessen, aber Lothar kann sie nicht entbehren und er soll sie nicht entbehren meinetwegen, damit er nicht ein getheiltes Leben mir verdanke, die ihm ein ganz ungetrübtes Glück verschaffen möchte. Prüfen Sie mich mit Gerechtigkeit, nicht unter den Eingebungen eines Eigensinnes, wie viele Väter bei der Wahl ihrer Kinder zeigen. Prüfen Sie mich, ich bin bereit, mich Ihrem Urtheile nachher zu unterwerfen, und wenn es auch in den Augen der Welt ein Anathema für mich werden sollte. Aber rechnen Sie nicht darauf, mein Herr, daß ich Sie mit Empfindungen, mit Liebe und Verehrungszeichen zu meinen Gunsten stimmen werde.“
„Ich glaube, daß Sie mir keine Gelegenheit zu diesem Glauben geben werden,“ fiel der Oberst lächelnd ein.
„Schön – Sie verstehen mich, wie ich merke! In einer Woche kommt Lothar von Amerika zurück – er wird es Ihnen gemeldet haben –“
„Kann sein,“ entgegnete der Oberst trocken. „Ich habe seine letzten Briefe noch nicht gelesen.“
Valeska heftete ihre sprechenden, braunen Augen fest auf ihn, als wolle sie in seiner Seele lesen, und erwiderte mit ruhiger Würde:
„Dadurch haben Sie sich selbst mehr Schaden gethan, wie jedem Andern. Doch, ich kritisire Ihre Handlungsweise nicht. – Sie wissen, daß Lothar mit mir schon seit zwei Jahren, ohne Erklärung, in einem Bündnisse steht, welches am Ziele ein unaussprechliches Glück verheißt. Wir hatten aber nie große Hoffnung, weil mein Vater auch zu den Vätern gehört, die unter den Eingebungen ihres Eigenwillens handeln. Das Schicksal erbarmte sich unser. Der Bruder meines Vaters, weniger glücklich in seinen Bestrebungen vorwärts zu kommen, als mein Vater, wanderte nach Amerika aus und man hörte lange Zeit nichts wieder von ihm, als daß es ihm gut gehe und er bei Pittsburg wohne. Voriges Jahr erhält mein Vater die Meldung seines Todes mit der Nachricht, daß sein bedeutender Nachlaß nach seinem ausdrücklichen Willen meinem Vater zufallen solle. Die Sache, so leicht sie sich ansah, entwickelte nach und nach Schwierigkeiten, man schrieb uns geradezu, wenn von Europa kein Bevollmächtigter gesendet werde, so würde die ganze Erbschaft, die aus Grundbesitz bestand, in Rauch aufgehen. Väter sind fast immer egoistisch. Der meinige benutzte Lothar’s Liebe zu mir, um ihn für den Vorschlag zu gewinnen, sein Bevollmächtigter zu werden. Das Uebrige wissen Sie besser, als ich. Sie verweigerten Ihre Erlaubniß zu der Reise – Lothar bestand einen harten Kampf –“
„Er ging aber,“ unterbrach sie der Oberst. „Natürlich, den Bitten einer Geliebten muß der Vater weichen –“
„Wenn Sie mich erst kennen, Herr Oberst, so werden Sie sich überzeugen, daß ich lieber eine ewige Trennung von Lothar ertrage, als eine innere Zerrissenheit seines Gemüthes. Lothar kommt zurück, beladen mit Geld. Der Dank meines Vaters besteht in der Erlaubniß zu unserer Heirath, aber ich mache diese von Ihnen abhängig und schwöre Ihnen zu, daß ich Lothar nicht wiedersehen will, wenn Sie mich als Tochter verwerfen. Das Schicksal Eberhard’s soll nicht das seine sein, wir haben uns gewöhnt an dies eine Jahr der Entbehrung und werden die wenigen Jahre eines Menschenlebens viel eher unter dem stützenden Stolze eines unbefleckten Bewußtseins tragen, als unter dem Harme, den Vaterzorn in die schönsten und reinsten Lebensfreuden mischt.“
Sie stand auf, vielleicht, umt den feuchten Glanz ihrer Augen zu verbergen. Der Oberst sah sie aber gar nicht an, sondern schaute nach den Bergen, als müsse er sich dort Rathes erholen. In solcher Situation hatte er sich noch nicht befunden. Mit solcher kalten Ruhe war ihm noch nie jemand entgegen getreten. Durch solche Geistesklarheit waren ihm noch nie die Hände gebunden und Wege vorgeschrieben worden, die er gehen sollte. Er fühlte, daß hier sein Spott ohne Eindruck blieb und auf scharfe Erwiderung rechnen konnte. Darum sah er gleichgültig in die Ferne und ließ die lange Rede unbeantwortet.
Valeska bot ihm die Hand.
„Wollen Sie mir versprechen,“ begann sie wieder und ihre Stimme klang sehr milde, „mich nicht zu vermeiden, wenn ich der Pflege meiner Mutter einige Minuten abmüßigen kann, um Sie aufzusuchen? Wollen Sie mir versprechen, mich Ihrer Prüfung werth zu halten? Wollen Sie darauf eingehen, „ohne Vorurtheile“ das Schicksal Ihres Sohnes zu bestimmen?“
Der Oberst sah sie spöttisch lächelnd an und erwiderte:
„Und wenn ich jetzt gleich, ohne jede Widerrede, Sie für würdig erklärte, Lothar’s Gattin zu heißen?“
„Dann würde ich Lothar dem Schicksale Eberhard’s verfallen sehen, der auch ohne Widerrede „thun sollte, was er nicht lassen könne“.“
„Sie würden ihn aber dennoch heirathen?“
„Niemals ohne Ihre freudige Zustimmung, ohne den Segen eines ganz zufriedenen Vaterherzens!“ rief Valeska mit fester Entschiedenheit.
Der Oberst nahm ihre Hand und versprach ihr, was sie verlangt hatte. Sie sah ihm freudig bewegt in’s kalte Gesicht, und preßte flüchtig seine Rechte mit heißer Innigkeit, dann neigte sie das stolze Haupt, und ging schnell zum Hause hinauf.
Der Oberst schaute ihr verstohlen nach.
„Ob sie Wort hielte?“ fragte er sich, und ein dämonisch-häßliches Lächeln zuckte über seine Lippen. „Ich fühle ein starkes Gelüst in mir, dies kecke, stolze, herausfordernde Fräulein von Sundwihl in den Staub zu treten.“
Am Nachmittage, als die Präsidentin von Sundwihl Mittagsruhe hielt, machte sich Fräulein Valeska bereit, die Tante ihres Geliebten aufzusuchen. Sie hatte Briefe von Therese Hußlar mitgebracht, und schon hinaufgeschickt, um sich diese Bekanntschaft zu erleichtern.
Die Medicinalräthin empfing sie mit warmen Freudenbezeigungen. Sie theilte überhaupt die Grundsätze und Lebensansichten ihres Schwagers nicht, war aber in Bezug auf die Wahl ihrer Neffen eine ganz entschiedene Gegnerin desselben. Frau Therese hatte ihr in ihrem Briefe angedeutet, daß Fräulein Valeska, vor deren Klugheit sie einen ganz besondern Respect zeigte, es übernehmen wolle, den Sinn des Obersten allen Verhältnissen, aber insbesondere dem ihrigen, geneigt zu machen, aber sie war nicht näher auf die Art und Weise eingegangen, die von derselben angewendet werden würde.
Mit Begierde forschte die alte Dame nach den Plänen des Fräuleins.
Diese legte sie ihrer Beurtheilung vor und gestand, daß sie schon heute den Anfang gemacht habe. Nachdenklich hörte die Medicinalräthin zu. Sie schüttelte ihr Haupt mit den bedeutungsvollen Zeichen der Weisheit, die ihr stets den Spott des Obersten zuzogen.
„Sie calculiren falsch, mein Kind,“ erklärte sie betrübt. „So kommen Sie niemals zum Ziele! Ich kenne meinen Schwager! Und wenn er Ihnen tausendmal die Hand zum Pfande gegeben hat – er findet Mittel und Wege, seinen Kopf aufzusetzen.“
Valeska lächelte sieghaft.
„Vertrauen Sie mir,“ sprach sie zuversichtlich. „der Oberst wird und kann seine Hartnäckigkeit nicht bis zu dem Punkte treiben, ein Mädchen unglücklich zu machen, das ihm nie etwas zu Leide gethan hat, und hat er sich erst mir gegenüber für besiegt erklärt, so wird es ein Leichtes sein, die Verhältnisse mit Eberhard’s Familie, [468] die außerdem ein unaussprechlich glückliches Patriarchenleben führt, zu ebnen.“
„Würden Sie denn wirklich Wort halten, und Lothar nicht heirathen?“ examinirte die alte Dame zweifelnd.
Valeska gab ihr in einer sichtlichen Bewegung, mit erhöhter Feierlichkeit in Stimme und Gebehrde die Versicherung ihres ernsten Willens. Die alte Dame wiegte bedenklich ihr Haupt:
„Valeska – Sie stehen an einem Abgrunde – seien Sie nicht zu sicher – es gilt Ihr und Lothars Glück – bedenken Sie, was Sie thun! Weiß Lothar um diesen Entschluß?“
Das Fräulein bejahete diese Frage und fügte hinzu, daß er ihn billige.
„Auf das Risico hin, Ihnen entsagen zu müssen, wenn sein Vater Ihnen abgeneigt bleibt?“ fragte die Medicinalräthin frappirt. „Das ist ein sonderbarer Heroismus oder eine Selbstverblendung, indem er Ihnen einen ungetheilten Einfluß zutraut. Der Oberst hat, trotz seines Hanges zu Ironie und trotz seines gefährlichen Eigenwillens, den Sie ihm ganz in aller Ordnung vorgerückt haben, zwar ein gutes Herz, aber was diesen Punkt betrifft, so hat er darüber seltsame Ansichten.“
Valeska wurde ungeachtet der Bedenklichkeiten der Dame nicht wankend in ihrem hoffnungsvollen Glauben und sie versprach, am nächsten Tage wieder zu kommen, um zu hören, wie sich der Oberst gegen seine „Frau Schwester“ über die ganze Angelegenheit ausgelassen haben möchte.
Wohlgemuth spazierte Fräulein Valeska zurück zum Curhause, wohlgemuth pflegte und erheiterte sie ihre schwer leidende Mutter, wohlgemuth überließ sie sich Abends dem zauberhaften Eindrucke der himmlisch schönen Gegend und träumte von ihrer Zukunft, und wohlgemuth stand sie am andern Morgen früh auf, um einen Spaziergang am See zu unternehmen, bevor ihre Mutter das Bett verließ. Vielleicht wurde sie bei dem letzten Entschlusse von der Hoffnung geleitet, den Obersten zu treffen.
Sie täuschte sich auch nicht. Kaum hatte sie die Allee einmal durchschritten, so sah sie den alten Herrn, stattlich und vornehm, mit echt militairischem Anstande sich entgegen kommen. Schon von fern grüßte er mit einem weit freundlicheren „Guten Morgen“, als sie schon heute erwartet hatte.
An einem recht einsamen, pittoresk romantischen Flecke, wo die ersten Felsen mit schroffen und eckigen Abhängen weit über das dunkle Wasser hinwegragten, trafen sie zusammen.
„Mein Fräulein, Sie müssen diabolische Kräfte besitzen,“ rief er mit einem Humor, dem man einen gewissen Zwang anhörte, „denn Ihnen ist gelungen, was bis jetzt noch Jeder vergeblich versucht hat. Sie haben mir eine schlaflose Nacht bereitet.“
Das junge Mädchen richtete mitleidig ihre sprechenden, braunen Augen milde zu ihm auf, und sprach einige bedauernde Worte.
„Aber ich weiß, wie ich ferneren schlaflosen Nächten entrinnen kann,“ fuhr er, ihre sanften Beileidsbezeigungen nicht beachtend, fort. „Ihr solider Plan, den Sie zu meinem und zu Ihrem Besten entworfen haben, ist Schuld an meinem Elende gewesen. Sie haben mich damit in einen Belagerungszustand versetzt und Sie hoffen, daß ich eines Tages capituliren soll – mein Fräulein – la vieille garde meurt, mais elle ne se rend pas! sagt der Franzose, und das ist die einzige Gleichheit zwischen mir und diesem Volke, daß wir dieser Devise huldigen. Ich räume Ihnen ein, daß Sie Recht haben, aber ich verlasse in dieser Stunde Fürstenhall und gehe nach Steitenbach, um meine Cur ungestörter fortsetzen zu können. Leben Sie wohl!“
Fräulein Valeska glich einem schönen Steinbilde. Alles Leben schien aus dem blühenden Gesichte gewichen, kraftlos und schlaff hingen ihre Arme herab, und ihr Auge zeigte sich völlig glanzlos.
„Soll das mein Urtheil sein?“ brachte sie mühsam heraus.
„Nehmen Sie es, wie Sie wollen. Heirathen Sie meinen Jungen – ich habe nichts dagegen – leben Sie wohl!“
Valeska regte die Lippen, um diese Abschiedsworte zu wiederholen; es gelang ihr nicht – stumm neigte sie den Kopf, und blieb wie erstarrt stehen.
Der Oberst entfernte sich, mit großer Gefühllosigkeit frohlockend die Hände reibend. Nachdem er eine weite Strecke entfernt war, schauete er um. Valeska stand unverändert auf derselben Stelle, und starrte über das Wasser hinweg.
Er kam bei seinem Hause an, und blickte abermals zurück. Dieselbe Stellung, dieselbe traurige Unbeweglichkeit.
Er betrat sein Zimmer. War es Neugierde, sein Opfer zu betrachten, die ihn zu seinem sehr guten Fernrohre greifen ließ? Er stellte es und suchte die Dame, die sein Sohn liebte, die er jetzt unheilbar verletzt hatte.
Valeska hatte sich nicht bewegt, hatte nicht einmal die Lage ihrer Arme geändert – sie schien vergessen zu haben, daß sie noch lebte, und schien es nicht zu wissen, daß große Thränentropfen ihre Wangen hinabträufelten. So sah sie der Oberst, Dank seinem guten Fernrohre, und das Herz begann ihm mächtig zu klopfen. Unruhig schritt er auf und ab im Zimmer. Seine Augen glüheten vor innerer Bewegung, mehrmals stand er an der Thür – nahm er sein Fernrohr abermals – Valeska schritt ruhig und voll graziösen Anstandes die Allee herauf. Jetzt war sein Herzklopfen fort, und in einer Stunde saß er im Wagen, ohne seine „weise Frau Schwester“ eines Abschiedes gewürdigt zu haben.
Steitenbach lag sechs Stunden von Fürstenhall entfernt im flachen Lande, und die Heilanstalt befand sich in dem ärmlich ausgestatteten Städtchen, unter dürftiger Umgebung eines Krautgartens, nebst Rasenflecken unter alten Obst- und Lindenbäumen. Die ganze Anlage verrieth sich schon von außen als ein Hospital voll lahmgewordener Menschen, das Heilung für alle Fälle verheißt, und der Oberst sah schon vor seinem Eintritte in das mehr als einfache Curhaus ein, daß er sich selbst in’s Exil geschickt habe. Es vermehrte seine gute Laune nicht, als er sich in dem Zimmerchen sah, welches ihm als das beste eingeräumt worden war. Bunt bemalt, ohne Tapete, rothbunte Kattungardinen an den niedrigen Fenstern – es gemahnte ihn an seine Knabenjahre, wo er als Gehülfe seines Vaters in der Gaststube stand, welche von den Honoratioren seiner Vaterstadt als Niederlage benutzt wurde. Er glaubte sich fünfzig Jahre zurückversetzt zu sehen. Aber was half es? Wer trug die Schuld? Niemand als er!
Verdrießlich fügte er sich in’s Unabänderliche, weil ein Rückzug unmöglich war, und nahm seine Cur wieder vor.
Von Stunde zu Stunde drängten sich seinem Geiste Vergleichungen auf, die ihn verdüsterten. Dort in Fürstenhall Alles neu, Alles elegant, Alles behaglich – hier häßliche Gebäude, unfreundliche Wirthe und stöhnende Kranke.
Drei Wochen verflossen ihm unter den Höllenqualen eines Verdammten, der das Paradies aus Eigenwillen verließ, um seinen Wohnsitz so zu wählen, daß er durch jeden Sonnenaufgang an dasselbe erinnert werden mußte.
Es geschah während dieser Zeit gar nichts, was im Stande gewesen wäre, ihn zur Erkenntniß zu bringen. Es kam kein Brief, es kam keine Anregung, die ihn auf die Vergangenheit zurückführte, und doch standen die letzten Ereignisse seines Lebens in immerwährender Mahnung vor seiner Seele.
Die Zeit war da, wo sein Sohn Lothar von seiner überseeischen Reise zurückkommen mußte.
„Packe meine Sachen, Jean,“ befahl er eines Abends, nachdem er lange mit tief gerunzelter Stirn das altmodisch ausstaffirte Stübchen durchmessen und in die untergehende Sonne geschaut hatte, bis er geblendet bis zur Blindheit war. „Packe meine Sachen – besorge einen Wagen zur Station Bimberge.“
Der Bediente sah ihn groß an.
„Nach Bimberge?“ wiederholte er im bescheidenen Tone kluger Zurückhaltung.
Bimberge lag nördlich – sie mußten nach Süden reisen.
„Ja. Wir gehen über Berlin nach –“ Er ließ den Satz unvollendet, und spazierte von Neuem im Zimmerchen umher.
Die Dampfgelegenheit ist ein prächtiges Mittel, gute Gedanken schnell auszuführen, und wer einmal eingepackt in einem Coupé, mit der Weisung der Reiseroute von – – nach – – versehen, sitzt, der ist seinem Schicksale verfallen.
Vielleicht wäre der Oberst noch zehn Mal andern Sinnes geworden, vielleicht noch dicht vor der Station ††† umgekehrt, an deren Bahnhof die weltberühmte Maschinenfabrik von Harteberg und Compagnie angrenzte, aber Gott sei Dank, er kam richtig dort an, kletterte richtig aus seinem Waggon heraus, und sah sich ganz bedächtig das fürstlich schöne Haus an, das ihm ein Reisegefährte als das Wohnhaus des Fabrikbesitzers bezeichnet hatte.
Ohne Zögern stieg er die breiten Fliesenstiegen hinauf, die zu
[469] [470] einem balkonartigen Portale führten. Ohne irgend ein Zeichen von Gemüthsbewegung öffnete er die große geschnitzte Flügelthüre, die sogleich in ein weites, salonmäßiges Gemach führte. Er trat ein. Eine weibliche Gestalt stand in einem Bogen der hochgewölbten Fenster, und schauete achtsam auf das Gewühl, das ein ankommender Bahnzug immer verursacht.
„Guten Morgen, Frau Tochter!“ rief der Oberst, und seine Stimme klang ein klein wenig anders, als damals, wo er ihr auseinandersetzte, „daß sie nicht in einem Zimmer zusammen leben könnten.“
Die Dame sah sich um. Einen Moment nur, einen einzigen Moment, dann aber flog sie unter einem Freudenjauchzen ihm entgegen, klammerte ihre Arme um seinen Nacken, und drückte ihre Lippen auf seinen Mund.
Das hatte er nicht verdient! Eine Stimme in seinem Innern flüsterte ihm dies vernehmlich zu, allein seine Lippen hüteten sich, es auszusprechen.
Im Nu riß sich Therese wleder los von ihm und schrie, zur Thür eilend, die Namen ihres Mannes, ihrer kleinen Tochter, ihres Vaters, ihrer Mutter und ihres Bruders. Alle stürzten erschrocken herbei – der Schreck verwandelte sich in Jubel, als sie den alten Herrn, mitten im Salon stehend, erblickten. Eberhard trat zuerst zu ihm. Wie Mann zum Mann standen sie voreinander, die Hände faßten sich, die Augen sahen sich fest an, und die Herzen öffneten sich wieder ohne Worte und Erklärungen.
Jetzt kam Pauline hereingesprungen. Sie riß die Kinderaugen weit auf, und ein Schelmenlächeln flog über das liebe Gesicht.
„Du? Wo kommst Du her –?“ fragte sie, fröhlich, wie damals, die Händchen zusammenklatschend.
„Bin ich denn noch ein allerliebster Mann, Du allerliebstes Aeffchen?“ fragte der Oberst, das Kind mit Entzücken emporhebend, und unverwandt betrachtend. „Hast Du mich wirklich noch nicht vergessen?“
„Nein, wirklich nicht!“ betheuerte die Kleine. „und dafür, daß Du zu mir gekommen bist, sollst Du auch von Pauline ein Küßchen haben.“
Nach und nach legte sich der Sturm. Man wurde ruhiger, und der Oberst fragte, ob sein Sohn Eberhard Nachrichten von Lothar habe. Als er hörte, daß das Schiff, welches er zur Ueberfahrt erwählt habe, laut telegraphischer Depesche in Southampton angelangt sei, da erklärte er, nach Hamburg zu wollen, dem Sohne entgegen. Ein freudiger Blick Theresens auf ihren Gatten verrieth etwas von ihren mitleidigen Hoffnungen für Valeska, aber auszusprechen wagte sie nichts davon, denn ihre bittere Erfahrung hatte sie vorsichtig gemacht.
„Habt Ihr Nachricht von dem Fräulein Sundwihl?“ fragte der Oberst in Folge dieses wohlverstandenen Blickes.
Man bejahete.
„Es liegt ein Brief an Lothar hier, den wir ihm bei seiner Ankunft in Europa sofort übersenden oder übergeben sollen,“ fügte Eberhard hinzu.
„Mal her den Brief! Ich will Postillon d’amour sein,“ scherzte der alte Herr.
Eberhard eilte, den Brief zu holen. Der Oberst nahm ihn, besah ihn von allen Seiten, und rasch zerriß er das Couvert. Einigermaßen erschrocken fuhr sein Sohn von seinem Sitze auf, um den Brief vor Entweihung zu schützen.
„Laß nur,“ rief der alte Herr gemüthlich. „Ich nehme alle Verantwortung auf mich.“
Er stellte sich an’s Fenster und las. Es währte lange, ehe er zu Ende kam, viel länger, als er zu den Zeilen gebrauchte, die Valeska im Gefühle einer dumpfen Hoffnungslosigkeit, in der tiefen Bedeutsamkeit einer stolzen Demuth, einzig und allein für den Mann geschrieben hatte, den sie mit der ganzen Kraft eines ungewöhnlichen Mädchenherzens liebte.
Die edle Ergebung, womit sie ihre Demüthigung aus den Händen des Obersten hingenommen hatte, prägte sich klaglos in ihren Worten aus, welche sie „entsagend bis zu günstigeren Zeiten,“ schriftlich an Lothar richtete, „weil sie fest beschlossen hatte, ihn nicht eher wiederzusehen, bis sein Vater aus eigener Entschließung den Bund segnen würde, der das seligste Glück ihres Lebens in sich schließe.“
Es mußte in der unerschütterlichen Selbstbeherrschung Valeska’s etwas liegen, was den Obersten ganz besonders rührte – vielleicht folgerte er von sich auf sie und umgekehrt von ihr auf sich – wer weiß und kennt alles das, was in einem eigensinnigen Gemüthe eine Stätte findet? genug, Frau Therese, die ihn fest und beharrlich beim Lesen von der Seite betrachtete, wollte finden, daß ein fallender Farbenwechsel mehrmals stattgefunden habe, und daß seine Lippen mit dem Bemühen, eine innere Rührung zu bemeistern, fest eingekniffen seien.
Als er endlich fertig mit Studiren war, forderte er ein neues Couvert, Feder, Tinte und Siegellack.
Gehorsam, wenn auch mit durchweg unbehaglichen Gefühlen willfahrte sein Sohn Eberhard diesem Verlangen. Er konnte und mochte auch nicht mit einem einzigen Worte den Frieden und die Freude beeinträchtigen, die nach Jahre langer Entbehrung in seine Brust eingekehrt war. Im Allgemeinen hatte er weit mehr durch seines Vaters fortgesetzt zur Schau getragene zornige Gemüthsstimmung gelitten, als er zu verrathen für gut hielt, und er war um so williger auf Valeska’s Pläne eingegangen, als er es für unerträglich hielt, diesem außergewöhnlichen, begabten und liebenswürdigen Mädchen auf längere Zeit zu widerstehen. Danach muß man die Beklemmung abmessen, die ihn peinigte, wenn er bedachte, daß jetzt mit einem Federstriche, der falsch angewendet, falsch aufgegriffen und falsch verstanden wurde, Verhältnisse gebrochen und Lebenshoffnungen vernichtet werden konnten.
Der Oberst that gar nicht, als ob irgend Jemand in der Welt außer ihm lebte und Interesse an seinen auszuübenden Handlungen nähme. Er tauchte die Feder ein. Er legte Valeska’s Brief vor sich hin, warf noch einen vielsagenden, etwas triumphirenden Blick auf die zierliche Schrift und setzte groß und deutlich die Worte unter ihre Entsagungsepistel:
„Wird nicht acceptirt. Oberst Hußlar.“
Frau Therese, mit ihren scharfen Augen und ihrem ahnenden Herzen, entzifferte von fern her die Lapidarschrift und flog mit Windeseile ihrem Gatten an die Brust, ihm die Worte zuflüsternd.
Der Oberst hatte es gehört. Er schaute sich um und rief, spöttisch lächelnd:
„Die Frau Tochter hat gewiß gedacht, der Löwe hat auch eine Bärennatur – höre, Eberhard, mein Junge, ich rathe Dir, daß Du ihr etwas Unterricht in der Naturgeschichte geben läßt. – So. – Jetzt mein Siegel darauf – nun gebt den Brief sofort auf, damit er eher im Sundwihl’schen Hause anlangt, als wir, das heißt Lothar und ich.“
Nun war Alles, Alles gut. Beschreiben läßt sich ein solcher hergestellter Familienfrieden mit seinen verstohlenen Liebesäußerungen nicht. Am offenkundigsten wurde Pauline, das Kind, vom Obersten damit überschüttet, allein man merkte aus den neckischen Zärtlichkeiten, womit er ihre Anmuth mehrmals als ein Erbtheil von ihrer Frau Mama annoncirte, heraus, welchen Eindruck Therese auf sein altes, störrisches Herz gemacht hatte.
Von dem Wiedersehen zwischen Lothar und dem Obersten können wir nur das sagen, daß der Anblick des alten, stattlichen Papa’s hinreichte, um des jungen Mannes Brust mit den gegründetsten Hoffnungen zu erfüllen. Vater und Sohn waren einig, sofort dem Präsidenten von Sundwihl „in’s Quartier rücken zu müssen.“
„Du gehst zum Vater – ich zur Tochter,“ erklärte der alte mit schelmischem Ernste.
„Wollen wir es nicht umgekehrt machen?“ fragte Lothar lachend. „Ich habe eine unbezwingliche Sehnsucht nach meiner Valeska.“
„Sie nimmt Dich nicht eher an, bis ich mit ihr gesprochen habe,“ entgegnete der Oberst mit Gleichmuth. „Es ist zwischen uns etwas passirt –“
Lothar richtete erschrocken seine Blicke fest auf den Vater.
„Valeska ist stolz,“ flüsterte er beklommen. „Mein Glück wird doch nicht gefährdet sein?“
Der Oberst schnitt ein verdrießliches Gesicht, machte aber keine Anstalt, seines Sohnes Sorgen zu zerstreuen.
„Die Ungewißheit der nächsten vierundzwanzig Stunden sei Deine Strafe dafür, daß Du ohne meinen Willen und ohne Abschied nach Amerika geschwommen bist. Basta!“
Lothar wußte von Alters her, daß jedes Fragen und Forschen von nun an überflüssig war, also schwieg er und zählte heimlich jede Station, die ihn von seiner Geliebten trennte.
Endlich war die letzte Station erreicht und ein Wagen brachte [471] die beiden Herren – den alten beladen mit guten Vorsätzen, den jungen ausgestattet mit Beweisen seiner thätigen Tüchtigkeit, welche eine gefährdete Erbschaft gerettet hatte – vor das Haus, wo Sundwihl wohnte.
Der Präsident, schon benachrichtigt durch Depeschen, empfing Lothar mit Freudenbezeigungen an der Treppe – Fräulein Valeska hielt sich schüchtern hinter der Thür ihres Zimmers verborgen und wartete mit Spannung der Lösung des Räthsels, das ihr durch ihren zurückgesendeten Brief mit der vieldeutigen Unterschrift aufgegeben worden war.
Der Oberst trat hastig zu ihr ein, führte das leise zitternde Mädchen bis zum Fenster, um sie der hellsten Beleuchtung auszusetzen, legte beide Hände auf ihre Schultern und sah sie unverwandt an. Es mußte etwas in dem Ausdrucke seiner Augen liegen, was eindringlich zu ihrem Herzen sprach, denn sie neigte ihr stolzes Haupt und schmiegte es fest an seine Brust. Er umschlang sie lautlos, stark und innig und es verflog eine heilige und stille Minute, ehe er mit bewegter Stimme flüsterte:
„Du trotziger Mädchenkobold, der mir seit drei vollen Wochen den Schlaf meiner Nächte verkürzt, kannst Du denn wirklich ganz und gar meine Liebe entbehren, wie Du damals sagtest?“
„Es war ein vermessenes Wort, mein Vater,“ entgegnete Valeska mit gebrochener Stimme.
Weiter bedurfte es keiner Auseinandersetzungen zwischen diesen beiden Menschen.
Lothar hatte sich sein Glück errungen durch sein opferbereites Wirken jenseit des Meeres und es stand ihm jetzt nichts mehr im Wege, die Geliebte mit dem vollen Bewußtsein seiner fernern Seligkeit in die Arme zu schließen.
Wollte man zu erforschen suchen, welche von den Schwiegertöchtern dem Obersten die liebste sei, so müßte man tiefer hinter den Scherz und hinter den Ernst seines Benehmens zu blicken vermögen, um ein Urtheil geben zu können. Frau Therese ist der Gegenstand seiner fröhlichen Spöttereien, während sein Blick auf Valeska unverkennbar eine warme und ernste Huldigung in sich faßt.
Das aber ist gewiß, daß Pauline, das reizendste aller Enkelkinder, einen Thron in seinem Großvaterherzen erobert hat, den ihr Niemand streitig machen wird, und wenn ihm noch Dutzende von Enkeln gebracht werden sollten.
An seine „Frau Schwester“, die Medicinalräthin Schlesing, schrieb der Oberst eines Tages:
- „Die Furcht, daß Sie mich auf dem Monde suchen könnten, nachdem ich spurlos aus Fürstenhall verschwunden bin, bringt mich zu der Nachricht meines Daseins in „Harteberghouse.“ Lachen Sie nur, Frau Schwester – ich lache auch über einen alten Kerl, der Hußlar heißt und von der Rolle eines Bären zu der Rolle eines – eines – na, Frau Schwester, es wird doch dem Menschen nichts schwerer, als seine Irrthümer einzugestehen, also nur heraus mit der Wahrheit – eines grundglücklichen Vaters, Schwieger- und Großvaters übergegangen ist! Kommen Sie und sehen Sie, damit Sie es glauben, daß der bärbeißige Hußlar, Ihr ehrenwerther Schwager, sich von Thereschen, des Schlossers Töchterlein, hätscheln läßt, daß er mit der muthwilligen Enkelin Pauline Galopp tanzt und daß er der stolzen Präsidententochter Valeska den Hof macht. In vier Wochen heirathet mein Sohn Lothar, und er erwartet, daß die Frau Medicinalräthin Schlesing in Crinoline und Steifseide Zeugin dieser großen Lebenstragödie – merken Sie wohl – Tragödie – sein wird. Schließlich versichere ich Ihnen, daß ich unverändert der alte Oberst Hußlar bin, der aber in „Harteberghouse“ eine Eremitage bezogen hat, wo er, mit Erlaubniß seiner weisen Frau Schwester, Buße thut.“
Es läßt sich erwarten, daß die Medicinalräthin nicht gezögert haben wird, einer Einladung Folge zu leisten, welche ihre liebsten Wünsche erfüllt, und es läßt sich voraussetzen, daß sie nicht ohne Spottreden vom Oberst Hußlar empfangen worden sei, die sie hoffentlich gebührend erwidert hat.
Die Fahrt nach dem Adlernest.
„Ja, Herr,“ sagte mein Führer, der mich vom Rigi herab durch das ganze Berner Oberland begleitete, ein eben so williger, wie gebildeter Mann[1], „es ist doch ein Unterschied zwischen Reisenden und Reisenden. Ich fahre (in der Schweiz nennt man das Reiten auf Saumrossen „fahren“) nun schon seit 20 Jahren Berg auf, Berg ab, ich habe Tausende von Engländern, Franzosen und Deutschen geführt, und spreche die drei Sprachen fast gleich gut, aber so gemüthlich geplauscht, wie mit Ihnen, Herr, hab’ i holt noch mit keinem. Und wenn man so Wochen lang in den Bergen umherschweift, still und ohne Lust an der Reise, da ist’s oft recht langweilig. Ich hab’s genossen. Der Sonderbarste aber,“ fuhr er fort, „der mir in meiner langen Praxis begegnet ist, war doch ein Engländer. Er mochte, weiß Gott wo, erfahren haben, daß ich früher mancher Gemse den Garaus gemacht und da drüben auf den tyroler Bergen verschiedene Adlernester ausgenommen, genug, er ließ mich plötzlich durch den Wirth aus dem Hotel Victoria in Interlaken auf 14 Tage engagiren, und eines Morgens rückten wir mit den ersten Sonnenstrahlen in die Berge, ohne ein Wort zu sprechen und ohne daß er meinen englischen Morgengruß erwidert hätte. Nach einer Stunde Wanderung aber stand er plötzlich still. Mit dem Alpstock auf das schneebedeckte Haupt des Silberhorns zeigend, und von dort weiter einen Kreis beschreibend, als wolle er damit andeuten, daß die ganze Gebirgskette zu durchwandern sei, sah er mich eine Weile schweigend an, und sagte dann langsam nur die beiden deutschen Worte: „Adler zeigen!“ – Dann ging er weiter. Von da ab ist während der ganzen Reise keine Sylbe über seine Lippen gekommen. Vierzehn Tage sind wir gewandert, durch Wind und Wetter, Schnee und Eis, haben alle Pässe, Höhen und Gletscher besucht, haben keinen Adler gesehen, aber ich habe auch kein Sterbenswörtchen mehr aus dem Munde dieses Menschen gehört, keine Klage, keinen Ausruf der Freude. Als wir nach 14 Tagen Abends spät wieder in Interlaken einrückten, zahlte er mir stumm in schönen Goldstücken den festgesetzten Lohn aus, nickte mit dem Kopfe und ging in sein Zimmer. Und Roß und Reiter sah’n sich niemals wieder.“
Die komische Geschichte stimmte mich sehr heiter, und lachend plauderten wir noch lange über das schweigsame Beefsteak, dessen Gestalt und Wesen mir der Führer sehr genau schilderte. Im Verlaufe des Gesprächs kamen wir natürlich auch auf seine früheren Gems- und Adlerjagden, über die er Vieles und Interessantes zu erzählen wußte.
„Ja, Herr,“[2] sagte er ernst, während wir die steinigen Pfade der Wengern-Alp hinaufkletterten, „seitdem da oben auf den Hirschhörnern, die von Gemsen wimmeln, mein Bruder hinabgestürzt ist – vor den Augen seines Sohnes, den er zum ersten Mal mit auf die Jagd genommen – seitdem habe ich das Gemsenspüren aufgesteckt, und bleibe daheim bei Frau und Kind. Es ist doch ein eigen Ding, den leiblichen Bruder da unten in dem Abgrund zu wissen, und dann wieder hinaufzusteigen auf dieselben Klippen und Felsen, von denen der Arme hinabgegleitet. Mit dem Adlerfang aber ist es schon aus, seit ich aus den tyroler Bergen zurückgekehrt und die weißen Haare mir geholt hatte.“
Ich sah den Erzählenden fragend an.
„Ja, Herr,“ lächelte er munter, „bei den Jägern in den Alpen kömmt es schon vor, daß Einer am Morgen hinaufsteigt auf die Berge, munter und frisch und mit vollen braunen Locken, und nach einigen Tagen zurückkehrt, bleich und matt und mit weißem Haar. So ist’s mir ergangen da drüben in Tyrol.“
Der steile Pfad hatte mich ermüdet, ich setzte mich auf ein
[472] Felsstück und forderte den Plaudernden auf, sich neben mir zu placiren, und seine Geschichte zu erzählen.
„Nicht doch, Herr,“ sagte er bestimmt, „setzen werden wir uns nicht. Wir haben uns warm gegangen und gesprochen, und der Schneewind da drüben von der Jungfrau bläst hier schon zu eisig kalt, als daß wir ohne Gefahr die Glieder strecken dürften. Lassen Sie uns langsam weiter gehen, ich erzähle Ihnen schon.
„Es sind jetzt wohl an die vierundzwanzig Jahre her,“ hub er an, „daß ich drüben in Tyrol bei Verwandten lebte. Ich war damals ein rüstiger, kräftiger Mann, für den es keine größere Lust gab, als mit der Büchse auf dem Rücken hinauf auf die Berge zu steigen. Kein Gemspfad war da zu steil, kein Adlernest zu hoch. Meine beiden Vettern, ebenfalls tüchtige, pralle Buben, theilten mit mir die Leidenschaft der Jagd. Wo eine Gemse aufgespürt oder ein Adlernest entdeckt worden, da waren wir drei Vettern gewiß nicht weit davon. Das wußten auch Alle im Thale, und brachten uns Nachricht, wo sich irgend Etwas zeigte.
„Eines Tages meldete uns ein Hirtenbub, daß auf dem Vorsprung einer Felsplatte ein Adlernest klebe, in dem, so viel er erkennen könne, sich zwei junge Adler bewegten. Die Platte führte in die Tiefe eines schauerlichen Abgrundes, und der Vorsprung war nur von oben zu erreichen, indem man sich an einem Seile dahin hinabließ. Das Gefährliche der Jagd konnte uns, wo es eine so schöne Beute galt, nicht abhalten, das Wagestück zu bestehen, und ich selbst erbot mich dazu, das Nest auszunehmen.
„Andern Morgens rückten wir, mit starken Seilen wohl bepackt, auf die Berge. Ich hatte mich mit einem Alpstock versehen, dessen untere Eisenspitze eine mehr als gewöhnliche Länge hatte, und mir im Nothfalle als kräftige Stoßwaffe dienen konnte. Außerdem steckte ich noch mein großes Bergmesser bei.
„Oben auf der Spitze des Felsens angelangt, legte ich mich vorsichtig mit der halben Länge des Leibes über den Abgrund, und schaute hinunter in die Tiefe, um den Vorsprung zu entdecken. Es war ein furchtbarer Anblick. So scharf auch sonst mein Auge war, hier reichte es nicht bis an die Sohle der Schlucht, die nur als schwarzes Chaos mir entgegenstarrte. Der Vorsprung mit dem Adlernest war leicht gefunden, und lag ungefähr 70 bis 80 Fuß unter der Höhe, auf der wir standen. Es hockten, wie der Bube ganz richtig gesehen, zwei junge Adler in dem knorrigen harten Holzlager, dessen ältere Eigenthümer, Mann und Weibchen, aller Wahrscheinlichkeit nach auf Aetzung ausgeflogen waren. Da es noch früh am Morgen war, so durften wir hoffen, daß diese so bald nicht zurückkehren würden, und beschlossen, sofort an’s Werk zu gehen.
„Meine beiden Vettern legten nunmehr um den Rest eines dicken Baumstammes, der oben auf der Felsspitze stand, das eine Ende des Seiles, während an dem andern ein festes Querholz in der Mitte und zwar in der Weise befestigt wurde, daß ich es als Sitz bei der gefährlichen Fahrt benutzen konnte. Außerdem umschlang ich meinen Leib mit einem kurzen Seile, das wiederum an das größere, aber so befestigt war, daß ich beim Hinunterlassen und Heraufziehen nicht genirt wurde. Es war dies eine Vorsichts-Maßregel für den Fall, daß ich von dem Querholz herabgleiten würde.
„Nachdem Alles in Ordnung war, legte ich mich mit den Füßen nach dem Abgrunde hin und auf den Bauch gestreckt, vorsichtig auf den Felsen, stieß mich dann mit beiden Händen langsam von der Wand ab und hing nun über dem Abgrunde, dessen ganze schauerliche Tiefe ich überblickte. Es war das erste Mal, daß ich eine solche Partie machte. Und, Herr, es ist doch ein eigen Ding, so in der Luft zu schweben, hoch oben an einem schwachen Seile, das jeden Augenblick zerreißen oder abgleiten kann, und unter sich die schwarze, gräßliche Schlucht, deren unermeßliche Tiefe schauerlich heraufgähnt. Hätte mir die Jagdlust nicht in allen Gliedern gezuckt und die Scham vor meinen Vettern mich nicht zurückgehalten, ich hätte fast bitten mögen, mich wieder hinaufzuziehen. Ich that es nicht, sondern bat nur um Hut und Alpstock und langsam ging es in die Tiefe.
„Sie erlassen mir wohl die Schilderung dieser Fahrt, die nicht zu den angenehmsten Erinnerungen meines Jagdlebens gehört. Genug, daß ich nach einer Luftreise von ungefähr fünf Minuten in der Nähe des Vorsprunges ankam, bei dem ich zu meiner großen Freude einen kleineren Vorsprung entdeckte, auf dessen Platte ich in Verbindung mit dem Adlerneste fußen konnte. Als mich die junge fast noch nackte Brut erblickte, sperrte sie die Schnäbel weit auf und hob die unbefiederten Flügel, als ob sie davon fliegen wollte. Ohne weiter auf sie zu achten, klammerte ich mich an eine Felsspalte, setzte meinen Fuß auf den Vorsprung und stand nun, hoch aufathmend und glücklich, festen Grund unter meinen Sohlen zu wissen, wieder auf den Füßen.
„Still und mit möglichst wenig Geräusch richtete ich mich ein. Die Seitentaschen meines Bergrockes waren so geräumig, daß in jeder derselben ein junger Adler gut Platz hatte. Um beim Ausnehmen nicht gehindert zu werden, signalisirte ich meinen Vettern hinauf das Seil nachzulassen und war eben im Begriff, den Arm auszustrecken und den einen der jungen Adler zu fassen, als mir ein eigenthümlicher Schrei in die Ohren gellte. Unter Rauschen, das sich wie Flügelschlag anhörte, klang ein Heller, halb pfeifender, halb klagender Ton hervor, der sich mit jedem Augenblick mehr und mehr näherte und schließlich in ein ängstliches Geschrei ausartete. Den Kopf nach der Gegend des Geräusches hinwendend, erkannte ich sofort die Ursache. Ein Adler, größer als ich je gesehen, stürzte mit der ganzen Wucht seines raschen Fluges und zornfunkelnden Auges auf mich, den Räuber seiner Kinder, ein. Ich wußte, daß ich verloren war, wenn es mir nicht gelang, den Anprall zu schwächen und seine Flügel zu lähmen.
„Im Nu hatte ich mit der Linken wieder das Seil gefaßt. Mit der Rechten packte ich mit nerviger Faust die untere Hälfte des Alpstockes, grub, um einen Widerhalt zu finden, die Eisspornen meines rechten Fußes so tief als möglich in den verwitterten Felsen des Vorsprunges ein und zu gleicher Zeit, als der Adler unter Geschrei und Flügelschlag auf mich einstürzte, führte ich einen so mächtigen Stoß nach seiner Brust, daß sich das Eisen tief in sein Fleisch eingrub und er schwer getroffen die Flügel zusammenschlug.[3] Seine Flugkraft, das sah ich, war gelähmt, aber in demselben Augenblicke verlor auch ich durch die Wucht des furchtbaren Anpralles das Gleichgewicht, meine Füße strauchelten – ich taumelte zurück in die Tiefe.
„Das Blut gefror mir in den Adern, aber ich verlor keinen Augenblick die Besinnung. Mitten im Sturz faßte ich mit beiden Händen das Seil. Ich fühlte, wie das am Ende des Seiles befestigte Holz, auf dem ich saß, durch den prallen Sturz und das Gewicht meines Körpers unter mir zusammenbrach und ich nur durch das zweite um meinen Leib geschlungene kleine Seil noch mit der Oberwelt zusammenhing. „Hol auf – hol’ auf!“ klang mein heller Ruf hinauf zu den Vettern, die mein Signal erwiderten, und sofort ward das Seil angezogen – ich schwebte in die Höhe. Der schwer getroffene Adler, das konnte ich noch bemerken, suchte sich mit den Krallen an den Felsenvorsprung anzuklammern, um das Nest zu erreichen.
„Herr, ich war in meiner Jugend einer der ersten Ringer und meine Arme und Muskeln waren von einer Stärke, daß sie sich mit den besten im ganzen Oberlande messen konnten. Aber ich war und bin auch, was man so sagt, ein „Mann von Gewicht“ und bemerkte bald, daß das kleine Seil bei der langen Fahrt von 80 Fuß den schweren Körper nicht allein tragen konnte. Nothwendig mußten meine Arme mit helfen, wenn ich die Höhe erreichen wollte. Ich that, was in meinen Kräften stand, und umklammerte mit beiden Händen das große Seil, aber ich hatte nicht berechnet, daß bei der Schwere meines Körpers das Aufziehen nur langsam vor sich gehen konnte. Sehnsüchtig richtete ich meine Blicke nach oben. Wiederholt schrie ich den Vettern zu: „Hol’ auf – hol’ auf!“ sie antworteten aufmunternd, aber die Fahrt ging deshalb doch nicht rascher, die Armmuskeln waren bis zum Uebermaß gespannt, und meine Kräfte schwanden mehr und mehr.
„Plötzlich fühlte ich, daß mich ein kalter Todesschweiß bedeckte. Beim sehnsüchtigen Aufblicke nach der Höhe bemerkte ich – noch jetzt durchschauert’s mich kalt – wie sich unter der Last meines Gewichts der Knoten des kleinen Seils von dem größeren langsam löste und mit jeder Secunde der Augenblick näher heranrückte, wo ich mich allein auf die schon schwindenden Kräfte meiner Arme verlassen mußte. [473] Ich werde diesen Augenblick nie in meinem Leben vergessen. Mit jedem Ruck von oben zog sich der Knoten länger, rückte der Sturz in die Tiefe näher. Noch einmal rief ich den Vettern in höchster Seelenangst zu, fester und krampfhafter packten meine Fäuste das Seil, dann schloß ich die Augen – Gott meine Seele empfehlend und – der Herr im Himmel half.
„Seppel,“ rief es auf einmal neben mir und eine Hand packte in mein Haar und zog mich an sich. „Seppel – um Gott, was ist mit Dir? Wo hast’n Hut – wo’n Stock?“
„Ich öffnete die Augen. Meine beiden Vettern knieten auf der Höhe und zogen das Seil an, um mich auf festen Boden zu bringen. Ich war der Höhe näher gewesen, als ich geahnet hatte. Der Knoten, wenn auch schon halb gelöst, hatte immer noch gehalten und die Last bis zu Ende getragen. Vielleicht zwei Minuten später, und das Ende schnellte vom großen Seile ab und mich in die Tiefe. Als ich die Felsspitze erreichte, stürzte ich ohnmächtig zusammen. Wie lange ich so gelegen, weiß ich nicht; als ich aber nach einigen Tagen im Hause meiner Anverwandten wieder erwachte und erfahren hatte, daß ich stark gefiebert und viel böse Dinge gesprochen, hielt mir der ältere Vetter lächelnd einen Spiegel vor.
„Mein Haar war schneeweiß.“
Wenn der schaulustige Reisende seinen Fuß durch die deutschen Gauen setzt, so prägen sich ihm vor allen solche Punkte ein, die ihm Auge und Herz besonders befriedigten und große geschichtliche Erinnerungen in ihm wach riefen. Darum sei es mir vergönnt, meine flüchtigen Reisebilder mit dem herrlichen Bamberg und seinen Umgebungen zu beginnen. Ist dieses doch eine der reizendsten Stellen in dem schönen, malerischen Garten, der den Main und die Regnitz umsäumt! Schon von Weitem gewährte mir Bamberg, die uralte, geschichtlich berühmte Bischofsstadt, einen zugleich majestätischen und deutsch gemüthlichen Anblick. Hoch über ihr emporragend winkte der Michelsberg mit seiner prächtigen ehemaligen Abtei, welche gegenwärtig in ein Bürgerhospital und eine Leihanstalt verwandelt ist, sowie seine Altenburg und aus der Mitte der Stadt wie ein ehrwürdiger Patriarch sein hehrer Dom einen ergreifenden Willkommengruß entgegen. Aber das Gefühl freudigen Entzückens und der Bewunderung ergriff mich, als ich die Staffeln des Michelsberges erstiegen hatte und in der Nähe der einzig schönen Abtei meine Blicke weit über die Stadt und ihre in jeder Beziehung reizende, üppige Umgebung schweifen ließ. Hier, in den schattig grünen Lindenalleen des ehemaligen Klostergartens, vor mir im Thal die ewig merkwürdigen Gebäude der Stadt und weiterhin die unermeßlichen Reichthümer einer gottgesegneten Flur, heimelte es mich an, als befände ich mich am hochklopfenden Herzen des deutschen Vaterlandes; wahrlich, ein Genuß, der den Touristen für lange Strapazen köstlich belohnt!
Bamberg, vormals die Residenz eines reichsfreien Hochstifts, ist eine der ältesten Städte Deutschlands und zählt gegenwärtig noch etwa 20,000 Einwohner. Sie ist im Allgemeinen in gutem Style erbaut und hat mit wenigen Ausnahmen lauter schöne, breite Straßen. Seinen Dom baute Kaiser Heinrich II. in reinem byzantinischem Style. Er enthält das Grabmal dieses Kaisers und seiner Gemahlin, des Papstes Clemens II. und vieler Bischöfe, welche einst hier in voller geistlicher Herrlichkeit den Krummstab schwangen. Die alte Residenz der Bischöfe, ein verwitterter und geschmackloser Palast, ist durch die im Jahre 1702 vom Kurfürsten und Fürstbischof Lothar von Schönborn auf demselben Platze aufgeführte neuere Residenz ganz in Schatten gestellt worden. Diese neuere Residenz, 1803 sammt allen übrigen Klostergütern säcularisirt, ist unter Anderem dadurch merkwürdig, daß der französische Marschall Berthier sich am 1. Juni 1815 aus Verzweiflung über den Untergang des Napoleonischen Waffenglückes vom dritten Stock in die Tiefe stürzte und auf der Stelle verschied. Außerdem fesseln in der Stadt das ehemalige Jesuitencollegium, gegenwärtig zu einem katholisch-theologischen Seminar, einer öffentlichen, trefflich [474] eingerichteten Bibliothek und einem ausgesuchten Naturaliencabinet dienend; ferner auf der äußersten Spitze der Stadt die alte Gertrudenkirche und die, jetzt protestantische, Kirche Sanct Stephan, aus dem elften Jahrhundert stammend. Den bei Weitem imposantesten Anblick aber gewährte mir die auf der Höhe des Michelsberges ruhende ehemalige Benedictinerabtei, ebenfalls von Kaiser Heinrich II. erbaut und seit 1803 säcularisirt. Ihre beiden Thürme ragen wie mächtige Erinnerungszeichen an die versunkene Glorie der Hierarchie in die Wolken und man kann sie nicht anschauen, ohne lebhaft daran zu denken, wie sie einst Zeugen waren von dem großen Einflusse geistlicher Herrschaft.
Ein helleres, freieres Leben waltet und entfaltet sich jetzt überall in der Runde. Muntere Gewerbthätigkeit, welche nicht mehr, wie vor Zeiten, blos einem exclusiven Stande zinsbar ist, verleiht der ohnehin freundlichen fränkischen Städteperle einen überaus gemüthlichen Charakter. Dieser magische Eindruck verstärkte sich in mir, als ich Bambergs Mauern verließ und vor seinen Thoren all' die herrlichen Flächen mit Spargel, Bohnen, Schoten, Salat, Zwiebeln, Radieschen, Kohlköpfen, gelben Rüben, Anis, Koriander, Mohn, Süßholz etc. bemerkte, welche ein Zeugniß geben von der großen Ausdehnung der landwirtschaftlichen Gärtnerei Bambergs, namentlich auch des Anbaues officineller Kräuter. Statistische Ausweise nennen in Bamberg allein an 540 Gärtner mit circa 400 Gehülfen.
Noch einmal weckte der Anblick der kaum eine Viertelstunde von der Stadt entfernt hoch auf dem Berge liegenden Alten oder Babenburg, der Wiege Bambergs, in mir trübe, geschichtliche Erinnerungen. Hier, wo das Auge des Reisenden bis nach Nürnberg, Würzburg, Koburg, Baireuth etc. schweifen kann, ermordete Otto von Wittelsbach im Jahre 1208 den unglücklichen Kaiser Philipp von Schwaben; hier vollführte ein elender Bischof den schändlichen Verrath gegen den Grafen Adalbert von Babenberg, indem er, als Bote eines die Burg belagernden feindlichen Heeres gekleidet, in die Burg kam, und ihren Besitzer aufforderte, zu Friedensverhandlungen ihm gegen das Versprechen des freien Geleits ins feindliche Lager zu folgen. Graf Adalbert erklärte sich ohne Furcht bereit dazu, denn er war ein gerader deutscher Mann, wie das schöne Bamberg auch damals deren viele barg. Nachdem er den Bischof köstlich bewirthet und dieser ihm geschworen hatte, ihn unversehrt in seine Burg zurückbringen zu wollen, ritten Beide über die Zugbrücke der sicheren Veste in’s Freie, dem bischöflichen Feldlager entgegen. Kaum tausend Schritte weit hatten sie ihre Rosse getragen, da fing der Bischof an zu jammern und meinte, sein Tod müsse nahe sein. „Ach,“ rief er, „lasset uns nach Eurer Burg umkehren, auf daß ich nicht im Freien verende!“ Graf Adalbert hieß ihn umkehren. Beide ritten wieder in die Burg. Da aber genas der Bischof so schnell, daß er in Begleitung des arglosen Grafen schon kurz darauf wieder herausreiten konnte. Im Lager angekommen, warf der Bischof plötzlich die höllische Maske ab, und ließ den Grafen fesseln. „Bindet den Hund!“ schrie er jetzt, „und henkt ihn an den Galgen!“ Graf Adalbert berief sich auf das ihm zugeschworne freie Geleit. „Wie,“ entgegnete der Bischof, „habe ich Dich nicht, wie ich geschworen, unversehrt in Deine Burg zurückgebracht, als ich unterwegs erkrankte, und wir umkehrten?“ „O schändlicher Verrath!“ rief schmerzvoll der getäuschte Mann, indem er die Hände vor’s Gesicht schlug und solche pfäffische Bosheit nicht fassen konnte. Er mußte sterben. Mit Wehmuth ward mein Herz erfüllt, als ich durch eine Halle, die mit Schilden, Wappen und anderen Denkmälern einer längst erstorbenen Zeit geschmückt ist, in den inneren Burghof schritt, und den in dessen Mittelpunkt liegenden hohen Thurm bestieg. Erst als sich hier vor meinem Blicke das bezaubernde Panorama einer meilenweiten Umgebung mit Anhöhe und Thal, Holz, Feld und Garten aufrollte, und die glänzende Fluth der Regnitz flüchtig nach dem Maine dahinschoß, da ward der traurige Eindruck magisch verwandelt, und ich athmete wieder freier auf.
Noch muß ich, bevor ich die alte Babenburg verlasse, eines Mannes gedenken, dessen Name in der Literatur Deutschlands noch immer vielfach genannt wird, nämlich J. T. Hoffmann’s, des Verfassers der „Phantasiestücke in Callots Manier“, der einst in einem Thurmzimmer der Babenburg hauste, und hier mehrere seiner genial verfratzten Phantasien zeichnete, z. B. „die Elixire des Teufels“, und so dem classischen Boden seine classische Narrheit einimpfte. Nur ungern scheide ich von dir, schönes Bamberg, und mein schautrunkenes Auge hängt an deiner lächelnden Flur, wie der Blick des liebedürstenden Jünglings am Antlitz der holdseligen Jungfrau. Du hast mich reich erquickt, Perle im Frankenlande, und zum Danke nehme ich dich als erstes Bildlein mit wenigen starken Strichen in meine Reisemappe auf. Da ist dieses Bildchen, freundlicher Leser der Gartenlaube; sieh Dir's an, und wenn Du Deinen Wanderstab durch das reich wechselnde Franken setzest, so vergiß ja nicht, Dir sein lockendes Urbild anzuschauen.
Zur Vorfeier des Jubelfestes.
Nr. 1.
In dem lieben alten Jena wird viel Freude und Lust sein. Die Hochschule feiert in der zweiten Hälfte des Augustmonats ihr dreihundertjähriges Jubelfest, und tausend ehemalige Burschen werden herbeiströmen, um sich noch einmal jung zu fühlen. Olim meminisse juvabit! Sie kommen aus allen Landen, wo die deutsche Zunge klingt und vaterländische Lieder singt, selbst aus Ungarn und Siebenbürgen haben sie sich angemeldet, und wenn das Gerücht Wahrheit spricht, werden auch alte „Germanen“ nicht vermißt werden, die nun schon seit einem Menschenalter am Mississippi leben. Denn wohin wären nicht alte Jenenser verschlagen worden? Von denen, mit welchen ich einst so manches Kännchen Lichtenhainer oder Ziegenhainer geleert, war Einer längere Zeit Gouverneur der spanischen Provinz Huesca, nachdem er sich durch tapfere Kriegsthaten wacker hervorgethan. Ein Anderer, Gustav Körner, war Vicegouverneur des Staates Illinois und ist angesehener Bürger in der deutschen Stadt Belleville; ein Dritter, Wislicenus, hat die weiten nordamerikanischen Prairien durchzogen und die Felsengebirge überstiegen; ein Vierter Sibirien durchwandert; Andere sind im fernen Texas angesiedelt oder haben den Sand der afrikanischen Wüsten durchmessen, leben am Erie-See, in Australien, am Fuße des feuerspeienden Vesuv, unter allen Zonen. Den Meisten ist freilich ein ruhigeres Loos beschieden worden; sie rückten gemächlich in Amt und Würden ein und sind Pfarrer oder Richter, Advocaten, Professoren oder Aerzte geworden, sie bestellen den Acker ihrer Väter und Einige haben es bis zum Staatsminister gebracht. Aber Alle ohne Ausnahme, wo sie auch sein mögen, tragen warme Anhänglichkeit im Herzen für das liebe Jena, und wo immer alte Jenenser zusammentreffen, sei es irgendwo im deutschen Lande oder in ferner Fremde, — allemal ist bald ein freundschaftliches Einvernehmen gefunden, alte Erinnerungen tauchen auf und der Sinn wird froh. „Auf den Bergen die Burgen, im Thale die Saale und im Städtchen die Mädchen.“
Und diese warme Empfindung wird durch die Zeit nicht abgeschwächt; bei mir wenigstens ist sie noch eben so frisch, innig und lebendig, wie damals, als ich das Lied anstimmen mußte: „Bemooster Bursche zieh ich aus.“ Auf nicht weniger als vier Universitäten habe ich studirt, deren Leben und Eigentümlichkeiten kennen gelernt, auf allen gute Dinge gesehen und sehr heitere Tage in jugendlicher Lust verbracht; ich kenne noch ein halbes Dutzend anderer Hochschulen, aber keine ist mir so lieb gewesen und geblieben, wie Jena. Auch habe ich gefunden, daß bei meinen sämmtlichen Freunden und Bekannten dasselbe der Fall ist. Dieses kleine, auch heute noch von keinem Schienenstrange berührte Jena übt einen ganz eigenthümlichen Zauber. Schon der Anblick des Städtchens macht aus der Ferne einen sehr freundlichen Eindruck, es liegt so ruhig und wohlig hingegossen in dem reizenden Thale, die Umgebungen sind von vornherein so anmuthend und werden einem täglich lieber. Das Ganze ist eine ruhige, freundliche Idylle, die unser Herz erquickt, und in der Stadt selbst fühlt man sich schon nach wenigen Tagen heimisch. Man weiß sich unbehindert, man findet fröhliche Kumpane aus allen Gauen und lebt sich rasch ein. Durch Jena ist, dem Himmel sei es gedankt, nie ein finsterer Geist gegangen, die Bücker und Mucker haben in der reinen Luft keinen Boden gewonnen; das Andenken an jene großen Tage, in denen [475] diese kleine Stadt eine Centralsonne war, von welcher aus belebende und anregende Geistesstrahlen das Leben des gesammten Vaterlandes durchwärmten, dauert noch fort und wird nach Gebühr in Ehren gehalten.
Seit ich Jena zum ersten Male betreten, sind nicht weniger als — vierundsechzig Semesterwellen über die thüringische Hochschule hinweggerauscht und über mein Haupt, auf welchem vereinzelte graue Haare sichtbar werden! Es liegt etwas Wehmüthiges darin, wenn man auf eine so lange Zeit zurückblickt, welche Jedem manche harte Prüfung auferlegt hat. Aber man wird rasch wieder froh, wenn man sich selber sagen kann, daß man sich tapfer und rechtschaffen durch das Leben geschlagen und sich selber freie Bahn gebrochen hat, und wenn man sich frisch und ungebrochen fühlt. Ich wüßte nicht, daß meine Empfindungen weniger warm und lebhaft wären, wie damals, als mir die Kunitzburg und der weltberühmte Fuchsthurm zum ersten Male entgegenwinkten.
Damals war ich eben siebzehn Jahre alt. Sechs Semester hatte ich in der Prima meines vaterstädtischen Gymnasiums zugebracht und war vollreif zur Universität, die ich schon früher hätte beziehen können; allein ich sollte so jung nicht zur Universität, obwohl ich mir einbildete, daß ein eingehender Schnurrbart, der schon für etwas mehr als weichen Flaum gelten wollte, mich zum Abgange berechtigte. Ich konnte die Zeit der Maturitäts-Prüfung kaum erwarten, ich schrieb die lateinische Rede, welche ich vor Ostern beim Abgangsactus zu sprechen hatte, mit einer Art von Inbrunst, denn sobald sie gehalten war, lagen ja nur noch wenige Wochen zwischen dem Pennal und dem Studio, und mit den ersten Frühlingsknospen begann für mich die goldene Zeit.
Damals waren in der Studentenwelt sehr aufgeregte Tage. Die Burschenschaft stand im Geruche der Demagogie, sie hatte an Herrn von Kampz, der 1848 selber eine schwarz-roth-goldne Cocarde und Schleife trug, an Herrn Schmalz, an Herrn von Ahrens in Gießen, überhaupt in Cabineten, auf Thronen und in den Curatorien der Universitäten bittere Feinde. Sie war geächtet und wurde verfolgt. Die Mainzer Untersuchungscommission hatte aufgeräumt, die Verbindungen gesprengt, viele Hunderte von Mitgliedern relegirt. So war es namentlich in Göttingen und Halle geschehen, von wo dann die Fortgeschickten zurückkamen, um in der Heimath ein halb müßiges Leben zu führen. Sie waren zugleich verbittert und enthusiastisch, denn die Sache, für welche sie leiden mußten, wurde ihnen nur noch theurer. Wir Gymnasiasten kamen mit ihnen in mannichfache Berührung und wurden halb und halb in die Mysterien des Studentenlebens und des Verbindungswesens eingeweiht. Bald waren uns alle Burschen bekannt, die eine Rolle gespielt hatten; diese Haupthähne wurden uns lieb und wir sehnten uns, sie von Angesicht zu Angesicht vor uns zu haben. Auch von den Vorträgen und Eigenthümlichkeiten der Professoren wurde uns viel erzählt, überhaupt unsere junge Phantasie lebhaft beschäftigt.
Allmählich ließ die Verfolgung von Seiten der Behörden etwas nach. Zwar lag noch immer auf der Burschenschaft ein schwerer Druck und die eigentliche Verbindung war und blieb gesprengt. Allein es bildeten sich wieder Ansätze, die dann freilich nicht öffentlich hervortraten, an welche sich aber Hunderte anschlossen und die sogenannte weitere Verbindung bildeten. Man trug wieder die alten lieben Farben des deutschen Reiches und sang dabei Spottlieder, deren Text zu jeder Melodie paßte, z. B.:
„Auch Barette sind verboten,
Und zumal die schwarz und rothen,
Denn den Farben schwarz-roth-gold
Ist man in Berlin nicht hold.
Auf die neue Mode.“
Von meinen speciellen Landsleuten studirten zu jener Zeit viele in Halle, wo die Meisten eifrige Mitglieder der Burschenschaft waren. Zu Ostern und Michaelis kamen sie in die Ferien, in welche sie gewöhnlich Commilitonen aus ferneren Gegenden, namentlich aus Schlesien, Pommern und Westphalen mitbrachten. Es waren kräftige, sehr gebildete Menschen unter ihnen, die uns imponirten. Sie trugen altdeutsche Röcke, langes Haar, gestickte Hemdkragen und steckten Federn auf die Barette, wenn mit uns Gymnasiasten ein Feriencommers veranstaltet wurde. Ein paar blanke Glockenschläger fehlten nicht, der Präses hielt eine Rede, in welcher er begeistert die vaterländischen Bestrebungen der Burschenschaft hervorhob, vom alten Kaiser Rothbart im Kyffhäuser sprach und entwickelte, welchen Verfolgungen die gute Sache ausgesetzt sei.
„Habt Ihr Muth? Fürchtet Ihr Euch vor Verfolgungen? Dann werdet keine Burschenschafter, dann tragt nicht diese deutschen Farben, sondern geht unter die Landsmannschafter, die Schooßkinder des Curators, die nur an Pauken und Kneipen denken und sich um’s Vaterland nicht bekümmern.“
Der Präses setzte sich, klopfte mit dem Schläger auf die Tafel und begann das „Brause, Du Freiheitsdrang, brause wie Wogendrang aus Felsenbrust.“
Ein solcher Präses gab mir Jahn’s „Volksthum.“ Er hatte den „Alten“ mehrmals in dessen Verbannung in Freiburg an der Unstrut besucht und trug mir Grüße auf, da ich, wie sich von selbst verstehe, ihn doch einmal besuchen werde. Das Buch machte auf mich einen tiefen Eindruck und noch heute weiß ich viele Stellen desselben auswendig.
Die Zeit, in welcher die Collegia begannen, rückte heran. Ich hatte mich entschlossen, zunächst einige Semester in Jena zu studiren und dort in die Burschenschaft zu treten. Mein Vater wollte den einzigen noch blutjungen Sohn nicht allein ziehen lassen, sondern ihn an Ort und Stelle bringen und sehen, wie er es dort haben werde und wo er bleibe. Der Onkel gab seine Pferde, Wagen und Kutscher; die mehr als dreißig Meilen sollten in drei Tagen zurückgelegt werden. Eine so lange Fahrt galt damals für eine erklecklich weite Reise und kostete der Mutter viele Thränen. An einem Montage oder Freitage sollte sie um keinen Preis angetreten werden und so wurde ein Sonnabend gewählt. Einige Schulfreunde fuhren mit bis zur nächsten Stadt; sie wollten am folgenden Tage nach Göttingen abgehen. Nachdem sie uns verlassen, blickte ich munter vorwärts und hörte, ich will es aufrichtig gestehen, nicht viel auf die guten Regeln und Mahnungen des Vaters, weil ich dieselben schon so oft vernommen und seit langer Zeit mir eingeprägt hatte. Ob ich sie alle befolgt habe? Alle nicht, insbesondere habe ich es im Punkte der Sparsamkeit nicht so genau genommen, wie er wollte, viel mehr Kännchen und Gläser geleert, als er für zuträglich hielt, ich bin auch nicht ohne Paukereien davon gekommen und habe etliche Schulden gemacht. Der Student pflegt seinen eigenen Weg zu gehen; habe ich weiland Jenenser Burschenschafter doch das Herzeleid erleben müssen, daß mein Sohn ein Corpsbursche geworden ist, obwohl ich ihm für einen solchen Fall Entziehung aller Subsidien in Aussicht gestellt hatte. Ich muß mich damit trösten, daß einer wahren Säule der Jenaischen Burschenschaft, einem geistlichen Herrn in hohen Würden, mir damals sehr befreundet und von uns allen der „kleine Jahn“ benannt, dasselbe Schicksal begegnet ist. Unsere Herren Söhne tragen 1858 „der bunten Farben herbstliches Spiel“, während von den Vätern 1826 meine Person die Burschenfarben trug, der „kleine Jahn“ aber, der „Abhärtung wegen“, jede Kopfbedeckung verschmähete und jede Bekleidung, außer Leinwandhosen, altdeutschem Rock und kurzen Stiefeln, für durchaus überflüssig hielt. Kein Student kann behaupten, daß er ihn jemals, gleichviel ob im Winter oder Sommer, bei Schnee oder Sonnenbrand, in einer Mütze gesehen habe. Der alte Jahn hatte an dem kleinen Jahn seine wahre Freude; noch jetzt legt dieser Letztere in einem Tage mit Bequemlichkeit sechzehn Wegstunden zurück und liest eifrig die — Kreuzzeitung!
Ich mochte die Landsmannschafter nicht leiden und war von vornherein gegen sie eingenommen, weil nach unsern Ansichten ihnen der Patriotismus fehlte und weil sie von den Curatorien begünstigt wurden, während meine Freunde nur auf Ungunst zu rechnen hatten. In Alsleben an der Saale fuhr ein Wagen an uns vorüber, in welchem Hallesche Märker saßen. Den „schönen Fritz“, ihren Senior, kannte ich von Ansehen; seine Heimath war nur wenige Stunden von der meinigen. Es ließ sich nicht abstreiten, daß Premper aus Oelber am weißen Wege ein „forscher Kerl“ war; er sah in seiner orangegelben Mütze stattlich aus und unter ihm zählte die Marchia mehr als sechzig Köpfe. Jetzt soll der schöne Fritz im Staate Wisconsin sein, aber nicht als Seelenhirt, sondern als wohlhabender Landwirth. Während ich meinem Vater von den Halleschen Landsmanschaften allerlei erzählte, fuhr meines Onkels Kutscher, der ein Herrnhuter war, uns drei Mal um die Kirche herum, aus welcher Gesang und Orgelton zu uns drangen. Der Papa wurde gerührt und hielt das für eine gute Vorbedeutung.
An jenem Sonntage war das Wetter warm und klar und wir saßen so recht gemüthlich in der Halbchaise. Da sprengten mittwegs zwischen Halle und Könnern Studenten in Lederhosen [476] und Kanonenstiefeln heran, um „Füchse abzufangen“. Das war zu jener Zeit Sitte; man ritt auf den Straßen den neu Ankommenden entgegen, um sie möglicherweise für die Verbindung zu „keilen“. Jene Reiter trugen blau-weiße Cerevismützen, nur einer hatte eine Bärenmütze, von welcher ein blausammetner Sack oder Beutel mit silberner Quaste bis nahe zur Hüfte hinabhing. Sie machten vor unserem Wagen Halt und sahen hinein, es war aber für sie keine Beute darin. Ich hielt ihnen meine Pfeife mit den schwarz-roth-goldnen Quasten entgegen und sie ritten mit einem „Guten Morgen“, den ich eben so lakonisch und in dem obligaten langen und gezogenen Studententone erwiderte, weiter gen Könnern, wo ihnen dann der schöne Fritz mit den übrigen Märkern begegnet sein muß. Mein Vater schlug plötzlich die Hände zusammen, zeigte nach dem Chausseegraben, und ich begriff im Augenblick, weshalb er so entsetzt war. Da lag in jenem Graben neben einer Pappel ein Bruder Studio, auch mit Lederhosen und Kanonen angethan, und schlief in der Sonne den Schlaf der Gerechten, die ja auch manchmal von einem Rausche heimgesucht werden. Die blauweiße Mütze war ihm vom Kopfe gefallen, der Philistergaul graste in aller Gemüthlichkeit. Das Ganze war ein Bild, das meinem Vater großen Kummer machte. Er meinte, es sei schändlich, daß die Cameraden diesen Menschen so im Graben liegen ließen, denn der Boden sei feucht und der Student könne sich erkälten; schändlich sei es von dem Studenten, daß er sich, noch dazu an einem Sonntage, so betrunken habe; dergleichen verstoße gegen alle „Conduite“, und wenn nun das seine Eltern erführen! Und ob wir ihn nicht aufwecken sollten, da ja ein Vorübergehender ihm leicht Uhr und Geld aus der Tasche nehmen könne? In dieser letztern Beziehung suchte ich meinen Vater zu beruhigen, indem ich meinte, ein Bruder Studio könne vor Anfang des Semesters gar kein Geld haben, und was die Uhr angehe, so wollte ich wetten, daß der Pommer im Graben eine solche nicht habe, da sie sicherlich im Versatzamte Gevatter stehe.
„Aber du lieber Himmel, wenn diese Menschen kein Geld haben, wie können sie denn solche Suiten machen?“
„Auf Pump, lieber Vater,“ antwortete ich lakonisch.
Er wurde sehr nachdenklich und sprach dann:
„Gott, unter solche Menschen sollst Du gerathen, unter so rüde Menschen!“
Ich suchte ihn damit zu beruhigen, daß jene Reiter nur Landsmannschafter seien, und daß dergleichen bei „uns“ Burschenschaftern gar nicht vorkomme. Es ist aber auch unter uns Ähnliches vorgekommen. Zum Beispiel. Wir waren einmal in Ziegenhain bei Jena und traten Abends den Rückweg an. Der Schnee lag hoch. Wir nahmen Kienfackeln und zogen in langer Reihe oben am Hohlwege hin. Es wäre kühn, zu behaupten, daß wir, wir Burschenschafter, bei klarem Verstande gewesen wären; auch waren unsere Schritte und Tritte nicht sicher. Einer nach dem Andern sank in den Ziegenhainer Hohlweg, fiel ab und lag im Schnee, wie jener Pommer im Graben bei Könnern. Zum Glück hatten wir keine Pferde und sprengten nicht fort, sondern halfen einander empor, so gut es eben ging. Auch der „lange Itze“ erhob sich und zog wohlgemuth mit auf den Burgkeller, wo er dann nach einer Stunde verspürte, daß eine Schraube los sei; er hatte sich nämlich den Arm verrenkt. Dieses wurde kund gemacht, der lange Itze auf den Tisch gelegt, und nachdem ein Dutzend angehender Aesculape ihn grenzenlos mißhandelt hatten, war der Arm wieder eingerenkt. Der Patient hörte nun auf zu schreien und das Erste, was er wieder sprach, waren die unvergeßlichen Worte:
„Ich trinke Euch schlechten Medicinern Allen und Jedem Einen vor!“
Und so geschah es.
Mit der Dämmerung fuhren wir in Halle ein und fanden noch Zeit, durch die Straßen und über den Markt zu gehen. Wir standen vor dem Roland, als uns abermals Pommern ein Lebensbild vorführten. Zwei von ihnen schleiften einen Dritten, der nur mühsam gehen konnte, mit sich, um ihn irgendwo auf ein Bett oder Sopha zu bringen, denn der volle Jüngling bedurfte der Ruhe. Mein Vater war außer sich; am Sonnabend hatten wir in Halberstadt einen Westphalen gesehen, der sich aus Renommage die Pfeife mit einem preußischen Thalerscheine ansteckte, am Sonntage Pommern im Graben und auf dem Halleschen Markte, und Abends erzählte uns im Gasthause ein Philister beiläufig, daß ein Märker (der nachher unter die Frommen im Lande gegangen ist) binnen fünf Minuten fünfundvierzig Gläschen Kümmel getrunken und doch an demselben Abende von Kröllwitz seinen Weg zurückgefunden habe. Nun wollen wir es mit der Zahl 45 in 5 Minuten nicht so genau nehmen, denn Philister auf Universitäten schneiden manchmal auf, als wären sie Berliner; gewiß ist aber, daß damals auf den norddeutschen Universitäten viel Branntwein getrunken wurde. In Göttingen habe ich selbst gesehen, daß namentlich die Ostfriesen dem „Gandihl’schen Bittern“ alle Ehre anthaten, und auch in Halle ging jene Unsitte im Schwange; in Jena kannte man sie nicht.
Es war mir nicht recht, daß ich keinen Studenten mit schwarz-roth-goldner Mütze sah, denn ich hätte ihn ohne Weiteres angeredet und wäre mit ihm auf das Burschenhaus gegangen. Aber beim Drechsler Madut war der Laden offen und ich konnte mir einige Pfeifen mit Quasten kaufen. Mein Vater blieb inzwischen im Gasthofe und ich fand ihn, als ich zurückkam, sehr schweigsam. Diese Halleschen Studentengeschichten machten auf ihn einen unangenehmen Eindruck und wir wurden erst wieder gesprächig, als wir bei Dornburg einen Blick in das schöne Thal der Saale gewannen. Ein paar Stunden später waren wir in Jena, machten am Dienstag einige Ausflüge in die Umgegend, mietheten eine Wohnung und Mittwoch in aller Frühe fuhr der Herr Papa wieder heim; ich begleitete ihn bis Zwäzen und erhielt zum Abschied noch einmal die obligaten guten Lehren und obendrein scharfe Warnungen, an denen offenbar die Halleschen Pommern schuld waren.
In Jena kannte ich Niemand; meine Landsleute wollten erst acht Tage später aus den Ferien zurückkommen und zu Anfang der Collegia eintreffen. Es waren nur erst einige Studenten da, die Straßen sehr still. Etwa um acht Uhr früh kam ich von Zwäzen zurück. Gestern hatte ich von Jena selbst nicht viel gesehen, heute konnte ich es mir in aller Muße betrachten und war ein freier Mann. Ich ging um den Graben und lenkte dann meine Schritte unwillkürlich nach dem Burgkeller, der im Leben der deutschen Jugend eine so große Bedeutung gehabt hat. Wie viele Tausende haben in jenem Eckzimmer gesessen, getrunken und gesungen und sich unbeschreiblich glücklich gefühlt! Mir galt Jena für eine Art Mekka der Burschenschaft und der Burgkeller für die Kaaba, die ich mit einer Art von frommer Scheu betrat. Es war noch kein Student da, aber die „Frau Vettern“, welche viele Jahre als Wirthin dem Burschenhause rühmlich vorgestanden und nie mit doppelter Kreide an die schwarze Tafel geschrieben hat, erschien bald und sah mit geübtem Kennerblicke, daß sie in dem jungen Blut aus Niedersachsen einen Fuchs vor sich hatte. Das Gespräch der erfahrenen kleinen Frau mit den schlauen Augen, von der ich schon Manches hatte erzählen hören, war ermunternd, und an jenem Morgen wurde zwischen uns eine Freundschaft geschlossen, die niemals wankte. Frau Vettern hat mich nur ein einziges Mal sanft „getreten“, und damals wies sie mir überzeugend unter vier Augen nach, daß sie wirklich Geld nöthig habe und daß ihre Ausstände eine sehr beträchtliche Höhe erreicht hätten. Wie gern hätte ich sie damals bezahlt, aber war nicht kurz vorher, ich weiß nicht mehr, ob in Kahla oder Eisenberg, Vogelschießen gewesen? Ich demonstrirte ihr, was Unmöglichkeit sei, und als ich einige Zeit nachher mit ihr Nachmittags eine Tasse Kaffee trank, borgte sie mir mit Vergnügen dreißig Kopfstücke. Sie war eine sehr wohlhabende Frau mit trefflichen Eigenschaften, hatte große Menschenkenntnis und wußte jeden Studenten richtig zu nehmen. Schon nach einer halben Stunde hatte sie mich gut orientirt und mir nebenbei manchen praktischen Wink gegeben.
Dann ging ich auf den Markt und rauchte meine Pfeife, an welcher natürlich Hallesche Quasten prangten. Aus der Netzei an der Ecke kamen einige Studenten, aber sie trugen grün-roth-gold, waren also Franken, Landsmannschafter, und folglich nicht meine Leute. Sie hatten Rappiere und fochten, was damals in Jena allgemeiner Brauch war; man trug das Floret in der Hand oder steckte es in die Mappe querüber, und traf man einen Bekannten, mit dem man einen Gang machen wollte, so geschah es gleich an Ort und Stelle, auf dem Markte, auf dem Eichplatze oder auf dem Graben. Nachher steckte man das Rappier wieder in die Mappe und ging weiter. Ich sah den Franken zu und ergötzte mich an ihrem Stoßen, bis ich drei Burschenschafter um die Karlei biegen sah. Endlich! Vor der Weinschenke des Stadthauses sah ich einen behäbigen Philister, der sollte mir Rede stehen.
„Können Sie mir nicht sagen, wie die drei Burschen da heißen?“
[477] „Ei ja, die Herren kenne ich. Der Große da ist der Herr Stülpnagel, der Kleine mit dem rothen Barte der Herr Pamel und der Dritte, das ist der Herr Kaptein.“
Wie doch der Zufall spielt! Gerade an den Ersten und den Dritten hatte mir mein Landsmann P. ganz besondere Grüße aufgetragen; zu ihnen sollte ich gehen, um mich einzuführen. Alle Drei waren forsche Leute aus Mecklenburg. Damals spielten die Mecklenburger in Jena in der Burschenschaft eine große Rolle; sie waren meist Juristen, welche den „Staats-Schmidt“ und den „alten Martin“ hören wollten; sie hatten gute Wechsel und stießen eine rechtschaffene Klinge. Niemals habe ich Jemand „patenter“ stoßen sehen, als den Mecklenburger Buschmann; es war eine rechte Freude, zu sehen, mit welcher Kraft und Gewandtheit er die Waffe handhabte. Mehr oder weniger waren alle sehr brave Leute, aber geistige Regsamkeit in höherem Grade war nicht bei vielen; in dieser Beziehung waren sie durchschnittlich Mittelgut, ohne erheblichen Schwung, aber mit einem gewissen praktischen Treffer. Davon machten nur Wenige eine Ausnahme, so viel ich weiß, sind auch nur ein Paar in späteren Zeiten rühmlich aufgetaucht; die Andern haben sich begnügt, in engeren Kreisen zu wirken, was ja auch nicht Unrühmlich ist, wenn man nur seine Pflicht thut; es wäre ja auch nicht gut, wenn Jeder berühmt würde. Ein ganz prächtiger Mensch und liebenswürdig, wie wenige, war Kurt Besendahl, wenn ich nicht irre, aus der Gegend von Rostock; wir Alle hatten ihn herzlich lieb und das Auge der Frau Vettern leuchtete, wenn sie ihn nur sah. Leider ist er früh gestorben, aber tief betrauert von Allen, die ihn gekannt haben.
Auf Kleiderluxus gab zu jener Zeit der Student in Halle und Jena nicht viel; namentlich die Burschenschafter trieben die urthümliche Einfachheit sehr weit, und was ich oben vom Anzuge des kleinen Jahn gesagt habe, paßte noch auf manchen Anderen. Ein als Schriftsteller und Dramatiker berühmt gewordener Hallenser besaß für Winter und Sommer nur einen grünen Flausrock, der kaum bis an die Knie reichte; er hatte ihn schon auf seinem schlesischen Gymnasium getragen und half mit diesem unschätzbaren Kleidungsstücke gern seinem Stubenburschen aus, der auch nur einen einzigen Rock besaß.
Ein ausgezeichneter deutscher Sprachforscher, der seit lange in der Schweiz lebt, brachte 1822 einen altdeutschen Rock von Zittau mit nach Leipzig und dann nach Jena. Daß er etwas fadenscheinig aussah, will ich nicht in Abrede stellen, aber er hielt doch 1830 noch zusammen. Dann aber erhob sich eine Schwierigkeit. Inhaber des Rockes wollte promoviren und bedurfte zu diesem Behufe eines Frackes. Gab es in der Jenaischen Burschenschaft ein solches Kleidungsstück, das von uns so gründlich verachtet wurde? Die Antwort war schwierig; endlich wurde ermittelt, daß die sorgsame Mutter des langen Itze den schwarzen Einsegnungs-Frack mit in den Koffer des Sohnes gepackt hatte. Nun war aller Noth Ende, denn der Confirmationsfrack paßte dem damals äußerst schmächtigen, heute freilich sehr wohlbeleibten Doctorandus, als wäre er angegossen gewesen. Wer sich „patent“ trug, wurde von Vielen mit einer Art Ungunst betrachtet, und man bezweifelte, ob er correcte burschenschaftliche Grundsätze haben könne. Die eigentliche Herrschaft des sogenannten altdeutschen Rockes war freilich zu meiner Zeit schon vorüber; im Sommer konnte er mit blauen oder grauen Fuhrmannskitteln keinen Wettbewerb halten und in der Winterzeit wurde er vom Flausrock überflügelt. Die Landsmannschafter ihrerseits suchten etwas darin, möglichst patent zu sein und sich „herauszuschnipeln“, dafür ernteten sie aber von Seiten urwüchsiger Burschenschafter nur eine unaussprechliche Summe von Verachtung ein. Ich für meinen Theil, der ich in dieser Beziehung im Stillen mit den verruchten Landsmannschaftern sympathisirte, hatte anfangs mit allerlei Widerwärtigkeiten zu kämpfen, die mir mein blauer Schnürenrock zuzog. Außerdem trug ich, horrible dictu! Vatermörder und wollte doch Burschenschafter werden! Gleich am ersten Tage kam ich schön an, wie der geneigte Leser sogleich erfahren soll.
Die drei obengenannten Mecklenburger schlenderten den Markt hinab. Ich faßte mir ein Herz, ging gerade auf sie zu, brachte meinen Gruß von P., und man gab mir die Hand, ohne gerade zuvorkommend zu sein. „Stülpnagel“ war ein schlanker Mensch mit goldblonden Locken und sehr einfachem Anzuge, die Brust trug er bloß; „Pamel“ war kleiner und breitschultriger, der „Kaptein“ eine jener Figuren, die man nie wieder vergißt. Er mochte damals reichlich 26 Jahre alt sein, und die Züge seines breiten und knochigen Gesichts waren so scharf ausgeprägt, ich möchte sagen ausgewirkt, wie bei einem Fünfziger, den Stürme des Lebens und der Leidenschaften vielfach umhergewettert haben. Er trug sich stets einfach schwarz, und ich habe ihn nie mit einer farbigen Mütze gesehen, außer wenn er im Bierstaate zu Zwäzen auf dem Kaiserthrone saß. Er war eigentlich der wahre Haupthahn in der Burschenschaft, und es haftete etwas Mysteriöses in ihm. Von seiner Vaterstadt Rostock aus war er mit seinem Schwager, einem Schiffsführer, zur See gegangen, und 1822 zur Zeit des gelben Fiebers in Barcelona gewesen. Er kannte viele Häfen des Mittelmeeres, war dem Seeleben eifrig zugethan, und erklärte uns alle seemännischen Ausdrücke in Coopers Lootsen, den wir während des Sommers 1826 in kleinerm Kreise mit großem Eifer lasen. Den Spitznamen „Kaptein“ erhielt er eben seiner Seefahrten wegen, von denen er übrigens nur selten sprach; er war überhaupt schweigsam und verschlossen und verkehrte nicht mit Vielen. Seine Haut war tief gebräunt, sein Auge scharf und stechend, seine Ausdrucksweise kurz und bestimmt, und nicht selten mischte er ihr eine eigenthümliche Ironie bei. Die „Landeskinder“, d. h. die thüringischen Studenten, sahen im Kaptein einen seltsamen Menschen; es ging unter Einigen die Sage, er möge wohl Seeräuber gewesen sein, während Anderen „der Zaun aufgebunden“ wurde, er sei in Algier Galeerensclave gewesen, und durch eine schöne Türkin befreit worden. Sein oft nachdenkliches Wesen und seine Schweigsamkeit habe sich erst eingestellt, als er erfahren, daß sein eifersüchtiger türkischer Gebieter jener Lebensretterin den Kopf abgeschlagen habe. Eine andere Lesart behauptete dagegen, sie sei in einen Sack gesteckt und elendiglich ersäuft worden. Der Kaptein lebt noch als Arzt irgendwo in den westlichen Staaten Nordamerikas.
Mit dem Kaptein und den beiden andern Mecklenburgern ging ich an’s schwarze Bret, um zu sehen, welche Professoren bereits ihre Collegia angeschlagen hatten, und las ein Relegat, dergleichen der alte Eichstädt so viele in seinem Leben verfaßte, alle im zierlichsten Latein, mit durchaus ciceronianischer Redeweise. Der alte Römer selbst oder Muretus hätten sie nicht in eleganterm Styl schreiben können, auch wußte sich der alte Professor der Eloquenz viel damit, daß man auf keiner andern Universität so schöne und correcte Relegate zu verfassen im Stande sei. Ich weiß nicht mehr, wer der so zierlich abgethane Sünder war, noch was für Unfug er angestellt hatte, ob er z. B. mit dem Pedell Dorschel in unsanfte Berührung gerathen war; denn wir gingen nach dem Burgkeller, um einen Morgentrank einzunehmen, ein Glas Wöllnitzer Bier, das mit dem obligaten: „Frau Vettern, ein Glas Knotenwuchs!“ bestellt wurde. Ich war sehr glücklich, als ich das strohgelbe Naß vor mir hatte. Dabei wurde ich ausgefragt: „Was willst Du studiren, welche Collegia willst Du hören?“ Ich stand Rede und gab Antwort, vernahm auch Urtheile über die Professoren. Plötzlich sah mich der Kaptein mit einem ironischen Blicke an, und sprach im besten mecklenburger Plattdeutsch:
„Kiek mal, Vos, war häst Du denn da för Dinger? De moßt Du afleggen, de passet nich for Jena; wenn Du Burschenschafter syn wult, so do de Jammerlappen weg.“
Nun hatte ich als krasser Fuchs alle mögliche Hochachtung vor so forschen Kerlen und Haupthähnen, mir wollte aber doch die Logik nicht einleuchten, welche meine Vatermörder mit der löblichen Burschenschaft in Zusammenhang brachte. Was hatten steife Hemdenkragen mit vaterländischen Bestrebungen zu thun? Mich verdroß jene Frage sammt der apodiktischen Zuthat, und ich antwortete keck, daß ich meine Vatermörder nicht ablegen würde; ich habe übrigens gar nichts dagegen, wenn Andere umgeklappte Hemdkragen trügen. Das sagte ich ganz resolut; der Kaptein lächelte beifällig, und Stülpnagel, dessen Lachen allzeit olympisch war, rief laut:
„Kiek mal, wat de Vos for eene Snute hät.“
„Wir haben eben ein Eichstädt’sches Relegat gelesen, wie würdest Du das, was Du eben sagst, in classischem Latein ausdrücken?“
Das war eine kühne Frage, welche unbeantwortet blieb.
„Sieh mal, der krasse Fuchs will uns examiniren! Wie würdest Du denn lateinisch ausdrücken, daß Du ein so vorlautes Maul hast? Kiek mal!“ Man war verwundert über eine solche Keckheit.
Ich hatte meinen Tacitus gelesen, und mir war die prächtige Schilderung gegenwärtig, welche der „erste Priester der Wahrheit, den Rom hervorgebracht,“ (so nennt Luden ihn) von dem Aufstande [478] der pannonischen Legionen entwirft, und die Portraitzeichnung des vormaligen Schauspieldirectors Percennius.
„Ich würde sagen, ich sei lingua procax gewesen.“
Damit war meine philologische Gelehrsamkeit über allen Zweifel festgestellt, und mir des Kapteins Wohlwollen gesichert. Ich war aber kein Philolog von Profession und, gottlob, auch kein Theolog.
Es ist merkwürdig, wie lebhaft dergleichen an sich so unbedeutende Dinge dem Gedächtnisse sich einprägen. Heute, nach 32 Jahren, ist es mir, als sei das Alles erst gestern geschehen.
Die Ferien waren zu Ende, die Immatriculation hatte stattgefunden, die Collegia begannen. Jena konnte mit seinen beschränkten Geldmitteln nicht gegen reichbegabte Hochschulen, wie Berlin oder Göttingen ankommen, und auch heute noch erhalten die besten Professoren ein geringeres Gehalt, als in den Hansestädten ein erster oder zweiter Handlungsdiener, oder ein Musterzeichner in Elberfeld oder ein Maschinenbauer. Doch haben günstige Umstände es gefügt, daß die kleine Universität an der Saale stets sehr bedeutender wissenschaftlicher Kräfte sich erfreute. Zu meiner Zeit war freilich der große Glanz aus den Tagen, da Fichte, Paulus und die übrigen Heroen in frischer Jugendkraft dort gewirkt, längst vorüber; auch zählte die Hochschule nicht anderthalbtausend Studenten, wie in den ersten Jahren der Burschenschaft; aber wir waren immer noch mehr als sechstehalbhundert Studenten, und unter den Professoren befanden sich Gelehrte ersten Ranges in allen Facultäten, Jena zeichnete sich namentlich durch die Anregungen aus, welche der kleine Ort in reichlicher Fülle gab; man fühlte sich gepackt, erhielt eine gewisse Weihe, sah sich getragen und gehoben; das alles Guten fähige Gemüth der Jünglinge bekam schöne Eindrücke, und manche Professoren waren Männer, zu denen man mit wahrhafter Verehrung hinaufblickte. Die Collegia wurden fleißig besucht, und ich glaube nicht, daß ich einen von Luden's Vorträgen anders als gezwungen versäumt habe.
Luden war als Docent von ganz ungemeiner Bedeutung. Der feine Mann von Welt mit der saubern Kleidung, dem freundlichen Gesicht und dem sehr gemessenen und würdigen Wesen, gewann uns Alle. In früheren Zeiten, bevor man ihn als „Demagogen“ verdächtigt hatte, stand seine Persönlichkeit den Studenten näher, und er empfing sie gern in seinem Hause. Es war geradezu lächerlich, einen so besonnenen, umsichtigen und weltklugen Mann als einen Jugendverderber zu bezeichnen. Gewiß hat nie ein Jüngling aus Luden's Munde etwas Anderes vernommen, als Gutes und Edles, und wohl dem, welcher dem Rathe eines solchen Lehrers gefolgt ist. Luden war ein gebildeter Kopf, und begreiflicherweise freisinnig, wie denn ein Historiker mit fünf gefunden Sinnen und rechtschaffenem Charakter nicht anders sein kann. Karl August von Weimar und Goethe wußten ihn zu schätzen, und würdigten sehr wohl, was er für Jena war. Seine große Bedeutung lag nicht sowohl in dem Wissen und der Gelehrsamkeit, sondern im Vortrage, in der anregenden und gewinnenden Weise desselben, in dem edlen Pathos, mit welchem er geschwängert war. Manche haben vielleicht die wissenschaftliche Anlage seiner Vortrage anders gewünscht, aber Jeder wird sagen, daß Luden's Collegia eine erhebende Wirkung auf ihn gemacht haben, und von bleibendem Eindrucke gewesen sind.
Luden war im besten Sinne patriotisch, und er verstand es, uns zu erwärmen und zu begeistern. Ich vergesse den Winterabend nicht, an welchem er das Leben des Arminius schilderte. Er that es in einfacher ungeschmückter Weise, mit Kraft und Klarheit. Mit gespannter Aufmerksamkeit lauschten wir seinen Worten, wir waren ergriffen und der Redner packte uns immer mächtiger. Die Federn ruheten, Niemand mochte oder konnte ferner nachschreiben; der Vortrag war nicht lediglich auf den Kopf berechnet, sondern ging an's Herz. Luden führte die Stelle des Tacitus an, mit welcher der Römer vom germanischen Heerführer scheidet, nahm dann sein eigenes Geschichtswerk zur Hand und las, was er selber über den Sieger im teutoburger Walde geschrieben. Wir hingen an seinen Lippen, und als er die Worte gesprochen: „Dann aber wird Deutschlands letzte Stunde schlagen, wenn unter seinem Volke Niemand mehr gefunden wird, der wünscht, wie Armin zu leben und zu sterben,“ da war Todtenstille im großen, auf allen Bänken gefüllten Hörsaal; wir athmeten kaum. Es hatte noch lange nicht drei Viertel auf sechs geschlagen, aber es war, als ob ein elektrischer Strom durch uns Alle gegangen sei, wir bliesen unwillkürlich die Lichter aus; wir hätten nichts Anderes mehr hören können. Luden trat von seiner Lehrbühne herab, und wir gingen schweigend aus dem Auditorium.
Solche geweihte Stunden vergißt man nie, ihr Ton klingt und hallt durch das ganze Leben nach, und das Gemüth bleibt dankbar für den Mann, welcher in des Jünglings Herz so edle Antriebe flößt.
Der Philosoph Fries wohnte in Luden's Hause, und hatte einen Kreis um sich versammelt, der ihm schwärmerisch zugethan war. Mit vollem Rechte konnte er ein gütiger und edler Mensch genannt werden, durch dessen ganzes Wesen ein Strom des schönsten Wohlwollens, der lautersten Humanität floß. Er rückte seinen Zuhörern die höchsten Probleme nahe, sein heller Verstand wagte sich besonnen, aber energisch an Alles; er wollte Freiheit und Klarheit im Denken, und meinte es von Grund auf redlich mit sich, mit seinen Schülern und dem Vaterlande. Seine Schüler blickten zu ihm hinauf, wie zu einem Weisen, sie verglichen ihn gern mit Sokrates, auch liebte er es manchmal, gleich dem alten Athener, die heuristische Methode bei ihnen anzuwenden, und die Wahrheit durch Fragen hervorzulocken oder auffinden zu lassen. Fries war mild, wohlwollend und kindlich; aber auch ihn hatte die bleierne Faust der Demagogenriecher gepackt und für verdächtig, für einen Jugendverderber erklärt. Natürlich, er war ja Patriot im edelsten Sinne des Wortes.
Noch ein anderer leuchtender Stern am Firmamente der Wissenschaft sollte wo möglich ausgelöscht werden, aber wenn er auch keine Vorträge halten durfte, so strahlte er doch fort in unvermindertem Glänze. Ich meine Oken, dem man heute Denkmäler setzt. Er lebte still und zurückgezogen, und ich habe ihn nur in einsamen Seitengründen des Saalthales gesehen, fernab von den Straßen, denn er war gern allein und suchte Käfer oder Gewürm, und achtete auf den Flug der Libellen an den grünen Stromwiesen. Concentrirte Leidenschaft, starkes Wollen und unbeugsamer Nachdruck sprachen damals aus den Zügen Oken's, dessen Gesicht mir einen etwas finstern Ausdruck zu haben schien. Er mochte wohl gegenüber den Verfolgern, welche ihn so viel geärgert und ihm so schwere Tage bereitet hatten, nicht wenig verbittert sein. Herr von Kamptz konnte dem Naturforscher nicht vergessen und vergeben, daß dieser einst gesagt hatte, die Ohren des bekannten grauen Thieres, welche ein Zerrbildner dem Portrait des Oberdemagogenverfolgers beigegefügt hatte, seien — Arabesken, Schmuckverzierungen!
Luden hatte in früheren Zeiten ein Collegium über Politik gelesen; aber schon seit Jahren mußte dasselbe ausfallen. Karl August hatte ihm diese Vorträge nicht gerade verbieten wollen, er soll aber den Wunsch ausgesprochen haben, daß sie bis auf bessere Zeiten ausgesetzt blieben. Dagegen waren die staatsrechtlichen Vorträge des Geheimenrathes Schmidt sehr besucht, und dieser gelehrte und einsichtsvolle Mann verdiente Beifall und Dank der Zuhörer durch seine Gründlichkeit und Klarheit und seine fesselnde Darstellung. Auch der alte Criminalist Martin stand damals auf seiner Höhe. Er war ein seltsamer, ganz eigenthümlicher Mensch, der es zu sehr hohen Jahren gebracht hat, grundgescheidt, scharfsinnig in hohem Grade, oft spitzfindig, sehr dialektisch und äußerst redegewandt. Bei ihm lernten die Studenten viel, uns er wußte sie ungemein zu fesseln. Auf dem Burgkeller verging kaum ein Abend, an welchem nicht über irgend etwas hin und her geredet wurde, wozu der alte Martin am Morgen im Colleg die Anregung gegeben hatte. Ich erinnere mich des Tages noch sehr genau, an welchem ungemein lebhaft über die Zweckmäßigkeit der Geschwornengerichte debattirt wurde. Man zog eine Menge von Fällen und Beweisen für und gegen herbei, die Erörterung erregte allgemeine Theilnahme, und dauerte bis gegen elf Uhr Nachts. Auch Theologen mischten sich ein, aber zu einem Ergebniß kam man lange nicht. Da bat einer um's Wort und sprach etwa:
„Ihr seid Juristen, und klaubt an euren Rechtsprincipien und dergleichen herum. Nun will ich einmal den gesunden Menschenverstand zu Hülfe rufen. Sagt mir, wie kommt es, daß alle Völker, welche die Schwurgerichte haben, mit denselben zufrieden sind, und sie trotz aller Mängel, die der alte Martin an ihnen findet und nachweist, nicht fahren lassen wollen? Sagt mir ferner, weshalb andere Völker sie sich wünschen und ihr jetziges Proceßverfahren los sein möchten? Weshalb sind jene zufrieden und diese nicht? Und sagt mir endlich noch: sind die Schwurgerichte nicht echt deutsch und ist der Inquisitionsproceß mit verschlossenen Gerichtssälen nicht in den traurigsten Zeiten unserer Geschichte [479] bei uns eingeführt worden? Auf alle Euere juristischen Spitzfindigkeiten und Principienklaubereien gebe ich kein Kopfstück (24 Kreuzer). Nun antwortet, Ihr Juristen, ich vertheidige den gesunden Menschenverstand. Dixi!“
Sehr lebhaft wurde auch über die Griechen hin und her disputirt und Wilhelm Müller’s Griechenlieder waren ein sehr beliebtes Buch. Zur Burschenschaft hielt sich ein kleiner Grieche, wenn ich nicht irre, hieß er er Pagon, der recht flott turnte. Die Füchse betrachteten diesen angeblichen Nachkommen der alten Hellenen mit großem Interesse; wenn ich mir aber heute seine Physiognomie vergegenwärtige und an seine entschieden arnautische Nase denke, so zweifle ich keinen Augenblick, daß dieser Mann, gleich der Hälfte seiner „hellenischen“ Landsleute, albanesischer Abkunft war. Er las eifrig die Augsburger Allgemeine Zeitung, die einzige, welche außer der Dorfzeitung und der Neckarzeitung gehalten wurde; daneben hatten wir dann noch den Eremiten von Gleich. Man sieht, wie harmlos unsere Lecture war; auch befanden sich in der Burschenbibliothek keine Werke, welche man heutzutage verbieten würde.
Es war viel neuer Zuwachs aus allen Theilen Deutschlands eingetroffen und für den Neuling war es von hohem Interesse, zu sehen, wie sich Alles so rasch ein- und zusammenlebte, und wie in der Burschenschaft, die mit Allem, was darum und daran hing, mehr als dreihundert Köpfe zählte, ein Geist die Gesammtheit durchdrang. Und dieser Geist war deutsch, gesund und patriotisch, er war derselbe bei denen, welche von der Donau kamen, wie bei jenen, welche das Licht der Welt in den Marschen von Schleswig-Holstein erblickt hatten. Wir Niederdeutschen waren damals stark vertreten und mochten wohl ein Viertel der ganzen Studentenschaft ausmachen. Deswegen hörte man auch auf dem Burgkeller viel Plattdeutsch in allen Mundarten reden, namentlich ließen sich die Mecklenburger ihr süßes Obotritisch nicht nehmen und Stülpnagel war stets bereit, zu behaupten, daß man für das hochdeutsche Pferd nicht Pärd, sondern Pierd sagen müsse. Am Ende entschied der alte Jahn, daß er Unrecht habe. Das Zusammentreffen so vieler Jünglinge mit ganz verschiedenen Anlagen und Begabungen, so vieler Leute aus ganz verschiedenen Gegenden, erzeugte eine eigenthümliche und frische Geistesatmosphäre, in der man sich ungemein wohl und frei fühlte.
Die auf den 6. bis 9. September dieses Jahres in Gotha stattfindende Vorversammlung zu einem Congreß deutscher Volkswirthe hängt mit den mehrfach in diesen Blättern durch den Unterzeichneten vertretenen Bestrebungen zur Hebung der arbeitenden Classen so nahe zusammen, daß derselbe nicht umhin kann, die durch das ganze Vaterland verbreiteten Leser der Gartenlaube auf Zweck und Bedeutung dieses nationalen Unternehmens aufmerksam zu machen.
Dem von allen gebildeten Ländern Europa’s beschickten sogenannten internationalen Wohlthätigkeitscongreß zu Frankfurt a. M. im September vorigen Jahres mit seinen Verhandlungen in der socialen Frage war es vorbehalten, bei den deutschen Mitgliedern desselben das lebhafte Verlangen nach einer ähnlichen, aber vaterländischen Versammlung zu erwecken, um dessen Realisirung es sich gegenwärtig handelt. Wirklich thut die Erfassung dieser hochwichtigem Angelegenheit vom nationalen Standpunkte in Deutschland Noth, weil der Congrès international in Folge der specifischen Richtung seiner Stifter, der Belgier und Franzosen, die ganze große Aufgabe bei Weitem nicht umfassend genug, sondern ziemlich einseitig und selbst mit nationaler Befangenheit umfaßt und weit eher den Namen eines belgisch-französischen, als eines allgemeinen Congresses verdient. Dem tritt aber der deutsche Standpunkt um so berechtigter entgegen, als derselbe den vollen humanen Inhalt der Frage weit erschöpfender zur Darstellung bringt. Außer der Pflege und Behandlung der bereits Verarmten, Verwahrlosten und Verbrecher hat man nämlich auf jenen internationalen Congressen bisher im Wesentlichen nur diejenigen Bestrebungen zur Hebung der arbeitenden Classen beachtet, welche eine Leitung und Unterstützung von oben, sei es vom Staate, der Kirche oder den höhern Gesellschaftsschichten, voraussetzen, nicht aber die auf der Selbsthülfe, der eignen Kraft und Tüchtigkeit der Betheiligten beruhenden. Daß nun in Erweckung und Pflege des letzten Elements gerade der wichtigste Theil der Aufgabe liegt, und daß, wenn dasselbe den Hülfsleistungen ersterer Art nicht entgegenkommt, diese niemals zum Ziele gelangen, ist in dem im Eingange angezeigten Buche dargethan. Es ergeht dabei den Männern, welche in Frankreich und Belgien an der Spitze der Bewegung stehen und deren großes Verdienst und bedeutende Leistungen in den von ihnen erwählten Fächern Niemand bestreiten wird, wie den Aerzten in einer Epidemie. Ueber der Sorge für die von dem Uebel bereits, zum Theil rettungslos, Befallenen verlieren sie das Interesse für Conservirung der noch Gesunden, und in ihre Spitäler vergraben, haben sie für den Stand der Dinge außer denselben, für die, welche ihrer Cur noch nicht anheimgefallen sind, keinen Sinn. Am Ende freilich müssen ihnen, so lange sie für einen Patienten, den sie vielleicht geheilt entlassen, jedes Mal zehn neue zugeführt erhalten, die Dinge über den Kopf wachsen.
So ist es ohne Zweifel auch auf dem vorliegenden Gebiete mindestens eben so wichtig, die noch gesunden, jedoch bereits mehr oder weniger gefährdeten Elemente des Arbeiterstandes, insbesondere der kleinen selbstständigen Gewerbtreibenden zu erhalten und dadurch der um sich greifenden Massenverarmung vorzubeugen, als den bereits Verarmten, den vom sittlichen und wirthschaftlichen Ruin schon Ergriffenen beizuspringen. Daß der internationale Congreß über dem Letzteren das Erstere hintenanstellt, ist, wie gesagt, nur aus den nationalen Traditionen seiner Stifter und Leiter zu erklären, von denen sich dieselben nicht loszumachen vermögen. Die vorherrschende Neigung, zu centralisiren, Alles von oben zu gängeln, den Leuten zur Entfaltung eigner, selbstständiger Bewegung keinen Raum zu lassen und sie dafür lieber, um ihrer blinden Unterordnung gewiß zu sein, auf öffentliche Kosten zu subventioniren, wie dies in Frankreich zum förmlichen politischen und socialen System ausgebildet, in Belgien mindestens für die Arbeiterfrage an der Tagesordnung zu sein scheint: dies Alles spiegelt sich unverkennbar in der Haltung jenes Congresses wieder. Damit steht aber die Auffassung der Sache auf englischer und deutscher Seite in directem Gegensatze, welche für die Arbeiter gerade die freie Bewegung, die beliebige Einordnung in selbstgebildete Genossenschaften, die Autonomie und Selbstverwaltung derselben verlangt, ihnen sodann aber auch die Sorge für die eigene Existenz ganz allein aufbürdet. Indem man die Einzelnen ausschließlich auf die Selbsthülfe, die eigene Kraft und Regsamkeit rücksichtlich ihres Erwerbes verweist, wird jede fremde Unterstützung, ein Dasein durch Anderer Gnade und auf Anderer Kosten, als unwürdig und unausführbar von vornherein abgewiesen. So drängt sich der tiefe Zwiespalt des Romanischen und Germanischen, des Wälsch- und Deutschthums, welcher die gesammte Völkerentwickelung der Neuzeit in zwei feindliche Lager theilt, auch in der socialen Frage hervor, und hiermit wird uns, einem dem deutschen Wesen feindlichen Elemente gegenüber, wie es auf jenen internationalen Congressen überwiegt, die Festhaltung und bewußte Ausprägung des national deutschen Standpunktes in solcher hochwichtigen Sache zur gebieterischen Pflicht.
O, es ist etwas Gefährliches und Verführerisches um die Mildthätigkeit, das Almosen! Das Elend tritt uns in so kläglicher, oft so widerlicher Gestalt vor die Augen, daß Viele gar nicht rasch genug durch einen Griff in die Tasche sich damit abfinden zu können meinen. Ob das Gegentheil von dem, was der Geber beabsichtigt, erreicht wird, ob nicht die wahre Noth in den meisten Fällen solcher Hülfsbezeigung sich entzieht, wird im Drange [480] des Augenblickes selten beachtet. Indessen ist gegen diesen in der Bequemlichkeit der Menschen, in ihrer sinnlichen Erregbarkeit wurzelnden Hang schwer anzukämpfen. Ohne daher den sittlichen Werth einer geordneten Almosenspende in einzelnen Fällen dringenden Bedürfnisses, augenblicklicher, vorübergehender Noth bestreiten zu wollen, tritt der Unterzeichnete nur jeder directen und indirecten Unterstützung aus Privat- oder öffentlichen Mitteln alsdann auf das Entschiedenste entgegen, wenn es gilt, den dauernden, chronisch gewordenen Nothstand ganzer zahlreicher Gesellschaftsclassen zu heben. Hierzu ist die Subvention das allerverkehrteste Mittel, weil sie das Elend systematisch hegt und pflegt, anstatt es zu bekämpfen, die Massenverarmung förmlich decretirt, anstatt ihr entgegen zu treten.
Dem Arbeiterstande im Allgemeinen ein Recht auf Unterstützung zuerkennen, ihn an die Vorstellung gewöhnen, daß er durch eigene Thätigkeit sich seine Subsistenzmittel nicht vollständig verschaffen könne, ihn somit der Verantwortlichkeit für die eigne Existenz, der Hauptvoraussetzung alles gesellschaftlichen Zusammenlebens, entheben, ist das allergefährlichste und unausführbarste Experiment, der verderblichste Socialismus, der je dem Hirn eines Menschen entsprungen ist. Dadurch müßte die Gedankenlosigkeit und Trägheit, das Indentaghineinleben, in erschreckendem Maße gesteigert werden, und die Menge der Unterstützungsbedürftigen bald zu einem Haupttheile der Bevölkerung anwachsen, die für sie erforderlichen Mittel den Wohlstand der Gesammtheit verschlingen. Den besten Beleg, wohin man auf diesem Wege gelangt, bietet uns Belgien, das Musterland der Armen- und Rettungsanstalten, der Hospitäler und milden Stiftungen, welche, meist in geistlichen Händen, zusammen die ungeheuere Rente von 14 Millionen Francs jährlich consumiren, bei einer Bevölkerung von noch nicht 4 Millionen Seelen. Bereits erhält dort, ganz abgesehen von der gar nicht zu controlirenden Privatwohlthätigkeit, ein Viertheil der Bevölkerung, der je vierte Mensch Unterstützung aus öffentlichen Fonds, ein Verhältniß, wie es nirgends anders vorkommt. Wenn man bedenkt, welche ungeheure Summe hierdurch der Industrie, dem Fond, aus welchem die Arbeitslöhne bezahlt werden, verloren geht, und wie dieses Deficit mit den steigenden Forderungen der Armenpflege stetig wächst, eröffnet sich eine Aussicht, um welche man das gepriesene Land wahrhaftig nicht zu beneiden hat. Und was hier gilt, gilt überall, wo man den gleichen Weg einschlägt. Ueberall, wo die Subvention als Regel organisirt wird, geht nothwendig mit dem Sinken des allgemeinen Wohlstandes das Sinken der sittlichen und wirthschaftlichen Tüchtigkeit in der Arbeiterwelt Hand in Hand, was wiederum die Verschlechterung der gewerblichen Leistungen der Leute zur Folge hat.
Wie hierdurch einerseits die Productionsfähigkeit der ganzen Industrie, also die allgemeine Einnahme, geschwächt wird, wächst andererseits die Noth und das Bedürfniß der Unterstützung in den Arbeiterschichten, also die Ausgabe mittelst der Armentaxen, immer reißender, und mit den gesteigerten Ansprüchen in letzterer Beziehung sinkt das productive Capital des Landes, bis am Ende die Gesellschaft unter der unerträglichen Bürde zusammenbricht.
Die Selbsthülfe also, der streng durchgeführte Satz, daß durch vernünftigen Gebrauch der eigenen Kraft und gehörige Wirthschaft ein Jeder, auch der ganz Unbemittelte, sich eine angemessene Existenz sichern, sich emporarbeiten kann und soll, und daß Niemandem ein Recht auf fremde Unterstützung zusteht: mit einem Worte, die Selbstständigkeit und Selbstverantwortlichkeit auf dem Felde des Erwerbes, das ist die alleinige gesunde Grundlage, auf welcher der gesammte Haushalt der Gesellschaft beruht. Indem wir vorzugsweise die Bestrebungen für berechtigt erkannten, welche die Ermöglichung jener Selbstständigkeit für die Arbeiter förderten, kommen wir dahin, daß der nationale Standpunkt bei uns mit dem allgemein wissenschaftlichen, d. h. dem durch Vernunft und Erfahrung begründeten zusammenfällt, ein Umstand, auf welchen wir besondern Werth legen. So befinden wir uns recht eigentlich im Bereiche der Volkswirthschaft, und dürfen uns ungescheut den Volkswirthen, den Anhängern jener Wissenschaft beigesellen, von denen die erwähnte in Gotha stattfindende Versammlung ausgeht. Hat es doch die Volkswirthschaft mit Production und Handel, Arbeit und Lohn, Tausch und Werth, Eigenthum und Erwerb, also gerade mit den Fragen zu thun, die uns zunächst interessiren. Von allen diesen wichtigen Vorgängen im wirthschaftlichen Verkehrsprocesse der Menschheit sucht sie die natürlichen, aus dem Wesen der Sache selbst fließenden Grundbedingungen und Gesetze auf, von denen der Verlauf derselben abhängt und zum Heil oder Unheil für die dabei Betheiligten ausschlägt. Ohne gründliches Eindringen, ohne klares Bewußtsein von diesen Naturgesetzen des Verkehrs bleibt alles Eingreifen auf socialem Felde ein blindes Umhertappen, gleich dem Gebahren eines Quacksalbers, der sich mit Curen von Krankheiten abgibt, ohne den mindesten Begriff vom menschlichen Organismus zu besitzen. Mit dem bloßen guten Willen ist nichts gethan, und nirgends haben Unverstand und falsch verstandener Philanthropismus so geschadet, wie hier, wo solches verkehrtes Experimentiren schon hier und da beigetragen hat, ganze Gesellschaftsclassen jeder vernünftigen Einsicht in die eigenen Zustände immer mehr zu verschließen. Begrüßen wir daher die deutschen Volkswirthe, welche sich eine Erörterung der wichtigsten Fragen auf diesem Felde zur Aufgabe gestellt haben[6], als erwünschte Bundesgenossen, und helfen wir, ihrer Versammlung nach Kräften das nöthige Material zu übermitteln, betheiligen wir uns bei ihren Berathungen, um sie möglichst praktisch und fruchtbringend für das große Publicum zu machen. Nicht blos die Gelehrten, Erfahrenen, welche an den Debatten thätig Theil nehmen, zur Belehrung beizutragen vermögen, nein Alle, welche Trieb und Beruf in sich fühlen, sich über die einschlagenden Fragen aufzuklären und zu unterrichten, sind geladen, wenn sie den Ernst und die Hingebung mitbringen, wie sie die Sache erfordert. Dann erst, wenn von den verschiedensten Seiten sich die Theilnahme diesem ersten Versuche zuwendet: „eine große, tief in das Volkswohl eingreifende Angelegenheit in voller Oeffentlichkeit zu verhandeln und zur Nationalsache zu erheben,“ mag es geschehen, daß die in Gotha tagende Versammlung zu einem wahrhaften deutschen Congresse werde und ihre Berathungen, mit der ganzen Macht der aufgeklärten öffentlichen Meinung dahinter, eine Geltung erlangen, wie man sie gern und willig dem Verdict einer Jury von Vertrauensmännern der Nation zugesteht.
Mögen die rechten Männer und die rechte Weihe der Versammlung nicht fehlen.
- ↑ Zu den vielen Nöthen einer Schweizerreise gehört auch die Noth um gute und rechtliche Führer, die nicht mit den Hotelbesitzern unter einer Decke spielen. Wir haben böse Erfahrungen gemacht, benutzen aber diese Gelegenheit, allen Reisenden den Führer Franz Eichhorn aus Arth (am Fuße des Rigi, Zuger See) als einen eben so dienstwilligen, bescheidenen, wie erfahrenen Begleiter in dem Gebirge zu empfehlen. Es vermehrt die Freuden der Reise, einen Mann an der Seite zu wissen, auf den man sich in jeder Beziehung verlassen kann. Die Redaction.
- ↑ Es ist eine Eigenthümlichkeit der meisten Schweizerführer, daß sie auf jede Frage mit dem stereotypen „Ja, Herr“ antworten. D. Verf.
- ↑ Eine ähnliche Situation scheint der bekannte Jagdmaler: Straßgschwendter
in seinem vortrefflichen Bilde: „Adler, seinen Horst vertheidigend“,
benutzt zu haben. Der Verleger seines prachtvollen „Jagdalbums“
hatte die Freundlichkeit, uns die Nachbildung dieses einen Blattes
für unsere Gartenlaube zu erlauben und wir danken ihm dafür, indem wir
zugleich alle Jagdfreunde auf das Kunstwerk aufmerksam machen. Das
Jagdalbum enthält 34 Blatt in Tondruck, Scenen aus der nieder- und
hohen Jagd, sämmtlich meisterhaft in Auffassung und Ausführung.
Die Redaction.
- ↑ Unter diesem Titel werden wir unsern Lesern eine Reihe Abbildungen bringen, die ihnen in den Winterabenden als Erinnerungszeichen dienen sollen an schöne Sommer- und Ferienreisen, an sonnige Fahrten durch Berg und Wald. Die Stoffe dazu werden wir aus Nord, Süd, Ost und West unseres schönen Vaterlandes wählen. D. Redact.
- ↑ Man vergleiche das Werkchen des Unterzeichneten, welches so eben die Presse verlassen hat: „Die arbeitenden Classen und das Associationswesen in Deutschland, als Programm zu einem Congreß.“ Leipzig, 1858. Bei G. Mayer. Preis – 15 Neugroschen. –
- ↑ Die Tagesordnung der Gothaer Versammlung enthält folgende Gegenstände: 1) die Reform der Gewerbegesetze; 2) das Associationswesen in Deutschland; 3) die Durchfuhrzölle des Zollvereins; 4) Spielbanken, Lotto, Lotterie; 5) die Wuchergesetze.
St. in Dresden. Allerdings wird die Gartenlaube verschiedene Abbildungen der sächsischen Ueberschwemmungen bringen, und sind sofort zwei tüchtige Künstler nach Glauchau und Zwickau abgegangen, um an Ort und Stelle die nöthigen Aufnahmen zu machen. Nur erwarte man die Zeichnungen nicht in der nächsten Nummer. Wir achten unser Publicum zu hoch, um ihm improvisirte Schauerscenen und schlechte Holzschnitte zu bieten; zu guten Arbeiten aber gehört Zeit und haben namentlich unsere Leser noch zu berücksichtigen, daß bei der großen Auflage der Gartenlaube Satz und Druck einer Nummer vierzehn volle Tage wegnehmen. Ein schnelles Erscheinen dieser Abbildungen ist also unmöglich.
L. K. in Mhlhsn. Herr Wislicenus in Zürich wird sehr gern auf etwaige Anfragen wegen seiner Pension Auskunft ertheilen. So viel wir wissen beträgt das jährliche Honorar nicht über 200 Thaler.
Fr. Gß. in Amsterdam und Otto B… in Prag. Wie oft sollen wir wiederholen, daß Manuscripte von unaufnehmbaren Gedichten stets in den Papierkorb wandern. Wir bitten dringend, dies endlich zu beachten und uns nicht mit Reclamationen zu plagen.
Paul J–nickow in St. Petersburg. Bedauern, den gesandten Beitrag nicht acceptiren zu können. Die Gartenlaube bringt nur Originalartikel, keine Uebersetzungen. Wünschen Sie Ihr Manuscript zurück und auf welchem Wege?
G. H. in Prag. Ihre Erzählung: „die schwarzen Berge“, kann keine Aufnahme finden. Verfügen Sie gefälligst über Ihr Manuscript.
- Bei Ernst Keil in Leipzig ist erschienen und durch alle Buchhandlungen zu beziehen:
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Schultze-Delitzsch