Die Gartenlaube (1858)/Heft 34
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No. 34. | 1858. |
„Fabrikantenbrod“, – ein Blatt aus der „Krisis“, wir reichten es jüngst unsern Lesern dar.
„Meisterbrod“ bringen wir heute.
Und der Unterschied? Du kannst Dir ihn fast denken, – denn Fabrikanten treiben die Arbeit im Großen, Meister nur im Kleinen. Wisse noch mehr. In den meisten städtischen und gewerbsteuerlichen Katastern wird der Unterschied ziemlich streng genommen, denn der Fabrikant wird höher besteuert, als der Meister.
Fast in allen deutschen Tuchmacherstädten wird Jeder, der auf mehr als vier Stühlen arbeiten läßt, den Fabrikanten beigezählt, während Derjenige, welcher weniger als vier Stühle beschäftigt, nur als Tuchmachermeister gilt.
In dem „Blatte aus der Krisis“, welches wir jüngst gaben, hatten wir es mit Fabrikanten zu thun, – wir bewegten uns als Zuschauer in einem schon ziemlich bedeutenden Etablissement. Heute ist es anders, wir steigen tiefer, wir treten ein in die Stube eines kleinen Tuchmachermeisters, der nur auf zwei Stühlen arbeitet. Er lebt in Schlesien, in der Stadt H–. Viele Tausende solcher Kleinmeister gibt es ja in der deutschen Tuchmacherwelt. Und eben so viele und mehr noch arbeiten nur auf einem einzigen Stuhle.
Aber wie? Brach die „Krisis“ verderblich auch auf die Kleinen herein? Traf sie nicht ausschließlich die Großhändler, die Kaufleute, die bedeutenderen Fabrikanten? Zunächst allerdings. Aber die weitgreifenden Ereignisse, welche in der Handelswelt auftraten und nicht nur Amerika, sondern fast mehr noch Europa erschütterten, warfen ihre Folgen, als die Großen gestürzt waren, verderblich auch auf viele Tausende der Kleinen. Von ihnen melden freilich die Zeitungen nichts. Diese Kleinen sind keine Häuser, haben keine Firma, von großartigen Zahlungseinstellungen kann hier nicht die Rede sein. Sie haben keine Geschäfte mit dem fernen Auslande, stehen nicht in Verbindung mit Amerika; ihr Beutel reicht weder auf den Geld-, noch auf den Waarenmarkt, und so sind sie auch ausgeschlossen von der Wechselreiterei, Aufkauferei, Geldmacherei.
Wie viele Tausende aber von diesen Kleinen seufzen noch jetzt unter den Folgen der „Krisis“! Wie Unzählige fürchten noch diese Folgen und wehren sich gegen Verarmung, Noth, Spital!
Und das that und thut die „Krisis“? – Nicht anders.
Siehe da, eine Sommerlandschaft! Weinberge, Aehrenfelder, Obstgärten, Felder mit Erdfrüchten und Futterkräutern, Wiesen, Park und Blumenbeete: welch’ reifende Fülle, welch’ eine Aussicht auf Ernte und Gewinn!
Da verbirgt sich die Sonne, – der Donner rollt, ein Wetter zieht heran. Nicht lange – und das Wetter bricht los. Es ist nicht ein gewöhnlicher Regenfall, nicht ein gewöhnlicher Gewittersturm, – es ist ein gewaltiger Hagelschlag. Aus den gerissenen Wolkenschläuchen, die in fahlen Massen sich heranwälzten, fällt fußhoch der eisige Schutt. –
„Nur nicht verderben, nicht untergehen!“ sagte trübsinnig der Tuchmacher Friedel zu seiner jungen Frau. „So kommen wir nicht durch. Wir werden untergehen, – die theuere Wolle, – Gott, Gott, ich gab für den Centner achtzig Thaler! Die steckt nun in den Tuchen, – und die Tuche sinken täglich im Preise, – und die Wolle haben wir zum dritten Theil erst bezahlt, –“
Ein verdächtiger Husten unterbrach den blassen, etwa funfzig Jahre zählenden Mann. Seine Frau holte Topf und Tasse vom Ofen und schenkte ein.
„Quäle mich nicht mit dem Thee,“ wendete der Mann ein, als der Husten nachließ; „Thee hilft mir nicht, – vielleicht hilft Braunschweig, – nach vierzehn Tagen ist dort die Messe, ich will hin.“
„Warst ja nie zur Messe, lieber Mann, – und Dein Husten, – ach, laß doch Deine Sorge nicht zu groß wachsen.“
Diese Stimme klang so weich, so gut, so treu.
„Wächst doch die Sorge immer größer, wenn ich Dich ansehe, Lisette,“ entgegnete der Mann, an welchem der Harm zehrte. Es war nicht allein der Harm, der an ihm zehrte, – die Krankheit in den Lungen schritt schnell nur fort, weil der Harm mitzehrte.
„Sollst nicht ängstlich sorgen um mich. Ach, denke doch an Dich allein, an Dich! Bist Du gesund, werden wir ja Alles überwinden.“
Das klang wiederum so mild, so innig, so besorgt.
Was liegt doch in der Stimme eines tieffühlenden, theilnehmenden Weibes! Werde sie laut im Salon oder in der einfachen Tuchmacherstube: der Engel klingt durch.
Auch Meister Friedel spürte das. Er blickte dankend sein Weib an, – er lächelte, – er drückte ihm die Hand, – er sagte:
„Du gute Lisette! – und ja, ich will doch nach Braunschweig.“
Als müsse er zeigen, daß er noch Kraft dazu besitze, stand er auf und verließ den Tisch, an welchem er, ungefärbte Wolle sortirend, bis jetzt gesessen hatte.
Lisette schenkte noch einmal die Tasse voll. Wir wollen nicht [482] faseln von einer Göttin, von einer Hebe, von der hetrurischen Form der Theekanne. – Der blanke, blecherne Topf, den Lisette in der Hand hielt, war ein gewöhnliches Klempnerstück, – Lisette selbst keine Göttin, keine Hebe, – aber dennoch stand sie da in jugendlicher, voller Frauenschöne. – An Jahren zählte sie kaum halb so viel, als ihr Mann. Dieser hatte als Wittwer sie genommen. Der Wohlstand, welcher ihn damals – es war nun vier Jahre her – umgab, rückte merklich zusammen durch erlittenes Brandunglück. Das Häuschen war wohl wieder aufgebaut, aber belastet mit Hypotheken, und hatte Meister Friedel in alter Zeit drei, ja zuweilen vier Stühle beschäftigt, so arbeitete er jetzt weit geringer, – er selbst auf dem einen, der Geselle auf dem anderen Stuhle.
Während des Gespräches, welches Meister Friedel in diesem Augenblicke mit seiner Frau führte, arbeitete der Gesell auch wirklich. Das Klippklapp der „Tritte“, der taktmäßige Schlag der „Lade“, der rasselnde Flug des „Schützen“ ging von Hand und Fuß des Burschen aus, welcher hinter dem einen Stuhle saß. Der andere Wirkstuhl, der Stuhl des Meisters, stand nicht nur still, er stand auch leer, und eine Werfte war an ihm nicht „aufgebäumt.“
An diesen leeren Stuhl – kein günstiges Zeichen in einer Tuchmacherwerkstätte, welche nur zwei Stühle aufweist – lehnte sich jetzt der Meister und sagte:
„Lisette, wenn ich auch noch nie zur Messe ging, wenn ich auch draußen keine Kundschaft habe, ich muß es doch thun, muß fort, muß nach Braunschweig. Zeither hat sich’s wohl immer gemacht mit dem Verkauf im Hause und da war es besser, daß wir Kleinen nicht zur Messe gingen, – wir erhielten Spesen und Ungemach und Zeit. – Aber wie es jetzt steht, nein, nein! Bieten mir die Aufkäufer nicht einen Spottpreis? Gestern wieder weniger, als vorgestern. Freilich, freilich,“ seufzte er laut, „täglich wird nun die Wolle billiger, die übernatürlich hinaufgetrieben war, und das drückt täglich tiefer und tiefer die Tuche herab. Lieber Gott, wie wollen wir bestehen, da die Wolle, die jetzt in unsern Tuchen steckt, theuere, viel zu theuere Wolle war?“
„Und wird man in Braunschweig uns mehr zahlen, als uns im Hause der Aufkäufer zahlt?“ fragte sinnend die Meisterin.
„Ich hoffe es, Lisette. Wenigstens glückte es einigen meiner Mitmeister auf der Leipziger Neujahrsmesse, die doch im Ganzen so schlecht war. Im Hause hatte man ihnen vier Groschen weniger für die Elle geboten, als sie dann auf der Messe erhielten. Freilich ist es mit Glückssache. Aber man muß es wagen, – ’s trägt bei achtzehn Stück, die ich nun daliegen habe, gar zu viel aus. Lieber Gott, verloren wird diesmal noch immer, auch wenn wir leidlich verkaufen.“
„Gut, so werde ich reisen, ich will nach Braunschweig,“ erklärte die Meisterin. „Du bleibst daheim, Du pflegst Dich, Du wirst gesund, Dich laß ich nicht reisen in dieser Winterzeit.“
„Gute Frau, die Du bist! Du hinaus, Du, wie würde mich’s dauern! – aber wenn ich nicht könnte, zu verrichten wär’s wohl auch von Dir –“
Da hörte das Klippklapp auf hinter dem Stuhle. Es erklangen die Worte:
„Zu verrichten wär’s auch wohl von mir!“
Und hervor trat der Gesell, Bernhard, genannt der „Glogauer“, weil er aus Glogau war.
„Meister, Sie werden doch die Frau Meisterin nicht reisen lassen? Schicken Sie mich nach Braunschweig,“ sprach der junge, kräftige Bursche, und es war schwer zu entscheiden, ob in diesen Worten mehr Bitte oder Befehl oder Mitleid lag. Er spielte mit seinem vollen, tief schwarzen Barte und sah nur den Meister an. Der Meister sah nach dem Fenster hin und am Fenster vorbei ging eine wohlhabende Bürgerstochter. Dieselbe ging wöchentlich einige Male da vorbei und blickte hinein nach dem einen Webstuhle in der Tuchmacherstube.
„Gucken Sie, Glogauer, gucken Sie, da geht Auguste wieder! Haben Sie denn durchaus nicht Lust? Greifen Sie zu, dann werden Sie kein armer Tuchmacher, werden kein Kleiner, kein Placker sein, wie ich es bin,“ mahnte der Meister.
„Ich habe nichts mit dem Mädchen,“ entgegnete der Gesell und fuhr mit der Hand rasch von dem Barte herab und steckte sie in die Tasche der reinlichen Arbeitsjacke. Schnell drehte er sich um und schritt dem Wirkstuhle zu.
„Glogauer, wenn Sie nach Braunschweig wollen, ich hätte nichts dagegen,“ rief der Meister ihm nach.
„Wir danken schön, Bernhard, wir danken für Ihren guten Willen,“ entschied freundlich die Meisterin, „nach Braunschweig gehe ich selbst. Die Leute hier würden sich ja wundern, – Bernhard, Sie sind wohl ein braver Gesell, aber doch unser Gesell, Sie können nicht für uns zur Messe gehen.“
Der Gesell griff hoch in den „Garnbaum“ seines Stuhles. Das konnte nöthig oder nicht nöthig sein, – aber das Angesicht wurde dabei von der Werfte doch bedeckt. – Gegen den Ausspruch der Meisterin sagte er kein Wort.
Aber die junge Meisterin trat einen Schritt näher zum Gestühl.
„Bernhard,“ sprach sie, „Sie haben uns ohnedies immer beigestanden in unserm Hauswesen, – und wenn Sie das thun wollen auch während meiner Abwesenheit, so würden wir’s dankbar annehmen.“
„Das thut er, daß thut er, Lisette,“ fiel der Meister ein, „da trage nicht Sorge! Nicht wahr, lieber Glogauer?“
„Gewiß, gewiß!“ antwortete dieser und schnellte nun den „Schützen“ durch die Werfte und schlug mit der „Lade“ so eifrig, als wolle er die Zurückweisung verschmerzen oder doch das Gespräch durch das rasche Arbeiten unterbrechen.
Letzteres gelang ihm auch. Die Meistersleute gingen an den Wolltisch. Die Frau half dem Manne beim Sortiren, und der Mann theilte seiner Frau nun Nöthiges mit in Bezug auf die Braunschweiger Messe. Oefters wurde er dabei wieder bedenklich, – er wollte sie in der Winterzeit nicht hinauslassen, – trug auch noch andere Sorgen, wollte es sich noch länger überlegen und wiederholte bittend:
„Gute Lisette, bleibe Du lieber da.“
So oft aber der Meister eine solche Aeußerung that, ging hinter dem Stuhle das Klippklapp langsamer, hörte auch ganz auf, – der Gesell hatte da immer einen Faden zu knüpfen, oder er machte sich zu schaffen am „Garnbaume“ oder an den „Tritten“, – und da ward es still einige Secunden lang und noch länger.
Auch jetzt war es still, – der Meister rieth wieder zum Dableiben.
Da klopfte es an die Thür.
„Das wird Wurm sein, der Wolljude aus Breslau,“ sagte still und wie erschrocken der Gesell vor sich hin.
„Herein!“ rief der Meister.
Nicht ein Breslauer Wolljude, der Arzt trat ein.
Einige Fragen, – einige Mittheilungen, – und der Gesell konnte nun fortarbeiten, brauchte nicht mehr zu pausiren, nicht mehr Fäden zu knüpfen oder am Garnbaume zu drehen. Die Sache war entschieden, – der Arzt ließ den Meister nicht reisen, der Meister aber ließ der Meisterin den Willen, weil der Arzt diesen Willen sehr vernünftig fand.
„Also wirst Du zur Messe gehen,“ sagte der Meister, als der Arzt sich entfernt hatte. „Nun die Tuche, die Tuche, die achtzehn Stück, Lisette! Laß uns rechnen.“
Aus dem Wolltische nahm er Kreide, – aus dem Wandschranke holte sie ein Buch herbei.
„Gut so, gut, liebe Lisette,“ fuhr er fort, „nun erstens die Wolle.“
Die Meisterin sagte an, – und der Meister schrieb mit der Kreide und seufzte.
„Zweitens: die Farbe,“ sprach er dann weiter, „drittens: die Spinnerei, – viertens: die Walke und Appretur, – fünftens: Gesellenlohn – –“
Und die Meisterin sagte an, – und der Meister schrieb, – schrieb mit zitternder Hand.
Das Exempel stand kreideweiß auf dem Wolltische, – kreideweiß spiegelte sich’s ab auf dem Angesichte des Meisters.
Auch die Meisterin erschrak, als sie das Facit der Ziffern und Zahlen übersah, welche sie angesagt hatte aus dem Buche. Sie hielt die Hand vor die Augen und sagte:
„Lieber Mann, wir wollen den Muth nicht verlieren.“
Nun war es still, – ganz still auch hinter dem Wirkstuhle. Die Werfte und der Einschlag ruhten, – es schien, als wolle der Augenblick an der Schicksalswerfte dieser drei Menschen arbeiten.
Hervor trat der Gesell, – er schritt an den Wolltisch, – er löschte das Wort: „Gesellenlohn“ weg, – rasch auch die Zahl der Thaler, welche hinter dem Worte stand. – Er sah nur den Meister [483] an, aber er sprach, wie die Meisterin eben gesprochen, denn er sagte:
„Lieber Meister, wir wollen den Muth nicht verlieren.“
In die Augen des Meisters drängten sich Thränen, – die Meisterin hielt noch immer die Hand vor ihre Augen, – sie drückte sie fester vor dieselben, – dann sagte sie ruhig und bestimmt:
„Das können wir nicht annehmen.“
„Das ist zu viel,“ setzte der Meister hinzu, „zweiundzwanzig Thaler, – lieber Glogauer, –“
„Und wären es auch nur zwei, – wir könnten sie nicht annehmen,“ erklärte so ruhig, aber noch bestimmter, wie vorhin, die Meisterin.
„Wenn sich’s um Gesellenlohn handelt,“ sprach bittend der Arbeiter, ohne die Meisterin anzublicken, „dann ist es Sache zwischen Meister und Gesellen; – der Meister zahlt den Lohn.“
Die Thür ward geöffnet. Die Meisterin wendete sich und bedeutete den fremden Mann, der den Kopf hereinsteckte:
„Schon gut, – gehen Sie nur hinter an den Stall, – ich komme schon.“
Schnell nahm sie die Kreide und erneuerte auf der durchwischten Stelle: „Gesellenlohn 22 Thlr.“ – Dann verließ sie die Stube.
„Der Fleischer wird draußen sein, wird um das Schwein handeln,“ bemerkte der Meister; „haben’s aufgezogen und gepflegt seit dem Sommer, – wollten’s bald schlachten für uns, – nun muß es fort.“
„Auch ich will bald fort, lieber Meister, – kommt bessere Zeit, komme ich wohl wieder,“ sagte theilnehmend der Gesell. „Ich sehe hier das Exempel, das Sie schrieben, – und denke ich an den geringen Wollvorrath, den Sie noch auf dem Boden haben, –“
„Glogauer, guter Glogauer,“ fiel erschrocken der Meister ein, „thun Sie das nicht! Bleiben Sie wenigstens bei mir, so lange mein kleiner Vorrath an Wolle reicht. Und äußern Sie nichts gegen meine Frau, nichts davon, daß Sie fort wollen.“
„Nichts, nichts, wenn Sie nichts äußern, daß wir hierin einig sind,“ antwortete der Gesell und wischte von Neuem jenen Ansatz: „Gesellenlohn“ weg. „Sind wir einig hierin?“
„Wir sind’s, mein guter Glogauer, wir sind’s!“ versicherte Meister Friedel mit thränenfeuchtem Blick. „Sie schweigen, Glogauer, und ich schweige!“
Sie schüttelten sich die Hände.
Der Gesell wollte wieder hinter den Stuhl, an seine Arbeit, aber der Meister ließ ihm die Hand nicht los, sondern fragte:
„Wie stimmt das zusammen, Glogauer? Vorhin mahnten Sie: wir möchten den Muth nicht verlieren, – dabei meinten Sie sich doch selbst mit, – und bald darauf redeten Sie davon, daß Sie fort wollten?“
„Als ich vom Muth sprach, hatte ich noch nicht über jenes Kreideexempel nachgedacht.“
„O, lieber Gott, lieber Gott!“ klagte Friedel, „und denke ich an die Hypothek, die auf meinem Hause lastet, – was würde mir bleiben, wenn ich –“
Die Meisterin trat ein. Der Gesell ging schnell an seine Arbeit, der Meister löschte das ganze Exempel weg und setzte sich und sortirte Wolle.
„Machte sich der Handel?“ fragte er.
„Noch nicht ganz, lieber Mann,“ antwortete freundlich die Meisterin, „aber ich bin zufrieden mit der Aussicht, ich verlangte dreißig Thaler und der Fleischer ist hinaufgegangen bis auf achtundzwanzig.“
Da zuckte ein Freudenstrahl über des Mannes Stirn. Er dachte an des Glogauers zweiundzwanzig, – er addirte dazu die angekündigten dreißig, – bald aber sagte er betrübt vor sich hin:
„Das ist ja noch lange keine Rettung.“
Und betrübter noch wurde er; denn die Frau trat zu ihm und theilte nach und nach und schonend ihm mit, daß der Wolljude Wurm in der Stadt sei.
Gar schwer drückte diese Nachricht, welche der Fleischer mitgebracht hatte, auch auf der Meisterin Herz. Aber dennoch erschien sie äußerlich ruhig und gefaßt, – nur des Mannes wegen.
Sorgenvoller blickte ihr Auge nach dem Gesellen hin, – durch ihre Stimme zitterte es wie Tadel und Vorwurf, als sie sagte:
„Sie waren doch am gestrigen Abend auf dem Rathskeller, – dort logirt ja der Jude Wurm, – gewiß sahen Sie ihn, – Bernhard, Sie schwiegen davon?“
Der Gesell erröthete, und schwieg auch jetzt. Schneller und schneller ließ er den Schützen durch die Werfte fliegen, – wie träumend sah er nach der Decke, – wie Thränenglanz leuchtete es in seinen Augen.
„Lieber Gott, der Wollwurm, da kommt er!“ seufzte der Meister, während ihn zugleich der verdächtige Husten ergriff.
„Der Wollwurm!“ rief der Gesell.
Die Meisterin wendete sich ab, und eilte erschrocken nach dem Fenster, – der Gesell warf den Schützen bei Seite, dann stürzte er rasch zur Stube hinaus, – der Meister saß am Wolltische und hustete. Es schien, als habe Jeder nur mit sich zu thun, – und doch war es eigentlich nur ein zündender Funke, der in den Brennstoff der Gedanken Aller fiel, – die Gewißheit: der Wolljude kommt!
Und er kam, – er klopfte an die Thür. Der Meister hustete, er konnte nicht „herein!“ rufen. Die Meisterin wollte nicht rufen, – sie griff, als es klopfte, nach der Klinke, öffnete, trat hinaus.
Da steht sie nun vor dem Juden, die junge, schöne Frau. – Wie ganz anders steht sie, als sie drinnen stand in der Stube. Gebeugt ist ihre schlanke Gestalt, der Kopf gesenkt, so daß die vollen, dunklen Haarflechten hereinfallen bis zur Hälfte des Gesichts. Und über das Gesicht hin zuckt die Schrift, die jeder gute Mensch versteht, die Schrift der Bekümmerniß, und in den Augen das Kind der Bekümmerniß, der feuchte, schöne Glanz, der nahe daran ist, das Auge mit großen Tropfen zu füllen.
So steht sie, – und nach einigen Secunden spricht sie:
„Herr Wurm, mein armer Mann ist krank, – der Wechsel, der nach einigen Tagen zahlbar wird, – achtzehn Stück Tuche liegen da, – warten Sie, Herr Wurm, bis diese verkauft sind, – sein Sie nicht hart, – der Mann ist krank vor Sorge und Harm.“
„Werde doch hören den bösen Husten! Und muß ich gelten immer als hart?“ entgegnete Wurm.
„O, das wollte ich nicht sagen, Herr Wurm,“ sprach erschrocken und mit leiser Stimme die Meisterin, und nahm des Juden Hand, – „habe ich das gesagt?“
„Ob gesagt, ob nicht gesagt – soll ich’s untersuchen bei der hübschen jungen Frau?“ lächelte Wurm, indem er die zitternde Hand der Meisterin drückte.
Aber plötzlich verschwand sein Lächeln, er ließ die Hand der Meisterin los, er griff nach der Thürklinke. Ehe er letztere niederdrückte, sprach er gereizt:
„Schon gehört von dem Rathskeller? – gesagt, gesagt, getrompetet haben dort die Leute, daß ich sei hart, – daß ich ruinire die Tuchmacher, die Schuhmacher,“ –
Er drückte die Klinke, er trat in die Stube, er grüßte den Meister, er las in dem harmvollen Angesicht desselben, – las fort und fort, obgleich er dabei sprach: „Pleite, Pleite, – miserable Zeit! – Warum haben gestichelt die Leute auf mich? Sollten doch sticheln auf die Krisis, welche schier nun ruinirt auch die Tuchmacher und Schuhmacher, weil sie haben gekauft theure Wolle und theures Leder. – Hab’ ich’s gemacht theuer, hab’ ich’s gemacht wohlfeil? Hat’s nicht gemacht die Krisis in Wolle und Leder und allen Artikeln, mit welchen handelt der Mensch in Europa und Amerika? Wer hat gemacht die miserable Zeit, wo nirgends sich zeigt eine Nachfrage und überall wimmelt das Angebot, – Angebot im Großen und im Kleinen, in allen Artikeln? Soll ich tragen die Schuld, daß die Rohartikel standen so hoch im Preis, und die fertige Waare nun steht so niedrig im Preis? Schaff ich’s daß man die fertige Waare nicht begehrt, nicht haben will, selbst zu einem Spottpreis? – Unverstand, miserabler Unverstand, wenn die Leute auf dem Rathskeller sticheln nach mir, da ich doch nicht handle mit etwas Anderem, als mit einem Bischen von Wolle und Leder. Wir haben’s zu thun mit einander in Wolle, Herr Friedel,“ fuhr er jetzt ruhiger fort, indem er die Brieftasche öffnete, und einen Wechsel herausnahm, den er dem Meister vorzeigte.
„Fünfhundert und zwanzig Thaler,“ las laut aber mit angstvollem Ausdruck der Meister, während die Meisterin den großen Wandschrank aufschloß.
„Und hier sind die achtzehn Stück Tuche, von denen ich vorhin sprach,“ erinnerte ruhig die Meisterin, und deutete auf den geöffneten Schrank.
[484] „Schon abgemacht Alles? schon glatt und rund Alles?“ fragte der Jude nach dem geöffneten Schrank hin.
„Nein, Herr Wurm,“ antwortete die Meisterin, „wir haben noch die Spinnlöhne und andere Auslagen zu decken.“
„Lieber Gott,“ sprach ängstlich der Meister, als er sah, daß der Jude die Achseln zuckte, „wenn Sie nun Tuche nähmen, wenn Sie mir abkauften, Herr Wurm, – ich kann den Wechsel nicht mit Geld – Geld wird erst, wenn ich die Tuche absetze.“
„Hab’ schon gehört in der Stadt, was man that für ein Gebot auf ihre Waare, – ich weiß auch, daß sie gut ist, Ihre Waare, – könnte aber dennoch so viel nicht geben, als man schon bot auf die Waare. So dürfte es sein das Beste, wir machten kein Geschäft, – müßte Sie drücken, Herr Friedel, – drücken, selbst wenn ich nicht haben wollte einen kleinen Profit, – überall Angebot, nirgends Begehr, – aber nicht streng will ich sein mit dem Wechsel, will warten nicht heute nur und morgen, – will in Geduld stehen zwei Monate lang, Herr Friedel.“
„O Gott, lieber Gott, meinen Dank!“ rief der Meister.
„Unsern Dank, – o wir werden ja ehrlich bezahlen!“ sprach gerührt die Meisterin, und ging hin und gab dem Juden die Hand.
„Müssen eigentlich danken nicht mir,“ antwortete Wurm, „müssen danken Ihrem Tuchknappen, Ihrem Glogauer, – wird erzählt haben schon von dem Rathskeller, – und wo ist der brave Knapp, der brave Tuchknapp? Hat er erzählt gar nichts davon? So will ich erzählen.“
Der brave Tuchknapp aber befand sich arbeitend oben in der Wollkammer. Wir wissen, daß er schnell die Stube verließ, als der Jude sich zeigte. Da war er denn zuerst hinter gelaufen in den Hof, hatte Holz geordnet für die Meisterin, hatte den Hof gesäubert, das Schwein gefüttert, dann sich hinaufbegeben in die Kammer, wo noch einige Stein Wolle lagen, – der letzte dürftige Rest von dem letzten theuern Einkauf. – Die Arbeit in der Kammer war keine drängende, aber der Gesell wollte dem Juden ausweichen, wollte nicht zugegen sein, wenn derselbe den Wechsel präsentiren würde.
Braver Bursche, es wäre besser für Dich gewesen, wenn Du unten geblieben. Du hast Deine Sorge, Deine Angst ja mit hinaufgenommen in die dürftige Kammer, – Du sagst Dir, Du weißt es, der Jude wird keine Nachsicht üben, wird und will nicht in Geduld stehen. Hast Du ihn doch begrüßt darum, gebeten darum, innigst mit Deinem ganzen Herzen gebeten gestern, als Du seiner Dich annahmst auf dem Rathskeller, wo Viele durch Witz und zweideutige Reden ihn ins Gedränge brachten. Sprachst Du doch für den Mann mit Wärme, mit Kraft, mit voller Jünglingswürde. Brachtest Du seine Feinde doch zum Schweigen. – Und als Dich dann der Jude in einen stillen Winkel zog und Dir dankte, und Dir ein Goldstück in die Hand schob, und Du das Goldstück nicht annahmest, sondern Deine Bitte, Deine innigste Bitte für den Meister vorbrachtest, – – – guter, braver Bursche, das Alles geht jetzt durch Deine Seele, – der Jude schlug Deine Bitte Dir ab. – Du hast geschwiegen von Allem gegen Meister und Meisterin, – ach wie gern hättest Du erzählt, hättest Du Tröstliches ihnen mittheilen können! Du bist geflohen, als der Jude vorhin in die Nähe des Hauses kam. Wie gern wärest Du unten geblieben, wäre der Mann am gestrigen Abend nicht unerbittlich geblieben in dem stillen Winkel auf dem Rathskeller! – Gesell, wir wollen nicht mit Dir rechten, daß das Leid, welches Deine Seele füllt, auch durchflammt wird von Bitterkeit und Zorn.
Deine Arbeit in der dürftigen Wollkammer ist gethan. Du stehst – Du sinnst – Du greifst in Deinen tiefschwarzen Bart, – blickst düster auf das Häuflein schneeweißer Wolle.
Da ruft es unten aus dem Hausflur nach der Treppe hinauf:
„Bernhard, kommen Sie doch herunter!“
Hörst Du es nicht? – Ach, Du hörst es, Du kennst die Stimme, – Dein Gesicht wird roth, – einen Schritt thust Du vorwärts, dann trittst Du wieder zurück an das Häuflein Wolle, – Du bleibst. –
Zwei Minuten kaum, da ruft es wieder: „Glogauer, kommen Sie doch herunter!“
Du kennst die Stimme, würdest sie kennen auch wenn sie nicht begleitet wäre von einem Hüsteln.
Da sprichst Du: „Der Jude wird fort sein.“
Und Du gehst nun.
Der Jude aber war noch da.
Als der Gesell in den Hausflur gelangte, traf er auf den Juden und die Meistersleute zugleich. Der Jude aber öffnete die Stubenthür, und schickte die Meistersleute hinein, zog ein Goldstück aus dem Beutel und sagte: „Zuerst das hier, nehmen Sie, will nicht bleiben in Schulden!“
Der Gesell sah den Juden nicht an, drängte die Hand, die das Goldstück hielt, zurück, sagte keinen Gruß, kein Wort, – wollte nach der Thür.
Der Jude vertrat ihm den Weg.
„Herr Glogauer,“ hob er an, „hab’ Alles gefunden, wie Sie’s beschrieben auf dem Rathskeller, – hab’ daher erfüllt Ihre Bitte, – werde in Geduld stehen zwei Monate – bis die achtzehn Tuche verkauft sind, – kann ich mehr?“
„O, ist das wahr, ist’s wahr, Herr Wurm?“ rief laut und freudig und sich selbst vergessend der Gesell.
Und drinnen in der Stube klopfte ein Finger an die Thür, und zwei Stimmen antworteten zugleich: „Ja, es ist wahr!“
„Werde ich machen eine Lüge, eine Lüge gegen Sie?“ versetzte der Jude. „Haben Sie mir nicht geholfen auf dem Rathskeller, und müssen wir uns nicht gegenseitig helfen in der Krisis?“
Da warf sich der Gesell an des Juden Brust. Leise dankte er ihm, leise versprach er, ihm zu dienen, wie und wo er nur könne. Dann zog er ihn ein Stück weg von der Thür, hin an die entgegengesetzte Wand, und fragte ihn leise wie vorher, ob die Meistersleute ihm gesagt, daß die Frau nach Braunschweig wolle zur Messe, ob dort Absatz und höhere Zahlung zu erwarten, – was überhaupt für den Meister zu thun sei.
Der Jude sprach nun ebenfalls still. Er theilte ihm mit, daß die Meistersleule mit ihm geredet über den Besuch der Braunschweiger Messe, und wie er das billige und der Meisterin einige gute Adressen für diesen Meßplatz gegeben habe, – wie er aber für günstige Erfolge in der gegenwärtigen Zeit nicht stehen könne, – wie Alles bei solch einem Versuch auf’s Glück ankomme.
„Und was ist für Meister Friedel überhaupt zu thun? Was würden Sie thun, Herr Wurm, wenn Sie in des Meisters Lage sich befänden? Geben Sie mir guten Rath, Sie sind ein erfahrener Geschäftsmann, Herr Wurm. Kann die Meisterin etwas thun? Kann ich etwas thun? Was soll geschehen, wenn es in Braunschweig fehlschlägt? Ich dachte im Stillen schon an Frankfurt, denn einige Wochen nach Braunschweig ist Messe in Frankfurt an der Oder, – ließe sich dort nichts schaffen, Herr Wurm?“
Als der Gesell so gesprochen und gefragt, lächelte der Jude vor sich hin, und wiegte langsam den Oberkörper, ohne etwas zu erwidern.
„Also nichts mit Frankfurt?“ fragte der Gesell.
„Ist nichts zu machen in Braunschweig, wird noch weniger sein zu machen in Frankfurt,“ erklärte nun Wurm.
„Und was da zu thun? Wissen Sie nichts, Herr Wurm?“ drängte Jener. „Sie lächeln und geben doch keinen Rath, – wissen Sie keinen?“
„Wissen, wissen,“ entgegnete der Jude, „wenn ich überlegte, wie Alles steht, warum sollt’ ich nicht wissen? – Und wenn Sie nicht wären zu jung und zu brav, – aber weil Sie brav, brav, haben Sie mich ja geschützt gestern auf dem Rathskeller, und das war schön, – also nicht gestrichen werden, nicht wegbleiben soll das Brav, – doch sind Sie zu wenig Geschäftsmann noch, wissen noch nicht, daß man kann sein brav und doch auch Geschäftsmann, – also wenn Sie nicht wären zu jung und zu wenig braver Geschäftsmann, würde ich rathen –“
„So rathen Sie, Herr Wurm!“ bat der Gesell, „bin ich doch nicht zu jung, nicht zu wenig Geschäftsmann!“
„Wenn Sie mir versprechen, zu handeln brav gegen mich, wenn Sie sorgen dafür, daß bezahlt wird mein Wechsel, bezahlt unter allen Umständen.“
„Das verspreche ich! Dafür will ich sorgen!“ versicherte der Gesell, und gab dem Juden ehrlichen Handschlag.
Shakespeare.
Die wahren Dichter werden immer seltener in dieser Zeit, deren Industrie alle Poesie zu ertödten droht. Das materielle Interesse ist die eherne Achse, um welche das Rad unseres gegenwärtigen Lebens in fieberhafter Hast sich dreht. Jagen nach Erwerb und Gewinn, Ueberfluß auf der einen, Verarmung auf der anderen Seite, schroffe Gegensätze, die ohne Ausgleichung nebeneinander liegen und sich reiben, und die drückend auf Allem lastende Schwüle unserer Zustände lähmen die Begeisterung der Schaffenden, die Empfänglichkeit der Genießenden. Der unermüdlich rechnende Verstand richtet das Herz zu Grunde, die Zahl mordet das Gefühl, Courszettel und Getreidepreise lassen für Verse wenig Papier übrig. Der Dichter ist der Sohn seiner Zeit, er sinkt jetzt zu ihrem Sclaven herab. Auch die heutige Literatur, mit wenig ehrenvollen Ausnahmen, ist nur ein Zweiggeschäft der allgemeinen großen Speculation geworden: der Schriftsteller genügt mit seinem Werke nicht mehr dem eigenen Drange, er gibt vielmehr sich dazu her, das flüchtige Bedürfniß der Menge zu befriedigen, ihre wechselnden und verkehrten Launen zu kitzeln. Bücher sind Waare für den, der sie verhandelt, der sie kauft, und leider auch für den, der sie schreibt, die, wie jede andere, zum höchsten Preise und in größter Masse an den Mann gebracht werden soll. Daher kommt es, daß auch in der Literatur die Ankündigung eine Macht geworden, daß häufig sie allein die großen Männer schafft. Unwillkürlich ergibt sich der Vergleich mit jenen Thierbuden, die durch abenteuerlich riesenhafte Aushängebilder, durch Trompetenstöße und Beckenschlagen das sie umfluthende Gewühl des Jahrmarktes einen Augenblick zu fesseln trachten, aber – die Löwen sind einzig auf der Leinwand, und innen erblickt man nur die herkömmlichen Affen und Papageien.
Wie tief und wie gerecht ist unter solchen Verhältnissen der Schmerz bei dem Verluste eines wahren Dichters, eines Dichters von Beruf und Begeisterung, dem die Poesie die ernste und heilige Aufgabe seines Lebens, dessen Stellung keine gemachte, sondern der tief in dem Herzen seines Volkes wurzelt, das immer noch sich aufthut, wenn am rechten Flecke angeklopft wird. Ein solcher Dichter aber war Adolf Schults, der in der Frühstunde des 2. April zu Elberfeld verschied und dessen Tod wir bereits kurz angezeigt. Er war ein deutscher Dichter im weitesten Umfange dieser Worte, und mithin auch – ein unglücklicher Mensch, der, von peinlicher Lage gedrückt, mit seinem äußeren Berufe entzweit, im Liede die Versöhnung seines Daseins fand, dem „Singen ein Segen war.“ Mitten in einem der geräuschvollsten Feldlager der Industrie, als deren Tagelöhner er mit Widerstreben das kärgliche Brod für sich und die Seinen erringen mußte, unter dem Schwirren und Sausen der Maschinen, zwischen dem strotzenden Reichthume der Fabrikherrn und den bleichen Gesichtern der Arbeiter dichtete er seine köstlichen Lieder, in denen jede rein menschliche Empfindung den natürlichsten und ergreifendsten Ausdruck findet. Es ist eine eben so bezeichnende als erfreuliche Erscheinung, daß gerade im Wupperthale, dem Sitze einer großartigen und blühenden Handels-Thätigkeit, zugleich aber auch dem Heerde jenes nüchternen, hohlen Pietismus, dieser gespenstischen Verzerrung des Glaubens, mit welcher unsere Zeit über ihre Armuth an wahrem und lebendigem Glauben sich selbst zu täuschen bemüht ist, also gleichsam „zwischen Himmel und Erde“ ein stattlich Fähnlein wackerer Sänger die frischen Weisen keck erschallen läßt. Leider betrauert die edle Zunft jetzt in Adolf Schults den begabtesten und bekanntesten ihrer Meister.
[486] Geboren ward er am 20. Juni 1820 zu Elberfeld in einem kleinen, dem Geräusche der Stadt fernab gelegenen Häuschen. Sein Vater, Peter Schults, Seidenweber und später Werkführer in der Fabrik von Joh. Simons’ Erben, war ein schlichter Mann von schroffer Rechtschaffenheit und strengster kirchlicher Richtung; seine Mutter, eine Französin, die durch die Kriege der Republik zur armen Waise geworden, hatte das lebhafte, leicht erregbare Temperament ihres Volkes und zugleich eine den Stand ihres Mannes weit überragende Bildung. Wie in dem Charakter und dem Gemüthe eines jeden Dichters eine gewisse Weiblichkeit unerläßlich, und wie jeder Dichter diesen Theil seines Wesens von seiner Mutter überkommt, so auch bei Schults, dessen Empfänglichkeit, Weichheit und Reizbarkeit sein mütterliches Erbe. Die engen Räume reichten bald zum Tummelplatze vier munterer Knaben nicht mehr aus und der alte Schults bezog mit seiner Familie eine größere Wohnung, die, zwischen Gärten gelegen, von Wald und Bergen fern begrenzt, das aufknospende Dichtergemüth in unmittelbare Berührung mit der Natur brachte, deren Verständniß sich ihm bald auf’s Innigste erschloß und mit der er sein ganzes Leben lang in ununterbrochenem Verkehr geblieben, sowie eine tiefe Sehnsucht nach jenem grünumlaubten Paradiese seiner Kindheit ihn nie verlassen. In dieser fast ländlichen Zurückgezogenheit entwickelte sich aber auch jene Schüchternheit, die Schults nie überwunden, die ihn stets von der Welt fern gehalten, und die Ursache war, daß er der Realschule seiner Vaterstadt, in der er seine weitere Ausbildung erhalten sollte, gleich am ersten Tage entlief und trotz aller Vorstellungen nicht wieder zurückkehrte. So hat er seinen eigentlichen Unterricht nur in einer Elementarschule erhalten; Bibel und Gesangbuch, die ganze Bibliothek des väterlichen Hauses, waren seine ersten Bücher, seine ersten praktischen Versuche Nachbildungen alter Kirchenlieder. Obwohl schon früh der rege Geist und die ungewöhnliche Begabung des Knaben sich offenbart, rieth gerade der einzige Mann, der um deswillen Theilnahme ihm geschenkt, ein Prediger des Thales, davon ab, ihn studiren zu lassen, und so mußte er in seinem vierzehnten Jahre als Handlungslehrling in dem Hause eintreten, wo sein Vater Werkführer war, und hat – wie ein Freund, dessen Güte wir diese Notizen verdanken,[1] schreibt, – „von dieser Zeit an bis an sein Ende mindestens neun Stunden des Tages mit Abneigung und Ueberwindung als Comptoirist gearbeitet,“ zugleich aber auch mit Fleiß und Pünktlichkeit, denn er war ein Mann und füllte seinen Beruf, wenn auch mit Widerstreben, doch tüchtig aus. Seine einzige freie Zeit, die späten Stunden des Abends und der Nacht, opferte er dem rastlosen Drange, sich auszubilden; mit eisernem Fleiß und unerschütterlichem Muthe verfolgt er sein Ziel; sein eigener Lehrer und Schüler verdankt er Alles, was er geworden, sich selbst. In dieser Zeit entstanden auch seine frühesten Lieder, von denen Lewald’s „Europa“ im Jahrgang 1837 die ersten veröffentlichte. Einer anderen Nachricht zufolge soll das „Negerschiff“ das zuerst, und zwar in der „Didaskalia“, gedruckte seiner Gedichte sein. Gleiches Streben und ähnliches Loos führten ihm einen Freund zu, der bis zum letzten Augenblicke treu an seiner Seite blieb: Friedrich Röber, durch mehrere dramatische Dichtungen underdeß bekannt geworden.
Bald auch trat ein wichtiges Moment, eines der einflußreichsten in dem Leben eines Dichters, in das seinige: die Liebe. Sein vereinsamtes, im glühenden Drange wesenloser Gefühle überquellendes Herz suchte und fand den Gegenstand seiner unbestimmten Sehnsucht, die Verwirklichung seiner Träume in einem Mädchen, das häufig des Dichters Eltern besuchte, zugleich die erste und einzige weibliche Erscheinung, die diesem in seiner Zurückgezogenheit näher trat. Von ihrem Bilde erfüllt, wanderte er hinaus auf einen Waldhügel mit herrlicher Aussicht über das ganze Wupperthal, auf dem er zu träumen und zu dichten liebte. Dieser Minnefrühling war die letzte sonnenhelle Zeit seines Lebens, ein flüchtiger Kuß, den das Glück auf des Dichters Stirne hauchte. Der Sommer 1843 vereinigte ihn mit der Geliebten, die, obgleich acht Jahre älter und an Bildung unter ihm stehend, mit unermüdlicher Aufopferung, mit selbstlosester Hingebung sein Schicksal theilte, sein Trost und seine Stütze, und die er mit unverminderter Zärtlichkeit bis zur letzten Stunde geliebt, um so wärmer, je höher er sie achten und ihren Werth erkennen lernte. Mit seinem Herzblut ist das schöne Lied geschrieben: „O, mein Weib, wie hat das Leben Deine Bürde schwer gemacht!“ Und sie war schwer, für Beide! Gleich nach dem schönsten Tage ihres Lebens begann die Reihe der trüben. Mißhelligkeiten veranlaßten ihn, aus dem Geschäft, in dem er bis dahin gearbeitet, auszutreten. Damit kam ihm der Gedanke, des verhaßten Berufes sich gänzlich zu entledigen und den Weg einzuschlagen, den Neigung und Talent ihm anzuweisen schienen. Er redigirte eine Zeitlang stellvertretend die Barmer Zeitung, correspondirte für auswärtige Blätter, ohne jedoch bei dieser rein literarischen Beschäftigung ausreichendes Brod und innere Befriedigung zu finden. Die ihm angebotene Stellung eines Unterbeamten bei einer Eisenbahn widerte ihn noch mehr an, als seine bisherige kaufmännische, und so kehrte er verstimmter denn je auf das Comptoir zurück, dem er nun einmal verfallen war. Zu diesen Leiden der Seele gesellten sich auch noch körperliche: er stürzte bei einer Kahnfahrt in’s Wasser und war seit dieser Zeit mit peinlichen Kopfbeschwerden behaftet. Die nervöse Reizbarkeit des Hypochonders übertrieb in krankhafter Einbildung die Bedeutung dieses Uebels, das allerdings durch seine sitzende Lebensweise noch vermehrt wurde, er wähnte sich unrettbar. Eine im Sommer 1845 nach Homburg unternommene Badereise besserte nichts, da er seinen dortigen Aufenthalt weit über das Bedürfniß abkürzte: er fühlte sich in der Fremde noch unglücklicher, als zu Hause. Am Tage der Rückkehr starb sein Vater, den er mit glühender Verehrung geliebt und dem er blutende Lieder nachweinte. Diese allgemeine körperliche und geistige Verstimmung lähmte auch die schaffende Kraft des Dichters. Die „Blumenlieder“ hatten zuerst seinen Namene in weiteren Kreisen zur Geltung gebracht, dagegen entsprach der Erfolg seiner gesammelten Gedichte, die in erster Auflage bei Baensch in Magdeburg erschienen, seiner vielleicht etwas zu hoch gespannten Erwartung nicht ganz. Er wurde auch nach dieser Seite hin mißmuthig und verbittert und schwieg mehrere Jahre, bis erst gegen Ende 1846 mit einigen im Cotta’schen Morgenblatte abgedruckten Artikeln seine geistige Thätigkeit einen neuen Anlauf nahm. Das Jahr 1848, obschon es den unterdeß Familienvater gewordenen Schults eine Zeit lang außer Brod brachte, gab der Seele des Dichters neuen Aufschwung und regte ihn mächtig an. Nachdem er in einzelnen, meist sarkastischen Liedern, wie dem „Weberlied“, der lange in ihm angesammelten Bitterkeit Luft gemacht, dichtete er, durch die Schilderungen eines ausgewanderten Freundes begeistert, seine schwungvollen, kräftigen „Lieder aus Wisconsin“ voll glühender Begeisterung für die Freiheit und zugleich inniger Anhänglichkeit an das Vaterland. Ihre Frische und Lebendigkeit veranlaßte mehrfach zu dem auch in die biographischen Notizen einiger Anthologien übergegangenen Irrthume, daß der Dichter wirklich im Landes seiner Sehnsucht wohne. Eine Thatsache statt eines Urtheils. Kurz darauf entstanden die „Märzgesänge und Leierkastenlieder“, politische Schwärmereien, Kinder der damaligen Zeit und mit der Mutter zu Grabe getragen. Für alle Zeiten aber werden leben und den Namen des Dichters in hohen Ehren erhalten die „Lieder des Hauses“, die mit jenen beiden Cyklen zusammen erschienen und denen unsere gesammte Literatur nichts Aehnliches an die Seite zu stellen hat. Nach dieser so fruchtbaren Periode verfiel Schults wiederum in mehrjähriges, unthätiges Versunkensein. Eine angemessene Stellung, die ihm 1850 auf’s Neue im Simons’schen Hause wurde, gestaltete seine Verhältnisse freundlicher und ermunterte ihn zu ernsten und anhaltenden Studien auf dem Gebiete der epischen Dichtung, das er jetzt zum ersten Male betrat. Die nächste Frucht dieser Thätigkeit waren gediegene Vorlesungen über neuere Balladen- und Romanzendichter, zwei Jahre später in Elberfeld vor einem großen und gewählten Kreise mit bedeutendem Erfolge gehalten. Sie führten ihm auch jene jungen Poeten zu, die seitdem oft mit ihm als „Wupperthaler Dichterschule“ genannt sind: Gustav Reinhardt, Emil Ritterhaus und Karl Siebel. Ihr jugendliches Streben regte ihn an und bei und mit ihnen vergaß er oft der drückenden Sorgen, die seine allmählich zahlreicher werdende Familie täglich schwerer auf sein müdes Haupt häufte. Im folgenden Jahre, 1853, erschien sein erstes episches Gedicht „Martin Luther“ bei Brockhaus. Es fand vielen und verdienten Anklang und in rascher Aufeinanderfolge dichtete Schults drei ähnliche Epen: den „Huß von Genf“ (Servet), „Andreas Hofer“ und „Thomas Münzer“, die bis jetzt noch sämmtlich Manuscript geblieben, wiewohl sie der Veröffentlichung würdiger, als die meisten der goldgeschnittenen Reimereien, mit denen wir jeden Tag überfluthet werden. 1855 hielt er wieder öffentliche Vorträge über „Schiller und Goethe vom phrenologischen Standpunkte aufgefaßt“, [487] und gab bei Bädeker in Iserlohn den „Ludwig Capet“, ein größeres erzählendes Gedicht, heraus. Leider wurde es für ihn eine Quelle neuer Bitterkeit, die bis zu seinem Ende an ihm nagte. Er hatte das Epos nach der Vollendung in Elberfeld vor zahlreichen Hörern an mehreren Abenden vorgelesen und die Gemüther auf’s Tiefste ergriffen und erschüttert, der Verleger es um namhaften Preis gekauft, der Dichter auf hohen Erfolg gehofft. Die Kritik und das weitere Publicum aber, die ein großes, mit kräftigem Pinsel ausgeführtes Gemälde des welterschütternden Revolutionsdrama’s erwartet, fühlten sich enttäuscht, statt dessen nur die Leidensgeschichte des unglücklichen Königs zu finden, geschildert allerdings mit jener hinreißenden Gemüthswärme, mit jener überwältigenden Wahrheit, wie sie nur Schults, der selbst ein kummerschwerer Märtyrer, zu eigen.[2] Die Aufnahme war lau, die Hoffnung des Dichters geknickt. In diesem Jahre erschien bei Böhlau in Weimar die letzte Lieder-Sammlung von ihm: „der Harfner am Heerd“, eine würdige, unabgeschwächte Fortsetzung der Lieder des Hauses. Es herrscht darin oft eine glückliche, friedliche Stimmung, die wohlthun würde, wüßten wir nicht, daß sie leider nur die Stimmung des Dichters, nicht auch die des Menschen. Er war schon seit langer Zeit von neuem, anhaltendem Siechthum heimgesucht, dem er endlich am 2. April erlag, nachdem er wenige Tage vorher sein letztes Gedicht niedergeschrieben, das wir bereits mitgetheilt. Es ist ein erschütternder Schmerzensschrei seines müden Herzens, das die Sehnsucht nach dem erlösenden Tode zurückdrängt und noch weiter dulden will – des Weibes und der sieben Kinder wegen! Es brach. –
Und so haben wir ihn denn zur Gruft gesenkt, einen jener gegeißelten Könige des Gesanges, deren Purpurmanteel mit dem eigenen Herzblute getränkt ist, der Lorbeerkranz die Dornenkrone nicht verdecken kann, die ihre Stacheln tiefschmerzend in die bleiche, gramgefurchte Stirne drückte. Sein Tod hat die Menge wieder einmal aus ihrer Stumpfheit emporgerüttelt, die Achtung seiner Mitbürger die nächste Zukunft der Hinterbliebenen gesichert, die Zeitschriften bringen trauernde Artikel, man wird ihm vielleicht ein Denkmal setzen, irgend ein Papierspeculant wird ihn zum Helden eines „literarhistorischen Romans“ machen, gierig verschlungen von der Masse, die mit naiver Grausamkeit an den Leiden ihrer Lieblinge sich weidet, wie ein Kind den farbenprächtigen Schmetterling, das Ergötzen seiner Augen qualvoll sich zu Tode martern sieht, aber trotz alledem und alledem bleibt der Dichter todt, und was noch viel schlimmer, hat er in Elend und Unglück gelebt. Wieder einmal stehen auf dem Sarge eines verkommenen bedeutenden Menschen die fluchbeladenen Worte: „zu spät!“ dieses Mene Tekel unserer Zeit, die bei all ihrem athemraubenden Rennen und Jagen dennoch stets am Ziele blindlings vorbeischießt und erst dann umkehrt, wenn es eben zu spät ist. Wie viele eurer Besten mußten sterben, um von euch in ihrem vollen Werthe erkannt und gewürdigt zu werden, an zahllosen Bahren habt ihr leidtragend gestanden, schamgeröthet ob der Ueberzeugung, daß ihr hättet helfen, retten können, da es noch Zeit war! Fern sei es von uns, gleich dem jungen Frankreich, für jedes schiffbrüchige Talent, für jeden Verbrecher und jede gefallene Dirne mit declamatorischem Pathos die ganze Gesellschaft verantwortlich zu machen, mag sie gleich nicht immer ohne Schuld sein, vielleicht auch diesmal nicht. Aber den Druck der Verhältnisse wollen wir beklagen, der mit roher Faust die zarten Saiten dieses Dichtergemüthes zerriß, dem blinden Glücke fluchen, das dem edlen Todten die Gewährung so bescheidener Wünsche versagte, während es nur zu oft die erbärmlichste Gemeinheit vom leeren Schädel bis zu der Fußsohlen übergoldet!
Adolf Schults ist mitten in seiner Entwickelung uns entrissen worden, und wie war diese Entwickelung gehemmt! sie hat sich förmlich durch Felsen hindurchhauen müssen. Wer zwischen den Zeilen zu lesen versteht, kann sich den kurzen Abriß seines einfachen äußeren Lebens, wie wir ihn oben gegeben, zu einer langen Leidensgeschichte voll verzweifelten Kämpfens und Ringens, voll trüber Tage und durchwachter Nächte, voll bitterer Enttäuschungen und gescheiterter Hoffnungen weiter ausspinnen. Wie ein armer Gefangener ohne Licht und Luft, verschmachete der unglückliche Dichter in den Fesseln des ihm aufgezwungenen Berufes, den er nicht verlassen konnte, nicht verlassen durfte, denn er wollte leben, mußte leben um Andrer Leben willen, und – die Poesie gibt ihren Kindern Alles, nur kein Brod, sie ist eine arme Mutter. Was er an Schmerz und Bitterkeit darob empfunden, hat er beredter und überwältigender, als wir es auf endlosen Bogen zu tun im Stande, in folgenden zwei Versen ausgehaucht:
„O, wäre mir gewiesen
Ein besserer Beruf!
O könnt ich flieh’n nur diesen,
Für den kein Gott mich schuf!
Von allen Götterbildern
Erblickt’ ich eines nur:
Auf bunten Krämerschildern
Den Handelsgott Mercur.
Das Herz möchte Einem brechen vor Wehmuth, wenn man sie liest! Schults war zum Dichter geboren und bestimmt; er vergaß, was ihn drückte und quälte, er war gesund, geistig und körperlich, wenn er dichtete. Müde und abgespannt von der Arbeit des Tages, sang er seine Lieder voll Duft und Frische, wie jene Blumen, die am Tage den Kelch ängstlich verschlossen halten, und nur in die stille, verschwiegene Nacht hinaus ihre köstlichen Wohlgerüche hauchen. Er schuf mit fast fiebernder Schnelle, seine umfangreichsten Dichtungen sind in wenig Wochen entstanden. Der Trieb und die Lust des Schaffens hielten ihn aufrecht; war ihnen genügt, dann sank er wieder in sich zusammen: ein kranker Mensch mit überreizten Nerven und verbittertem Gemüthe, das nur im Kreise vertrauter Freunde zuweilen in scharfschneidigen, geistvollen Sarkasmen sich äußerte. Ein stiller Dulder, hat er schweigend sein hartes Loos getragen, der Schmerz hatte ihn geläutert: er war einer der edelsten Menschen, die je gelebt und gelitten. Ohne Falsch, treu, brav und zuverlässig in allen Lagen und Verhältnissen, hat er den schweren Pflichten, die ihm auferlegt, bis zum letzten Augenblicke standhaft und ohne Murren genügt. Mit welch heißer, aufopfernder Liebe er Weib und Kinder umfaßte, erkennt sich am besten aus seinen Liedern, die das Gepräge wahrer Empfindung auf jedem einzelnen Worte tragen; was er seinen Freunden war, lehrt uns deren trostloser Schmerz. Sein Volk aber hat einen Dichter verloren, wie es deren wenige besitzt, der tief in ihm wurzelte, der für all seine Freunden und Leiden Gefühl und Wort hatte, der den trauten Heerd des Hauses mit den grünen Ranken seines Liedes schmückte. Keiner vor ihm hat den süßen Zauber der Häuslichkeit, das Glück und den Trost der Familie mit solcher Innerlichkeit erfaßt, mit so hinreißender Wärme und Wahrheit geschildert und verherrlicht, als Schults, und diese Seite seiner Poesie ist ihre größte und verdienstvollste. In einer Zeit, die an ihrer Aeußerlichkeit zu Grunde zu gehen droht, hat er uns auf die Schätze des Innerlichen aufmerksam gemacht, denen so Viele leichtsinnig und frevelhaft den Rücken kehren. Nichts bei Schults ist gemacht und gekünstelt, Alles wahr, einfach und schlicht, seine Empfindungen und seine Verse, die noch lange unser Stolz und Entzücken sein werden. Er hat keine Unterstützung genossen, keine Pension bezogen, kein Orden machte sich auf seinem schlichten Rocke breit, kein Titel hat sich angemaßt, seinem Namen Glanz und Würde verleihen zu wollen; dafür hat ihn das Volk in sein Herz geschrieben, das sich seine Dichter nicht aufdrängen läßt, sondern sie mit richtigem Gefühle und gesundem Urtheil sich selber auswählt. Einen Kranz auf seinen Hügel und Friede seiner Asche!
Mein Incognito hat mir Gelegenheit verschafft, die verschiedenen Urtheile und Gespräche zu belauschen, welche mein voriger Aufsatz im Publicum hervorrief. Bei dieser Gelegenheit hat ich unter Anderem wahrgenommen, daß man im Publicum eine Menge von Personen als „Hysterische“ oder „Hypochondrische“ betrachtet, welchen man durch eine solche Benennung viel zu viel Ehre [488] anthut. Es sind dies die sogenannten Nörgelsüchtigen oder Nörgelanten.
Unter „Nörgeln“ versteht man bekanntlich, wenn Jemand unablässig ohne zureichenden Grund seine Umgebungen mit Klagen, Tadel und sonstigen Aeußerungen von Unzufriedenheit belästigt. Mit dieser Sucht (welche in keinem ärztlichen Lehrbuche erwähnt ist) haben allerdings die Aerzte vorzugsweise häufig zu thun und sie ist oft schwer von wirklicher Krankheit zu unterscheiden. Aber sie ist keine solche, sondern ein Erziehungs- und Charakterfehler. – Die Hysterische und der Hypochondrist sind Beide wirklich nervenkrank; ihre Krankheitssymptome stehen immer im Verhältniß zu lhrer körperlichen Störung (wenigstens würden wir dies finden, wenn Letztere nicht oft für unsere Sinne unzugänglich wäre). Auch gehört das „Sichausklagen“ nicht nothtwendig in allen Fällen zu den Symptomen Beider, den es gibt Hysterische und Hypochendristen, welche trotzig Alles in sich zu verschließen streben. Außerdem befällt die Hysterie nur das geschlechtsreife Frauenalter und die Hypochondrie fixirt alle Aufmerksamkeit des Befallenen nur auf seine eigene Körperzustände. Die Nörgelsucht hingegen kommt in beiden Geschlechtern und in allen Lebensaltern vor und erstreckt sich auch auf nichtmedicinische Gegenstände (als Beispiel dienen: die Ehemänner, welche immer in die Töpfe gucken oder an dem Putze ihrer Frauen mäkeln; die Kinder, welche immer von anderen Menschen herumgetragen und beschäftigt sein wollen; die Greise, welche auf die gesammte Jetztwelt schmähen).
Auch der krankhafte Trübsinn, die Melancholie, wird leicht mit der Nörgelsucht verwechselt; aber Melancholie ist eine wirkliche Geisteskrankheit, in der Regel die erste Stufe zu den übrigen Seelenstörungsformen: hier klagt und weint der Kranke ohne Rücksicht auf seine Umgebungen; letztere kommen bei ihm nur in so fern in Betracht, als sie (gleich jeder anderen Berührung der Außenwelt) auf sein Gemüth einen schmerzerregenden Eindruck machen, also eine Veranlassung mehr zum Sichunglücklichfühlen geben. Der Nörgler hingegen will nicht sich, sondern seine Umgebungen quälen, um an ihnen seine üble Laune auszulassen. Daher sucht er[WS 1] sich seine Leute aus, und wenn er unter den Seinigen Niemand findet, der sich dazu eignet oder hergibt, so nimmt er (wenn er Geld hat) einen Arzt an, der sich für so und so viel jährlich etwas vornörgeln lassen muß.[3]
Nach diesen Charakterzügen wird es leicht sein, den Nörgelkranken von anderen wirklichen Kranken zu unterscheiden. Begreiflicher Weise sind die Symptome, welche er angibt, hauptsächlich „subjective“, d. h. Befindensveränderungen, Berichte über die mannichfachsten Empfindungen, Gefühle und Stimmungen. Doch kommen nachgeahmte oder unwillkürlich erzeugte Bewegungs- oder Krampfsymptome vor, besonders oft ein eigenthümliches kurzes Husten, sodan Räuspern, Racksen, Kurzathmigkeit, asthmatisches Athemholen, selbst Würgen und Brechbewegungen, Zittern, Zuckungen, Phantasiren u. s. w. Der scharfe Beobachter wird aber bald den unechten, nachgeahmten Charakter solcher Empfindungs- oder Bewegungssymptome ermitteln, namentlich durch die stattfindenden Uebertreibungen oder durch das Nichtzusammenstimmen mit den erfahrungsmäßig bekannten Nebenumständen, mit den typischen Zeit- oder anatomischen Ortsverhältnissen, vor Allem aber mit den Ergebnissen der objectiven physikalisch-ärztlichen Untersuchung. Am schwierigsten zu erkennen ist der nicht seltene (und entschuldbarste) Fall, wo wirkliche, besonders lange hinausgezogene Krankheit sich mit Nörgelsucht complicirt, wo dem Kranken das Mark der Körperkraft, die Hoffnung schwindet und er geneigt wird, alle seine gerechte Unzufriedenheit ungerechterweise dem Arzte (auch wohl den Arzneien und dem Apotheker) entgelten zu lassen.
„Aber wie in aller Welt kann man sich so etwas angewöhnen?“ fragst Du, lieber Leser.
Gemach! bedenke, ob Du nicht selbst in Dir einen Keim dieses Uebels trägst. Denn die Nörgelei beruht auf denselben Einrichtungen und Gesetzen des menschlichen Hirnlebens, welche wir im vorigen Artikel (Gartenlaube Nr. 13) als allgemeine Nervengesetze kennen lernten. Das Seelenorgan, unablässig mit Empfindungsreizen geladen, sucht sich derselben zu entledigen: durch Worte, Handlungen oder sonst auf eine Art. Gleichwie mein Kanarienvogel singt, um seinen Gefühlen Luft zu machen, so quält der Nörgler sich und Andere, weil er, kein besseres Mittel kennt, um seine Stimmungen hinauszulassen. Die Quelle dieser Unart aber, die Ursache, daß gerade dieses Mittel so häufig von den Leuten gewählt wird, liegt theils in dem allgemeinen Charakter unserer Zeit, theils in der Erziehung und den besonderen Lebensläufen gewisser Personen. –
Ein Grundübel unserer Zeit ist die Charakterlosigkeit, der Mangel an Thatkraft, an Energie. Thatkräftige Leute nörgeln nicht, weil sie handeln und sich dadurch Luft machen. Aber die Unentschlossenen, die Hamlete männlichen und weiblichen Geschlechts, haben immer die vorwiegende Neigung, Alles zu bekritteln und tadelnswerth zu finden. – Unsere Erziehung trägt oft schon vom Wickelbettchen an reichlich dazu bei, Nörgelsüchtige heranzubilden. Wie wird der Wilde erzogen? Als Säugling bindet ihn seine Mutter an Moos und Baumrinde und hängt ihn so stundenlang an einen Ast, bis sie gelegentlich wieder nach ihm sieht. Dabei gewöhnt sich der junge Weltbürger frühzeitig, auf sich selbst angewiesen zu sein, sich allein zu unterhalten und allerlei Unannehmlichkeiten (z. B. ein bischen Naß- oder Unbequemliegen) geduldig zu ertragen. Ganz anders bei uns. Da wird der künftige Weltbürger (in vielen Familien) von Klein auf gehätschelt und verwöhnt, dutzendmal umgebettet, herumgetragen, durch Schäkern, Spielen, Vorsingen u. s. w. frühzeitig daran gewöhnt, immer von Andern unterhalten und amüsirt zu werden. Namentlich die Erstgeborenen! Denn da in unsern Landen die Hauptvorbereitung der Mädchen auf ihr künftiges Mutteramt in dem Puppenspielen besteht, (was ich, wie das Soldatenspielen der Knaben in meinem Staate gesetzlich verbieten würde), so ist ein solches armes Erstgeborenes für seine jugendliche Mutter in der Regel nur Ersatzmittel oder neue Auflage der vor wenig Jahren zurückgeschobenen Lieblingspuppe. Den ganzen Tag wird das kleine Geschöpf herumgetragen und geherzt, sein zartes Gehirn durch Licht, Spielwerk und Schäkerei aufrecht erhalten, auf jedes Schreien (wäre es auch deutlich nur von Langeweile oder Ermüdung erzeugt) wird sogleich geachtet, vielleicht sogar deshalb zum Doctor geschickt oder doch das Dienstmädchen gescholten. Kein Wunder, wenn das dem Kinde zur Gewohnheit wird und sich so ein verwöhnter, anspruchsvoller Charakter bildet, der schon im Wickelbett seine Wärterinnen peinigt und im späteren Leben immer zum Unzufriedenwerden geneigt ist, sobald nicht Alles nach Wunsche geht oder Unterhaltung fehlt. Sind namentlich die Eltern reich genug oder sonst in der Gesellschaft hoch genug gestellt, daß ihre Kinder Schmeichler finden, so halten sich diese zeitlebens für etwas Besseres, als andere Leute, und damit spukt das unzufriedene Wesen unvertilgbar in solchen Köpfen. („Sie sehen stolz und unzufrieden aus, sie sind aus einem hohen Haus!“ Goethe, Faust.)
In den späteren Lebensjahren wirken als Quellen der Nörgelsucht: das leidige Stillsitzenmüssen in den Schulen, der gehemmte Bewegungstrieb bei Knaben und Mädchen mit seinen traurigen Folgen (Rückenmarks- und Genitalien-Reizung, Blutmangel, Muskelschwäche und Nervernschmerzen); – die Periode der Liebesaffairen, der verkehrten und verunglückenden Jugendträume, der getäuschten Hoffnungen und abwelkenden Ideale; – der Mangel an tüchtiger, in’s Leben eingreifender Berufsarbeit, das Müßiggehen und die Langeweile, die Unfähigkeit, ohne Anderer Beihülfe sich angenehm und nützlich zu unterhalten, sich selbst zu beschäftigen; im höheren Alter das immer Nüchterner- und Kahlerwerden des Lebens, das Schwinden jeder freudigen oder erhebenden Zukunft und die reuevollen oder unbefriedigenden Rückblicke in die Vergangenheit, endlich die specifische Eigensinnigkeit, Hartherzigkeit und Herrschsucht der alten Leute. – Vor allen sind Emporkömmlinge, Geldprotzen und Couponschneider, – Leute, die den ganzen Tag nichts zu thun haben und sich doch ihres Geldes wegen für besonders kostbare und wichtige Personen halten, – zum Nörgeln am meisten aufgelegt. Doch kommt Dies Uebel auch unter den ärmeren Classen vor. Weiße erzählt in dem alten Kinderfreund eine ganz hübsche Geschichte von so einem nörgelnden Frauenzimmer, das zuletzt, als sein Wohlthäter jeden andern Grund zu Klagen hinweggeräumt [489] hatte, über das Schreien eines Pfaues unglücklich wird. – Gutmüthige Aerzte werden oft genug von solchen Personen aus den ärmsten Volksclassen geplagt; freilich kann man bei Solchen am ersten noch das Klagen verzeihlich finden!
Es kann aber das Bedürfniß des Nörgelns auch künstlich erzeugt werden. Dies geschieht schon von jenen (nicht selten zu findenden) Eltern, welche immer in ihre Kinder mit gesundheitlichen Fragen dringen: „es fehlt Dir doch nichts? bist Du denn wohl? thut Dir etwas weh?“ u. s. w. – Namentlich aber geschieht dies durch die Aerzte und zwar fast alltäglich. Das Geschlecht der Aerzte erfällt in zwei Gattungen (natürlich mit Zwischennüancen): die wissenschaftlichen und die industriellen. Beide haben, je von ihrem Standpunkte aus, vollkommen Recht und so auch in den Consequenzen desselben. – Der industrielle Mediciner treibt sein Fach, um Geld zu verdienen und das auf Studien, Reisen und Doctorhut verwendete Capital nutzbar zu machen. Er denkt entweder ganz entschieden im Geiste „unseres Verkehrs“: „Laß Dir treten von die Leut’, laß Dir spucken in’s Gesicht, Du mußt doch werden reich!“ Oder als billigdenkender Christ: „Wir Aerzte wollen doch auch leben! Müssen wir nicht alljährlich eine Menge von Visiten, von schweren Operationen und wichtigen Curen ganz unentgeltlich oder für ein Spottgeld machen? Warum sollen wir uns nicht an den reichen Nörglern schadlos halten. Wenn ich’s nicht thue, so thut’s ein Anderer!“ Er hat durchaus keinen Grund, Jemand zu behindern, der ihm etwas vornörgeln will, dafern es nur ordentlich bezahlt wird. Im Gegentheil! Da es doch sein unvermeidlicher Tagesberuf ist, Klagen zu hören und zu beschwichtigen: so sind ihm jene Fälle eine wahre Erholung, wo dem Kranken eigentlich nichts oder doch nur sehr wenig fehlt, wo also die ärztliche Verantwortlichkeit weit geringer und ein grober Fehlgriff in der Behandlung gar nicht zu fürchten ist, – wo der Arzt demnach seinen Geist gar nicht anzustrengen braucht und sogar während des Zuhörens und Jajasagens nebenbei „an ganz andere Dinge denken kann.“ (Eigene Worte eines Collegen.)
So kommt es denn, daß ein solcher Arzt, besonders als wohlsalarirter und zu regelmäßigen Visiten verpflichteter Hausarzt, sich daran gewöhnt, durch sein herkömmliches „Wie befinden Sie sich?“ die Orgel der Klagen aufzuziehen, und eine halbe Stunde lang die bekannten Stückchen spielen zu hören. Namentlich ist die Homöopathie auch für diese Zwecke meisterlich ausgesonnen und mit Recht das Hätschelkind der blasirteren west- und der halbcivilisirteren ost-europäischen Aristokratie geworden. Der homöopathische Arzt ist durch sein System verpflichtet, kein Symptom und besonders kein subjectives (d. h. Klagen über Befindensveränderungen) gering zu achten, vielmehr nach Ergebniß derselben (ohne sich über ihren Grund den Kopf zu zerbrechen) seine Auswahl unter seinen Mitteln sorgsam zu treffen. So wird also schon sein bloßes Eintreten auf den Kranken gerade so viel, als ob er fragte: „Haben Sie denn nichts Neues zu klagen? Strengen Sie sich doch ein Bischen an!“ Eine Aufforderung, welcher nur zu gern entsprochen wird. Nimmt man hierzu die hingebende Aufmerksamkeit und geheimnißvoll erwägende Miene des Doctors, die pedantisch genaue, oft von beiderseitigen Erörterungen unterbrochene Auswählung des entsprechendsten, symptome-deckenden Mittelchens (es kommt sogar vor, daß der Doctor „des Nachs aufgewacht ist und nachgedacht hat, welches Mittel am besten passe!“) – nun, jeder Unbefangene muß zugeben, daß, wenn einmal Komödie gespielt und „viel Lärm um Nichts“ aufgeführt werden soll, es schwerlich auf unterhaltendere Weise geschehen kann. Unterhaltender jedenfalls als Patiencelegen und Grillenspiel, und weniger angreifend als Schach oder L’hombre. Denn von Nichts reden die meisten Menschen lieber, als von ihrem lieben Ich; dieser Gegenstand ist unerschöpflich, und strengt gar nicht an. Und so bildet sich denn eine süße Gewohnheit des täglichen Nörgelns, bei welcher beide Parteien, Arzt und Kranker, sich ganz wohlbefinden. ich sah fast ein Jahr lang täglich die Equipage unseres vornehmsten Homöopathen vor einem der schönsten Häuser unseres nobleren Stadtviertels halten, und zwar so lange, daß ich inzwischen meist zwei bis drei Krankenvisiten in meiner raschen Art vollbrachte. Endlich erfuhr ich zufällig, wer die vermeintlich schwere Kranke war: eine kürzlich verheirathete reiche Erbin, welche nach Abschied des Doctors regelmäßig spaziren fährt, und im Park aussteigt. Diese junge Dame hat zwischen Frühstück und Toilette täglich ein Stündchen übrig, welches der Doctor ausfüllen muß. Soll Er es ihr etwa ausreden? Soll Er ihr in’s Gesicht sagen, daß sie sich mit etwas Besserem beschäftigen möge, und daß es zweier vernünftiger Menschen unwürdig sei, solch eine tägliche Komödie mit einander zu spielen? – Im Gegentheil! – Es gehört vielmehr zu den besonderen Kunstfertigkeiten des industriellen Arztes, den Kranken an das Besucht- und Befragtwerden so sehr zu gewöhnen, daß derselbe endlich (wie Molière’s Malade imaginaire) ohne den Arzt gar nicht mehr leben zu können vermeint.
Der rationelle Arzt allerdings denkt anders; er wird zum Theil von gewissen naturwissenschaftlichen und sittlichen Bewegungsgründen geleitet, welche jedem andern Gewerbe der Welt fern bleiben. Er darf nicht blos auf seinen eigenen Vorteil achten. So fühlt er sich berufen, Leuten, denen eigentlich nichts fehlt, das Doctorn abzugewöhnen, und sich selbst gewissermaßen entbehrlich zu machen. Aber welche Summe von Mühe und Verdruß dieses Bestreben, die Leute zu ihrem eigenen Besten vernünftig zu machen, mit sich bringt, davon hat Niemand einen Begriff, der es nicht selbst versucht hat. Ja, wenn die Leute vernünftig sein wollten! Aber das fällt ihnen gar nicht ein. Die Meisten, und namentlich die Geldhabenden, wollen ihren Stimmungen und Eigenheiten und Launen so ungestört als möglich dahinleben. Wer sie darin stört, ist ihr Feind, und den Arzt bezahlen sie als den Lootsen, der auf diesem Meer am besten herumzusteuern versteht. – Nun werfe derselbe sich zum Nacherzieher, zum Leuteverbesserer und Kritiker auf! Abgedankt, als grob oder rauh, als Tyrann oder gefühlloser Mensch verschrieen zu werden, ist seine nächste Aussicht! Nur in einzelnen Fällen, und erst spät nach Jahren bringt er es vielleicht dahin, daß sein uneigennütziges Streben und und da mündliche Anerkennung findet. Aber während dessen hat sein industrieller College, der liebevoll Theilnehmende, längst seine klingende Anerkennung massenhaft in Sicherheit gebracht!
Aus dem Bisherigen geht hervor, daß man es nicht vom Arzt verlangen kann, daß er allein sich dem Volksübel der Nörgelsucht entgegenstemmen solle. Soll Er sich den Haß dieser Leute zuziehen, welche oft so einflußreich auf seine sociale Stellung sind? Denn dieselben Quängler sind es, welche zum Theil die öffentliche Meinung bestimmen, welche an öffentlichen Orten wie in Privatgesellschaften und Familiencirceln das Wort führen, hier und da etwas zu tadeln finden und, wenn sie nichts Anderes wissen, über den Werth oder Unwerth der Aerzte (deren sie gewöhnlich eine Mehrzahl gebraucht haben) aburtheilen und sich alle Mühe geben, um andere, bisher harmlose Menschen, mit ihrer Unzufriedenheit anzustecken und gegen den oder jenen Arzt, der ihnen einmal die Wahrheit gesagt hat, aufzuwiegeln.
So kommt es denn, daß ein umsichtiger Arzt sich nur sehr behutsam an die Behandlung dieses häßlichen Gebrechens wagt. Nur Schritt für Schritt, unter großem Aufwand von Geduld und Beharrlichkeit, durch Milde und Ernst, mit geschickter Benutzung jedes Zwischenfalles und unter consequenter Unterstützung der Angehörigen gelangt er dahin, einen solchen moralischen Einfluß auf den Kranken zu gewinnen, daß dieser nach und nach der Nörgelei sich schämen lernt, und sich in Selbstbeherrschung zu üben sucht. – Die Molière’sche Curmethode, den eingebildeten Kranken selbst zum Arzt zu machen, ist inzwischen durch Hahnemann’s Erfindung in’s Großartige getrieben worden. – Auch bei der Kaltwassercur spielt dieses Selbstdoctorn eine Rolle mit; doch hat diese Behandlungsweise hauptsächlich dadurch Werth gegen Nörgelsuchten, daß der Patient in die Hände eine fanatisch für Abhärtung und Naturheilungen begeisterten Mehrzahl fällt, welche ihn bald mit fortreißt und fernere Verweichlichungen unmöglich macht. Auf jede Klage eine neue Kaltwasser-Procedur, wobei er aus dem Regen in die Traufe kommt: das ist ein vortreffliches Mittel, um einem Solchen das Querulieren endlich ganz zu verleiden! – Auch das Turnen, besonders in Vereinen, ist ein hochzuschätzendes moralisches Hebungsmittel für Nörgelnde jedes Alters oder Geschlechtes; es steckt in ihm, bsonders in der edlen deutschen Turnkunst, ein merkwürdiges erfrischendes, geistig freimachendes und erheiterndes Element. Ein Turner, der nörgelt, ist fast gar nicht denkbar. – Im Nothfall thun es auch andere Körperbewegungen. Das Specificum, welches Cullen für Gichtische empfahl: „täglich einen Schilling zu verzehren, den man sich mit grober Körperarbeit verdienen müsse“, – paßt auch für Nörgelsüchtige! – Eine Mehrzahl derselben besuchen Jahr aus Jahr ein die Bäder: [490] zur Erholung – ihres Hausarztes und der daheim gebliebenen Angehörigen. Saphir schreibt ihnen die Erfindung der Badereisen zu: „Ich stelle sie mir vor, diese Frau mit dem mondscheinblassen Gesicht, dem petersilienfarbigen Teint und dem Leben einer Herbstfliege: wie sie nur vom Scheintod erwacht, wenn ihr das Kammermädchen eine Locke schief gewickelt hat. Ich höre sie über Appetitlosigkeit klagen, wie sie von den dreißig Speisen, welche den kleinen Mittagstisch ausmachen, überall nur ein Wenig kostet. Ich bemerke, wie die Dienerschaft nach allen vier Winden läuft, um den Doctor zu holen. Ich sehe, wie der Nachkomme des Aesculap seinen mächtigen Perrückenkopf schüttelt, keine Symptome eines Uebels findet, und endlich auf den Gedanken kommt, die Krankheit sei aus der Luft gegriffen und daher eine Luftveränderung nothwendig!“ In der That ist diese medicinische Mekkawallfahrt, wie Saphir sagt, contagiös geworden. Es mag wohl der vierte oder dritte Theil der gesammten Badereisenden zu den Nörgelanten gehören. Das Talent, mit ihnen umzugehen, bildet sogar ein Haupterforderniß eines guten Brunnenarztes, und sie sind es andererseits, welche denselben am raschesten abnutzen.
In der That, es ist keine Kleinigkeit, den ganzen Tag quängeln zu hören, mit und ohne Grund. Das bringt den Mann mehr herunter als Strapazen und Schreckdinge, welche ihm die Nerven stählen. Wer daher als Arzt straff bleiben, sich die Schärfe der Diagnose und die Entschiedenheit im Handeln bewahren will, der pflegt sich die Nörgelkranken thunlichst (und mit Manier) vom Halse zu halten. Denn sonst verfällt man leicht in den Gewohnheitsfehler, auch da an eingebildete Krankheiten zu denken, wo hinter den Klagen wirkliche, entschiedene Krankheiten (z. B. Neuralgia, Gallensteine, Bandwurm, Darmverengung, beginnende Krebs- oder Tuberkelbildungen, bevorstehende Seelenstörungen) verborgen sind. Wer in solchen, nicht seltenen Fällen weiter nichts zu thun weiß, als die Leute zu trösten und mit Scheinmittelchen hinzuhalten, der läuft Gefahr, daß zum Heil des Kranken ein schärfer sehender oder entschlossenerer Arzt herbeigeholt wird, welcher in den erstgenannten Fällen durch rasch durchgreifende Hülfe, in den letztgenannten durch eine rechtzeitig ausgesprochene Diagnose und Prognose den Fall in’s Klare stellt und die Wissenschaft über die gemeine Routine trimphiren macht.
Die letzten Tage des Juli bis zum 3.–4. August waren für Sachsen und einen großen Theil von Böhmen und Schlesien Tage der Angst und des Schreckens, wie sie seit langen Jahren nicht verlebt wurden. Nach wochenlanger drückender Hitze stürzte endlich am 28. Juli der langerwartete Regen, aber in so furchtbaren und anhaltenden Strömen herab, daß sehr bald alle Bäche und Flüsse austraten und die benachbarten Fluren überschwemmten. Mit jeder halben Stunde hob sich die Wassermasse zu einer früher nicht gekannten Höhe, und stürmte zerstörend und Brücken, Dämme und Häuser mit sich fortreißend, in die Tiefe der Thäler und Ebenen hinab. Besonders war es in Sachsen das Muldenthal, von Zwickau bis nach Wurzen herab, dessen Fluren und Ortschaften nach allen Seiten hin in schreckenerregender Weise überschwemmt wurden. Zwickau, Glauchau, Penig, Colditz, Wolkenburg, Grimma standen tagelang bis über die erste Etage in Wasserfluthen, an einigen dieser Orte sind 50 und mehr Häuser weggerissen und eben so viele dem Einsturz nahe. Eisenbahnstrecken von 200 und mehr Ellen wurden vernichtet, und Menschenleben in Masse gingen verloren. Neben der Mulde waren es indeß auch die Pleiße, Elster, Chemnitz und Weiseritz, die aus ihren Ufern traten und furchtbare Verheerungen anrichteten, so daß Millionen kaum hinreichen werden, den Schaden zu decken.
Die Redaction der Gartenlaube hat sofort nach Eingang der betrübenden Nachrichten tüchtige Künstler an die am meisten dem Wasser ausgesetzten Ortschaften gesandt, um naturgetreue Abbildungen aufzunehmen, die ein deutliches Bild des Unglücks geben. Außerdem sind Veranstaltungen getroffen, daß die detaillirten Schilderungen nur von Augenzeugen geliefert werden, und so dürfen sich unsere Leser der Ueberzeugung hingeben, daß sie keine aus Zeitungsberichten zusammengerafften Beschreibungen, sondern authentische, auf eigene Anschauung gegründete Schilderungen lesen.
Schon oft und zu verschiedenen Zeiten ist die Mulde entweder in Folge des Thauwetters oder durch bedeutende Regengüsse zum Strome angeschwollen und hat dann, die Ufer überschreitend, ihr schönes Thal unter Wasser gesetzt, was sich indeß stets in kurzer Zeit wieder zu verlaufen pflegte.
Mit diesem Ereignisse waren die Bewohner der Stadt Glauchau durch die fast gleichmäßige Wiederkehr im Laufe der Zeiten so bekannt und vertraut geworden, daß sie meinten, Höhe, Umfang und Dauer einer solchen Ueberströmung ziemlich sicher im Voraus bestimmen zu können. Der höchste Wasserstand und die gewaltigste der Ueberfluthungen hatte seit Menschengedenken einen größeren Schaden kaum angerichtet, als daß vielleicht das große Wehr eingerissen, oder die dem Muldenflusse nächstgelegenen Felder und Wiesen mit Sand und Schlamm belegt, oder höchstens eine Hausflur der wenigen Anwohner der Mulde eingenäßt worden war.
Daher kam es auch, daß besonders seit dem zweiten Jahrzehent unseres Säculums, als die Industrie Glauchau’s sich entfaltete, man kein Bedenken trug, in unmittelbarer Nähe der Mulde Wohnungen aufzubauen, denn bis dahin war solches nur von Seiten der Leute geschehen, die zu ihrem Gewerbe hauptsächlich des Wassers bedurften.
Während die alte Stadt Glauchau auf der an östlicher Seite des Muldenthales befindlichen Höhe lag, entstand so im Thale selbst, zu beiden Seiten des Mühlgrabens und der Mulde, nach und nach ein neuer Stadttheil, den man mit dem Namen des Wehrdigts belegte, während man das ursprüngliche, auf der Höhe liegende Glauchau die Oberstadt oder auch kurzweg die Stadt zu nennen anfing.
Dieser sogenannte Wehrdigt hat nun von Jahr zu Jahr sich vergrößert und erweitert und auch verschönert. Aus Gassen sind Straßen geworden und inmitten der bekannten großen Etablissements in Spinnerei, Färberei, Druckerei und Tuchscheererei, in Fabrikation wollener, baumwollener und halbseidener Waaren, in Eisengießerei und Maschinenbauwesen stehen die vielen Häuser und Häuschen der Musterschläger, Weber, Handwerker, Arbeiter und verschiedener anderer Leute, welche das Thal der Höhe vorgezogen haben, so daß man die Bewohner dieses Stadtteiles jetzt mit Bestimmtheit über dreitausend annehmen kann.
Die auf der Höhe sich lang ausdehnende Oberstadt mit ihren beiden Schlössern der erlauchten Grafen von Schönburg, mit ihren großen und kleinen Thürmen und mit ihren vielfensterigen Häusern der verschiedensten (alten und neuen) Bauart schaut von oben herab auf den Wehrdigt, wie eine achtbare, ehrwürdige Mutter auf die muntere, rührige Tochter.
Besonders in neuester Zeit war für die Erweiterung und Verschönerung Glauchau’s Vieles und für die Hebung des Lebens selbst in allen Beziehungen Bedeutungsvolles und Wichtiges geschehen. – Die Eisenbahn, welche, von Chemnitz her über Glauchau nach Zwickau sich ziehend, mit ihrem hohen Damme, mit ihrer schönen Muldenbrücke und ihrem aus vielen Bogen bestehenden Viaducte das Thal quer durchschneidet, sollte nächstens feierlich eröffnet werden; schon waren überall in Glauchau die Gasröhren gelegt und deren aufgestellte Candelaber harrten dem Abende ihrer ersten Lichtströmung entgegen; auf dem Wehrdigt waren längst des Muldenflusses zu Fahrstraßen aufgefüllte Dämme ihrer Vollendung nahe; die Oberstadt war mit Schleußen und mit einer künstlichen Wasserleitung versehen worden, welche das flüssige krystallene Element bis in die obersten Stockwerke der Häuser treiben kann; der Bau einer neuen großen Bürgerschule ist längst in Angriff genommen, und nur des letzten Werkes, einer durchgehenden Pflasterung mit Trottoirs, bedurfte es noch, um Glauchau in vollendetem Zustande der Zukunft übergeben zu können.
Man freute sich dieser durchgängigen Vervollständigung, wie viele Opfer sie auch schon gekostet hatte und wie viele Opfer sie auch noch kosten mußte; die Tafeln, so zu sagen, woran die nachfolgenden Geschlechter speisen sollten, waren schon fast durchgängig [491] und reichlich gedeckt – – da brachen die unglückseligen Tage anhaltender Regenwetter an, welche die Oberstadt bis zum Einbruche verschiedener Kellerstrecken erweichten und den Wehrdigt mit einer nie dagewesenen Wasserfluth heimsuchten, wodurch die Dämme und Straßen zerrissen, die Brücken des Verkehrs nach außen abgebrochen und fortgeführt, die Wohnungen vieler Menschen zerstört, Waarenlager beschädigt, Candelaber der Gasbeleuchtung umgestürzt, der Damm der Eisenbahn durchbrochen, deren Viaduct ruinirt, Hunderte von Menschenleben in Gefahr gebracht und die Geschäftsthätigkeit, diese nährende Mutter Glauchau’s, theils unterbrochen und gehemmt, theils auf längere Zeit zur Unmöglichkeit herabgedrückt worden ist.
Zwar ist der Umfang des durch dieses Ereigniß herbeigeführten Schadens und Unglückes noch nicht allseitig ermittelt und kann es auch nicht sein, und es müßte daher voreilig erscheinen, wenn man schon jetzt Alles als genau bemessen darstellen wollte, doch so viel ist mit voller Bestimmtheit zu behausten, daß Glauchau aus diesem Unglücke sich nicht sobald wieder aufrichten kann, wofern nicht die hülfreiche, allgemeine Theilnahme und namentlich die Vermitteln des Staates ihr Mögliches thun.
Die vorliegende Mitteilung kann nur den Zweck haben, vor dem Auge der Welt ein wahrheitsgetreues Bild der Angsttage und Schreckensnächte aufzurollen, welche die erwähnte Wasserfluth über Glauchau’s Bewohner gebracht hat.
Am 30. Juli d. J. begann die Mulde, durch anhaltende Regenwetter genährt, zu schwellen, und vielleicht mancher Knabe hoffte, in Erinnerung an frühere Zeiten, auf die Gelegenheit, wieder einmal mit Fug und Recht im Wasser umherwaten, oder die Vortrefflichkeit seiner Juchtenstiefeln erproben, oder in Gemeinschaft mit seinen Cameraden in gewohnter Weise eine kleine Flottille von Bretern und alten Thüren improvisiren zu können. Diese Hoffnung wuchs, da der Himmel sich nicht aufheiterte.
Sonnabends den 31. Juli früh fand man schon ein Stück der Terrassenmauer am Meisterhause der Weberinnung in Folge der den Grund lockernden Nässe eingestürzt, welches in chaosähnlicher Lagerung am Berge hinab bis auf den vorüberführenden Fußweg gerollt war. Aehnliches nahm man auch an anderen Stellen des Berges wahr, worauf die Oberstadt gelegen ist; ja, eine herabgestürzte Bergmasse hatte bereits die Wand einer am Fußwege gelegenen Schankwirthschaft eingedrückt, was Alles um so unheilverkündender erschien, als der Regen noch immer fortdauerte. Die Mulde drohte und begann endlich, ihre Ufer zu überschreiten, und zwar von früh neun Uhr an mit sichtbarer Geschwindigkeit. Schon kamen verschiedene Holzstücke u. s. w. geschwommen, welche die Freunde und Liebhaber des Strandrechtes zu vielfacher von sonst schon gewohnter Thätigkeit veranlaßten. Gegen elf Uhr wurden schon hier und da die Wege und Gassen ungangbar, Zusammenrottungen Neugieriger zeigten sich und es entwickelte sich nach und nach jenes Umherwogen der Menschenmassen, was, durch unbestimmte Erwartungen und Befürchtungen verursacht, lawinenartig zuzunnehmen pflegt. Es regnete fort, – das Wasser stieg mehr und mehr, zuletzt von fünf Minuten zu fünf Minuten.
Pferde und anderes Vieh wurde in die Ställe der Oberstadt gebracht. Um zwei Uhr schon watete man in den meisten Gassen und Straßen bis an die Knie und höher im Wasser. Jetzt nun, und leider zu spät, wurde geahnt, daß noch nie Dagewesenes bevorstehe. Aeltere Leute namentlich konnten aber immer noch nicht sich zum Glauben an das Schlimmste bequemen. Indessen wurde schon wacker gerettet. Die Gemüther waren aufgeregt und erglühten in jener kühnen Verachtung aller Gefahr, welche noch vor Sonnenuntergange sich zum Heldenmuthe steigern sollte, wie ihn nur die verzweifelte Liebe oder die Sorge für das eigene Herzblut eingeben kann.
Kähne waren nicht vorhanden. Die Mulde ist in der Regel so seicht, daß man sie nur an sehr wenigen Stellen befahren könnte, und der Gedanke an Beschaffung derartiger Fahrzeuge mußte den Bewohnern Glauchau's fern bleiben, da die Stadt zeither zwei große hölzerne Brücken zum Verkehre nach außen halte, die sogenannte obere und die niedere Wasserbrücke, so bezeichnet zum Unterschiede von drei anderen Brücken, die in Nord und Süd die durch Thalwindungen getrennten Theile der Oberstadt verbinden. Aber die erwähnten beiden Muldenbrücken wurden schon im Laufe des Nachmittags von den immer höher gehenden Wogen beleckt und bespült und sind in der mächtigen Finsterniß zwischen Sonnabend und Sonntag krachend gebrochen und in großen Stücken von den Wogen fortgetragen worden. Vorher aber und noch vor Eintritt der Abenddämmerung waren eiligst zusammengefügte Fähren bei dem Rettungswerke in voller Thätigkeit, und die geringe Tragfähigkeit derselben zeugte theils von der Unkunde ihrer hülfseifrigen Verfertiger, theils war sie Ursache, daß mancher edle Retter bis an den Hals im Wasser gehen mußte, um das Fahrzeug nur einigermaßen zu dirigiren, und war auch Ursache, daß die Rettungsbedürftigen oft nicht ohne eine Angst- und Nothtaufe in Sicherheit gebracht werden konnten. Schon am späten Nachmittag begannen Häuser zu wanken und endlich einzustürzen. Nothschüsse erfolgten, Hülferufe wurden gehört, hier und da sah man weiße Nothfahnen ausgesteckt. Welche Stunden der Angst und Trostlosigkeit habt ihr durchleben müssen! Der Griffel sinkt mir aus der Hand, wenn und so oft ich jener Seelenkämpfe gedenke. Ach, ihr hülfeflehenden Seelen, die ihr fast nicht mehr auf Rettung hoffen durftet, weil die Wasser höher wogten und immer reißender strömten, und weil der Tag sich neigte und in die tiefste Finsterniß versank! — Ach, ihr bebenden Herzen, die ihr die Noth der Unglücklichen tausendfach mitfühltet, ohne helfen zu können, und, wenn in der Finsternis drüben die Häuser krachend in den Tumult der Wasser sanken, nicht ahnen konntet, wen das Schicksal erreicht haben mochte!
Alles ward gedacht, versucht und gethan, was umsichtige Fürsorge, Herzensangst und Heldenmuth denken, versuchen und thun können. Säle wurden geheizt und erwärmende Tränke bereitet für Retter und Gerettete, ja sogar an den Rettungsstellen selbst stellte zuvorkommendes Mitleid seine gastlichen Tische unter freiem Himmel auf. Man telegraphirte von Seiten des Stadtrates nach Chemnitz um Kähne, welche aber wegen dortiger Ueberschwemmung nicht zu erlangen waren. Man wandte sich in gleicher Weise nach Zwickau, von wo die Nachricht einging, daß die neue Eisenbahn füglich nicht zu befahren sei. Hiesige Zimmermeister sagten zu, mit Anbruche des Sonntags brauchbarere Rettungsfähren zu schaffen; — und damit die in der Wassersnoth Befindlichen Wahrzeichen der allgemeinen aufgeregten Wachsamkeit und Hülfsbereitschaft haben sollten, wurden an vielen Stellen Pechpfannen angezündet, und namentlich in der langen Fronte des Meisterhauses Lichter in die zahlreichen Fenster gestellt. Ach, die Unglücklichen verstanden diese Trostreichen der Liebe nicht! Die nebelige Beschaffenheit der nächtlichen Finsterniß verdoppelte, und verdreifachte den scheinbaren Umfang der leuchtenden Pechflammen, und zu der Trostlosigkeit inmitten der tobenden Gewässer gesellt sich nun noch der schreckliche Wahn, daß zu der Wassersnoth, auch noch die Feuersnoth gekommen, sei. Inzwischen wagte und vollbrachte in wirklicher Todesverachtung der Heldenmuth Einzelner göttliche Werke der Hülfe und Rettung.
Mit den Landsmannschaftern standen wir Burschenschafter damals eigentlich in gar keinem Verhältnisse; beide Theile gingen neben einander her. Die leidige „Paulfrage“ spielte schon dieselbe Rolle, wie noch heute. Wie hielten am Ehrengerichte fest und gingen nicht los, ohne daß ein solches zuvor den betreffenden Fall untersucht hätte, wozu die Landsmannschafter sich nicht verstehen wollten. Unter uns selbst waren aber die Ansichten darüber verschieden, ob das Ehrengericht unbedingt entscheiden dürfe oder nicht. Viele, und zwar auch solche, die eine tüchtige Klinge stießen, waren grundsätzlich gegen jeden Zweikampf, in welchem sie unter allen Umständen eine rohe Unsittlichkeit, eine völlige Barbarei erblickten. Sie meinten, ein Bursch habe Besseres zu thun, als sich von früh bis spät über unnütze Paukereien zu unterhalten und die Zeit mit platten Nichtigkeiten zu vergeuden. Während meines zweiten Aufenthaltes in Jena hatten sich in dieser Beziehung die Ansichten einigermaßen geändert: man war pauklustiger geworden.
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[493] Zwischen beiden Theilen waltete ein Verrufsverhältniß ob, das dann und wann recht unangenehme Auftritte herbeiführte, im Allgemeinen gingen aber die Dinge ziemlich glatt ab; man hatte gelernt, sich gegenseitig zu dulden, und unter der Hand verkehrten auch Hausburschen der feindlichen Parteien ganz gemüthlich miteinander. Mir persönlich haben die Extreme niemals zugesagt und so nahm ich denn auch keinen Anstand, mit einigen „netten Kerlen“ Umgang zu pflegen, obwohl sie andere Farben trugen. Ihre Versuche, mich zu „keilen“ und der Burschenschaft abwendig zu machen, scheiterten an der starken Neigung zu meiner Farbe.
Unter den Landsmannschaften, gab es ganz vortreffliche Burschen, ich fand sie gar nicht so „verrucht“, wie mir die Hallenser gesagt hatten, auch waren sie nicht so abgestumpft gegen vaterländische Dinge, wie ich mir eingebildet. Zwar blieb ich ein strenger Burschenschafter, aber ich legte einige Vorurtheile ab und sprach dann und wann mit Leuten, die blau-blau weiße, grün-roth-goldne oder schwarz-roth-weiße Mützen trugen. Unter diesen war auch der Thüringersenior, welcher auf der Johannisstraße dem Eichplatze gegenüber wohnte und den ich auch manchmal besuchte. Bei ihm ereignete sich Nachstehendes.
Ein Hallescher Märker, aus Potsdam gebürtig, war nach Jena gekommen und dort, ich habe vergessen, mit welchem Burschenschafter, auf krumme Säbel losgegangen. Sein Gegner hatte ihm einen fürchterlichen „Schmiß“ über die Nase gegeben, die nur mit großer Mühe wieder angeheilt wurde. Nun standen zwar die Halleschen Märker mit den Jenensischen Franken im Cartell, aber der Verwundete wurde der Sicherheit wegen in die Behausung jenes Thüringers gebracht und sah dort seiner Heilung entgegen. Sie war ihm langweilig, zum Zeitvertreib griff er oft an seine Nase, die dadurch viel schlimmer wurde, trank auch insgeheim, weil ihm alles Bier verboten war, Spiritus mit Wasser verdünnt, auch zum „Zeitvertreib“, wie er sagte; am Ende droheten seine Freunde, ihm die Hände an den Bettpfosten festzubinden, und nun wurde er folgsam. Als er mit der Jenaischen Hieroglyphe im Gesicht nach Halle kam, mußte er manche spitzen Worte hören, man sagte ihm zum Beispiel, daß eigentlich nicht mit dem Gesichte parirt werden müsse, sondern mit dem Schläger. Darüber fielen dann viele „dumme Jungen“ und jene Paukerei hatte in Halle ein halbes oder ganzes Dutzend Nachfolger. Dieser nun verstorbene Märker brachte es bis zum königlich preußischen Zeitungscensor und hat als solcher in Köln am Rhein viele Angriffe erfahren müssen.
Die Fremden, welche in Jena erschienen, um „Gastrollen“ zu geben, hatten, wenigstens zu meiner Zeit, schlechtes Glück. Ich erinnere mich sehr genau zweier Fälle, die uns viel zu lachen gaben. Um Pfingsten war damals, wie noch heute, der Zusammenfluß auswärtiger Studenten sehr stark; sie kamen von Halle, Göttingen, Leipzig, auch manchmal von Würzburg und Erlangen, und Alle wurden gastlich aufgenommen. Da fremden Landsmannschaften, gegenüber kein Verrufsverhältniß bestand, so freuten sich auch manche Burschenschafter auf Pfingsten, um sich dann einmal recht „ausleben“ zu können, und Paukereien blieben nicht aus. Die Einen wollten es den „Büchsiers“, die Anderen den „Landsknoten“ eintränken. Mit den Jenensern hatte freilich das Losgehen einen kleinen Haken, denn es galt der Stoßcomment, während die Hallenser und Göttinger nur mit Hiebschlägern umzugehen wußten. Deshalb suchten bei „Scandälen“ die Fremden es so einzurichten, daß sie die Reihenfolge der Waffen zu bestimmen hatten, und sie wählten natürlich immer die Hieber zuerst, in der Hoffnung, während der ersten sechs Gänge den Jenenser „abzuführen“. Gelang das nicht, und ich habe nie gehört und gesehen, daß es gelungen wäre, dann kamen freilich die spitzigen Dinger, die „Pariser“, Stoßschläger mit kleinen vergoldeten Glocken, daran, und der Fremde wußte schon, was ihm bevorstand. Sein Secundant mochte es noch so geschickt anstellen, um den Gegenpaukanten zu „geniren,“ es half nichts, der Pariser „saß“ und der Fremde konnte daheim nicht von gelungenen Thaten erzählen, er hatte in Jena Blut gelassen.
Während die Landsmannschafter, die sich untereinander immer in den Haaren und täglich auf der Mensur lagen, der gewöhnlichen Schläger mit großen Tellern sich bedienten und nur ausnahmsweise zu den ungleich gefährlicheren Parisern griffen, gingen die Burschenschafter mit anderen Burschenschaftern gewöhnlich, mit Landsmannschaften aber nur auf Pariser los, und niemals unter vierundzwanzig Gängen. Wir hatten aber auch viele tüchtige Schläger unter uns, die sich auf den Hieb verstanden, namentlich vormalige Rostocker, Kieler und Göttinger. Wenn nun die fremden Renommisten mit solchen anrannten, die beider Waffengattungen mächtig waren, dann waren sie doppelt im Nachtheil.
Zu Pfingsten 1830 war ein kleiner dicker Neoborusse aus Leipzig nach Jena gekommen, ein munterer, quirliger Kerl, dem man es ansah, daß er ohne ein paar Scandäle nicht zufrieden sein werde. Am ersten Festtag-Morgen war er mit einer Menge anderer Landsmannschafter mitten auf dem Markte; sie schlugen mit Glockenrappieren, und dieser kleine Leipziger B. „löffelte“ sich dabei ganz erklecklich. Etwa ein Dutzend von uns Burschenschaftern standen ein paar Schritte abseits und sahen dem munteren Spiele zu. Da wuchs dem quirligen Dicken der Kamm, er kam auf uns zu, suchte sich den Größten heraus und sprach zu dem langen M. aus Mecklenburg:
„Willst Du vielleicht einen Gang mit mir schlagen?“
Nun war der lange M., ein bildschöner, großer, breitschulteriger Bursch, die personificirte Ruhe, welche aber mit einer sehr nachhaltigen Kraft gepaart war. In seiner lakonischen Weise entgegnete er dem kleinen Neoborussen:
„Mit Vergnügen,“ rückte seine Mütze zurecht, sagte leise zu uns auf Plattdeutsch: „den will ich dreschen,“ und nahm das Glockenrappier. Da der Lange dem Kleinen schon eine Viertelstunde lang seine obligaten Fechterstreiche abgesehen hatte, so war er darauf vorbereitet und sie konnten ihm nichts anhaben. Er ließ jenen erst recht in’s Zeug gehen, nahm dann seine Zeit wahr und gab ihm einen Schmiß über Schulter und Rücken, daß der kleine Quirl in die Kniee sank. Aber er hielt sich tapfer und verzog keine Miene. Es kam wieder ein Gang; schwapp! derselbe Hieb; und so ging es ein halbes Dutzend Mal hinter einander, bis der kleine üppige Neoborusse förmlich zermürbt war. Der lange M., welcher während dieser eisernen Drescherei auch nicht eine Sylbe gesprochen hatte, sagte dann mit äußerster Gelassenheit und ohne eine Miene zu verziehen:
„Willst Du vielleicht noch einige Gänge mit mir machen?“
Der Leipziger hatte indessen für jene Pfingstferien genug, wir aber erfreuten uns am zweiten Pfingsttage wieder eines gemächlichen Schauspiels. Wöllnitz bei Jena ist ein Dorf, das sich durch sein Bier und seine hübsche Lage empfiehlt; es war auch Sitz zweier Herzogtümer, die freilich im gothaischen Kalender nicht mit aufgeführt werden; es scheint, als ob sie bei anderen Potentaten nicht für legitim galten, wiewohl sie von den Fürstenthümern in Lichtenhain anerkannt wurden. Das eine Herzogthum war jenes der Franken, das andere wurde von den Burschenschaftern gebildet, und diesem letzteren hat viele Jahre lang der starkbärtige Morba, nun längst Hauptgewaltiger auf der lustigen Schmücke im Thüringerwalde, rühmlich vorgestanden. Er ist zwar Unterthan des Herzogs Ernst von Gotha, aber Se. Hoheit versteht, mit seiner bekannten Liebenswürdigkeit Talente und Größen zu würdigen und mag sie nicht fallen lassen. Deswegen hat der prächtige Mann auch den weiland Herzog Morba von Wöllnitz, ohne Zweifel in Anerkennung für dessen Regentenverdienste im Bierstaate Wöllnitz, auf die Schmücke erhoben und mit dieser belehnt. Seit der alte Joel dort das Zeitliche gesegnet, darf Morba sich oben als Alleinherrscher fühlen. Es muß nicht übel sein: als Student Herzog von Wöllnitz im Thale und als Philister Gebieter der Wolken auf der Schmücke!
Auf den Bergen bei Wöllnitz ist ein hübscher grüner Platz. Die Studenten sind der teleologischen Ansicht, daß derselbe von der Natur nur deshalb geschaffen sei, damit sie dort ihre Paukereien in aller Gemüthlichkeit, am liebsten Sonntag Morgens, abmachen können. Wenn ein gewisser Hofrath oder ein beliebiger Pastor die Ansicht hegt, das Gras sei nicht roth, sondern grün, damit der von Gott geschaffene Mensch sich die Augen nicht verderbe, so sehe ich nicht ab, welcher Mangel an Logik darin steckt, wenn der Jenenser Student meint, die Wöllnitzer Berge seien zum Pauken da. Gewiß sind sie bequem auch für die Zuschauer, denn die niedrigen Halden über der kleinen Tafelebene steigen langsam an und man kann das Schlachtfeld in aller Bequemlichkeit überschauen; auch fehlt es natürlich nicht an Platz für Kännchen und Stübchen, aus welchen man stärkende Züge nach Belieben trank; ohne dieses Letztere wäre jene Zweckmäßigkeitsansicht keineswegs gerechtfertigt.
Ein Hallescher Märker aus Hamburg hatte mit einem Burschenschafter aus dem braunschweiger Lande, der früher in Göttingen [494] studirte, contrahirt und man wollte auf Hieb losgehen. Wir hatten von den Göttinger Teutonen ein paar sehr schöne Korbschläger zum Geschenk erhalten und diese kamen am zweiten Pfingsttage zum ersten Male auf die Mensur. Sie wurde auf dem ebenen Platze genommen; wir Zuschauer lagen auf der grünen Halde und rauchten unsere Pfeife Tabak. Solch’ eine Paukerei im Freien sieht malerisch aus. Der Himmel war blau, die Schläger blitzten, der Unparteiische trat vor, die Secundanten stellten sich neben ihre Paukanten, die Zeugen standen abseit, wir Uebrigen bildeten das Publicum. „Auf die Mensur; bindet die Klingen; gebunden ist; los!“ Und dann klirrten die Schläger, bis die Secundanten einsprangen. „Nichts gesessen!“ So wurden einige Gänge gemacht, bis dann wirklich etwas saß oder vielmehr fiel, nämlich ein Ohr des Hallensers. Das war im Jahre 1830. Sieben Jahre nachher kam ich eines Abends nach einer stürmischen Fahrt von Helgoland in Hamburg an. Gegen Mitternacht befand ich mich in Unbescheiden’s Austern- und Delicatessenkeller. Nach einiger Zeit traten mehrere Männer ein; unter ihnen erkannte ich jenen zu Wöllnitz am Ohr beschädigten Hallenser wieder. Wir haben damals einige vergnügte Stunden verplaudert.
Freilich nehmen die Paukereien nicht alle Mal einen so harmlosen Ausgang. An einem abgehauenen Ohre oder einer zerklüfteten Nase oder einem Quartenschmiß durch’s Gesicht liegt am Ende nicht viel; Inhaber und Empfänger muß sich mit der lieben Eitelkeit abzufinden suchen, falls er nicht etwa nur eine kokette, gut geheilte Narbe hat, denn eine solche gilt bei Mädchen und Frauen als Empfehlungsbrief. Aber ein „Lungenfuchser“ war ein böses Ding und ich kenne aus der Zeit meines zweijährigen Aufenthaltes in Jena mehr als einen, der daran zu Grunde gegangen ist. Einen Mann habe ich auf dem Flecke erstechen sehen.
Es gab in Jena eine Teutonia, die zumeist aus solchen Mitgliedern bestand, welche früher zur Burschenschaft gehört hatten, wegen allerlei Irrungen ausgetreten waren und eine eigene Verbindung bildeten. Sie trugen schwarz, roth, gold und grün und hatten anfangs burschenschaftliche Ansichten und Bestrebungen festgehalten; es geht aber allen solchen abgezweigten Vereinen so, daß bald das landsmannschaftliche oder Corpswesen bei ihnen die Oberhand gewinnt. Das war auch 1826 mit den Constantisten der Fall, welche sich vom Burgkeller trennten und bald zu „Vandalen“ wurden. Unter jenen Teutonen waren sehr begabte und tüchtige Leute, namentlich ein durch seine Schweigsamkeit und seine gute Klinge ausgezeichneter Koburger; sodann ein Bremer oder Hannoveraner (ich weiß nicht, ob ich den alten Rups als Calaber au Apulus bezeichnen soll), der als Kenner der Geschichte und der schönen Literatur bedeutend geworden ist und dessen poetische Muse manches schöne und correcte Kind erzeugt. Ein Hallenser hatte dem kleinen Menschen, der auch im Sommer einen grauen Mantel mit langem Kragen und Pelz trug, eine Bärenmütze geschenkt, deren ellenlang herabhängender Sammetbeutel einst orangegelb gewesen sein soll; doch hat wohl in Jena kein Sterblicher gelebt, der beschwören könnte, welche Grundfarbe er eigentlich gehabt. „Rups“ hat die Mütze später am Weserstrande einem Auswanderer geschenkt und so wird jene unvergleichliche Hallisch-Jenensische Kopfzier wohl das Erstaunen der Indianer am Missouri oder Plattefluß erregt haben. Mein wackerer und poetischer Freund von der weiland Teutonia ist friedlich, jovial und grundgutmüthig, aber war auf das Pauken wie versessen. Als er etwa vierzig Mal auf der Mensur gewesen war, gerieth er an einen Burschenschafter, S. aus Weimar, der ihm den rechten Arm von unten bis oben zerstieß und denselben für das ganze Leben unbrauchbar machte. Aber Rups war nicht der Mann, der sich durch solch ein Pech hätte niederschlagen lassen; noch ehe der rechte Arm gänzlich geheilt war, fing er an, mit der linken Hand schreiben und stoßen zu lernen und er ist dann wohl noch zwanzig bis dreißig Mal links losgegangen, Bei manchen Landsmannschaftern war der rechte Arm mit Dreiecken von Stichwunden förmlich übersät, wie eine Forelle mit rothen Flecken. In der Mäderei habe ich gesehen, wie ein Paukant durch Hemd und Haut an die Thür gespießt wurde.
Manche Duelle wurden im Rauthal abgemacht; ich habe aber dasselbe nur zwei Mal betreten. Burschenschafter und Teutonen neckten sich zuweilen, namentlich jene, die noch zusammen in einer Verbindung gewesen waren. Der Gothaer B., neben dem Mecklenburger Buschmann der beste Stößer, war eines Tages, im August 1826, nach Lichtenhain gegangen. Er wollte zu Michaelis sein theologisches Examen machen. Der Teutone G–g aus Oldenburg fing an, ihn zu hänseln; er nannte ihn „einen Mann von Kunitz mit ’nem dicken Koppe,“ suchte ihn auch sonst zu reizen, und das Ende war ein Duell auf Pariser, bei welchem der Teutone L. jenem G. secundirte. B., der mich einstieß, hatte mir gesagt: „ich will ihm nichts thun;“ auch sah man, daß er seinen Gegner schonte. Zum Unglück kam aber auf der Mensur etwas vor, das ich mit Schweigen übergehen will; B. wurde gereizt, drängte den Secundanten zur Seite und rannte eine Querquart durch Brust und Hals G.’s. Das Blut strömte, der Getroffene sank zu Boden und war binnen wenigen Minuten eine Leiche. B. war außer sich; wir brachten ihn sammt seinem treuen weißen Pudel fort und ich habe ihn auch später während der Ferien in meiner Heimath beherbergt und weitergeschafft. Er war ein guter und friedfertiger Mensch. Vier Jahre später sah ich in demselben Rauthale, wie ein Göttinger einem Burschenschafter aus Erfurt den Dickmuskel des Oberarmes mit einem krummen Säbel gleichsam herausschälte, als hätte ein Fleischer ihn handwerksgerecht abgelöst.
Doch genug und übergenug von diesen Paukereien, von denen unsere akademische Jugend leider nicht lassen will und welchen sie durch ihre Sophistereien keine vernünftige Seite abgewinnen wird. Wenn man mit Studenten von Paukereien redet, hört zwar nicht die Gemüthlichkeit auf, wohl aber die Logik; das wollen sie freilich nicht zugeben.
Abgesehen von solchen blutigen Zwischenfällen hatte das Studentenleben in Jena eine sehr heitere Seite, und es war außerdem in der That ganz geeignet, den wechselseitigen Unterricht zu fördern. Das geschah vor Allem in den Kränzchen, in welchen ältere Burschenschafter mit den Neulingen allwöchentlich zusammen kamen. Es gab Fuchs-, Renoncen- und Verbindungskränzchen und in allen ging es sehr ernst und angeregt zu. Der Vorsitzende brachte irgend einen Gegenstand von allgemeinem Belang auf das Tapet, über welchen dann eine Erörterung stattfand. Es wurde darauf gesehen, daß die acht bis zehn Mitglieder eines Kränzchens aus ganz verschiedenen Theilen Deutschlands gebürtig waren, damit der Gedankenaustausch recht mannichfach sei. Das war dann auch durchgängig der Fall und wir Alle denken jetzt noch mit Genuß an jene schönen Stunden zurück, in welchen über Angelegenheiten des vaterländischen Lebens und die Herrlichkeit von Kaiser und Reich und von deutscher Größe warme Worte gesprochen wurden. Diese Kränzchen waren Bildungsanstalten der besten Art und nichts weniger als „demagogisch“. War es etwa eine Sünde, daß die Karlsbader Beschlüsse bei einer gesunden Jugend keine Gunst erfuhren und daß sie zornig darüber war, zu sehen, wie die Befreiungskriege für das große Gesammtvaterland, das Allen so theuer war, keine anderen Früchte gebracht hatte, als Reaction und Demagogenverfolgung? Diese Ansicht war aber, wie die Folge gezeigt hat, nicht auf die Burschenschafter und die Studenten überhaupt beschränkt, sondern durchschwängerte längst die ganze Nation. In der Jenensischen Burschenschaft dachte Niemand an „Anzettelung von Umtrieben“, wie man damals sich auszudrücken pflegte, auch in der sogenannten engern Verbindung nicht.
Diese letztere war eigentlich geheim oder sollte es doch sein. Die Burschenschaft war streng verboten, sie lag aber in den Gemüthern und war nicht auszurotten, deshalb bestand sie fort, nicht öffentlich constituirt, sondern halb und halb geduldet. Aus den mehr als Dreihunderten, welche in Jena unsere Farben trugen, hatten sich etliche dreißig der Tüchtigsten enger aneinander geschlossen und die alte Verfassung angenommen; sie bildeten einen festen Kern, an welchen die Uebrigen gleichsam als Krystalle anschossen. Diese munkelten wohl davon, daß eine engere Verbindung bestehe, und vermutheten auch ganz richtig die einzelnen Mitglieder, aber Gewisses wußten sie nicht. Im Grunde gab es gar nichts, das zu verheimlichen gewesen wäre, allein in jenen Zeiten konnten die Verfolgungen leicht in jedem Augenblicke wieder beginnen und man wollte auch der humanen weimarischen Regierung Verlegenheit ersparen. Sie drückte ein Auge zu, weil sie recht gut wußte, wie es sich mit dem angeblichen Demagogenthum verhielt. Für uns hatte aber der Nimbus des Geheimnißvollen einen großen Reiz und ich erinnere mich sehr gut, wie angeregt ich wurde, als der Anhaltiner L. mir auf einem Morgengange im Paradiese Eröffnungen machte, die dann weiter führten. Die engere Verbindung wählte sich die, welche sie zur Mitgliedschaft geeignet hielt, selbst aus, denn wie und bei wem hätte Jemand sich zum Eintritt melden können? [495] Aeußerlich bestand nur eine „Allgemeinheit“, deren Angehörige auf den Burschenbrauch verpflichtet wurden.
Man theilte mir mit, daß ich mit noch einem andern Fuchs, einem Lübecker, aufgenommen werden solle, und die Nacht wurde anberaumt. Die Versammlung fand in der Wohnung eines Burschen statt, der nachher in einem thüringer Staate eine Zierde unter den höheren Staatsdienern geworden ist. Nach zehn Uhr wurden wir eingeführt und sahen jene Dreißig bis Sechsunddreißig dasitzen; der Sprecher des Vorstandes hielt eine treffliche Rede und verpflichtete uns durch Handschlag auf die Verfassung der deutschen Burschenschaft. Diese feierliche Stunde habe ich nie vergessen, wie ich es denn auch nie bereuen werde, ein Mitglied jener Verbindung gewesen zu sein. Daß ich späterhin dadurch in manche Widerwärtigkeiten gerathen bin, die meinem Lebenslauf eine eigenthümliche Richtung gaben, hat sie mir um so lieber gemacht. Ich verdanke ihr viele wohlthätige Anregungen und herrliche Stunden und will ihr meine Anhänglichkeit bis an mein Lebensende bewahren. Heute freilich sind andere Zeiten; die Gemüther der akademischen Jugend haben, wie es scheint, einen andern Strich und eine andere Richtung, als wir vor drei Jahrzehnten; die Romantik ist ihr abhanden gekommen und ich will sie deshalb nicht schelten. Es kann nicht schaden, daß Deutschland, sammt seiner Jugend, endlich angefangen hat, praktisch zu sein. Aber schwungloser und prosaischer kommen die heutigen Studenten mir vor. Oder wäre ich etwa ein laudator temporis acti? Ich glaube kaum.
Wir durchlebten in Jena eine schöne Idylle. Wie reizend war es im Griesbach’schen Garten! Dort erzählten wir uns von Karl August, Amalie, Goethe, Schiller, Herder und den anderen Heroen jener weimarischen Tafelrunde des Geistes; dorthin ging, wer in schöner Einsamkeit Tieck, Novalis oder Jean Paul genießen wollte; dort las er auf einem Denksteine die vielbekannten Worte
Zierlich denken und süß erinnern,
Ist das Leben im tiefsten Innern,
deren Sinn er zu enträthseln suchte. Sie schienen Manchem dunkel, wie das bekannte: „Des Lebens Unverstand mit Wehmuth zu ertragen, ist Tugend, ist Begriff; Geduld und Wachsamkeit sind mehr denn Gold und Jugend Werth.“
Man bestieg den Landgrafenberg, den Fuchsthurm und die Kunitzburg, von welcher der Wanderer in der That einen wahren Prachtblick auf das reizende Thal der Saale hat. Nach Süden hin schloß in demselben die Leuchtenburg die Aussicht; sie stand wie ein Memento da, denn auf ihr hatte mehr als ein Burschenschafter seine Strafe abgebüßt. Aber das hinderte uns nicht, nach Kahla zu fahren, das am Fuße jener Burg liegt, und dort ein lustiges Vogelschießen mitzumachen. Die thüringer Mädchen fanden wir lieb und frisch und mancher Studio aus Süd und Nord hat dort oder in Eisenberg und den anderen Orten, wo flott getanzt wurde, sein Herz wenigstens auf einige Zeit verloren. Diese munteren Gesichter machten einen gar lieblichen Eindruck; Alle waren so ungeziert und dabei so sittsam und anständig; und wie mir ein Freund aus Schlesien, der Besitzer des schönen Hundes Scheck-Munni, sagte: „Es ist mit diesen thüringer Mädeln zum Schwerenothkriegen!“
Es ging ihm nämlich wie Buridans Esel; er glaubte in zwei schmucke Dirnen verliebt zu sein, in zwei verschiedenen Städtchen, und wußte doch nicht recht, welche eigentlich es ihm angethan habe. Darüber hatte der „Spektakel“ große Qual, und ich glaube, er ist auch von Jena fortgegangen, ohne in’s Klare zu kommen, welche denn eigentlich die hübscheste und angenehmste gewesen. Ich meinerseits hatte ein Stück Jugendherz in Rudolstadt, wo mir, wie jenem Schweizer im Tell, ein Mägdlein im Schlosse hold war. Keine Seele erfuhr davon; ich ritt Nachmittags fort, war Abends an Ort und Stelle und stieg bergan. Es fehlte nicht an buschigen Stellen und lauschigen Plätzen, wo Hand in Hand traulich gekoset wurde. Gegen Mitternacht sprengte ich wieder heim. Das waren schöne und reine Stunden, an welche ich in ungetrübter Stimmung zurückdenken kann. Um mit der Jobsiade zu sprechen:
Wir tranken des Mondes Silberschein
Und das Flimmern der lieben Sternelein.
Doch das ist nun schon lange, lange her, und die Hand, welche damals der romantische Bruder Studio drückte, auch schon lange, lange kalt!
Die Bierstaaten sind seit langen lieben Jahren ein sehr wichtiges und charakteristisches Item in dem Jenaischen Studentenleben. Die Landsmannschaften hatten ihre „Burgen“ und Herzogthümer in Lichtenhain, mit Ausnahme der Franken, deren Staat, wie schon bemerkt, in Wöllnitz war. Bei jenen hieß der Fürst immer Thus oder Tus, wie in Schwarzburg der Fürst allemal Günther heißt. Die Reihenfolge der Tusse ist länger als jene der reußischen Fürsten älterer oder jüngerer Linie. Ich darf kühn behaupten, daß Jena und die Dörfer, welche um das Städtchen herumliegen, die wackersten Zecher gesehen hat, die je in deutschen Landen das gelbe oder braune Naß getrunken haben. O, was ist da Alles geleistet worden! Wir waren klüger, wie der König von Thule, und warfen die Becher nicht in’s Meer, sondern wir behielten Kännchen und Stübchen, Aebte und Lanzen, wir ließen sie nicht, sondern machten es wie der lustige Zecher, den Robert Prutz so schön geschildert hat. „Wir zechten und zechten mit durstigem Mund“ ohne Unterschied der Facultas, und trotzdem hofften auch die Theologen, dermaleinst selig zu werden. Ob ihnen der liebe Gott so gnädig ist, wie dem Zecher von Prutz, weiß ich nicht, wünsche es aber aus vollem Herzen; so viel aber weiß ich, daß manche von ihnen helle Kirchenlichter geworden sind, welche ihre Gemeinden erleuchten.
Wir Burschenschafter hatten auch in Bezug auf unsere Bierstaaten Mannichfaltigkelt in der Einheit, denn unser waren zu Viele, als daß wir uns an einem einzigen Staate hätten genügen lassen; keine Dorfkneipe war geräumig genug, uns Alle zu fassen. In Zwäzen, der Kunitzburg gegenüber, hatten wir 1826 ein Kaiserthnm, auf dessen Throne, wie ich schon früher sagte, der „Kaptein“ in hoher Würde prangte. Die Zahl seiner Unterthanen, zu welchen ich gehört habe, mochte gegen siebenzig betragen. Die Reichsämter waren mit tüchtigen Zechern besetzt; es wurde aber in Zwäzen nicht selten ein hoher Sinn in das kindische Spiel gelegt, indem der „Bierwitz“ als Folie für patriotische Anmahnungen und Bestrebungen diente. In Ammerbach hatte sich ein Vasall des Kaisers als Herzog festgesetzt, in der Person des „Schnick“, eines pudelnärrischen Kerls aus Meiningen, der eine ausgezeichnete Klinge führte und in trockenen Späßen unübertrefflich war. Dieserhalb will ich es ihm auch vergeben, daß er einmal, als er mir bei einer Paukerei auf Pariser secundirte, nicht zu rechter Zeit die Klinge des von mir verwundeten Gegenpaukanten aufhob, wodurch ich in empfindlicher Weise zu Schaden kam. Schnick hatte „Landeskinder“ um sich versammelt, zumeist Thüringer, und sein Staat war in guter Ordnung. Auch wurde in Ammerbach, wo es sicher war, manchmal gepaukt. Wir stellten auf den Bergen und in den Schluchten Füchse als Späher auf, und wenn der schlaue Pedell Dorschel kam, fand er allemal Alles in bester Ordnung, und — wir tranken ihm vor. In Wöllnitz thronte der schon erwähnte Morba in unnachahmlicher Hoheit; nie aber habe ich ihn größer und majestätischer gesehen, als eines Tages im Sommer 1830, da er im Hermelinmantel, mit Herzogshut, Schwert, behängt mit Orden, zu Esel, gefolgt von Vasallen, in Ziegenhain einritt. Dort hatte sich, nach Verfall des Kaiserthums Zwäzen, welches nach des Kaptein’s Abgang hinsiechte, wie weiland das heilige römische Reich deutscher Nation, ein blühender Freistaat erhoben, der zu Anfang eines jeden Halbjahres seinen Landammann wählte; dieser führte die höchst wohlklingende Benennung „Ulk“, und trug als Zeichen seiner Würde eine hohe Pelzkappe. Zwischen der Republik Ziegenhain, deren Wahlspruch: Bier, Freiheit, Gleichheit, auf dem Wappen und den Pfeifenköpfen prangte, und dem Herzogthum Wöllnitz waren einige Irrungen ausgebrochen, wie denn das bei Nachbarn wohl zu geschehen pflegt. Es handelte sich natürlich um Bierstreitigkeiten, und ob bei einem Wettkampfe die Unterthanen oder die freien Bürger mehr und rascher getrunken hätten. Der Zwist war jedoch in Güte beigelegt worden, und zum Beweise, daß aller Zank und Span verschwunden, die Streitaxt begraben sei, ließen Seine Durchlaucht dem Herrn Landammann Ulk melden, daß Allerhöchst Sie dem befreundeten Staate einen Besuch zugedacht hätten. Der große Tag erschien. Herzog Morba wurde auf der Grenze der beiden souverainen Staaten Ziegenhain und Wöllnitz von freien Bürgern festlich begrüßt; sie hielten ihm den berühmten Birkenmaier entgegen, jenen kolossalen hölzernen Humpen, auf welchen Jena stolz sein kann. Durchlaucht tranken mit Würde auf das Wohl der befreundeten Republik einen Zug, der wirklich sehr tief und also rechtschaffen war. Wir nahmen daraus ab, daß aller Groll verschwunden sei, denn so wacker konnte nur ein gutes, friedsames Gemüth Bescheid thun. Sämmtliche Wöllnitzer Unterthanen hatten ihren Potentaten begleitet. Ich will die Einzelnheiten jenes großen Tages nicht näher schildern, sondern nur [496] hervorheben, daß die Verbrüderung sehr innig war, denn ich sah Republikaner und Monarchisten umschlungen oder neben einander im grünen Grase liegen, guten Bieres voll. Der Wetteifer zwischen beiden Theilen ließ in der That nichts zu wünschen übrig, jeder blieb unbesiegt. Palmam, qui meruit, ferat.
Aber wem hätte man die Palme zuerkennen sollen, wo Alle und Einer und Einer und Alle gleich tapfer waren? Wie kühn strahlte Dein Blick, „schöner E–s“, als Du der Durchlaucht gegenüberstandest und Deine Kräfte mit ihm maßest; wie stottertest Du kecke Worte, „langer Itzig“, als Du den Wöllnitzern beweisen wolltest, sie seien „Kameele“! Und wie lebhaft declamirte der Philolog H. aus Anhalt, der längst in griechischer Erde den ewigen Schlaf schläft, ein Gedicht Anakreons nach dem andern, während der „Burggeist“ aus der Lausitz vom Kunec Luarin, der Völuspa und der Gudrun erzählte und Verse aus den Nibelungen sprach! War nicht auch die „Bierlatte“, jener ewige Student, der heute, Anno 1858, noch die Mappe trägt und Jena’s Pflaster tritt, schon damals seit sechs Jahren ein sehr durstiger Bursch? Und wer könnte es je vergessen, daß Z. aus Rudolstadt und Hobelmann aus Westfalen, diese zwei unverwüstlichen Kämpen, deren Einer den Andern nie in hundertfachem Wettkampf besiegt hat, damals beide zu gleicher Zeit „abfielen“ und dermaßen von der Bank heruntersanken, daß von Keinem etwas zu sehen war? Der Herzog sagte gemessen: „Schafft man diese Mannen nicht ins Burgverließ?“ worauf ein dienender Knappe, ein Ziegenhainer Bäuerlein, naseweis erwiderte: „Nä, ich will die beeden Herren lieber uf’s Stroh bringen.“ Was denn auch geschah, weil es sehr nöthig war.
Es war Sitte, daß man sich häufig auf den Stuben besuchte, und daß vier bis sechs nähere Bekannte zu Kaffee oder Chocolade kamen, um gemeinschaftlich gute Bücher zu lesen. Auf solche Weise bin ich z. B. mit Menzel’s Geschichte der deutschen Literatur bekannt geworden, welche damals manche von uns sehr beschäftigte. Gleich nachher wurde des Disputirens über Justinus Kerner’s Seherin von Prevorst kein Ende, welche der „kluge Mann“ aus Altenburg auf’s Tapet gebracht hatte. Andere wollten von dem „Geisterkram“ nichts hören und spielten lieber Schlauch; es machte ihnen mehr Vergnügen, wenn der „Consistor“, gerade weil er ein sehr solider und uns Allen äußerst werther Bruder Studio war, auf dem Burgkeller den Masaniello zum Besten gab. Er warf den Rock ab, streifte die Hemdärmel zurück, setzte eine rothe Mütze auf, schlang einen rothen Shawl um den Leib, und der leibhaftige neapolitanische Fischer stand vor uns auf dem Tische. Er stimmte das: „O seht, wie herrlich strahlt der Morgen!“ an, schwang dabei einmal sogar das große Tischmesser der Frau Vettern, und spielte seine Rolle ganz ausgezeichnet; deshalb erntete er auch allemal wohlverdienten Beifall. Dieser Consistor war der gewissenhafteste Mensch, den man sich denken kann, dabei ein durchaus reines, mildjoviales Gemüth. Als Seelsorger wirkt er seit vielen Jahren sehr wohlihätig und gehört zu jenen Predigern, die getrost ihrer Gemeinde sagen können: „Thut nach meinen Worten und nach meinen Werken.“
Im Jahre 1830 war durch ganz Europa große Aufregung in den Gemüthern, von welcher auch die Studentenwelt berührt wurde. In einem so zahlreichen Gemeinwesen, wie die Burschenschaft, wo so viele verschieden begabte junge Männer mit mannichfachen klaren oder verworrenen Anschauungen und oft abweichenden Bestrebungen mit einander in täglicher Berührung lebten, mußten nothwendig die Geister aufeinander platzen. Die Trennungen, von welchen die Geschichte der Burschenschaft Manches zu erzählen hat, liefern, meiner Ansicht zufolge, einen Beweis für den Ernst, der in den Bestrebungen selbst lag. Gewiß haben bei denselben nicht selten Eitelkeit und selbstsüchtige Beweggründe Einzelner in verhängnißvoller Weise mit hineingespielt; im Allgemeinen darf aber behauptet werden, daß geistige Gegensätze und Hinneigung zu verschiedenen Richtungen den Aufschlag gaben. So verhielt es sich auch mit der Arminia und Germania. In Erlangen, wo stets ein sehr reges, burschenschaftliches Treiben herrschte, war die sogenannte christlich-germanische Richtung zur Geltung gekommen, und hatte einzelne sehr rührige und begabte Vertreter nach Jena geschickt. Diese fingen sogleich an, für ihre Ansicht Proselyten zu machen, und einen Kreis von Leuten um sich zu schaaren, mit welchen sie dann eine Opposition zu Stande brachten. Wir hatten bis dahin sehr einträchtig gelebt, und waren vollkommen zufrieden; wir hielten uns für gute Burschenschafter, auch ohne daß man uns aus den jüdischen Büchern des Alten Testamentes den Beweis zu führen suchte, daß die Burschenschaft eine von Jehova angeordnete Einrichtung sei. Wir meinten, es sei genug, daß sie als eine Verbindung dastehe, deren Mitglieder darnach strebten, den Staaten des deutschen Vaterlandes einmal tüchtige und patriotische Bürger zu liefern. Da auch Katholiken und zeitweilig auch Israeliten zu uns gehörten, und die Protestanten theils lutherisch, theils reformirt waren, so wollten wir von einer specifischen sogenannt christlichen Auffassung als Burschenschafter nichts wissen, sondern überließen es getrost jedem Einzelnen, wie er sich mit seinem Gott und seinem Gewissen abfand, wenn er nur im Uebrigen ein ehrenhafter Kerl war. Wir fanden es lächerlich, bei Comment- und Studentensachen Beweise aus der Bibel hernehmen zu wollen. Mit einem Worte, als die „christlich-germanischen“ Erlanger Theologen erschienen, war es mit Frieden und Eintracht vorbei; wir hatten christlich-germanischen Zank. Begreiflicher Weise wurden jene, durch welche der Unfrieden gebracht worden war, verhöhnt; es gab scharfe Worte und die Pariser blitzten, auch wuchs die gegenseitige Verbitterung immer mehr. Diese Erlanger Richtung war die sogenannte „arminanische“, und die Hauptträger derselben mochten es wohl längst auf eine Trennung abgesehen haben, um nicht ferner in ihrem Wesen und Streben Widerspruch zu erfahren. Die andere Richtung war die „germanische“; jene verschwommen und idealistisch, diese realistisch und praktisch. Nachdem die Theologen einmal Pulver angehäuft und den Zunder hineingeworfen hatten, flog die alte Burschenschaft auf, und trennte sich in Arminia und Germania.
Ich lasse die Arminianer, unter denen ich übrigens einige liebe Freunde hatte, bei Seite. Nicht alle waren „verbohrt“, da außer jenen „christlichen“ Motiven manche Umstände mitwirkten, welche den Einen oder Andern veranlaßten, mit jenen zu gehen. Der trübselige „Wingolf“ kann als ein extremer Ausläufer der Arminia betrachtet werden.
Die Germanen waren vielleicht die merkwürdigste Verbindung, welche je auf einer deutschen Hochschule geblühet hat. Mindestens zwei Drittel waren bedeutende Menschen und sie sind, gleichviel, welchen Berufskreisen sie später angehörten, weit über die Gewöhnlichkeit emporgetaucht; die Uebrigen waren wenigstens „forsche“ Leute. Ihre Gesammtzahl betrug einige siebenzig Köpfe, sie hielten zusammen wie Pech und Schwefel, und wurden von den Landsmannschaften als die Hälfte der Universität anerkannt, hatten auch in den Conventen allein so viele Stimmen abzugeben, wie die übrigen Verbindungen zusammen. Sie konnten in der That für eine wahre flos juventutis gelten. Welche Freude für diese alten „Germanen“, so viel ihrer noch übrig sind, sich nun in Jena wieder zusammenzufinden post tot discrimina rerum! Ueber jene alten Zerwürfnisse ist mehr als ein Vierteljahrhundert hinweggezogen, und so werden denn auch Manchen Becher zugetrunken werden, mit denen man früher Stiche gewechselt hat.
Die Nachrichten von der Julirevolution hatten die Gemüther noch mehr aufgeregt; sie waren wie ein Blitz aus heiterm Himmel gekommen. Auf dem Markte standen, wenn ich mich recht erinnere, am 1. August, viele Studenten in verschiedenen Gruppen wie gewöhnlich, plauderten und rappierten. Da kam plötzlich A–ee, ein Burschenschafter aus Braunschweig, der ein eifriger Schüler Luden’s war, und diesen Professor eben besucht hatte, aus der Leutragasse und hielt einen großen Zeitungsbogen in der Hand. Nachdem er mit Einigen ein paar Worte gewechselt, verbreitete sich plötzlich die Kunde, daß in Frankreich eine Revolution ausgebrochen und König Karl der Zehnte aus Paris verjagt sei. Diese Nachricht ging wie ein Lauffeuer durch die Stadt, Studenten und Philister strömten von allen Seiten herbei, und A. wurde nolens volens gepackt und auf den Marktbrunnen gehoben, von welchem herab er dann einem mit gespannter Aufmerksamkeit horchenden Auditorium, als improvisirter Professor der Politik, eine ganze Nummer des Constitutionnel verdolmetschte. Die Nachricht, daß General Lafayette an die Spitze einer provisorischen Regierung getreten sei, machte einen ungeheuern Eindruck. Diese politischen Mittheilungen wurden dann während der nächsten Tage vor einem stets anschwellenden Zuhörerkreise fortgesetzt, bis es dem von allen Seiten in Anspruch genommenen Professor wider Willen zu viel wurde; er verschwand plötzlich auf einige Tage, und ließ die Commilitonen mit den Pariser Zeitungen zurecht kommen, so gut sie konnten.
Einige Zeit nachher verließ ich die liebe Universität Jena und ging in’s Philisterium.
- ↑ Karl Siebel, der bekannte und geschätzte Wupperthaler Dichter.
- ↑ Die Verlagshandlung (Bädeker in Elberfeld) verkauft jetzt Exemplare des Ludwig Capet für 15 Silbergroschen zum Besten der Hinterlassenen des Dichters.
- ↑ Oder Andere halten ihm einen solchen als Blitzableiter! Einst berief man mich zu einr verheiratheten Dame, welche über ihr vermeintliches Lungenleiden und baldiges Ende mit so viel dramatischer Wirksamkeit zu klagen wußte, daß ihre jungen Töchter öfter in Thränen zerflossen. Sie that dies alltäglich von zwölf Uhr Mittags an, steifaufrecht von Crinoline und Seide umwallt, im Lehnstuhle sitzend. Vor zwölf Uhr war sie für Niemand, selbst nicht für den Arzt zu sprechen. – Ihr Gemahl war der größte Phlegmatiker, den ich jemals sah (ich zählte bei ihm in der Minute unter sechzig Pulsschläge und kaum mehr Worte, wenn er sprach). Er bezahlte seiner Frau einen Arzt, um selbst Ruhe zu haben.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: suchter