Die Gartenlaube (1862)/Heft 24
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No. 24. | 1862. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.
Zwei Welten.
Der Geheimerath hatte sie ohne eine Bewegung angehört. „Ich werde das nicht thun, Kind,“ sagte er jetzt – nicht barsch, nicht kalt abstoßend, aber mit der Ruhe eines unbeugsamen Entschlusses; „und damit Du mich nicht für unnöthig hart hältst, werde ich Dir sagen, weshalb. Der junge Mensch hat kein Herz, weder für seinen Vater, noch für die Ehre des Namens, den er mit uns trägt. Daß die künstliche Stellung, welche ihm seine Eitelkeit über seinem wirklichen Boden geschaffen, einmal mit Schrecken zusammenbrechen werde, wie alles Unnatürliche, habe ich längst gewußt; habe auch gewußt, daß seine Neigung, sich allem Neuen und Modernen auf Kosten einer soliden, geprüften Basis zuzuwenden, einmal das Unglück seines Lebens werden müsse. Ich habe es wahrlich nicht daran fehlen lassen, seinen Blick zu klären, und ich hoffte wenigstens eine Zeitlang, daß, wenn nicht seine bessere Erkenntniß, so doch die Rücksicht und Achtung gegen mich ein Zügel für seine Neigungen sein werde. Er hat mir längst diese Hoffnung geraubt, und was jetzt meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt hat, ist nur eine Folge seines Mangels an Pietät und wahrem Herzen. Wo diese aber fehlen, ist jede neue Hoffnung eine Schwäche. Jetzt wird unser Name, auf dem noch nicht ein Flecken haftet, in den Untersuchungen des Criminalgerichts paradiren und in den Zeitungen durch das Land getragen werden; der ehrenhafte Vater wird unter kühlem Mitleid die Begleitung abgeben müssen, und jeder ungerathene Mensch, gegen den ich ein Wort verlieren möchte, hat das Recht, mir den eigenen Sohn vor die Augen zu halten. Ich werde das ertragen, wie ich schon Schlimmeres erduldet, aber er soll mir wenigstens nicht vor die Augen kommen. Und damit genug, Kinder, jedes weitere Wort ist verschwendet!“ Er drehte sich mit einem kurzen Kopfneigen wieder dem Fenster zu.
„Aber Vater –!“ begann Marie von Neuem, und in ihrem Tone bebte das ganze Drängen ihrer Empfindung; der rasch zurückgewandte Blick des Geheimraths indessen schnitt ihre weiteren Worte ab. „Es ist genug, Kinder!“ wiederholte er, jedes Wort betonend, und schritt dann mit starken Tritten nach seinem Schreibepult; die Zurückgewiesene aber senkte mit einer dunklen Wolke auf ihrer Stirn den Kopf, faßte die Hand der Schwester, welche während der ganzen Scene mit großem unverwandtem Auge jede Veränderung in dem Gesichte des Vaters beobachtet zu haben schien, und verließ mit ihr das Zimmer.
Im Vorzimmer stand der alte Mangold, den gespannten Blick auf die Heraustretenden geheftet; Marie schüttelte nur trübe den Kopf und öffnete schweigend die Thür nach dem Corridor; als sich diese aber hinter den Mädchen geschlossen, hielt Helene plötzlich ihren Schritt an. „Sagte er denn das Alles nicht nur wegen sich selbst? War denn da etwas von Liebe für Hugo oder für uns darin?“ fragte sie.
„Sei glücklich, daß Du das jetzt erst fühlst!“ erwiderte die Aeltere mit leisem Nicken und schritt gesenkten Kopfes weiter. –
Unweit des Zimmers der Mädchen und von diesem nur durch das Schlafcabinet der im Hause lebenden Schwiegermutter des Geheimraths getrennt lag ein kleines Empfangzimmer, welches die alte Frau zu ihrem bequemsten und liebsten Aufenthalte gewählt, und dort saß sie auch jetzt in dem weichen Lehnstuhl am Fenster, während ihr gegenüber sich ein noch junger Mann in der leichten Nachlässigkeit eines Hausfreundes niedergelassen hatte.
„Ungezogen mögen Sie mich nennen, gnädige Frau, aber doch wirklich nicht sonderbar!“ sagte er soeben lebhaft, und der breite Mund verzog sich zu einem Lächeln süßer Verbindlichkeit; „ungezogen, daß ich der frühen Stunde nicht achte; aber sonderbar ist es doch in keiner Weise, daß, wenn ich Sie bereits auf Ihrem Plätzchen sehe, es mich drängt, Ihnen einen „guten Morgen“ zu bringen! “
Die feine alte Frau legte den Kopf, dessen dichtes graues Haar sich noch voll unter dem Spitzenhäubchen hervordrängte, gegen die Lehne des Stuhles zurück. „Was haben Sie denn an einer Großmutter, die nicht einmal mehr als einen hausbackenen Verstand besitzt?“ fragte sie, die dunkeln, noch immer schönen Augen lächelnd auf seinem Gesichte ruhen lassend; „Sie sind doch ein sonderbarer junger Mann, daß Sie Frauen eine Aufmerksamkeit widmen, deren sich junge Mädchen kaum beiläufig einmal von Ihnen erfreuen. Jede Viertelstunde, mit einem alten Wesen wie ich verbracht, muß doch ein Opfer für die Jugend sein!“
Er hatte den Blick unverwandt in dem ihren ruhen lassen, während seine Züge einen Ausdruck von freundlichem Ernst annahmen. „Alt? was heißt denn alt?“ fragte er, seinem Tone eine halbe Dämpfung gebend. „Wo das weibliche Herz in seinem Empfinden noch frisch ist, da bedeutet alt nur: geklärt, geläutert, mild; es kann selbst junge Frauen geben, die ich in diesem edlen Sinne alt nennen möchte, während der aus gröberem Stoffe gebildete Mann oft selbst im körperlichen Alter sich noch der trübenden Leidenschaft nicht entledigen kann. Wie ich nun die Frauen in der Eigenthümlichkeit ihres Seelenlebens für das veredelnde Princip im Menschenthum halte, so kann es auch in einem Umgange mit ihnen mir gar nicht auf die Zahl der Jahre, sondern nur auf die Klarheit des Gemüthes ankommen, das mit einem Instinct, welcher uns Männern ganz verloren gegangen ist, immer [370] das Richtige trifft und einen allmächtigen Einfluß auf den ganzen Gang der Menschheit ausüben könnte, wenn nur die wahre Bestimmung des Frauengeschlechts in ihrer ganzen Bedeutung erkannt würde. Das Mittelalter mit seinem Frauen-Cultus, das Amerikanerthum, als es die Stellung seiner Ladies bezeichnete, wußten recht gut, welchen sittlichenden, sänftigenden Factor sie damit in’s Leben riefen, und wenn jetzt in unsern deutschen Verhältnissen der Cultus der Frauen seine volle Berechtigung hätte, würde es nicht nur vielfach in unserem häuslichen Leben anders stehen, sondern auch unser ganzes modernes Streben, das die Gefühlswelt völlig ausschließt, das dem nüchternen Stückchen Verstand nur allein ein Recht geben will und alles Uebersinnliche mit dem Zollstocke des beschränkten menschlichen Gehirns zu messen unternimmt, würde nicht auf die jetzigen Abwege gerathen sein. Ich besitze nicht die siegende Kraft eines allgemeinen Reformators, und so schaffe ich nur mir eine kleine Welt nach meiner Ueberzeugung, habe den Frauen-Cultus in meinem eigenen Leben aufgestellt und weiß, daß ich nichts Besseres zu meiner eigenen Veredelung zu thun vermag. Da haben Sie Alles, gnädige Frau! Junge Mädchen sind noch gährender Most – es giebt allerdings einzelne bevorzugte Naturen darunter,“ setzte er langsam, die Augen senkend hinzu, „denen jede Übergangszeit erspart ist, die wie Lilien sich in keuscher selbstbewußter Ruhe dem Lichte erschließen –“ er hielt, wie seinen Gedanken folgend, inne.
„Sie sind dennoch ein sonderbarer Mann,“ sagte die alte Dame, ihm mit einem Blicke voll stiller Empfindung die kleine, welke Hand hinhaltend, „aber ich denke Sie zu verstehen und – ich muß Ihnen sagen, das; ich Sie recht lieb habe!“
Er umfaßte die magern Finger mit seinen beiden fleischigen Händen und hob die Augen in einem eigenthümlich schwimmenden Ausdruck zu ihr – da öffnete sich die Thür, die beiden Schwestern einlassend, und schon mit dem ersten Geräusche hatte er sich zu seiner früheren Stellung wieder aufgerichtet; der massiv geschnittene Mund sandte den Eintretenden ein begrüßendes Lächeln entgegen, während die Augen in Secundenschnelle jede Einzelnheit in ihrer Erscheinung überliefen und dann ans Helenens frischen, fein entwickelten Formen haften blieben.
„Heute Morgen habe ich hier Andern den Rang abgelaufen!“ sagte er, eine Miene vertraulicher Neckerei annehmend.
„Wir haben auch nicht gelernt, Carrière zu machen!“ gab Marie trocken zurück und griff, ohne einen Zug zu ändern, nach einer seitwärts liegenden Stickerei; Helene aber hatte die Augen groß auf ihn gerichtet, als denke sie zum ersten Male daran, ihn genau zu betrachten, wandte sich dann nach der alten Frau und küßte diese. „Nicht wahr, Großmama,“ sagte sie, „es könnte mir niemals ein Fremder den Rang bei Dir ablaufen?“ und vor dem eigenthümlichen Tone in ihrer Frage hob Jene verwundert den Kopf. „Wer wird denn einen Scherz so ernst nehmen, Du närrisches Kind?“ erwiderte sie, ihr lächelnd das Haar glatt streichend, „bist Du nicht das Nesthäkchen, das ich aufgezogen habe?“
„Ich habe einen bösen Traum gehabt, Großmama!“
„Träume sind Schäume, Mädchen! frage den Herrn Director hier!“
„Der sich aber doch mancherlei träumen läßt, woran er fest glaubt!“ warf Marie, ohne aufzublicken, dazwischen.
Ein einziger finsterer Strahl schoß aus dem Auge des Mannes nach der Redenden, dann wandte er sich mit demselben geschmeidigen Lächeln wie bisher nach der alten Dame. „Ich glaube wirklich an meine guten Träume, denn sie deuten immer innere Ruhe und Ordnung an,“ sagte er; „böse Träume sind schon in sich Lügen, da sie aus einer gestörten, getrübten Seele kommen, und so, Fräulein Helene,“ schloß er, die breite Hand aussteckend, „lassen Sie uns mit einander nur immer das Beste träumen!“ Es lag eine stille Bedeutung in seinen Worten, und die alte Frau hob die lächelnden Augen erwartend nach dem Mädchen; über Helenens Gesicht aber breitete sich eine plötzliche leichte Blässe. „Was ich für mein Bestes halte, ist vielleicht am wenigsten das Ihre!“ sagte sie, den Oberkörper leicht zurückbiegend, und wandte sich dann der Schwester zu; der Schuldirector ließ die gehobene Rechte auf sein Knie sinken und biß sich auf die Lippen; die Großmutter aber hatte auch schon die magern Finger leicht auf seine Hand gelegt.
„Unruhiger Most! Sie haben es ja selbst ausgesprochen,“ klang ihre gedämpfte, besänftigende Stimme; „bei ihr sollen Sie aber kaum lange auf die Klärung zu warten haben!“ – –
Der Geheimrath hatte, als die Schwestern das Arbeitscabinet verlassen, einen bereits geschlossenen Brief von seinem Schreibepulte genommen, hatte nach der zur Hand stehenden Klingel gegriffen, und unmittelbar nach dem kurzen Läuten trat der alte Büreaudiener in’s Zimmer, sich steif neben der Thür aufstellend.
„Sie bringen das Schreiben hier dahin, Mangold, wo Sie gestern Abend den Brief zur Bestellung erhielten,“ sagte der Erstere kurz und kalt; „ich verbiete Ihnen aber hiermit, sich jemals von dieser Seite wieder zum Boten an mich gebrauchen zu lassen!“ Er hatte das Couvert auf den Mitteltisch gelegt und drehte sich dem Fenster zu.
Mangold hob nur den Kopf straffer, während es kurz unter dem grauen Schnurrbarte zuckte, machte aber sonst keine Bewegung, und nach einer kurzen Pause wandte Zedwitz rasch das Gesicht zurück. „Haben Sie mich nicht verstanden?“ fragte er wie in leichter Ungeduld.
„Ich habe verstanden, Herr Geheimrath,“ erwiderte der Alte, „aber ich wollte mit allem Respecte sagen, daß ich den Brief hier nicht forttragen möchte!“
Der Beamte hob mit einem seltsam aufleuchtenden scharfen Blicke den Kopf und machte drei Schritte gegen den Sprechenden; dann aber legte sich plötzlich eine dunkele Wolke auf seine Stirn. „Sie haben Recht, es ist keine Dienstsache und Sie mögen gehen,“ sagte er langsam, „ich werde zukünftig in Bezug auf Ihre Verrichtungen die Grenze genau ziehen!“
„Das ist es nicht, Herr Geheimrath, und Sie wissen es!“ erwiderte Mangold mit zuckenden Augenbrauen; „aber ich möchte um der Tage willen, die da kommen werden, nicht, daß der Brief aus dem Hause ginge. – Sie können mir befehlen zu schweigen, und ich muß gehorchen,“ sagte er rascher, als Zedwitz mit einer kurzen, finster abweisenden Bewegung den Kopf hob, „aber es sind nun bald vierzig Jahre, seitdem der junge Mangold dem Herrn Lieutenant Zedwitz zuerst das Pferd putzte, und nahe dreißig mögen es sein, seit er zum Einzug der gnädigen jungen Frau half und ein altes Stück Möbel im neuen Hause wurde, und Mangold hat sich nie ein Wort unterstanden. Aber es hat einen Abend gegeben, wo der Herr wie verzweifelt zu seinem Diener sagte: Mangold, kann denn ein Mensch zum Sünder werden, nur weil er streng an Recht und Ehre gehalten? Das war den Abend vor dem Begräbniß der gnädigen Frau. Damals halte Mangold nur die verweinten Augen als Antwort; aber mir ist es, als müsse gerade so ein Abend noch einmal kommen, und darum muß ich jetzt reden und sagen: Herr Geheimrath, denken Sie daran, daß es Ihr einziger Sohn ist, den Sie fortstoßen wollen; denken Sie daran, daß Jugend keine Tugend hat und wir auch einmal jung gewesen sind –!“
Eine kurze, gebieterische Handbewegung, mit welcher sich Zedwitz abwandte, ließ den Redenden stocken; Jener machte einen raschen Gang durch das Zimmer, und blieb dann der lang aufgerichteten knochigen Gestalt gegenüber stehen, ein scharfes, helles Auge fest auf deren Gesicht heftend. „Fast dreißig Jahre also ist dieser alte Mensch neben mir hergegangen, aber Alles, was ihm die lange Zeit von dem Wesen eines Mannes hätte zeigen müssen, der nie von dem gewichen, was er einmal als Recht erkannt, ist nicht so viel für ihn, als die einzige Stunde, in der er die in Trübsal versenkte Seele einmal hat schwach werden sehen. Ja wohl, es giebt Zeiten, in denen selbst der Stärkste an sich und der Richtigkeit seines Handelns zweifeln möchte, wo er in seiner Noth nach dem Nächsten als Halt greift – aber merken Sie wohl, alter Mensch, in solchen Stunden arbeitet der rechte Mann sich nur zu größerer Klarheit und Festigkeit in seiner Ueberzeugung durch, und Ihre Erinnerung an eine vergangene Zeit der Trübsal mag mir wohl jetzt das Herz noch mehr verbittern, aber am wenigsten an einem wohlüberlegten Schritte meinerseits etwas ändern. Und nun, Mangold, sind wir über alle dergleichen Punkte ein für allemal fertig! Sie haben mich an unser langjähriges außerdienstliches Verhältniß erinnert – gut! hier liegt der Brief, Sie mögen selbst entscheiden, ob es bleiben soll, wie es bisher gewesen!“
Er wandte sich von Neuem dem Fenster zu; in dem Gesichte des Alten aber begannen Schnurrbart und Augenbrauen ein Spiel des verschiedenartigsten Ausdrucks, bis endlich eine nothgedrungene Resignation in ihm Sieger zu bleiben schien und er langsam zum Tische trat. „Noch etwas, Herr Geheimerath?“ fragte er nach [371] dem Briefe greifend, und seine Stimme schien in einen Fistelton überschnappen zu wollen.
„Augenblicklich nicht!“ war die ruhige Antwort; als aber die Zimmerthür hinter dem Büreaudiener zuklappte, blickte Zedwitz rasch um und als er den Brief verschwunden sah, begann er langsam einen neuen Gang durch das Zimmer. Bilder der verschiedensten Art schienen in ihm wach zu werden; bald legte sich ein starrer, unbeweglicher Zug um seinen Mund, bald milderte sich der strenge Charakter seines Gesichts zu einem Ausdrucke stillen Schmerzes, und dann blieb er wohl stehen, in Selbstvergessenheit vor sich niederblickend, bis eine neue Vorstellung eine herbe Bitterkeit in seine Mienen sandte und ihn weiter trieb. Nach längerer Zeit endlich hielt er seine Schritte an und strich sich das dünne Haar glatt. „Ich muß ihr selbst das Nöthige mittheilen, wenn auch die Mädchen schon gesprochen hätten!“ murmelte er; noch eine Secunde lang blickte er, wie sich bedenkend, vor sich nieder und verließ dann hochaufgerichteten Hauptes das Cabinet, den Weg nach dem Zimmer der Großmutter nehmend.
Er trat dort ein, als eben der Schuldirector eine Bewegung sich zu verabschieden machte, und wie ein Strahl von Erleichterung ging es bei dem Anblicke des Letzteren über sein Gesicht. „Brechen Sie nicht schon auf,“ sagte er, erst der alten Dame und dann dem Gaste die Hand reichend; „es wird mir wohlthun, ein paar Worte mit Ihnen zu plaudern. – Da haben wir denn das lebendige Beispiel, zu welchem Ende die moderne Lebens- und Anschauungsweise unserer jungen Leute führen kann,“ fuhr er mit verfinstertem Gesichte fort; „einen jungen Mann, der die Fachstudien langweilig fand und dafür pikante, sogenannte Naturwissenschaften trieb, die an Stelle jedes geistigen Seins den rohesten Materialismus setzen; – der die eigene natürliche Stellung verachtete und sich dafür eine Schein-Existenz in über ihm stehenden Kreisen schuf; – der über die Ansichten lebenserfahrener Männer, wie seines Vaters, lächelte und sich dafür möglichst vielen Modethorheiten ergab, wie sich das logisch so eins aus dem andern entwickeln mußte. Nun, Herr Director, Sie wird es nicht überraschen, denn Sie haben längst meine eigenen Befürchtungen getheilt – “
„Aber, Vater –!“ wurde in diesem Augenblicke Mariens stehende Stimme laut, und ein schmerzlicher Vorwurf fiel aus den Augen des Mädchens in die seinen; ein kaltes, ablehnendes Kopfschütteln kam jedoch als Antwort.
„Soll ich etwa noch Dinge verschweigen,“ sagte er, „die schnell genug in Aller Mund sein werden, und mir nicht das Herz gegen einen nahen Freund leichter sprechen dürfen?“
„Aber um wen und um was handelt es sich denn?“ fragte die alte Dame, welche schon beim Beginn des Gesprächs in sichtlich steigender Besorgniß den Kopf gehoben hatte.
„Sie wissen noch von gar nichts, Mama? ich hoffte, die Mädchen würden mich der ersten Benachrichtigung überhoben haben!“ erwiderte er mit eigenthümlich gedrücktem Tone, während der Schuldirector seinen Hut wieder bei Seite gestellt hatte und den gespannten Blick an dem Munde des Sprechenden hängen ließ.
„Doch nichts Allzuschlimmes von Hugo?“ frug sie mit leise zitterndem Auge.
„Von Hugo!“ nickte der Geheimrath – da öffnete sich kurz und geräuschvoll die Thür, und bleich, aber mit leuchtenden, erregten Augen erschien der Genannte auf der Schwelle. Einen einzigen hastigen Blick warf er durch das Gemach und schritt dann rasch auf den Geheimrath zu.
„Vater, ich muß mit Dir sprechen, so darfst Du mich nicht hinwegweisen, denn das verdiene ich nicht!“ rief er, und der ganze Drang seiner Empfindung bebte in seiner Stimme; im nächsten Augenblicke aber hatte er auch die Anwesenheit des Fremden bemerkt und hielt seinen Schritt an. „Nur fünf Minuten, Vater, laß uns allein mit einander reden!“ setzte er, sich gewaltsam zu einem ruhigeren Tone zwingend, hinzu.
Der Schuldirector hatte sich bereits zum eiligen Verlassen des Zimmers erhoben, aber der Geheimrath faßte seinen Arm. „Sie bleiben, Freund,“ sagte er, während seine Züge zu Eis zu erstarren schienen, „ich habe hier kein Geheimniß!“ Mit einer entschiedenen Ablehnung indessen wandte sich der Gast dem Ausgange zu, und kaum schloß sich hinter ihm die Thür, als der alte Beamte einen Schritt gegen seinen ihn um halbe Kopfeslänge überragenden Sohn that. „Ich habe noch zu bestimmen, wem sich meine Thür öffnen oder verschließen soll,“ sagte er, und es war ein völlig steinerner Blick, welcher sich in das Auge des jungen Mannes senkte. „Geh!“ setzte er hinzu, die Hand gebietend nach der Thür erhebend.
Die kräftige Gestalt des Referendars schien ein plötzliches Zittern zu überlaufen. „Vater!“ erwiderte er, fast mit dem Tone eines bittenden Kindes die Hände zu ihm erhebend.
„Geh!“ wiederholte Jener, und ein Ton wie drohende Warnung klang in dem Worte.
„Aber, Herr Sohn, man treibt ein Kind nicht in dieser Weise aus dem elterlichen Hause!“ ward plötzlich die Stimme der Großmutter laut, während sich zugleich ein mühsam unterdrücktes Schluchzen von den Plätzen der Mädchen hören ließ; „er sagt selbst, daß er das nicht verdiene. Aber was ihm auch zur Last fallen möge, so ist ein so unerbittliches Verweigern jedes Wortes unrecht – wir sind allzumal Sünder, Herr Sohn!“
Die alte Frau hatte sich neben ihrem Stuhle aufgerichtet, die Hand auf die Armlehne stützend, und in ihren Augen leuchtete eine völlig veränderte Natur gegen ihr bisheriges mildfreundliches Wesen. In des Geheimraths Gesichte bewegte sich keine Miene, nur um seinen Mund machte sich ein leichtes, nervöses Zucken bemerkbar; Hugo aber hatte wie abwehrend die Hand gegen die Sprechende ausgestreckt. „Kein Wort für mich, Großmutter!“ rief er erregt; „wenn nicht der Drang meiner eigenen Liebe und Sorge, der mich hierher getrieben, das Vaterherz für den Sohn öffnen kann, so ist alles Uebrige vergebens. – Vater, noch einmal,“ fuhr er fort, die Hände von Neuem erhebend, „ich verlange ja nichts, als ein kurzes, verständigendes Wort mit Dir, und ich weiß, daß Du dann anders urtheilen wirst, als jetzt!“
Der Geheimrath aber hatte sich mit unverändert eisigem Gesichte der alten Dame zugekehrt und sagte: „Sie wissen nicht, Frau Mutter, daß es meine Pflicht als königlicher Beamter erheischte, den jungen Menschen hier sofort dem Untersuchungsrichter zu übergeben, daß es schon gegen mein Gewissen sein muß, von seiner Anwesenheit überhaupt etwas zu wissen, und so würde es gut sein, die jetzige Scene so rasch als möglich zu enden!“
Die Großmutter blickte halb erschreckt, halb zweifelnd von dem starren Auge des Schwiegersohns nach dem des Enkels und wieder zurück; Hugo aber hatte sich, wie in einem bestimmten Entschlusse, voll ausgerichtet.
„Dein Gewissen soll nicht durch mich beschwert werden, Vater,“ sagte er ruhig, obgleich das Beben seiner Stimme noch das Wogen in seiner Seele verrieth; „ich gehe – und mag Dir die Erinnerung an den heutigen Tag einmal nicht schwerer werden, als mir!“ Dann wandte er sich mit sicherm Schritte nach der alten Frau. „Großmutter, halte mich in Deinem Herzen, ich habe nichts verbrochen, was nicht ein Wenig wirkliche Liebe leicht verzeihen könnte – weißt ja doch, daß ich nie habe lügen können!“ und als sich vor seinem aus tiefer Seele kommenden Blicke ihre Arme hoben, trotz des noch immer unsichern Ausdrucks ihrer Augen, da lagen auch schon die beiden Mädchen an seinem Halse – Marie mit einem bittern, fast krampfhaften Schluchzen, das sie vergebens zu unterdrücken strebte, während Helene unter strömenden Thränen ihm zuflüsterte: „Gräme Dich nicht, Hugo! er liebt nur sich und was er seine Ehre nennt; aber auf uns rechne, wo mir unsere Kraft ausreicht!“ Schon in der nächsten halben Minute indessen hatte er sich in ihrer Umschlingung aufgerafft und schritt, mühsam der ihn überwältigenden Weichheit Herr werdend, rasch aus dem Zimmer. -
Er hatte das Haus verlassen und war die breite, sonnige Straße hinab geschritten, ehe er sich nur seiner Umgebungen wieder ganz bewußt ward. Er durfte kaum fürchten, bekannten Gesichtern zu begegnen, da er seit Beendigung seiner Schulzeit nur immer zu kurzen Besuchen im Hause seiner Eltern gewesen war; dennoch bog er jetzt fast unwillkürlich in die nächste enge Seitengasse ein, um sich möglichst gedeckt zu halten, und suchte sich von hier durch die krummen Straßen der alten Stadt einen Weg nach Römer’s Geschäfte. Zwei Tage waren es bereits, welche er in Heimlichkeit bei dem Freunde verbracht. Er hatte bei der Stimmung seines Vaters den ersten Schritt bei diesem nicht ohne alle Unterstützung thun mögen, sich erst mit seinen Schwestern in Verbindung setzen und den alten Mangold in’s Vertrauen ziehen wollen; nachdem aber endlich der entscheidende Brief, in welchen er das ganze volle Herz eines treuen Sohnes hinein gelegt zu haben [372] meinte, abgesandt gewesen, hatte ihn die Unsicherheit des Erfolgs nirgends mehr rasten lassen, und nur seiner Ungeduld folgend, hatte er sich am Morgen in die Nähe der elterlichen Wohnung gewagt.
Da war er auf den Büreaudiener getroffen, dessen niedergeschlagene Miene ihm noch schneller sein augenblickliches Schicksal verkündet, als der übergebene väterliche Bescheid, welcher ihn dann zu seinem letzten nutzlosen Versuche aufgestachelt.
Ueber alle den Bildern, wie sie jetzt als Wiederholung der eben durchlebten Scene seinen Kopf füllten, stand der einzige klare Gedanke: daß ihm kein anderer Weg bleibe, als nach Berlin zurück zu kehren und sich freiwillig dem Gerichte zu stellen; er vermochte jetzt nicht, ihn näher zu prüfen oder weiter zu verfolgen, aber er fühlte mit einer Art Erleichterung, daß dadurch wenigstens die peinigende Ungewißheit der letzten Tage geendet werde.
Als er sich Römer’s Hause, welches Comptoir, Niederlagen und die getrennten Wohnungen von Vater und Sohn in sich vereinigte, näherte, sah er den Freund, augenscheinlich nach ihm ausblickend, in der Eingangsthür stehen.
„Eine Entscheidung?“ fragte dieser, dem rasch Herangetretenen forschend in die Augen sehend.
„Eine Entscheidung!“ nickie der Referendar, das Haus betretend, finster. „Heute noch wirst Du mich loswerden, Fritz, und morgen denke ich ein wohlverwahrtes Quartier in Berlin einzunehmen. Ich habe ihm zwei Worte abgezwungen – er hält es für seine Pflicht als Beamter, mich dem Untersuchungsrichter zu übergeben; das kann ich aber selbst und auf eine mir angenehmere Weise thun! Ich hätte nichts Anderes erwarten sollen, aber das eigene Herz hat mich blind gemacht!“
Sie hatten schweigend neben einander die Treppe nach dem oberen Stock erstiegen. „Es ist während Deiner Abwesenheit Nachricht aus Berlin von dem jungen Mangold eingelaufen,“ begann endlich Römer, die Thür eines der Zimmer öffnend; „vielleicht findest Du hier etwas Tröstliches!“ Er schritt dem Freunde rasch voran und reichte ihm einen auf dem Tische bereit liegenden Brief; Hugo aber streckte nur langsam die Hand danach aus.
„Tröstliches!“ wiederholte er nach einem Blick auf das Couvert, „ich wüßte wahrlich im Augenblicke kaum, was mir tröstlich sein könnte. Und wenn mir jetzt gesagt würde, daß ich mein ganzes Unglück nur geträumt habe, so war doch die letzte Stunde eine Wirklichkeit, die einen ganz verhängnisvollen Schatten auf meine fernere Zukunft wirft. Ich sehe gar keinen Zweck mehr, mich in einem Berufe abzuquälen, an dem ich eben so viel Freude habe, als etwa das Pferd an seiner Tagesarbeit. Sieh, Fritz, die einzige Genugthuung, welche ich bis jetzt darin gefunden, war das Bewußtsein, meinem Vater gegenüber als wohlgerathener Sohn, der im regelmäßigen Gleise vorwärts geht, sich keine Extravaganzen zu Schulden kommen läßt und das ihm ausgesetzte Quantum in der vorausbestimmten Weise verwendet, dazustehen. Das ist zu Ende; auch würde mich keine Noth dazu bewegen können, nach dem heutigen Auftritte von meinem Vater noch einen Pfennig für meine Subsistenz anzunehmen. Und kann ich von den geringen Zinsen meines mütterlichen Vermögens, die ich bis jetzt für meine sogenannten Allotria verwandt, nicht leben, so muß ich eben mit dem Capital suchen, mir irgend eine andere Stellung, die mich nährt, zu verschaffen – meine bisherige Zukunft aber ist heute unter allen Umständen in Trümmer gegangen. Was da weiter kommt, wird sich zeigen, sobald ich mich dem Gerichte gestellt, und wenn es etwas Tröstliches für mich giebt, so ist es meine Sicherheit über diesen nächsten Schritt, ohne den sich überhaupt an keine Zukunft für mich denken ließe. Für Dich, Fritz,“ fuhr er lebendiger fort, als habe das unverhohlene Aussprechen ihn erleichtert; „für Dich keimt vielleicht eine Myrthe aus meinem augenblicklichen Ruine auf; – ohne alle Sentimentalität!“ unterbrach er sich, als sich das trübe Gesicht des Freundes wie zu einem raschen Widerspruche hob, „ich fühle jetzt, daß es bei der starren und vielleicht noch mißleiteten Denkweise meines Vaters, auch ohne den jetzigen Anlaß, über kurz oder lang zu einem Bruche zwischen uns gekommen wäre! Helene scheint sonderbar aufgewacht und zu einer merkwürdig richtigen Anschauungsweise der Verhältnisse gelangt zu sein. Laß sie eine entschlossene Stütze fühlen, Fritz, und ich denke, mein Vater wird zu sich selbst kommen, wenn er vielleicht an das Verstoßen eines zweiten Kindes gehen möchte!“
„Denke jetzt einmal nur an Deine Verhältnisse und lies Mangold’s Brief,“ erwiderte Römer, die Hand auf des Freundes Schulter legend; „ich habe fast gewußt, wie Alles kommen würde, und mag Dir jetzt am wenigsten rathen; aber in allen Lebenslagen magst Du auf mich rechnen, Hugo, wie man nur auf einen Freund und Bruder rechnen darf!“
Nr. 4. Die Wildheuer.
Wildheuer? Lieber Leser und liebenswürdige Leserin, wenn Sie einmal zu uns in die Schweiz kommen und durch ein felsenummauertes Hochthal wandeln sollten, dann vergessen Sie nicht, so bei einer sechs- bis achttausend Fuß hohen, zuweilen senkrecht abstürzenden, zuweilen mehr oder minder wild zerklüfteten Felsenwand stehen zu bleiben, ein gutes Fernglas aus dem Futteral zu ziehen und da recht aufmerksam hinaufzuschauen. Fast an jeder dieser Cyclopenmauern werden Sie hin und wieder schmälere oder breitere Bänder oder Vorsprünge bemerken, zuweilen eine kleine Ebene, die, wie ein Balkon an einem hohen Schlosse, in den Wolken zu hängen scheint, bald einen sanfteren Abhang bildend, der eben nicht viel steiler und abschüssiger als das Dach Ihrer heimischen Stadt- oder Dorfkirche ist. Diese luftigen, mit unbewaffnetem Auge aber kaum erkennbaren Plätzchen nehmen sich, im Gegensatze zu der grauen, monotonen Farbe der öden Felswand gar hübsch und erquickend aus, denn sie leuchten, besonders wenn ein Gewitter im Anzuge ist, oder gar die niedergehende Sonne das Gebirge in goldenen Lichtglanz hüllt, bevor das eigentliche Alpenglühen eintritt, im brennendsten Smaragdgrün wie eine Oase im gelben Wüstensande. Sie haben jetzt ein solches hübsches Fleckchen entdeckt? – Gut. Das ist eine Domäne der Wildheuer. Ein buchstäblich hoch gehängter Brodkorb! – siebentausend Fuß über der Meeresfläche, keinen Zoll weniger. Es ist kein Scherz! Sie suchen vergebens nach der Spur eines Weges, der zu dem luftigen Besitzthum hinaufführte! Wenn Sie aber Ihre Augen etwas schärfer anstrengen, werden Sie einen dunkeln Streifen bemerken, der sich in wunderlichen Krümmungen an der kahlen Felswand hinschlängelt und in allerlei Zickzackwindungen an der Felsenwand über dem Abgrunde hinführt und oben über dem saftig grünen Grasplätzchen wegstreift. Das ist ein Weg, wie extra für den Wildheuer geschaffen. Außer ihm, seinem schwindelfreien Buben und seiner gutkletternden Ziege, die als Marketenderin zuweilen den Feldzug in’s Gebiet der Wolken mitmachen muß, außer der Gemse und dem dieser überall nachkletternden Jäger wird diese Straße freilich nicht so leicht Jemand betreten, denn sie führt überall über schwindelndem Abgrunde hin, und es giebt Stellen darauf, die gerade noch breit genug sind, um die derbbeschuhten Füße einen vor dem andern darauf hinsetzen zu können. Das hindert den Wildheuer aber nicht, wenn er zurückkehrt, eine schwere Bürde duftenden Bergheu’s auf seine Schultern zu laden und sie den grausenerregenden Weg hinab auf einen geschütztern Platz zu tragen.
Ist in jenen kalten Regionen, wo selbst der letzte Baumwuchs aufgehört hat, und nur die Legföhre noch ein zwerghaftes, verkümmertes Dasein sich zu fristen vermag, endlich gegen Ende Juli nach kaum bemerkbarem Frühling der kurze Sommer eingetreten, so hat die scheinbar starre Natur auch auf jenen isolirten Plätzchen ein feines, kurzes, dünnhalmiges Gras hervorgetrieben, das, zu Heu getrocknet, den lieblichsten Duft ausströmt, mit außergewöhnlicher Kraft auf die Milchergiebigkeit der Kühe wirkt und von vielen Alpenbauern sogar als Medicin gegen die Krankheiten des Viehs gebraucht wird, so daß fast in jeder Alphütte ein Bündel davon das ganze Jahr über aufbewahrt wird, um in vorkommenden Fällen das Arcanum immer gleich bei der Hand zu haben. Mitte August
[373]ist ungefähr die Zeit, wo die Wildheuer zu Gewinnung dieses köstlichen Futters ihre gefahrvollen Excursionen antreten. In den weniger wilden Gebirgsgegenden des bernischen Saanenlandes und Simmenthals, so wie auch in Tyrol, gehört das Wildheuen mehr zu den fröhlichen Familienfesten, wo die ganze Familie früh Morgens auf die Berge zieht, das Heu niedermäht, oben sich reichliche Gebirgskost bereitet und, wenn das Heu getrocknet ist, dasselbe abwärts in die kleinen Heuhütten schafft und zusammen im frischen duftenden Heu ihr Lager aufschlägt. Zwar auch dort muß der Heuer sich der Fußeisen bedienen und sich zuweilen mit Stricken festbinden, um an den steilen Halden nicht auszugleiten, aber gleichwohl ist das in diesen Gegenden meist nur ein Spaß.
Das echte Wildheuen kommt eigentlich nur in der Urschweiz und da besonders noch in dem an furchtbar steilen, mit allen Schrecknissen der Natur ausgerüsteten Gebirgsstöcken des Glarnerlandes, dem Tödi und dem Vorderglärnisch, vor. Da ist’s ein Wagen auf Leben und Tod, wie bei der Gemsjagd, und die friedliche Beschäftigung, wo es sich blos darum handelt, dem furchtbaren Geiste des Gebirgs täglich etwa einen Centner Heus im Werthe von drei bis vier Franken abzutrotzen, wird zum Kampfe gegen Feinde, die dem armen Waghalse in tausenderlei Gestalten auflauern. Da ist das Wildheuen keine Beschäftigung für jodelnde Sennermädchen und leichtsinnige Kinder, sondern erfordert die wettergehärtete Kraft und den schwindelfreien Kopf eines Mannes, [374] der dem Tode in’s Auge blicken kann, ohne mit der Wimper zu zucken. Bevor der Tag anbricht, macht sich der mit Sense, Fußeisen und Stricken bewaffnete Wildheuer auf den Weg. Zuweilen begleitet ihn etwa sein Bruder oder sein kecker vierzehnjähriger Bube, der von dem Vater den verwegenen Muth und die Klettergewandtheit geerbt hat. Geht’s hoch her, so kommt auch eine Ziege mit und eine Pfanne, um deren Milch da droben zum genügsamen Mahle zu kochen. Auf der Hälfte Weges, auf der Halbhöhe des Zieles, läßt er seinen schmetternden Jauchzer in das noch im schattigen Schlummer liegende Thal hinab ertönen, und verzehnfacht kehrt der frohe, urkräftige Naturlaut von allen Felswänden her zum Urheber zurück, zuletzt wie Geisterflüstern in der Ferne verklingend. Dieser Jauchzer hat aber keineswegs immer das frohe Gefühl zum Motive, das so eigenthümlich aus ihm herauszuklingen scheint. Es ist im Gegentheil eine ängstliche konventionelle Anfrage, ob nicht etwa schon ein Anderer dem Jodler auf dem in Gedanken mit Beschlag belegten Platze zuvorgekommen und sein mühevolles Steigen am Ende umsonst sei. Auch diese kleinen Grasplätzchen, dieses in den Lüften hängende Gut, das nur mit so saurem Schweiße, mit Lebensgefahr erworben werden kann, machen sich hier die Menschen nicht selten streitig, und oft ist es vorgekommen, daß auf dem schmalen, abschüssigen Raume, am Rande des schwindelnden Abgrundes, furchtbare Zweikämpfe um das Recht der Priorität ausgefochten wurden, die damit endigten, daß der Besiegte kopfüber geworfen in die räthselhafte Tiefe flog.
Hat der Wildheuer seinen Platz auf schmalen Felsenpfaden erreicht, und ist er so glücklich, daß Niemand ihm das gefährliche Territorium streitig macht, so läßt er sich, wie unser Bild zeigt, an dem von seinem Bruder oder Knaben gehaltenen Seil auf die abschüssige Felsenterrasse hinunter und mäht mit seinen sehnigen Armen, abwärts, dem Abgrunde zuschreitend, den dürftigen Graswuchs nieder; Ranunculus glacialis, Chrysanthemum alpinum, Saxifragen und freundlich blühende Gentianen fallen nebst ihren feinhalmigen Genossen unter den gutgeführten Zügen der Sense, um, wenn das Wetter günstig bleibt und Jupiter Pluvius sich nicht etwa ungebeten in’s Spiel mischt, in der glanzvollen Augustsonne bald zu wohlriechendem Bergheu zusammenzutrocknen. Bei gehöriger Vorsicht ist da die Gefahr just so groß nicht. Das eigentlich Gefährliche des mühseligen Tagewerks beginnt erst, wenn das getrocknete Heu, in ein mächtiges Bündel zusammengeschnürt, auf den breiten Rücken geladen und auf dem schmalen Pfade, längs schwindelnden Abgründen hinunter getragen werden muß, auf den mehr gesicherten Platz, wo der über die Höhen wegfegende Wind die leichten Halme nicht so leicht mit sich fortwirbeln kann. Auf diesem verhängnisvollen Gange bedrohen den Wildheuer all die Gefahren, all die Schrecknisse, welche den waghalsigen Gemsjäger umlauern. Ein falscher Tritt unter der schweren Bürde, das leiseste Straucheln auf dem schmalen Pfade, ein unvorsichtiges Anstoßen an einen vorspringenden Stein mit seiner Last kann ihn in den gähnenden Rachen schleudern, der sich zu seinen Füßen aufthut. Wie über der flüchtigen Gemse und ihrem rastlosen Verfolger schwebt hoch über ihm die Hyäne der Lüfte, der raub- und mordgierige Geieradler, bereit, den Augenblick zu erspähen, wo der Schwindel oder ein unvorhergesehenes Ereigniß den festen Tritt des wagehalsigen Mannes zum Straucheln bringe, um sich dann pfeilgerade auf ihn niederfallen zu lassen und ihn mit dem mächtigen Wehen seiner gewaltigen Schwingen in’s Nichts hinauszuschleudern.
Drunten, auf dem unter Dach gebrachten oder auch nur um eine eingerammte Stange aufgeschichteten Bergheu, da ruht sich’s freilich warm und sogar bequem aus nach so hartem Tagewerke, besonders wenn es der Wildheuer in Bezug auf kleine Störungen nicht zu genau nimmt, und sich durch den gelegenheitlichen Besuch der giftigen Kreuzotter oder einer Ringelnatter, welche liebe Thierchen, beiläufig gesagt, die Vorzüge eines warmen Lagers im duftigen Bergheu vortrefflich zu würdigen wissen, nicht aus der Fassung bringen läßt.
Mit diesem Nachtlager wären denn auch die Mühen und Gefahren der Sommerarbeit überstanden. Das Heu vollends zu Thale zu schaffen, dazu wird der Winter abgewartet, der mit einer soliden tiefen Schneedecke die Gebirgslandschaft einzuhüllen pflegt. Dann geht der Wildheuer mit seinem Schlitten wieder hinauf an den Ort, wo er seinen Vorrath aufgestapelt hat, macht aber nicht selten die verdrießliche Entdeckung, daß die hungrigen Gemsen sich einen guten Theil des ihnen vor der Nase weggenommenen Futters wieder angeeignet haben und somit ein Stück seiner sauren Arbeit umsonst gewesen ist. Nun, der Mann ist meist auch Gemsjäger, er gehört zu den wunderlichen Leuten, welche diese schönen Thierchen aus lauter Liebe todtschießen, und nimmt’s ihnen daher nicht so übel, daß sie ohne Einladung bei ihm zu Gaste gewesen sind. Er packt den Rest seiner Habe so viel wie möglich auf einmal auf seinen Schlitten, stellt sich zwischen die Stangen, und bergabwärts geht’s den vielfach gekrümmten, schmalen Weg über die dachsteilen, unebenen, mit Steintrümmern überschütteten Halden, wie Gewittersturm. Auch da gilt’s einen sichern Blick und kühlen Muth; denn käme das mit Dampfschnelligkeit daher brausende Fuhrwerk nur ein wenig aus der bestimmten Richtung, so wäre häufig ein Luftsprung von einigen tausend Fuß für Mann und Ladung eine unvermeidliche Sache, oder im günstigsten Falle würde doch immer die letztere auf Nimmerwiedersehen davon fliegen.
Nicht selten tritt auch ob solcher Beschäftigung selbst im Winter Thauwetter ein, und dann ist der Rückkehrende oft in dringender Gefahr, von den Lauinen verschüttet und in die Tiefe gerissen zu werden, da die gewöhnlichen Geleise dieser Ungethüme des Hochgebirgs gar häufig seine Pfade kreuzen. Dem Muthigen aber hilft Gott. Ein Glarner, der von solchem Thauwetter überfallen wurde und voraussah, daß er den Lauinen kaum mehr zu entrinnen vermöge, resolvirte sich kurz, gab seinem Schlitten die gerade Richtung über den drei Viertelstunden langen, furchtbar steilen, mit Felsvorsprüngen durchspickten Abhang hinunter, klammerte sich, statt vorn Platz zu nehmen, hinten an das Fuhrwerk, steckte den Kopf sorglich in die Heubündel hinein, betete ein Stoßgebetlein und ließ, wie er sich später ausdrückte, der Sache ihren Lauf. Wie ein Drache schoß das Heufuder mit ihm thalwärts, rings den Schnee in seinem rasenden Laufe aufwirbelnd, – das gottversuchende Wagniß gelang, und wohlbehalten kamen Mann und Ladung auf der Thalsohle an.
„Ein erbärmlich Leben, entsetzlich viel Mühe und Gefahr um so wenig Gewinnst!“ werden Sie ausrufen, verehrteste Leser. Schiller scheint ganz derselben Ansicht gewesen zu sein, da er im Tell Rudolph den Haraß, den Mann der Armgard, der Gnade des Landvogts empfiehlt und als Grund anführt, der Fehlbare sei ein Wildheuer und solch’ erbärmlicher Beruf sei an sich schon Strafe genug. Die Wildheuer würden Sie aber groß anschauen, wenn Sie diese Ansicht vor ihnen laut lassen würden. Der Wildheuer ist trotz alledem ein kerngesunder und mächtig froher Bursche, dem es sehr schwer ankommen würde, zu Hause zu bleiben, wenn seine Handwerksgenossen jodelnd an ihr mühevolles Tagwerk gehen. Aus der Gefahr macht er sich keinen Pfifferling, mit der hat er schon als Geißbube auf dem vertrautesten Fuße gelebt, und ist auch als Gemsjäger gewohnt, in allen Gestalten mit ihr zu spielen. Das Ringen mit den gewaltigen Hindernissen der Natur und mit den Schrecknissen der Gebirgswelt übt auf ihn denselben Zauber, wie der Donner der Schlacht auf den erprobten Krieger, und wie dieser erzählt er in gehobener Stimmung gern von seinem kühnen Wagen. Mißlingt’s ihm einmal, so hat er selten Gelegenheit, lange über die Folgen seiner Verwegenheit nachzudenken. Zudem hat das Wildheuen noch einen eigenthümlichen Vorzug vor andern, weniger mühevollen Gewerben – es schärft auf eine merkwürdige Weise den Appetit. Der Magen eines Wildheuers giebt an Leistungsfähigkeit dem eines Lämmergeiers nichts nach, der doch erwiesenermaßen den Knochen des Hinterbeins von einem Rinde zu verdauen vermag. Ein Bursche, der ohne Beschwerde geschmolzene Butter mit Löffeln essen kann, als wär’s eine schmackhafte Reissuppe, muß sich bei der Aussicht auf ein leidlich gutes Mittagsessen in einer Glücksstimmung befinden, von der Unsereins sich kaum eine richtige Vorstellung machen kann, und zu solchem haarsträubenden Unterfangen ist jeder Wildheuer capabel, wenn er aus seinen luftigen Höhen zur Tiefe zurückkehrt.
Kommt dann noch dazu, daß der Wildheuer noch jung und unverheirathet ist, und daß zwei hellblaue Augen seiner Rückkehr sehnend entgegenschauen, daß so eine blondhaarige Lauscherin ihm mit den Augen das Herz und mit ordinärem Feuer die Butter schmilzt, so vermögen wir nicht einzusehen, warum er nicht zu den Glücklichen dieser Erde gezählt werden sollte.
[375]
Schlaf und Traum.
In den Räumen
Dieser Wunderwelt ist eben
Nur ein Traum das ganze Leben,
Und der Mensch, das seh’ ich nun,
Bis zuletzt die Träum’ entschweben.
Was ist Leben? Hohler Schaum,
Ein Gedicht, ein Schatten kaum.
Wenig kann das Glück nur geben,
Und die Träume selbst ein Traum.
Die Sonne sinkt, und Dämmerung bedeckt die Lande. Der Mensch hat nach gesunder Tagesarbeit im lebhaft bewegten Gespräche mit dem Freunde Erholung gesucht und gefunden. Er verließ ihn und wandelt noch, die letzten Reden in Gedanken erwägend, am Ufer des Baches hinab. Im dämmernden Schatten der Erlen winkt ein trauliches Plätzchen zur Ruhe, er setzt sich. Allmählich werden seine Gedanken unklarer, verworrener; fremde Bilder steigen auf, flattern vorüber oder mischen sich in den Gedankengang, den er vergebens festzuhalten sucht. Das Augenlid senkt sich, wird noch einige Male krampfhaft aufgerissen, um sich endlich auf längere Zeit zu schließen. Ferner tönt das Abendlied der Vögel, leiser und leiser rauscht der Bach – endlich tiefe Stille. Das Haupt sinkt auf die Brust, ein Muskel nach dem andern erschlafft, und alle Glieder strecken sich bewegungslos auf den weichen Rasen hin.
Ruhiger schlägt das Herz, langsame tiefe Athemzüge heben in regelmäßigem Schwellen die Brust. Er schläft. – Er schläft? – Wer schlaft denn? – Seltsam, daß diese Frage, die doch so natürlich nahe liegt, noch von Niemand scharf und bestimmt aufgeworfen und also auch nie beantwortet ist. Wer schläft, wer ruht denn? Der Mensch? Etwa sein Körper? Das ganze, verwickelte Muskelspiel des Athmungsprocesses, der rastlose Schlag des Herzens, alle die unzähligen Bewegungen, in denen sich Stoffwechsel und Ernährung vollzieht, sie ruhen nicht. – Oder schläft die Seele? – So seht nur: der Arm, dann der ganze Körper des Schläfers zuckt eben in einigen unvollkommenen Bewegungen, und mit leisem, gepreßtem, aber deutlich vernehmbarem Tone entwinden sich die Worte: „Theurer Freund!“ den träge widerstrebenden Lippen. Wir sehen, daß Bilder, Gefühle, Vorstellungsspiele des wachen Lebens den Schläfer fortwährend beschäftigen. – Wer, was schläft denn eigentlich am Menschen?
Fragen wir unsere Weisen, so finden wir uns rathlos.
Empedokles nennt die wache lebendige Kraft im Menschen ein Feuer, welches sich im Schlafe nur zum Theil, im Tode ganz vom Körper trennt. Purkinje meint, Schlafen und Wachen können nur dem psychischen Leben eigenthümlich sein. Richtiger sagt schon Anaxagoras: „Der Schlaf ist eine rein körperliche Erscheinung.“ Johannes Müller sagt: „Der Schlaf ist eine Erscheinung, welche blos das animalische Leben betrifft. Man kann auch sagen, Schlaf und Wachen beruhen auf einer Art Antagonismus zwischen dem organischen und animalischen Leben.“ Ich glaube kaum, daß hierdurch Einer aufgeklärt wird. Auch wenn Valentin erzählt: „Die gewissen (wenn er nur sagte, welchen?) Nervengebilden nothwendige Erholung führt zu den Erscheinungen der periodischen Ruhe, die wir unter dem Namen des regelrechten Schlafes zusammenfassen,“ so scheinen mir das Worte zu sein, aus denen wir eben nichts lernen, und wohl klarer sagt er an einem anderen Orte: „von der materiellen Ursache des Schlafes wissen wir nichts.“
Und so hat Niemand die Frage bestimmt gestellt und beantwortet, und wenn ich es jetzt wage, eine Antwort zu versuchen, so bedarf ich der Nachsicht für einen ersten Versuch. Was schläft? Besteht doch das Leben nur in Bewegungserscheinungen der kleinsten materiellen Theile, und warum sollten diese Bewegungen überhaupt jemals zur Ruhe kommen müssen? Sehen wir nicht die großartigsten aller Bewegungen, die der Planeten und Sonnensysteme, seit Millionen von Jahren rastlos in gleicher Weise fort und fort von Statten gehen, ohne daß sich, soweit unsere Wissenschaft bis jetzt reicht, jemals die Forderung des Ausruhens geltend machte? Warum ist das bei den Bewegungen, die wir in ihrer Gesammterscheinung Leben nennen, nicht auch so? weshalb kann es nicht so sein?
Zunächst können wir die bewegenden Kräfte in’s Auge fassen. Die Bewegungen im Sonnensystem und noch weiter in allen Himmelsräumen hängen unmittelbar von einer und derselben Grundkraft, der Gravitation, ab, für welche die Verschiedenheiten der Materie keine Bedeutung haben. Ob ein Planet aus diesen oder jenen Stoffen zusammengesetzt ist, gilt für die Schwerkraft ganz gleich; für sie ist nur das absolute Gewicht des Körpers und sein Umfang (das Product aus beiden nennen wir seine Masse) von Bedeutung. Ist die Masse zweier Körper gleich, so stehen beide in dem gleichen Verhältniß zur Schwerkraft, mag der eine aus Eisen, der andere aus Gold bestehen, der eine die rothen, der andere die blauen Strahlen des Sonnenlichts zurückwerfen, der eine heiß, der andere kalt sein. So ist es aber keineswegs bei den organischen Körpern an unserer Erde. Außer der Masse der wirkenden Theile hängen diese noch von einer großen Anzahl anderer Eigenschaften und Verhältnisse ab. – Wenn ein organischer Körper durch Ausdünstung eine gewisse Menge Stoff verliert, so kommt es nicht allein darauf an, daß dieselbe Masse wieder ersetzt werde, es muß vielmehr die Ersatzmaterie auch ganz bestimmte chemische und physikalische Eigenschaften, bestimmte Temperatur und so weiter haben, wenn sie geeignet sein soll, in die Lebensbewegungen als ein die Bewegung unterhaltender Theil wieder einzutreten. – Die Ursache ist die, daß die letzten Gründe der Bewegung hier in Kräften liegen, für welche die Masse nicht das allein Bestimmende ist. – So werden wir denn weiter auf diejenigen Verschiedenheiten der Stoffe geführt, welche geeignet sind, die auf den zuletzt erwähnten Kräften beruhenden Bewegungen in’s Spiel zu setzen. Auch hier können wir vorläufig die unorganische Welt in’s Auge fassen.
Welche lebhafte, aufrührerische Bewegung entsteht nicht, wenn wir die beiden Brausepülverchen, die so lange friedlich neben einander lagen, in einem Glase mit Wasser zusammenschütten! Alles wirbelt in eigenthümlichem Aufruhr durch einander, aber nach und nach wird die Bewegung langsamer, und endlich ruht die ganze Flüssigkeit, wie in Todtenstarre. Die Kohlensäure entwich; es sind keine Stoffe mehr vorhanden, die unter gegebenen Verhältnissen sich trennen müßten, keine Stoffe, die das Streben hätten, sich einander zu nähern und zu verbinden, keine Stoffe, die Bewegung, das heißt chemisches Leben, unterhalten könnten.
Solche Erscheinungen treten nun im Organismus in noch ungleich verwickelterer Weise auf. Jeder Theil, der sich hier bewegt, thut dies nur, weil und in so weit er seine bestimmte Zusammensetzung aus gar mannigfachen ganz bestimmten Elementarstoffen besitzt und mit anderen ebenso bestimmt zusammengesetzten Theilen in Berührung steht. Ist seine Zusammensetzung oder die seiner Umgebung eine andere geworden, so hört seine Bewegung auf oder nimmt vielleicht eine für den ganzen Organismus störende, ja zerstörende Form an. – Jede Bewegung in den einzelnen Theilen hat nun aber durch die bei der Bewegung frei werdende Wärme, durch die dabei erregte Elektricität und ähnliche Vorgänge den unvermeidlichen Erfolg, daß sich die Zusammensetzung der in Bewegung begriffenen Theile ändert, daß dieselben also zu der gesetzmäßig ihnen zukommenden Bewegung untauglich werden. Dadurch kommen sie nothwendig in Ruhe, in der sie so lange verharren, bis durch Zufuhr neuen Stoffes ihre ursprüngliche, normale Zusammensetzung wieder hergestellt ist. Kurz, jede Bewegung irgend eines Organs oder Organtheils nutzt denselben ab, und derselbe geht zu Grunde, wenn er nicht durch einen Ausbesserungsproceß, den wir Ernährung nennen, wieder hergestellt wird. – Abnutzung und Ausbesserung, Thätigkeit und Ruhe sind also für alle Theile eines Organismus gerade so nothwendig, als für irgend eine Maschine, nur mit dem großen Unterschiede, daß wir eine sehr complicirte Maschine gewöhnlich ganz stille stehen lassen müssen, wenn wir irgend einen kleinen Theil ausbessern wollen, während beim Organismus der einzelne Theil ohne Störung der andern eine längere oder kürzere Zeit zum Behufe der Ausbesserung für sich allem stillstehen kann. –
Fragen wir aber nun bei den einzelnen Körpertheilen: „wann und wie lange sind sie thätig, wann bedürfen sie daher nothwendig der Ruhe, um sich zu restauriren?“ so fällt die Antwort sehr gegen die Erwartung aus.
[376] Das thätigste Organ in unserm ganzen Körper scheint das Herz zu sein, es schlägt Nacht und Tag gleichmäßig fort, bis der Tod ihm Stillstand gebietet. Bedarf es keiner Ruhe? Ja! aber es lebt in der pedantischsten Regelmäßigkeit. Etwa 70 Mal in der Minute zieht es sich zusammen, und genau ebenso oft ruht es aus. Nach jeder Anstrengung hat es seinen Schlaf, der, wenn auch noch so kurz (etwa 3/4 Secunde), doch vollkommen genügt, um den erlittenen Verlust zu ersetzen. Das Herz braucht und erhält keinen anderen Schlaf. Der ganze den Körper durchziehende Speisecanal ist ebenfalls während des ganzen Lebens in Thätigkeit, aber keineswegs in seiner ganzen Länge gleichzeitig und ununterbrochen, vielmehr wechselt fortwährend in den einzelnen Theilen Thätigkeit und Ruhe mit einander ab. Aehnliches zeigt sich bei dem so verwickelten Mechanismus des Athmens, der auch während des ganzen Lebens in ununterbrochenem Spiel des Wechsels der Thätigkeit in seinen einzelnen Theilen fortdauert. – Gehen wir zu dem System unserer Muskeln, unserer willkürlich bewegten Glieder über, so finden wir auch hier keinen Theil, der ununterbrochen in Thätigkeit wäre, dem nicht auch im wachen Leben Pausen der Ruhe, der Erholung gegönnt wären. Und dasselbe gilt für unsere Sinnesorgane, dasselbe für unser Nervensystem; kurz alle Theile erhalten schon im Zustande des Wachens durch die immer wechselnden, immer sich an andere und wieder andere Organe vertheilenden Thätigkeiten auch Pausen für die nöthige Ruhe zur Wiederherstellung.
So zeigt sich denn scheinbar für den ganzen Körper, der keine ungewöhnliche und übermäßige Anstrengung macht, durchaus kein Grund für eine noch besonders in größeren Perioden eintretende Ruhe, und wir könnten daraus den Schluß ziehen, daß das gewöhnliche Schlafen überhaupt keine Nothwendigkeit, sondern nur ein Luxus sei, den wir unserer Trägheit zu Gefallen treiben. Aber hat sich doch ein Mann mit dem eisernen Willen, wie Friedrich der Große, den Schlaf nicht abgewöhnen, ja nicht einmal für längere Zeit über ein gewisses Maß hinaus abkürzen können. Es muß doch wohl ein Unvermeidliches sein, und wir stehen wieder an der Frage: „was schläft denn eigentlich?“ Wenn der Schlaf wirklich eine Nothwendigkeit ist, so müssen wir einen Theil unseres Körpers auffinden können, der während des wachen Zustandes ununterbrochen in Thätigkeit ist und daher nach längerer Zeit auch gebieterisch seinen Antheil an der nöthigen Ruhe fordert, und es wird eine Probe auf die Richtigkeit unserer Untersuchung sein, wenn wir aus dem alleinigen Schlafen dieses Theiles alle Erscheinungen des Schlafes vollständig erklären können.
Es ist nun nicht schwer, beim Menschen eine solche Thätigkeit, die ununterbrochen und ausschließlich das wache Leben begleitet, aufzufinden. Wie auch das Spiel unserer Vorstellungen, unserer Erkenntnisse, Gefühle und Bestrebungen wechseln möge, so giebt’s doch ein Etwas, welches im wachen Zustande mit allem sich verknüpft und niemals ganz ausfällt, nämlich das Bewußtsein, das wir im einfachsten Falle Selbstbewußtsein nennen. – Hier hätten wir nun ein lange Zeit ununterbrochen Thätiges, das daher auch eine längere Zeit ununterbrochener Ruhe gebieterisch fordern wird. Von einem Schlaf des geistigen Lebens an sich können wir uns durchaus keine Vorstellung machen, sondern nur von dem Schlaf, dem Ausruhen eines organischen Gebildes, wir können also hier die Untersuchung gar nicht abweisen, welches das Organ des Bewußtseins sei. Die Nervenphysiologie hat uns darüber belehrt, daß jede einzelne Nervenfaser, jede einzelne Gruppe von Nervenfasern auch ganz bestimmten Thätigkeiten dient, und daß diese letzteren so wenig von einer andern Nervenfaser übernommen werden können, als die erstere Thätigkeiten dienen kann, für die sie nicht gemacht ist. Wir müssen also, wie für alle einzelnen Erscheinungen des Geistesleben, so auch für das Bewußtsein nach einem organischen, einem materiellen Träger fragen, dessen Thätigkeit die Erscheinung, die wir Bewußtsein nennen, begleitet. – Aber welcher Theil ist das, und wie verhält sich die Sache bei den Thieren, bei denen wir von Bewußtsein nicht sprechen können, da wir nichts davon wissen?
Dies führt uns nun zunächst in ein scheinbar sehr fern liegendes Gebiet, in die Untersuchung des Individualitätsbegriffes in der Natur. Bei Pflanzen und Thieren haben wir als Grundlage der ganzen Bildung eine scheinbar sehr einfache organische Gestalt, die Zelle, die auf den untersten Stufen der Entwicklung als ganze selbstständige Pflanze, als ganzes Thier auftritt. Hier haben wir den Begriff des Individuums, der organischen Unteilbarkeit rein ausgesprochen, die zerschnittene Zelle ist nicht mehr Zelle; die Pflanze, das Thier, als welche sie existirte, ist zerstört, vernichtet. Auch bei den höheren Wirbelthieren und beim Menschen finden wir eine solche fest ausgesprochene Individualisirung. Wir können diese Körper nicht theilen, so daß beide Theile als lebendige fortexistirten; wir können Manches vom Thiere abschneiden, aber das Abgeschnittene ist todt, wenn auch das Uebrige lebendig bleibt, und eine größere Theilung, die bestimmte Organe, Gehirn und Rückenmark, trifft, vernichtet das ganze Leben. Zwischen diesen beiden Endpunkten liegen aber eine ganze Reihe von Mittelstufen, bei denen der Individualitätsbegriff, theoretisch und praktisch, sehr schwer festzuhalten ist. – Zunächst die Pflanze betreffend, so sind alle nicht aus einer Zelle bestehenden Pflanzen aus mehreren völlig individualisirten Zellen aufgebaut, und die meisten Zellen, vielleicht alle zu einer gewissen Zeit, behalten die Fähigkeit, aus dem Verbande mit der ganzen Pflanze unter günstigen Bedingungen herausgelöst, ein selbstständiges Leben fortzuführen. Die meisten Pflanzen kann man in zwei oder mehrere Stücke zerschneiden, ohne daß dadurch allein das lebendige Fortexistiren der einzelnen Stücke gefährdet wäre. So haben wir in gewissem Sinne bei den Pflanzen überall kein anderes eigentliches Individuum als die einzelne Zelle; die ganzen Pflanzen sind gewissermaßen nur ein Volk von Einzelwesen, die zwar unter einer bestimmten äußern Gesammtform sich für eine Zeitlang vereinigt haben, aber ohne wesentlich von einander abhängig geworden zu sein – das Ideal einer Demokratie.
Ganz anders verhält sich die Sache bei den Thieren. Auch diese bauen sich aus einzelnen Zellen oder Zellenäquivalenten auf, aber die einzelne Zelle verliert, indem sie als Formbestandtheil in einen Thierkörper eingeht, ihre Selbstständigkeit, bis auf einige Spuren bei den allerniedrigsten Thieren, ganz und gar. Sie ist nur lebendig, insoweit sie dem lebendigen Körper als Theil angehört; sie entsteht, entwickelt sich und wirkt nur in Verbindung mit, in Abhängigkeit von anderen Zellen und Zellengruppen. Diese Verbindung der Zellen unter einander wird im Thierkörper durch ein besonderes, dem Thiere ausschließlich eigenes System von Elementartheilen, den Nervenröhren und ihren Zellen, vermittelt. Aus dieser Verknüpfung entwickelt sich ein Einfluß einer Zelle auf die andere, und schließlich geht die ganze demokratische Unabhängigkeit und Nebenordnung der selbstständigen Zellen, wie wir sie in der Pflanze sahen, in die Abhängigkeit größerer oder kleinerer Zellenmassen von einem Mittelpunkt, einem Nervenknoten, über, der ein bestimmtes Gebiet des Zellenbaues beherrscht und in seinem lebendigen Sein von sich abhängig macht. So erst treten aus dem Aggregat selbstständiger Zellen wieder bestimmt individualisirte Zellengruppen hervor, bei denen die Zerstörung des Centraltheiles, des diese Zellen beherrschenden Nervenknotens, auch das Leben der zugehörigen und abhängigen Theile aufhebt. Bei den niedern Thieren finden wir nun noch eine größere Anzahl gleich großer Nervenknoten und daher gleichwertiger Mittelpunkte; deshalb gelingt es auch häufig, diese Thiere in einzelne Stücke zu zerlegen, deren jedes für sich lebendig bleibt, ja sich zum vollen Thiere wieder ergänzt, sobald nur der zu diesem Theil gehörige Nervenknoten unverletzt blieb. Wir haben hier nicht mehr eine demokratische, sondern eine aristokratische Verfassung, in der eine größere Anzahl Patricier mit den von ihnen abhängigen Clienten zusammengenommen das Ganze ausmachen, aber so, daß sie unter einander nur in sehr lockerem Verbände stehen und leicht jeder einzelne mit seinem Anhang aus dem ganzen Staat austreten kann. Aber darüber hinaus kommen wir noch zu einer weiteren und höheren Gestaltung. Allmählich treten die einzelnen Nervenknoten näher und näher zusammen. Ein einziger überwiegt mehr und mehr an Einfluß, und so ordnet sich endlich im Wirbelthier, auf der höchsten Entwickelungsstufe, das ganze Aggregat einzelner wirksamer und thätiger Theile in der vollendetsten Einheitsform, der Monarchie, einem einzigen Mittelpunkt des ganzen Nervensystems unter, von dem Alles abhängt, mit dem und durch den das Ganze erst sein Leben und seine strenge Individualisirung, seine Einheit hat.
Wir dürfen nicht verschweigen, daß das anatomische Messer diesen wichtigsten Theil des ganzen thierischen Nervensystems noch nicht bloßgelegt und isolirt hat, aber daß es einen solchen Herrschersitz in dem Ganzen giebt und geben muß, beweist uns die obige Betrachtung unwiderleglich.
[377] Sehen wir nun auf das Leben des Thieres, so dürfen wir zwar nicht leugnen, daß mannigfache Processe vor sich gehen können, ohne daß sie dem individuellen Leben des Thieres unmittelbar dienen oder unmittelbar von demselben abhängig sind, zum Beispiel die in irgend einem Theile vor sich gehenden chemischen Processe, die wir Ernährung nennen, aber das ist gewiß, daß, so weit diese Processe für das Ganze, für das Einzelwesen als solches, von Bedeutung sein sollen, sofern die Wirkung dieser Processe sich weiter erstrecken soll, als auf den kleinen Theil, in welchem sie gerade vor sich gehen, – sie dies nur dann können, wenn mit ihrer Thätigkeit sich die Thätigkeit jenes eben nachgewiesenen Einheitsorgans verknüpft, und da während des wachen Lebens des Thieres dieses überhaupt immer als Ganzes, als Einzelwesen auftritt und sich der Außenwelt gegenüberstellt, so muß auch dieses Einheitsorgan während des wachen Lebens ununterbrochen thätig sein und folglich nach längerer oder kürzerer Zeit auch unvermeidlich der Ruhe bedürfen.
Kehren wir nach diesem Ergebniß wieder zu unsern früheren Resultaten zurück, zu der Frage nach dem Organ des Bewußtseins, so kann es uns wohl kaum noch zweifelhaft erscheinen, daß das rein körperliche Organ der individuellen Einheit auch zugleich der Träger derjenigen Erscheinung im Seelenleben sein müsse, die wir Selbstbewußtsein nennen, denn nicht Arm und Bein, nicht Nase und Ohr sind sich ihrer bewußt, sondern das Ganze, als Ganzes und als Einheit. – Somit dürften wir uns diese so oft gestellte Frage so beantworten: „Schlaf ist die Unthätigkeit desjenigen Theils des Centralnervensystems, von welchem die sämmtlichen Organe des Körpers als von dem sie alle beherrschenden und unter einander zur Einheit verknüpfenden Mittelpunkte abhängen und an dessen Bewegungen die Seelenthätigkeit, die wir Bewußtsein nennen, als an ihr körperliches Organ gebunden ist, die daher durch Unthätigkeit ihres Organs ebenfalls zur Ruhe gezwungen wird.“
Mit dem Bewußtsein hört der bewußte Wille auf, daher kommen die dem Willen unterworfenen Muskeln in Unthätigkeit, insbesondere erschlaffen auch die Muskeln, welche die Augenlider nach oben und unten ziehen, die zusammenziehenden Muskeln bekommen die Oberhand und das Auge schließt sich, dadurch wird der Augennerv von dem größten Theil des Lichtreizes, namentlich dem geordneten, abgetrennt. – Mit dem Bewußtsein hört auch die vom bewußten Willen bedingte Aufmerksamkeit auf. Schon aus dem wachen Leben wissen wir, daß, wenn einem Körpertheile die Aufmerksamkeit dadurch entzogen wird, daß dieselbe sich mit ganzer Kraft einer andern Region zuwendet, jener Theil dadurch verhältnißmäßig unempfindlich gegen äußere Eindrücke wird, oder richtiger gesagt, daß die Eindrücke zwar vom Sinnesorgan aufgenommen, aber nicht zum Bewußtsein gebracht werden; namentlich gilt das für alle schwächeren Reize. Wir werden es daher natürlich finden, wenn Auge und Ohr, wie die übrigen Sinne und überhaupt alle Empfindungsnerven, im Schlaf zwar eben so gut wie im Wachen von den äußeren Reizen angeregt werden, aber doch nicht stark genug, um das schlafende Bewußtsein zu wecken. Nur durch die im Körper etwa unbewußt und unwillkürlich hervorgebrachten Gegenwirkungen erhalten wir Kunde davon, daß die betreffenden Nerven auf ihrem Posten nicht schliefen, zum Beispiel die Lagenveränderungen oder abwehrenden Bewegungen des schlafenden Körpers, wenn ein stechender Gegenstand die Hautnerven reizt. – Ist aber der Reiz stark genug, oder erregt er Vorstellungsspiele, die zu dem Bewußtsein in sehr naher Beziehung stehen, so wacht der Schlafende auf. So die Mutter, vielleicht nicht bei einem Kanonenschuß, aber beim leisen Wimmern ihres Kindes; so der Müller, nicht vom lauten Geklapper der Mühle, aber von dem leisen Glöckchen, welches anzeigt, daß die Mühle leer geht; so jeder Mensch, vielleicht nicht von starkem Geräusch, aber von dem leise in’s Ohr geflüsterten Namen.
Was soll ich Sie noch viel vom Schlafe unterhalten, wenn ich nicht fürchten will, ihn selbst herbeizuführen? Etwa von der Zeit des Schlafes, den ein alter Aberglaube an den Wechsel von Tag und Nacht knüpft? Wir schlafen zu jeder Zeit gut, wenn wir uns innere Ruhe und äußere, das heißt Abgeschlossenheit von Reizen, verschaffen können. Aber arbeiten können wir nicht so gut im Dunkeln als bei Tage, und deshalb schlafen wir lieber bei Nacht. Sollen wir nach Tische schlafen? Wie es der kluge Arzt anräth. Gefordert scheint es in heißeren Ländern, und der Orientale legt großen Werth auf den Mittagsschlaf. Die erste Seligkeit, die der Gerechten nach dem jüngsten Gerichte harrt, ist die Mittagsruhe, sagt der Koran. Einige Gottlose rechnen den Kirchenschlaf mit zu den süßesten Genüssen, dagegen gebietet die Fürstlich Gothaische Landesordnung, daß Männer mit Stäben anzustellen seien, die in den Kirchen während der Predigt umhergehen und die Schläfer wecken und, wenn nöthig, strafen. – Wie lange sollen wir schlafen? Der unverdorbene, natürlich lebende Mensch, so lange er kann, das heißt, bis er von selbst erwacht. Länger schläft der intensiv geistig Thätige, als der nur mit seinen Muskeln Arbeitende. Kranke schlafen oft übermäßig lange, so der Mathematiker le Moivre 20 Stunden jeden Tag; ein Kranker bei Haller schlief 70 Tage, und Fichet erwähnt eines Menschen, der mit geringen Unterbrechungen vier Jahre verschlief. – Dagegen wacht das Weib am Bette des kranken Mannes, die Mutter an der Wiege des leidenden Kindes oft wochenlang, weil ihr Bewußtsein und dessen Organ im höchsten Grade erregt ist.
Gehen wir zu andern und interessanteren Erscheinungen über. Wo das Bewußtsein, der Wille und die Aufmerksamkeit zurücktreten, da folgt das Vorstellungsspiel des Menschen nicht mehr der Richtung auf willkürlich gesetzte Zwecke, sondern sinkt auf die niedere Stufe der unwillkürlichen Associationen herab. Stille stehen kann es nun einmal nicht, da sein Organ nicht schläft. Es würde mich viel zu weit führen, wollte ich hier die ganze Lehre von der Verbindung des Körpers und Geistes in allen ihren Einzelheiten entwickeln. Es ist ganz gleichgültig, ob man materialistisch oder anders denkt; nur ein Unwissender wird es leugnen, daß das geistige Leben nur dadurch und nur so weit zur Erscheinung kommen kann, als es in einem körperlichen Organ und in dessen Thätigkeit seinen Ausdruck findet. Nur ein Unwissender kann von einer im Erdenleben bestehenden Unabhängigkeit des Geistes von seinem körperlichen Organe, dem Gehirne, träumen. Der Thätigkeit des Geistes entspricht eine Thätigkeit des Gehirns, und umgekehrt. Nun ist aber gewiß, daß jede einzelne Nervenfaser, von der andern isolirt, ihr eignes Thätigkeitsgebiet hat, und so auch natürlich die Millionen Fasern, aus denen das Gehirn besteht. Hier kann nicht die kleinste Faser zucken, ohne daß sich eine Vorstellung damit verknüpft; nicht der leiseste Schatten eines Gedankens kann durch unsere Seele fliegen, ohne daß eine gewisse Anzahl Nervenfasern in Thätigkeit gerathen. – Diese Thätigkeit der Nervenfasern wird aber noch durch viele andere Potenzen in’s Spiel gesetzt, als nur durch unsere Vorstellungen und Gedanken. – Jede Blutwelle, die an sie anklopft, jede veränderte Beschaffenheit des Blutes, jede Verminderung seiner normalen Menge, jede Temperaturveränderung, jede Erschütterung kann sie erregen, und so bleibt, auch ohne daß der Geist willkürlich auf sie einwirkt, im Schlafe ein ununterbrochener Wechsel von Erregungs- und Ruhezuständen, die sich in mannigfacher Weise combiniren, im Gehirne zurück, und allen diesen muß auch ein ununterbrochener Wechsel von kommenden und gehenden und sich mannigfach verbindenden Vorstellungen entsprechen. Dieses Spiel, welches uns immer nur dann zum Bewußtsein kommt, wenn es ganz nahe an unser waches Leben herangerückt ist, nennen wir nun Traum.
Aber so faßt nicht Jeder den Traum auf, diesen phantastischen Affen des wachen Lebens, dieses bunte Kaleidoskop der entfesselten Einbildungskraft, diesen Fluch des redlichsten Hypochonders, dieses Paradies des schlechtesten Sanguinikers. Das ist er, und traurig ist die Verirrung eines Monboddo, wenn er sagt, daß angenehme Träume Folgen der Tugend, unangenehme und schreckhafte die natürlichen Folgen des Lasters wären. Auch Plato dürfen wir nicht Recht geben, wenn er behauptet, daß, wenn der Mensch mäßig und frei von unordentlichen Leidenschaften lebte, er philosophische Träume haben und darin große Entdeckungen machen würde. Besser schon empfiehlt Schaaffhausen dem Menschen, sich seine Träume selbst als Spiegel vorzuhalten, um daraus seine geheimsten Neigungen und Gefühle kennen zu lernen, und Dichtern dürfen wir es nachsehen, wenn zum Beispiel Collin im Regulus der Attilia die Worte in den Mund legt:
Die That war Traum,
Nicht seine Liebe, die den Traum gebar.
Wie toll und sinnlos sich die Vorstellungen im Traume durch einander wirren, zeigt sich am auffallendsten darin, daß der Mensch, so oft er im Traume sich selbst entfremdet, seine eigenen Gedanken fremden Persönlichkeiten unterlegt. Johnson träumte häufig, daß [378] er sich mit einem Andern in einen Witzkampf eingelassen, und ärgerte sich schwer darüber, daß sein erträumter Gegner ihn immer im Witz überbot; – van Goens träumte sich in die Schule, in der die Antwort auf eine schwere Frage der Grammatik die Versetzung in eine höhere Classe bedingen sollte, er fand die Antwort nicht, wohl aber gab sein Nebenmann im Traume sie ganz richtig.
Wild-, Wald- und Waidmannsbilder.
Früher, als König Friedrich August II. von Sachsen noch lebte, der
seine höchsten Freuden in Gottes schöner Natur suchte und fand, indem
er nicht nur die Schönheit derselben mit voller Macht auf sein Herz
einwirken ließ, sondern auch einem Zweige der herrlichen Schöpfung
unseres Erdballes – dem Pflanzenreiche – mit ernstem Studium oblag,
befand sich auf seinem Weinberge ein kleiner, aber gut bestandener
und gepflegter Wildpark, dessen ich mit besonderer Vorliebe gedenke. Hier
war es, wo mir der Sinn für meinen späteren Beruf, die Thiermalerei,
so recht eigentlich geweckt wurde, und das öftere, tagelange Verweilen an
diesem Lieblingsplätze gehört zu meinen seligsten Erinnerungen.
„Königs Weinberg“, wie die Besitzung der jetzigen Königin Wittwe noch immer genannt wird, ist eine anspruchslose, aber reizende Villa auf den Höhenzügen des rechten Elbufers, die sich von Pillnitz bis nach Dresden erstrecken, ungefähr in der Mitte zwischen beiden, oberhalb des malerischen Dorfes Wachwitz gelegen. Umgeben von Park und Weingehängen bietet dieser herrliche Landsitz dem Auge eine wundervolle Aussicht dar. Unter sich hat man den üppig grünenden Vorgrund der Parkanlagen, welche die am Fuße des Berges liegenden Ortschaften traulich einrahmen; darüber hin den reizend schönen Blick auf das Elbthal, sowohl stromauf- als abwärts; nach jener Richtung auf die blauduftig und in phantastischen Formen emporsteigende sächsische Schweiz mit fernen Böhmergebirgen, nach diesen hin über freundliche Dörfer, geschmackvolle Villen und prächtige Schlösser auf die gethürmte Residenz; mitten hindurch aber der liebliche Fluß, die Elbe. Strebt aber der Blick gerad’ aus, so gleitet er über die Fläche des herrlichen Stromes nach sanft ansteigenden Fluren und waldigem Hügelland, bis er endlich von den feinen Linien des Erzgebirges und einzelner dahinter hervorragender böhmischer Bergriesen gefesselt bleibt. In noch vollkommenerem Maße genießt man diese bezaubernde Umschau, wenn man durch den den königlichen Ruhesitz umgebenden Park, der auch noch eine kleine gothische Capelle mit großem gemaltem Fenster birgt, einem Meisterwerk der modernen Glasmalerei, dessen Urheber Julius Hübner und Scheinert in Meißen sind, weiter hinauf auf das Plateau des Bergrückens steigt. Hier oben erwartete einst den Besucher auch noch ein anderer Genuß, indem daselbst, die höchste Fläche einnehmend, der Thiergarten lag. Er umschloß nicht nur ein Stück mit Kiefernhochwald bestandener Hochebene, sondern auch einen kleinen reizenden, nach Norden abfallenden Waldgrund, in dessen Tiefe ein rauschendes, silberklares Büchlein dahinschießt. Auf der Fläche, unter den goldstämmigen Kiefern, standen die Wildraufen und Schuppen, weshalb das Wild – Hoch- und Damwild – zumeist an dieser Stelle sich aufzuhalten pflegte, und hier war es denn auch, wohin mich – da damals die königliche Besitzung für Jedermann geöffnet war – meine Sehnsucht immer und immer wieder hintrieb; denn mit meinem Schicksal, Maler werden zu sollen, oft hadernd, da ich viel lieber die grüne Piquesche, Hirschfänger und Gewehr getragen hätte und als Jäger durch Wald und Flur gestreift wäre, fand ich hier Ersatz, wo ich das Wild, das ich von Kindheit an vorzugsweise geliebt, nach Herzenslust beobachten konnte. Natürlich zeichnete ich, da ich diese Fähigkeit nun einmal besaß, mit Vorliebe meine Lieblinge und ließ deshalb um so mehr die trockenen Gypsköpfe auf der Akademie Gypsköpfe sein. Dennoch überfiel mich oft, wenn ich in dieser Weise wochen-, ja monatelang die Akademie „geschwänzt“ halte, ob meiner Faulheit der moralische Katzenjammer; denn ich hielt, offen gestanden, meine Ausflüge selbst für müßige Lungerei; wahrscheinlich nur darum, weil ich Lust und Freude dabei empfand und glaubte, das gediegene, pflichtgemäße Studium müsse absolut anstrengend und von peinigender Langeweile sein; gerade wie überfromme Leute, die die irdische Freude au Gottes schönen Gaben für Sünde halten und nur in der Kasteiung und Entsagung selbst der harmlosesten Genüsse das Heil des Himmels erblicken.
Aus diesem Grunde ließ ich mich von Zeit zu Zeit wieder einmal in der Akademie blicken, mit dem besten Vorsatze, auf mein ruheloses Waldlaufen zu verzichten und ein fleißiger Mensch zu werden. Ach, und trotzdem, wie manches strafende Wort aus Meistersmund mußte ich vernehmen, wenn ich mein langes Ausbleiben mit dem Studium meiner Thierwelt zu entschuldigen suchte und zum Beleg meine Skizzenbücher vorzeigte. „Das sind faule Fische,“ hieß es, „damit wollen Sie nur Ihr Gewissen beschwichtigen, wenn Sie draußen müßig umherstreifen.“ Obwohl ich aber dergleichen Vorwürfe für vollkommen begründet hielt, siegte doch mein angeborener Trieb, und es litt mich nicht lange in den Räumen des Lehrgebäudes, aus dessen Fenstern man mein Asyl in sonnigem Glanze liegen sehen konnte. Ich war deshalb bald wieder einmal auf eine Weile den Herren Professoren aus den Augen. Konnt’ ich’s doch nicht lassen – ich mußte wieder hinaus in’s Freie, und am liebsten war ich entweder in Moritzburg oder auf „Königs Weinberg“. Mit welcher Wonne ich dann hier am Wildzaune stand oder oben aufsaß – denn in den Thiergarten hineinzugehen, war mir verwehrt, da mir das Trinkgeld dafür zu jener Zeit in höchst seltenen Fällen zu Gebote stand – läßt sich kaum beschreiben. Wie wunderbar erquicklich waren solche Tage, an denen das Herz, von Frühlingsahnungen geschwellt, dem Auge die Gabe verlieh, den feinen, unnennbaren Farbenton, der das lebendige Regen der noch unverschlossenen Knospen bekundet, zu erkennen.
Brach dann der wirkliche wildlustige, sonnendurchwobene, wonnevolle Lenz herein, und ich schritt durch die Berggassen der obst- und weinreichen Anhöhen meinem Eldorado zu und schaute hinab auf den rosigen Frühlingsschmuck der Pfirsichbäume, der sich mit dem blendenden Blüthenschnee der Kirsche mengte, während von den Fluren die gelben Rübsenfelder, wenn auch nicht harmonisch schön, doch herzerfreuend in ihrer goldenen Keckheit herüber leuchteten, so vergaß ich alle trüben Erinnerungen und lauschte frohgemuth dem Rufe des Kuckucks im nahen Walde oder dem melodischen Accord des Pirols und den Hunderten von andern Vogelstimmen; oder ich betrachtete das geschäftige Treiben der Insectenwelt auf blumiger Halde, wo die fleißigen Bienchen den frischen Nektar aus Tausenden von Kelchen nippten, die bisweilen auch von einer brummenden Hummel in Anspruch genommen wurden.
Auch der hohe Sommer, der mit sengender Gluth über den Bergen lag, fand mich hier oben; manchen lieben langen Tag lag ich im Haidekraute und erfreute mich, da zu dieser Tageszeit das Wild das schattenreiche Gründchen aufsuchte, ich also bis Abends warten mußte, um es herausziehen zu sehen, einstweilen an dem kleinen krabbelnden Gethier, das am Boden der Haide geschäftig hin und her lief. Wie oft habe ich da den nimmerrastenden Ameisen zugeschaut, wenn sie auf ihren Stegen Baumaterial oder Fraß zur gemeinsamen Häuslichkeit schafften, oder das banditenhafte Gebahren des Ameisenlöwen beobachtet, der in seinem sichern Versteck, der Tiefe des von ihm verfertigten Sandtrichters, saß und lauernd auf eine Ameise, Spinne, Käferchen oder sonst ein kleines Geschöpf wartete, das sich unvorsichtiger Weise seiner Grube näherte und hinabrutschte. Wollte es nun, die Gefahr erkennend, den unheimlichen Rand fliehen, so warf das beutegierige, zangenbewaffnete kleine Ungeheuer mit Sandkörnern aus seiner Tiefe hervor, daß die losen Wände des Trichters in’s Rollen kamen und das ausersehene Opfer unfehlbar in sein furchtbares Grab hinabrissen. Dann kamen wohl auch, lag ich recht still, perläugige flinke Eidechsen dicht an mich heran und schlüpften eilig über das Haidekraut hin.
Nicht mindern Reiz bot der Herbst, der die Knospen der Eriken erschloß und sie früh mit Thau und seinen Spinnenfäden umwob, um diese dann von der Tageswärme emporheben und in langen Strähnen von der Luft tragen zu lassen. Abends stiegen die weißen Nebel auf, und mit ihnen verbreitete sich das eigenthümliche [379] Aroma, das Wald-und Feld entströmte. Nun lauschte man nicht mehr dem Vogelgesang, denn dieser war längst verstummt, sondern dem hellen Lockruf der Rebhübner, die in Feldern und Weinbergen ihre Familien sammelten; manches Mitglied mochte fehlen, wenn den Tag über das mörderische Blei des Jägers unter ihnen gewüthet hatte. Später kamen die rauhen, stürmischen Tage, die die Natur fahl machten und entlaubten. Der Sturm heulte hohl durch die Kiefernwipfel und jagte die Wolken vom Norden her über die Elbe hin, bis die bewegte Luft Ruhe fand und der Himmel sich mit monotonem Grau überzog, das sich wohl, zur Freude aller Jäger, als flockiger Schnee zur Erde ließ und so die erste „Neue“ bildete.
Auch dann, nachdem der Winter gekommen, unterließ ich nicht, meinen Lieblingsort zu besuchen, um mich an dem Reiz des Spürens auf schneeiger Fläche zu ergötzen. Doch zu jeder Jahreszeit blieb mir die Beobachtung des Wildes selbst die Hauptsache. Im zeitigen Frühjahr z. B. verfolgte ich den Verlauf des Abwerfens der Geweihe der Hirsche, später das Verfärben derselben und des Wildes, das Setzen der Kälbchen und das Gebahren dieser lieblichen Geschöpfe. Kam die Brunstzeit, so erfreute ich mich an dem stolzen, mannhaften Auftreten der Hirsche, an ihren gegenseitigen Kämpfen und machtvollem Schrei. Der Winter bot zugleich manches malerische Interesse, da zu dieser Zeit das Wild in seiner nüancirten Färbung im schneebelasteten Walde eine wahre Augenweide war. Wie schon erwähnt, mußten sich meine Anschauungen zumeist mit dem Blick durch den Zaun oder von ihm herab begnügen. Ausnahmsweise war ich jedoch mitunter in der Lage, ein Zweigroschenstück daran wenden und Einlaß fordern zu können. Dann rief ich, im Gefühle meiner Zahlungsfähigkeit, mit lauter Stimme des Wildwärters Namen: „Menzel!“ Dieser Lockton ließ denn auch sehr bald die Thüre des Wildschuppens, wo der Mann gewöhnlich beschäftigt war, erknarren und die lange, markige Gestalt des Gerufenen sichtbar werden. Mit Ruhe erschloß er nun auch eine innere Thür des Wildparks und kam schlürfenden Schrittes einen Fichtengang herauf, um das äußere Thor zu öffnen und dem Bezahlenden den Eintritt zu gewähren.
Im Innern kam man dem Hochwilde näher, das, scheuer als das Damwild, selten bis an den Zaun herantrat und, wenn es geschah, bei Annäherung eines Menschen sich zurückzog, hier aber, an den Besuch von Menschen gewöhnt, ihnen weniger auswich. Zur Brunstzeit jedoch mußte man in besonders angebrachte Verzäunungen treten, da dann die Hirsche gewöhnlich so bös wurden, daß sie auf jeden Menschen losgingen. War es doch hier vorgekommen, daß ein starker Hirsch den damaligen Leibschützen Petzold angenommen und denselben bereits mit den Augensprossen unter dem Hirschfängergurt gefaßt und empor gehoben hatte, um ihn gegen eine steinerne Säule der Wildfütterung zu drücken, was jedenfalls seinen Tod zur Folge gehabt haben würde, wenn nicht sein elfjähriges Söhnchen, das außen am Zaune gestanden, wohin auch der Vater seine Büchse gestellt gehabt, das Gewehr mit wahrhaft männlicher Entschlossenheit ergriffen und damit den Hirsch unter seines Vaters Leibe todtgeschossen hätte.
So hatte ich manches Jahr die mir lieb und heimisch gewordene Oertlichkeit besucht, als durch den traurigen Tod des Königs Friedrich August eine Aenderung eintreten sollte. Ein halbes Jahr darauf wurde der Beschluß gefaßt, den Thiergarten eingehen zu lassen. Zu diesem Behufe war sämmtliches Wild – Roth- und Damwild – mit Ausnahme des stärksten Edelhirsches, der nach Moritzburg in den dortigen königlichen Thiergarten versetzt werden sollte, lebend verkauft und einzufangen befohlen worden. Rechtzeitig hatte ich Nachricht davon erhalten und versäumte nicht, dabei gegenwärtig zu sein. Mit Wehmuth gedenke ich dieses Tages, einmal weil mein Lieblingsaufenthalt seines Zaubers beraubt wurde, dann aber auch, weil das Einfangen mir noch immer betrübende Vorstellungen erweckt.
Es war am 1. März 1855, einem Tage, der eher dem Januar, als einem frühlingverheißenden Monat anzugehören schien. Die volle weiße Winterdecke hüllte die Natur ein, und eisiger Nordwind strich über dieselbe hin, als wir, ich und der königliche Fasanenjäger K., uns am frühen Morgen auf den Weg machten. Mit Lust schritt ich neben meinem Begleiter her, der, ein leidenschaftlicher Jäger, keine Fährte außer Acht ließ, da der Schnee frisch war, also eine Neue bildete. Mit Verwunderung nahm ich jedoch auf diesem Wege wahr, daß mein Gesellschafter, der sonst von nichts Anderem als vom Waidwerke sprach, heute mit Exaltation nur für seine „Kleine“ Worte fand. Er redete von ihr mit einer Zärtlichkeit, die ich seinem rauhen Jägerherzen nie zugetraut hätte; nun sah ich, daß dasselbe auch Raum für das schöne Geschlecht habe, und bekam doppelten Respect vor ihm, da ich ihn von so menschlicher Seite kennen lernte; ich blieb aber deshalb auch discret und fragte nicht nach der Angebeteten Namen, deren Tugend und Liebenswürdigkeit ich still im Geiste verehrte. Im Verlauf der weiteren Mittheilungen reimte ich mir zusammen, daß sie wohl eine reizende junge Wittwe sein möge, da der wackere Waidmann von ihrem „göttlichen Mädel, der Liddi,“ sprach, und zollte ihm meine lebhafte Bewunderung, daß er an einer vaterlosen Waise so innigen Antheil nehme. Indem ich meine Freude über sein Glück äußerte, gab er mir die Versicherung, daß er dieses auch lebhaft fühle, und ehe er sie, Mutter und Kind, anderen Händen überließe, würde er lieber Beide todtschießen. Ich hielt diesen Ausspruch für einen Kernausdruck seiner Jägernatur und erwiderte einfach: das glaubte ich denn doch nicht. Hitzig entgegnete er mir, er habe für seine „Kleine“ von einem reichen Rittergutsbesitzer bereits 80 Thaler in Gold geboten bekommen, aber er habe sie nicht hingegeben, denn Niemand sollte „seine Race“ haben. Jetzt ging mir ein Licht auf – er hatte von keiner Braut, sondern von seinen Hunden gesprochen. Seitdem ist er längst verheirathet, und hoffentlich haben es Frau und Kinder bei dem vortrefflichen Menschen so gut, wie seine vierbeinigen Jagdgefährten. Mit nicht minderem Enthusiasmus sprach er von seinen Gewehren, so daß man fast hätte vermuthen sollen, er finde es eigentlich beklagenswerth, daß man eine Flinte nicht heirathen könne. In reger Unterhaltung kamen wir spielend an unser Ziel, wo bereits der Zeugwagenmeister, die Zeugdiener und die Stallleute, sowie das betheiligte Jagdpersonal versammelt waren.
Wer auf der Heerstraße von Paderborn nach dem Lippe-Detmoldischen Lande trachtet, den begrüßen aus weiter Ferne die Höhenzüge und Hügelwellen des Teutoburger Waldes, dessen alte Ehren in jedem deutschen Knaben den ersten Stolz auf die Geschichte seines Vaterlandes erwecken. Von der Geschichte bis zurück zur Sage und zur alten Götterlehre der Germanen reichen die Erinnerungen und Wahrzeichen dieses großen Waldes. Heißt er doch selbst im Munde des Volkes der Osning oder der Osnegge, von den nordischen Asen, den Göttern, als deren liebster Aufenthalt er gefeiert wurde. Wer aber auf ihn niederschauen könnte, wie auf eine Landkarte, vor dessen Auge würde ein stattliches Bild sich aufrollen. Denn der Teutoburger Wald, oder der Osning, erhebt sich zuerst bei Stadtbergen an der Diemel über das Flachland, streicht dann bis Veldrom von Süden nach Norden und wendet sich darauf von Südost nach Nordwest, bis das Gebirge sich bei Osnabrück und Reine im Sande verliert. Diese Richtungen verfolgt es in drei ziemlich parallel laufenden Höhenzügen, die für uns besonders bemerkenswerth durch ihre Formation sind. Die äußere östliche Kette besteht nämlich aus Muschelkalk, die mittlere aus Quadersandstein, die äußere westliche aus Kalk. Wer nun auf der Heerstraße von Paderborn nach Detmold den zweiten dieser Höhenzüge, und zwar am östlichen Ende desselben, am Knickenhagen, erreicht hat, der bleibt plötzlich vor einem Naturbau stehen, welchen der Quadersandstein zu seinen eigenen Ehren hier errichtet zu haben scheint. Wir stehen vor den berühmten Extern- oder Eggesterensteinen bei Horn am Lippischen Walde.
Eine Viertelstunde von der kleinen lippischen Stadt Horn ragt nämlich eine Reihe von einzelnen, freistehenden Sandsteinfelsen auf, die, ungleich an Höhe und Gestalt, aber alle kahl und zerrissen, sich fast eine Viertelstunde lang von Nordwest nach Südost hinziehen [380] und deren größte einen Anblick gewähren wie ungeheuere Trümmer und Säulen einer Riesenmauer.
Wenn man einzelne kleinere Felsbrocken unbeachtet läßt, so kann man 13 einzelne Felsen unterscheiden, welche die Reihe der Externsteine bilden. Von diesen sind die östlicheren oft durch weite Zwischenräume getrennt, während im Westen die größten und sehenswürdigsten Felssäulen, und zwar fünf an der Zahl, eine eng- geschlossene Gruppe darstellen, wie unsere Abbildung dies zeigt. Wir sehen zur Rechten den äußersten dieser Felsen, den merkwürdigsten von allen. Er erreicht an seiner westlichen Seite, da, wo sein Fuß sich in einem neuausgegrabenen Teiche spiegelt, eine Höhe von 125 Fuß, während seine östliche Seite 80–90 Fuß hoch emporragt. Uns selbst wendet er seine nördliche Wand zu, mit seinem denkwürdigsten Schmuck, einer der ältesten Bildhauerarbeiten Deutschlands, von welcher wir unsern Lesern hier eine besondere Abbildung mittheilen.
Diese „Kreuzabnahme“ ist an sich ein höchst beachtenswerthes Werk. Obwohl roh in der Reliefausführung, muß doch Gedanke und Composition dieses Bildwerks vortrefflich genannt werden und bestätigt die Annahme, daß es nur von den tüchtigen Meistern, welche zu Anfang des 12. Jahrh. in Paderborn am Dome arbeiteten, herrühren könne. Eine im Jahre 1838 von Bandel entdeckte und von Maßmann erklärte Inschrift sagt: „Im Jahre der Menschenwerdung des Herrn 1115 hat der Bischof Heinrich von Paderborn dieses Heiligthum eingeweihet.“ Es zerfällt in zwei Abtheilungen, eine untere, welche den Sündenfall (Adam und Eva von einer Schlange umwunden), und die obere, welche die Erlösung durch Christi Tod darstellt. Eine Beschreibung nach dem Original ist die folgende: Zur Rechten des Kreuzes steht Joseph von Arimathia, welcher mit Nicodemus den Leichnam des Gekreuzigten sich erbeten hatte, auf einem so zierlich und schön gezeichneten Stuhle, wie er noch heute nicht geschmackvoller erdacht werden könnte. Joseph hat den Leichnam oben vom Kreuze losgemacht und hält dasselbe noch mit dem rechten Arme umschlungen. In seinem Antlitz prägt sich tiefes und wehmüthiges Nachsinnen aus. Links hat Nicodemus die schwere Last des Heilandes auf sich genommen, und neben ihm steht, vorgebeugt, in langem schöngefaltetem Gewande die Madonna. Leider ist das sehr beschädigte Bildwerk gerade an dieser Stelle am härtesten mitgenommen; das Haupt der Maria fehlt ganz. (Ueber diesen Theil des Bildes sagt Goethe: „Vorzüglich loben wir den Gedanken, daß der Kopf des herabsinkenden Heilandes an das Antlitz der zur Rechten stehenden Mutter sich lehnt, ja durch ihre Hand sanft angedrückt wird; ein schönes, würdiges Zusammentreffen, das wir nirgends wieder gefunden haben, ob es gleich der Größe einer so erhabenen Mutter zukommt.“) Ihr gegenüber, auf der rechten Seite des Kreuzes steht, ebenfalls in langem Gewande mit gutem Faltenwurf, der treue Jünger Johannes. Ueber dem linken Arme des Kreuzes erscheint Gott der Vater mit einem edlen Antlitz voll Ernst und Theilnahme; er trägt die Seele des Heilandes als Jesuskindlein angedeutet an der Brust und hält zugleich mit der Linken eine Siegesfahne, während die Rechte wie segnend nach unten ausgestreckt ist. Unmittelbar neben Gott dem Vater zeigt sich die Sonne mit ihrem weinenden Engel hinter einem herabhängenden geschmackvoll drapirten Schleier halb verhüllt. Ihr entsprechend steht rechts der Mond, dessen Engel, ebenfalls umschleiert, mit der Hand sich die Thränen abwischt. Alle Figuren des Bildwerks sind richtig vertheilt, alle Räume zweckmäßig benutzt, die Gesichter voll Ausdruck und selbst die Gestalten nur in sehr wenigen Partien verzeichnet. Dieses Kunstwerk aus uralter deutscher Zeit verdient in vollem Maße die Liebe und Sorge, die seiner Erhaltung jetzt gewidmet wird.
Neben dieser Kreuzesabnahme sehen wir zwei große Oeffnungen im Felsen. Es sind dies Zugänge oder Fenster zweier lief in das Gestein eingearbeiteter Grotten. Die größere derselben, 36 Fuß lang, 11 Fuß breit und in der Wölbung 8–9 Fuß hoch, krümmt sich von der Nord- zur Ostseite hin und hat vier Eingänge. Neben dem östlichen Eingang steht die kolossale, aber schlecht erhaltene Figur des Apostels Petrus am Felsen. Neben der größern geht noch eine kleinere Grotte in den Felsen hinein, die sich jedoch an ihrem Ende in jene öffnet. Jene nennt man „Kirche“, diese „Seitenkapelle“. Auf diese frühere Bestimmung der Grotten deutet ein Weihwasserbecken hin, das in die Wand, und ein Taufbecken, das in den Boden eingemeißelt ist. Auf den Rücken dieses Felsen steigt man mit Hülfe einer außen eingehauenen Wendeltreppe von 88 Stufen. Bemerkenswerth ist noch die außerordentliche Wirkung des Wiederhalls auf dem Gipfel und am Fuß dieses ersten und mächtigsten Externsteins.
Sein Nachbar ist ein thurmartiger höherer Koloß, der nach Westen hin stark überneigt. Ersteigbar ist er nur mit Hülfe seines nächsten Nachbarn, des dritten Steins. Auf den Gipfel desselben führt eine in den Fels gehauene Treppe, und von diesem gelangt man mittelst einer Brücke hinüber zum zweiten Stein und zwar gerade auf einen Vorsprung, der abermals zu einer Kapelle führt, die sicher nicht ohne große Gefahr an dieser Stelle aus dem Felsen herausgemeißelt werden konnte. Sie ist 18 Fuß lang, 11 Fuß breit und mit einem 2 ½ Fuß langen, ebenfalls aus dem Stein gehauenen Altartisch versehen. – Ein 8 Fuß hoher, ausgehöhlter und mit Stufen versehener Felsblock am Fuß dieses zweiten Steines heißt die Kanzel.
Zwischen dem dritten und dem östlich davon emporragenden vierten Externsteine zieht die Heerstraße von Paderborn in’s Lipperland weiter hinein, und östlich neben beiden schließt ein fünfter Stein, beide an Höhe und Umfang bedeutend übertreffend, den sehenswerthesten Theil der ganzen Gruppe ab.
Der Ursprung der Steine und ihres Namens (oder ihrer Namen, denn sie kommen auch als Eggester-, Agister-, Egister-, Exster- und Egerstersteine in den Schriften vor) liegt noch in ungeklärtem Dunkel. Die Gelehrten halten diese freien Säulen für die Trümmer eines Sandsteinlagers, das hier von gewaltigen Fluthen ausgewaschen, zerrissen und durchbrochen worden sei, und den Namen erklären sie als Steren-, d. h. Sternsteine an der Egge, wie der Osning im Paderbornschen genannt wird.
[381]
[382] An diese grauen und geheimnißvollen Naturdenksäulen verlegt die Sage den Dienst der deutschen Götter, sie weiht sie zur Stätte, wo des Varus Römerlegionen ihr letztes Schicksal ereilte, wo die siegjubelnden Schaaren Hermanns die gefangenen Tribunen und vornehmsten Hauptleute der Römer den Göttern an ihrem Heiligthume opferten; selbst für die germanische Wahrsagerin Velleda öffnet die Sage hier geheime Hallen, läßt auch die Irmensäule hier gefunden werden und nimmt den alten Kaiser Karl unter die Gestalten auf, mit denen sie die Vergangenheit dieser Felsthürme schmückt. Hier sieht das Volk noch heute den Ort, wo er die Opferaltäre der mannhaften heidnischen Sachsen zerstörte und mit blutigem Schwerte dem Christenthum eine Stätte weihte.
Mit dem 11. Jahrhundert beginnt die Zeit der Urkunden über die Externsteine. Wir finden sie im Besitz des Klosters Abdinghof, dem kirchlichen Dienst geweiht und allen Wundern und Wunderlichkeiten der religiösen Sage erschlossen, und damit das Romantisch-Grauenhafte nicht fehle, müssen Mönche und Eremiten die Höhlen am Tage zum Beten und bei Nacht zu Mord und Raub an den friedlichen Wanderern benutzen. Trotz alledem blieben die Kirchen und Kapellen der Externsteine vielbesuchte Wallfahrtsorte, bis die Reformation ihnen die Thore schloß.
Seit dem 17. Jahrhundert lenkte der Blick der regierenden Landesherrschaft von Lippe sich den vielgefeierten Naturherrlichkeiten zu. Sie ließen (zuerst ein Graf Hermann Adolph) Jagdschlösser dort bauen, die Felsen ersteigbar machen und sie endlich sogar mit schönen Anlagen umgeben, wozu auch der anmuthige Teich unter dem ersten Felsen gehört.
Die Fürstin Pauline von Lippe-Detmold machte auch der Gefahr, mit welcher hier eine böse Sage ihre Dynastie bedrohte, rasch ein Ende. Da steht auf dem vierten Felsen, gerade auf die Heerstraße herabdräuend, ein schier amboßförmiges Felsstück, anscheinlich so locker und leicht vorgeneigt, daß man ihm wohl die schändliche Absicht zutrauen könnte, daß es einmal eine Landesmutter aus dem lippeschen Grafenhause erschlagen wolle. Um diesem Verbrechen der erhabenen Natur vorzubeugen, bestiegen starke Männer den Fels und versuchten mit aller Kraft den gefährlichen Amboß der sagenhaften Schicksalsschmiede in die Tiefe zu stürzen. Aber vergeblich. Der Block wich nicht und wankte nicht. Darum schickte man die Schmiede von Horn über ihn, die legten ihm eiserne Fesseln an und klammerten ihn fest an seinen Felsstock, so daß fortan jede Landesmutter mit beruhigtem Herzen unter ihm weilen und wandeln kann.
Das Quartier Mouffetard und die Pariser Lumpensammler.
Zu den wenigen Straßen, die in Paris noch den ganzen Stempel ihrer Eigenthümlichkeit tragen, gehört auch die berüchtigte Rue Mouffetard im Faubourg Saint-Marceau – neben dem Faubourg Saint-Antoine der Hauptsitz der Insurgenten in den Jahren der letzten Revolution. Dieselbe schließt sich hinter dem Pantheon an die Rue Descartes an und zieht sich vor der berühmten Teppichmanufactur der Gobelins vorbei bis über die jetzt verschwundene Barrière d’Italie hinaus. Betritt man sie am Tage vom neugebauten Boulevard Sebastopol, also von der Grenze des Lateinerlandes aus, so staunt man über den schneidenden Contrast, der zwischen der Bevölkerung des soeben verlassenen und der des betretenen Stadttheils in Bezug auf Anstand und äußeres Wesen überhaupt herrscht. Begegneten wir in der Rue Mazarin gravitätisch einherschreitenden Advocaten und Schriftgelehrten, so begegnen wir hier geschäftig rennenden Waarenmäklern und Kleinhändlern; sahen wir in der Rue Dauphine kecke Studenten am Arm nicht minder kecker „Studentinnen“, so sehen wir hier schlendernde Arbeiter neben promenirenden Arbeiterinnen; stießen wir in der Rue de l’Ecole de Médecine auf grübelnde Männer der Wissenschaft, so stoßen wir hier auf lustige Adepten gewerblicher Kunst; waren dort Hut und Rock vorherrschend, so sind es hier Mütze und Blouse; ging man dort in lackirtem krachendem Schuhwerk, so geht man hier in Schlappschuhen und Spadrillen; rauchte man dort „Londres“, so dampft man hier den schwarzgerauchten Brûlot oder Souscigarren, – mit einem Worte: dort der gründlich aufgefaßte Ernst des Lebens und tolle Jugendlust unter sauberem Decorum, hier gezwungener Ernst und ausgelassener Leichtsinn unter den Lumpen der Misère.
Von dem täglichen Schalten und Walten der in diesem Quartier Mouffetard wohnenden gefürchteten Vorstädter betrachten wir diesmal speciell nur den Lumpensammler.
Ich hatte die Adresse eines solchen in der Tasche. Der Mann werde mich schon auf den rechten Weg führen, war mir bedeutet worden. Er wohnte am äußersten Ende der berüchtigten Gasse, gerade vor der italienischen Barrière. Schon von Weitem sah ich ihm den Lumpenhändler „im Kleinen“ an. Seine Wohnung war ein roh gemauerter großer Kasten, möchte ich sagen, dessen ganze Einrichtung in einem geräumigen Magazin nebst daranstoßendem Wohnzimmer bestand. Der Eingang zum erstern war im eigentlichen Sinne des Worts verbarrikadirt mit Früchten der nächtlichen Lumpensammlerthätigkeit. Es stand da Korb an Korb hoch angefüllt mit den buntesten Lappen. Es lagen da Haufen über Haufen der mannigfaltigsten Bruchstücke menschlicher Bekleidung. Als ich mir über Trümmer aller Art einen Weg in’s Innere gebahnt, unterschied ich im Hintergrunde des nichts weniger als hellen Raumes eine weibliche Gestalt, die mit Anfüllen eines groben Leinensackes beschäftigt war, und hinter ihr einen kleinen, schwarzäugigen Burschen in blauer Blouse, dem ich als dem Helden meiner Adresse sofort mein Anliegen vortrug. „Ob es nicht in der Rue Mouffetard eine Lumpensammler-Colonie gebe?“ fragte ich. „Nicht daß ich wüßte, mein Herr,“ lautete die Antwort. „Das große Haus dort oben, in dem sonst ihrer vierhundert beisammen wohnten, ist seit acht Monaten anderweitig vermiethet, und im Quartier Mouffetard wohnen die Lumpensammler zerstreut in den Hotels garnis. Wenn’s Ihnen jedoch auf zehn Minuten Wegs nicht ankommt, so will ich Ihnen eine Colonie zeigen, wo Sie gewiß finden werden, was Sie suchen. Wollen Sie gefälligst mitkommen, mein Herr?“ Wir gingen.
An der Ecke der nächsten Straße blieb der höfliche Franzose stehen. „Sehen Sie den freien Platz dort unten, mein Herr? Es ist die Place des Deux-Moulins. Links davon steht eine große Gruppe zum Theil einstöckiger Häuser. Es ist die Cité Doré. Dort wohnen mehr als funfzehnhundert Lumpensammler. Wenden Sie sich nur an den Portier.“
Ich dankte dem Manne, der ein Trinkgeld dankend ablehnte, setzte meinen Weg allein fort, und betrat das längs dieser Häuserreihe hinlaufende Trottoir. Es führt uns zu einer engen Gasse, der Rue de la Cité Doré, die mit der Häusermasse parallel läuft. Die linke Gassenwand bildet ein halbverfaultes schwarzes Breterstacket, hinter dem sich ein großer Küchengarten ausdehnt; rechts erheben sich bis an’s Ende der Gasse, nur von einzelnen Hofmauern unterbrochen, gelb übertünchte ein- bis zweistöckige Häuschen, die, in gerader Linie fortlaufend, mit ihren von Abstand zu Abstand sich wiederholenden Fenstern und Thüren eine entfernte Aehnlichkeit mit einer deutschen Unterofficier-Caserne haben. Dies ist die innere Seite der Colonie. Gehen wir sie entlang, so bemerken wir in erster Linie das Wort „Concierge“ über einer schmalen Hausthür.
An den Portier hatte ich mich zu wenden, und da die niedrige Thür offen stand, trat ich getrost in die Cerberus-Wohnung ein. Du lieber Gott, welche Misère! Ein viereckiges Loch mit vier nackten Wänden, einem natürlichen Fußboden und absoluter Möbellosigkeit, wenn ich einen Stuhl und eine Drechslerbank abrechnete. Von Feuerung keine Spur. Dessenungeachtet bei den Insassen des Locals, dem Portier und seiner Frau, nicht die mindeste Idee von Mißbehagen. Ersterer drechselte an der Werkbank, Letztere band Stühle, und Beide belehrten mich um die Wette über ihre Colonie. „Funfzehnhundert sei allerdings übertrieben,“ meinte die Frau. „Zwar habe sich beim letzten Census eine Bevölkerung von 3000 Seelen (Männer, Weiber und Kinder) herausgestellt, doch gehöre der größere Theil derselben dem Arbeiterstande an.“ – „Ein paar tausend Individuen,“ commentirte der Mann, „gehen des Morgens und Abends da aus und ein. Mithin sei es sehr schwer, festzustellen, wer in der Mehrzahl, die Lumpensammler oder [383] die Arbeiter. Doch glaube er annehmen zu dürfen, die letztern.“ Andere uns hier gewordene Mittheilungen über die Pariser Chiffonniers im Allgemeinen flechten wir weiter unten ein, um einstweilen der letztern „Hauptstadt“[1] in Augenschein zu nehmen.
Da ist kein Wagengerassel, kein geschäftiges Hin- und Herrennen von Menschen, kein Stoßen und Drängen, kein Rufen und Schreien. In den vier oder fünf engen Gassen herrscht eine Oede und Leere, die mit der Bevölkerung von 3000 Seelen gar nicht harmonirt. Männer bemerkte ich außer dem Portier auf der Straße auch nicht einen einzigen, was freilich darin seinen Grund hat, daß ein Theil der Einwohnerschaft den Tag über in Paris arbeitet und die Mehrzahl der Lumpensammler am Nachmittag von den Strapazen der verwichenen Nacht ausruht. Einige wenige Weiber und Kinder, die mir begegneten, trugen sämmtlich den Stempel des Elends, nicht sowohl in der Kleidung, die ziemlich sauber war, als vielmehr auf der gefurchten Stirn und in den bleichen Zügen.
An der äußersten Grenze der Colonie steht ein ziemlich großes zweistöckiges Haus. Dieses betrat ich, da mir gesagt worden war, es werde ausschließlich von Lumpensammlern bewohnt. In Begleitung des Portiers besuchte ich zwei Säle und einige Gemächer, die ces dames et ces messieurs gemeinschaftlich bewohnen. Von Betten ist darin keine Rede; pêle-mêle ruht hier Alt und Jung, Männlich und Weiblich neben seinen Lumpen am Boden. Gegen die Kälte schützt alle eine gemeinschaftliche Decke, die mit eben soviel Löchern zum Durchstecken des Kopfes versehen ist, als Personen darunter schlafen. Gewiß eine classische Einrichtung!
An Gewerbsleuten wohnen in der Cité Doré außer den bereits angeführten noch drei oder vier Wein- und Spirituosenhändler. Wollte man aber einen Bäcker ausfindig machen, könnte man lange suchen.
Um jedoch vom Oertlichen auf’s Allgemeine überzugehen, so ist es erstaunlich, was für eine Menge Individuen in Paris sich von „Lumpen“ ernähren. In den Faubourgs Saint-Antoine und Saint-Marceau leben Tausende von Lumpensammlern beiderlei Geschlechts; im Quartier Mouffetard allein mehr als fünfhundert. Als die alten Barrieren noch bestanden, waren in Paris über sechzig Lumpenhändler en gros, der vielen Detaillisten gar nicht zu gedenken. Nunmehr kann man die Zahl derselben dreist auf hundert anschlagen.
Es ist über die Pariser Lumpensammler in deutschen Blättern viel geschrieben worden, aber wenig, das einen wahren Beitrag zu ihrer Charakteristik hätte bilden können. Die meisten Correspondenten oder Berichterstatter beschränken sich eben darauf, Alles den französischen Journalen nachzuplappern, und Gott weiß, wie oft von diesen – und wenn es sich um die bekanntesten Localsachen handelt – gegen die Wahrheit gesündigt wird. Nachstehende Notizen über die Lebensweise der Lumpensammler und deren Wesen können als durchaus wahrheitsgetreu und thatsächlich betrachtet werden, da ich sie der besten Quelle, der Wirklichkeit, entnommen habe.
Ob es, wie einige Schriftsteller und Journalisten behaupteten, unter den Pariser Lumpensammlern Vicomtes und Comtes, kurz Leute giebt, die einst eine bedeutende Rolle in den Salons gespielt und eine classische Erziehung genossen haben[2], will ich dahingestellt sein lassen, obgleich mir persönlich von einem halben Chiffonnier versichert wurde, die noble Corporation zähle zu ihren Mitgliedern auch einen weiland Heidelberger Studiosus. Factisch ist aber doch, daß Gestalten und Typen unter ihnen leben, die, trotz ihrer gegenwärtigen Versumpfung, früher sich in höhern Sphären bewegt zu haben scheinen, und als erwiesen kann betrachtet werden, daß die Mehrzahl der Lumpensammlerinnen vor Jahren, als das Laster der Trunksucht ihre Blüthen noch nicht zum Fallen gebracht hatte, in demjenigen „quartier“ von Paris wohnte, nach dem Alphonse Karr gewissen dort wohnenden Sirenen den classischen Namen „Loretten“ gegeben.
Nun ist unter den einstigen Anbeterinnen der Freuden des Lebens und der Gefallsucht jede Schranke der Sittlichkeit vollends gefallen. Sie kennen nur noch einen Genuß, den des Trinkens von Spirituosen. Im Uebrigen sind sie willenlose, verkommene, von der Misere in unzerreißbare Fesseln geschlagene, jedweden Schamgefühls bare Geschöpfe.
Weniger unglücklich sind die Männer, deren illegitime Tyrannen, bei denen doch noch hin und wieder ein Fünkchen Mannestrotz anzutreffen. Aber auch die meisten von ihnen sind jenem Laster anheimgefallen, und so groß ist deren Trunksucht, daß sie lieber Hunger leiden, als nur für einmal dem gewohnten Schnapsgenuß entsagen. Das ist denn auch die Ursache des geringen Grades von Selbstständigkeit, der unter diesen Leuten herrscht. Bei ihrer Aversion gegen Alles, was Luxus heißt, die so weit geht, daß sie manchmal mit dem Straßenpflaster als Kopfkissen vorlieb nehmen, könnten sie es, auch bei ihrem geringen Lohn, in jener Eigenschaft doch noch ziemlich weit bringen, zumal die ältern von ihnen familienweise speisen und sich dabei fast ausschließlich von den Brosamen nähren, die auf ihren Kreuz- und Querzügen von den Tischen der Reichen in ihren Schnappsack gefallen. So aber sind sie oft genöthigt, ihr einziges Hemde als Pfand für ein innegehabtes Nachtlager in den Händen des Wirthes zu lassen.
Am schlimmsten von Allen sind diejenigen daran, welche, nicht im Stande, die erforderlichen Werkzeuge (Kiepe, Hacke und Laterne) sich selbst anzuschaffen, sich genöthigt gesehen haben, auf Rechnung gewisser Kleinhändler, die sie dafür complet ausrüsten – nota bene ausbeuten – zu arbeiten. Wenn solche nicht auf ihrer Hut sind und jeden Exceß wie eine Sünde vermeiden, so können sie Jahre lang Lumpen sammeln, ehe sie sich zu ihrer Selbstständigkeit „emporgesammelt“ haben. Und doch kostet diese Selbstständigkeit nicht mehr als 2 Frcs. 50 Cent., der Preis genannter Werkzeuge! Sagt diese eine Thatsache über den sittlichen Zustand der Pariser Chifonniers nicht mehr, als ein ganzes Buch darüber sagen könnte?
Herr B., der Großhändler eines Lumpengeschäfts in der Rue Lourcine, theilte mir speciell mit, daß in diversen möblirten Hotels im Quartier Mouffetard mehr als 500 Individuen (circa 270 Männer und 230 Weiber) wohnen, die sich lediglich von Lumpensammeln ernähren. Drei Viertel von dieser Bevölkerung stehen in einem Alter von 17 bis zu 36 Jahren, während kaum ein Sechstel die Grenze der Sechzig und Siebzig überschritten hat.
Die ehrenwerthen Mitglieder der Lumpensammler führen in diesen sogenannten Hotels ein wahres Zigeunerleben, insofern als sie – ganz wie in jenem Hause in der Cité Doré – in der geschwisterlichsten Vereinigung und ohne Unterschied des Alters und Geschlechtes in großen Localen beisammen wohnen. Wobei freilich bemerkt werden muß, daß Jedes seinen Schatz von Lumpen sorgfältig überwacht und in dieser Hinsicht den Principien eines Louis Blanc durchaus abhold ist. Von Möbeln will der Lumpensammler in seiner Naturwüchsigkeit und Bettlereinfalt nichts wissen; dafür streckt er sich mit allem möglichen natürlichen Comfort nach seiner Decke, verschläft seine Nacht in Gesellschaft seiner Cameraden ganz poetisch, giebt dafür beim Aufstehen 15 bis 20 Centimes und hat nun das Recht, sagen zu können: „Ich logire im Gasthof zum goldenen Löwen!“
Der Chiffonnier vom Quartier Mouffetard geht regelmäßig zwischen fünf und sechs Uhr Abends zu Bette und steht um elf Uhr wieder auf. Wenn der Lärm in den Straßen von Paris anfangt schwächer zu werden, schleicht jener sich aus seinem obscuren Schlupfwinkel fort nach den Stadttheilen der Wohlhabenden, denn hier harren seiner die besten und feinsten Brocken.
Nachts um die zwölfte Stunde
Verläßt der Sammler sein Haus,
Macht mit der Blende die Runde,
Trotz Wetter, Sturm und Graus.
Das ist die erste Runde. Hat er sie am frühen Morgen, etwa zwischen Zwei und Drei, der einzigen Stunde, wo Paris schläft, beendigt, so kann man sicher sein, daß er sich in der Nähe einer Anstalt befindet, wo für Geld und gute Worte Schnaps und Brod zu haben ist. Denn die Gerechtigkeit muß man ihm widerfahren lassen: sein Instinct führt ihn nie irre, und er wittert die Morgenluft mindestens ebenso gut wie der Rappe in Bürger’s „Lenore“.
Wenn nun der Lumpensammler das Glück hat, in seiner Morgenkneipe nicht vor Müdigkeit oder aus irgend einer andern Ursache unter den Tisch zu fallen – was gar nicht selten vorkommen soll – so rafft er sich gegen sechs Uhr auf, wappnet sich auf’s Neue mit Kiepe und Hacke und tritt seine zweite, die Hauptrunde, [384] an, welche bis gegen neun Uhr, d. h. dem Augenblicke, wo aller Unrath von den Straßen entfernt ist, dauert.
Hat der Chiffonnier bis dahin gesammelt, so ist nun für ihn der Moment des Sortirens und Versilberns gekommen. Er begiebt sich zu dem Ende in sein Hotel, trennt die currenten Artikel von den weniger currenten und trägt erstere unverzüglich zum Großhändler, der sie ihm in klingender Münze bezahlt. Die weniger currenten Artikel werden zu den schon gesammelten Vorräthen gethan und erst dann versilbert, wenn das Quantum der Mühe werth.
Ist es ob diesen verschiedenen kaufmännischen Operationen elf Uhr geworden, so erinnert sich der Pariser Lumpensammler daran, daß der Mensch nicht blos zum Lumpensammeln geboren. Darum besinnt er sich nicht lange, zieht mit dem erhaltenen Silber- und Kupferblech auf seine Stammkneipe und „blecht“ hier für Cognac und dergleichen, bis es mit dem Glockenschlag Fünf in seine umnebelten Ohren dröhnt:
„Und wer das neue Lied nicht kann,
Fang’s alte wieder von vornen an!“
Trotz alledem darf und wird aber der Industrielle nicht hochmüthig auf dieses schmutzige Geschäft herab sehen. Auch unter den Lumpensammlern giebt es „Großhändler“ und „Kleinhändler“, denen die Sammler und Sammlerinnen, die Sortirerinnen und Ausfädlerinnen untergeordnet sind.
Die Großhändler kaufen en gros und en détail; die Kleinhändler nur en détail. Erstere beschäftigen bis zu sechzig Sortirerinnen und Ausfädlerinnen und liefern ihre Erzeugnisse aller acht Tage an den Fabrikanten ab; letztere besorgen das Sortiren und Ausfädeln gewöhnlich selbst mit ihrer Familie und verkaufen den Ertrag eines Tages am folgenden Morgen. Der Lumpensammler verkauft des Morgens, was er in der Nacht gesammelt.
In dem oben erwähnten Etablissement des Herrn B. in der Rue Loureine, dessen Specialität in Wolle und Seide besteht, sind zeitweise fünfzig bis sechzig Arbeiterinnen beschäftigt. Die Bureaux und Comptoirs im ersten Stock sind kaufmännisch großartig eingerichtet. Jedes Departement wird mit der größten Sorgfalt verwaltet. In verschiedenen Arbeitssälen im ersten und zweiten Stock arbeiten in Reih und Glied zehn bis zwanzig Sortirerinnen und Ausfädlerinnen. Jede von den Ersteren hat ihren besondern Sitz und vor sich drei Vorrathskörbe stehen; in den einen wirft sie die vorkommenden Wollen-, in den andern die Seiden-, in den dritten die Baumwollenlappen. Dieselben arbeiten entweder „auf’s Stück“ oder in „gewissem Gelde“ und verdienen durchschnittlich 1 Fr. 50 Cent. täglich. Die Arbeit der Ausfädlerinnen besteht darin, die Tuch- und Seidenlappen (gardannes) erst zu reinigen, dann in Garn aufzulösen und dieses zu kämmen, worauf es bündelweise versandt wird. Ihr Verdienst kommt dem der Erstern beinahe gleich. Der Großhändler muß über bedeutende Geldmittel verfügen können und, wenn nicht selbst eine gründliche Waarenkenntniß, so doch Jemanden haben, der letztere vollständig besitzt. Es kommt hier darauf an, aus der unbedeutendsten Kleinigkeit einen gewissen Nutzen zu ziehen.
Ein „fahrender“ Lumpensammler – denn es giebt auch „sässige“ (die Herren- und Damenschneider z. B.) – muß aber, wenn er nur einigermaßen des Gewinns theilhaftig werden will, der ihm gebührt, auch nicht auf den Kopf gefallen sein. In dem Tragkorb eines solchen findet sich gewöhnlich vor: altes Eisen, Glasscherben, Lederschnitzel, Knochen, Tuch- und Wollenlappen etc., und alle diese verschiedenen Artikel haben ihren besondern Verkaufswerth. Mit den gefundenen Flaschenstöpseln wird sogar bei den Weinwirthen an der Barriere ein ordentlicher Tauschhandel getrieben. Dann aber enthält der Tragkorb noch: 1) Stücke schmuziges Papier, carons genannt, 2) Packleinwand, Ueberreste von Säcken etc. (gros de Paris), 3) farbige Baumwollenlappen (gros de campagne), 4) grobe und schmuzige Linnenlappen (gros bul und bul), 5) weiße Baumwollenlappen (blanc sale), 6) feine Linnenlappen (blanc fin); – Waaren, die den Sammlern mit 8, 18, 20, 26, 34 und 44 Centimes per Kilogramm bezahlt werden.
Ein Theil von diesen Artikeln wird von dem Großhändler an den Papierfabrikanten abgelassen. Die Tuch- und Seidenlappen werden „ausgefädelt“, die Fäden gehörig gehechelt und bundweise an Tuch- und Seidenfabrikanten verkauft, welche ihrerseits die schönsten Zeuge daraus herstellen und dann für neu in den Handel geben. Oder man verkauft solche Partikelchen Tuch und Seide an Damen- und Herrenkleider-Flicker und Flickerinnen, die manchen theilweise avarirten Bekleidungsgegenstand damit wieder auf Jahre in Ehren bringen.
Bunte Lappen werden ballenweise in die Provinz geschickt, wo sie zur Herstellung jener kunterbunten Bettdecken dienen, auf die sich in gewissen Gegenden Frankreichs die Hausfrauen so viel einbilden. Alte Schnüre und Bänder werden zu Charpie verzupft, in seidene Hüllen genäht und gelten dann für weiche und warme Eiderdaunen. Letztere Industrie verdankt ihren Ursprung dem Erfindersinn einer mildthätigen Dame, welche der Ansicht war, dieselbe könne für arme verkrüppelte Mädchen eine Art leichter Verdienstquelle werden. Wie mir mein Cicerone in dem Geschäft der Rue Lourcine mittheilte, hat jene Dame in der Rue du Temple eine Werkstatt errichten lassen, auf der jetzt an die zwanzig größtenteils verwachsene junge Mädchen mit „Eiderdaunen“-Zupfen ihren Unterhalt verdienen.
Trotz aller dieser und anderer Bemühungen aber wird es schwer gelingen, der steigenden Demoralisation der Pariser Lumpensammler, die mit jedem Tage zunimmt, Einhalt zu thun, schon deshalb, weil zur Kunst des Sammelns nur diejenigen greifen, die, bereits bankerott an Hab und Gut und Ehre, keinen andern Ausweg vor sich sehen, als Nachts das Brod im Kehricht zu suchen, was sie auf andere Weise nicht mehr erarbeiten konnten und – mochten.
Keine saure geronnene Milch mehr. Sollte eine unserer Leserinnen
die Meldung bekommen, daß die Sahne für die Kaffeegesellschaft sauer geworden
sei, so braucht sie deshalb kein saures Gesicht zu machen, sondern
sie läßt aus der nächsten Apotheke ½ Loth Natronlauge holen. Man
tröpfelt vorsichtig in die saure Sahne von der Natronlösung so lange ein,
bis der Geschmack süß geworden ist. Kein Feinschmecker ahnt es, daß vor
wenig Minuten die Sahne verdorben war.
Ein Trost für Raucher. Nach Dr. Schmarda (Reise um die Erde, Braunschweig 1861, 2 Bd., S. 199) haben die Menschenfresser in Neuseeland schon bemerkt, daß das Fleisch der Tabakraucher den Geruch und Geschmack dieses narkotischen Krautes annehme und dadurch für sie ungenießbar werde. Gefressen werden also die Raucher nicht!
Joseph Streiter, der wackere Bürgermeister von Botzen, über dessen Bestrebungen wir in Nr. 17 unserer Zeitschrift berichteten, hat soeben unter dem Titel „Studien eines Südtyrolers“ (Bd. 1) ein Buch erscheinen lassen, das den Kampf gegen die Knechtung des Geistes im dortigen Lande wieder mit Entschiedenheit aufnimmt. Diese erste Abtheilung behandelt vorzüglich die Zustände in den Jahren 1845 bis 1848 und die Bewegung des letztgenannten Jahres und wird namentlich in Oesterreich viel gelesen werden.
sind ferner (bis zum 2. Juni) eingegangen: 26 Thlr. 26 Ngr. 3Pf. Ertrag eines Concerts und der Sammlung des Gewerblichen Bildungsvereins in Leipzig; 1 Thlr. von Dr. Levysohn in Frankfurt a. M.; 2 Thlr. 5 Ngr. von einigen S. L. am Jahn-Tische den 10. Mai 62; 11 Thlr. 11 Ngr. von der Gesellschaft „Er harrt“ zu Crimmitschau durch Ehrhardt Blau; von L. E. Rangold in Celle 3 Thlr. 15 Ngr.; 1 fl. rhein. von Lesern der Gartenlaube in Dornholzhausen am Taunus („Es lebe das Vaterland des Erfinders!“); 10 fl. rhein. von L. d. G. und Mitgl. des Schillervereins zu Annweiler in der baier. Pfalz; 1 Thlr. aus Grimma; 10 Thlr. gef. durch W. B. in H. bei einer Wasserpartie auf der Saale; 11 Thlr. von Lesern der Gartenl. und Verehrern deutscher Technik in Mell bei Osnabrück; 5 Thlr. vom Gewerbeverein zu Kattowitz in Oberschlesien durch dessen Rendant Notteboom, Bauinsp.; 1 Thlr. von Hch. R. in Mülheim a. d. Ruhr; 12 Thlr. 5 Ngr. ges. vom Gewerbeverein zu Schneeberg, durch dessen Vorst. F. A. Schneider; 2 fl. rhein. vom Dr. med. L. Bertholdt, prakt. Arzt zu Mkt. Dachsbach in Mittelfranken; 4 Thlr. 11 Ngr. von der Gesellschaft „Erholung“ in Reichenau bei Zittau; 1 Thlr. („verspätet“) von Rud. Korn in Berlin; 2 Thlr. von L. d. G. in und bei Crempin; 12 Thlr. von Gewerbevereinsmitgliedern zu Limbach, durch den Vorstand Heinr. Matthes; 2 fl. österr. W. v. einem L. d. G. in Mattersdorf; 6 Thlr. 15 Ngr. ges. durch E. Duchant bei der vierten allgemeinen Versammlung Stolze'scher Stenographen aus Sachsen, Thüringen etc. am 28. Mai in Magdeburg; 1 Thlr. von „Violet“; 31 Thlr. ges. im „Verein junger Kaufleute in Berlin“, durch dessen Vorst. P. Mangoldt; 1 Thlr. und 2 Thlr. 15. Ngr. von einigen L. d. G. im Sprottauer Kreise, durch Buchh. Werner; 1 Thlr. von Kpfst. Kr. in Leipzig; 10 Ngr. von Th.; 2 Thlr. als Ueberschuß vom Fichte-Commers zu Breslau, durch stud. phil. Reinh. Herda; 2 Thlr. 5 Ngr. aus dem Wintergarten zu Leipzig; 5 fl. rhein. von mehreren Schülern der ersten Gymnasialklasse in Zweibrücken.
- ↑ Gründer derselben war ein Herr Doré, von dem sie auch den Namen führt.
- ↑ Wenn ich nicht irre, erzählte der verstorbene Freund Heine’s, Gerard von Unwel, einst in einem Pariser Journal von einem Chiffonnier, der ihn in der Nacht beim Nachhausegehen auf lateinisch angeredet, und mit dem er sich dann eine Zeitlang in dieser Sprache unterhatten habe. D. Verf.