Die Gartenlaube (1862)/Heft 25

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1862
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 25.   1862.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Zwei Welten.

von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)


Der Referendar warf den Hut von der heißen Stirn, öffnete das Couvert und faltete einen vollbeschriebenen Bogen auseinander. Er las, während der junge Kaufmann einen langsamen Gang durch das Zimmer begann:

„Lieber Freund und hochgeehrter Herr Referendar!

Sehr sonderbarliche Geschichten, aber der Soldat muß sich in allen Lagen zu helfen wissen, wie unser Unterofficier beim Felddienste sagte. Also die Sache mit dem russischen Grafen ist überall bekannt, auch die Zeitungen haben davon erzählt, aber so verblümt, daß ich ordentlich sah, wie die Polizei Ruhe gewinkt hat, damit der Uebelthäter nicht aus dem Garne gescheucht werde. Es war mir gleich am ersten Tage auf meinem Posten in unserem Logis nicht recht wohl zu Muthe, denn kaum daß ich aus den Federn war, stellten sich schon verschiedene Besuche von ganz verdächtigem Aussehen ein. Zuerst war’s ein Lohndiener mit einer richtigen Polizei-Visage; er wollte nur wissen, ob der Herr Referendar hier wohne und wann er zu sprechen sei. So schlau fängt man aber nicht einmal einen Grobschmieds-Gesellen! Ich konnte keine Sprechstunde angeben, empfahl mich aber zu jeder Besorgung, und damit verlor er sich. Noch vor Mittag kam ein Bote vom Kammergericht, der sehr pressirt that, einen Auftrag vom Abtheilungs-Director oder dergleichen haben wollte und geradedurch in’s Schlafcabinet ging. Sein absonderlicher Auftrag aber sah ihm aus allen Knopflöchern heraus, und ich wußte schon beim ersten Blicke genug. Als er das leere Bett sah, hätte er mich gern examiniren mögen, aber ich ließ ihn mit dem guten Rathe, selber weiter zu suchen und sich nicht zu echauffiren, abziehen.

Zu Mittag schon wurde in unserm Speisehause nur vom russischen Grafen geredet. Es essen zwei Officiers-Bediente dort, welche die Geschichte mitgebracht hatten. Sie wollten auch genau wissen, daß der Thäter bekannt sei, daß aber um ein paar vornehmer Personen willen alle Maßregeln im Geheimen betrieben würden. Es gab Klöse und Meerettig an dem Tage, aber ich hätte es nicht einmal gemerkt, wenn mir vor lauter Aufhorchen der Meerettig nicht in die Nase gekommen wäre.

Nun war ich noch keine Stunde wieder im Logis, als ein dritter Mensch ankam, sich höflich nach dem Herrn Referendar erkundigte und bei meiner Antwort geradeso nickte, als wisse er schon Alles, was ich ihm sagen und nicht sagen wolle. Nachher musterte er mich aufmerksam, und das Gesicht mochte ihm wohl besser als der Rock vorgekommen sein, denn er nickte wieder und sagte, er denke wohl, daß er mir einen Auftrag für den jungen Herrn anvertrauen dürfe, ich müsse ihn aber wörtlich bestellen. Wenn Herr Hugo Zedwitz, sagte er, jetzt etwa eine andere Reise als nach der Schweiz machen wolle, so sei bei dem Orte, der hier aufgeschrieben stehe, auch eine sehr schöne Gegend. Das lasse ihm eine Freundin sagen. Damit hatte er mir die Karte gegeben, welche ich hier mitschicke, und als ich wegen des unbekannten kauderwälschen Namens fragte, wo denn das zu finden sei, sagte er so ruhig, als handele es sich um eine Kremserfahrt nach Charlottenburg: In Amerika! Dann nickte er noch einmal recht freundlich und ging zur Thür hinaus. Ich hatte bei dem merkwürdigen Einfalle zuerst gerade hinaus lachen wollen, aber es schossen mir mit einem Male ganz absonderliche Gedanken durch den Kopf. Ob das nicht ein guter Rath von Jemand sein konnte, der genau wußte, wie die Sachen mit dem russischen Grafen standen? Und eine Freundin –! Dazu habe ich nun freilich nichts zu sagen; aber Eins möchte ich gleich hierher setzen. Wenn Jemand die Reise gern mitmachte, so wäre ich es. Wo es hier Elend giebt, da steckt gewiß ein Tischlergeselle darunter, und über’m Meere soll der Verdienst so gut sein. Das aber nur nebenbei, wenn auch die Speisemarken fast zu Ende sind und ein Mensch mit Geschick und Kraft, wie ich, sich nicht einmal weiter zu ernähren wüßte, er würde denn als Factotum durchgefüttert. Bist doch wirklich ein Lump, Heinrich!

Also wollte ich noch sagen, daß mir heute, wo ich dies schreibe, Alles danach aussieht, als werde das Garn hier mäuschenstill offengehalten, bis der Vogel hereinkommt. Der russische Graf soll so gut wie todt sein, aber nirgends wird etwas Rechtes darüber laut, wie es sonst bei allen Mordgeschichten der Fall ist – wer indessen ein richtiges Auge für Polizeigesichter hätte, würde wohl Verschiedenes von den Gestalten, die sich Abends an unserm Hause herumtreiben, zu erzählen wissen. Ich will nichts behaupten, aber geheuer ist es mir nirgends. Und so laß mich wissen, lieber Hugo, wie es zu Hause steht und was Du etwa vorhast; für alle Fälle aber vergiß nicht die schönen Gegenden in Amerika.

Dein getreues Factotum
Heinrich Mangold.“

Der Referendar hatte, noch ehe er den Brief zu Ende gebracht, hastig nach der zu Boden gefallenen Karte gegriffen und las in fein gestochenen Lettern: John Winter, Oakhill, und darunter in einer Abkürzung, die ihm selbst noch unverständlich war, die Bezeichnung der Lage des Orts. Dann beendete er die Zeilen, faltete den Brief wie in tiefen Gedanken wieder zusammen und blieb so stehen, bis Römer vor ihn trat und mit einem: „Wie ist es, Hugo?“ die Hand auf seine Schulter legte.

„Eine klare Frage und eine bestimmte Antwort, Fritz!“ hob [386] jetzt der Angeredete den Kopf, und in seinen Augen blitzte ein frisches Feuer auf, „kann ich von Dir sofort einige Hundert Thaler haben, wenn ich Dir Vollmacht zum Flüssigmachen meines mütterlichen Vermögens gebe?“

„Ohne Anstand! aber was ist es denn, wenn ich es wissen darf?“ erwiderte der junge Kaufmann in sichtlicher Spannung.

„Eine todte Vergangenheit und eine neugeborene Zukunft, Fritz – ich gehe nach Amerika!“ rief der Referendar, als werfe er einen ganzen Berg von seiner Brust. „Du sollst Alles erfahren, mehr als Du vermuthest, aber laß mich erst Klarheit in mir selbst schaffen. Geh’ jetzt und in einer halben Stunde komm’ wieder!“ Er schob den Freund nach der Thür und warf sich, den Brief von Neuem entfaltend, auf das Sopha.




4. In einer amerikanischen Familie.

Oben auf dem Hügel lag das Landhaus, das in dem halbitalienischen Geschmacke seiner Bauart, mit seinen ringsum laufenden Parkanlagen zu dem Namen einer „Villa“ völlig berechtigt gewesen wäre, hier aber nur unter der bescheidenen Bezeichnung „Cottage“ passirte.

Vom Fuße des Hügels herauf stieg ein dichter Kranz von breitästigen Eichen bis zur Hälfte der Höhe und schien die Besitzung von der weiten Ebene angebauten Landes völlig abzuschließen. Ein sorgfältig chauffirter Fahrweg wand sich durch die Anlagen bis zur Spitze der Anhöhe seitwärts des Hauses hin, und der Aufsteigende, welcher den Weg zum ersten Male verfolgt hätte, mußte hier in stiller Ueberraschung seinen Schritt anhalten. In scharfer Abdachung fiel am Ende des abgeplatteten Gipfels der Boden hinab, und unten strömte die breite, silberne Fluth des Flusses, der eine Zeit lang die Sclavenstaaten von der freien amerikanischen Erde trennt, von raschen Booten und rauchenden Dampfern durchschnitten. Am jenseitigen Ufer aber zeigte sich, soweit das Auge reichte, ein wunderbar erquickendes Panorama von zahllosen Villen und Städtchen, weiß und schmuck zwischen grünen Weingeländen und herbstlich buntgefärbten Obstgärten hervorlugend. Die hier hinüber blickende Seite des Landhauses war auch als eigentliche Frontseite behandelt; in einem kurzen Bogen schlang sich der Weg um das Gebäude und endete auf einem breiten Plateau, von welchem eine Freitreppe nach dem Portico des Hauses aufstieg. Das terrassenförmig ausgegrabene, mit Zierbüschen besetzte Ufer hinab leiteten bequeme Stufen nach dem Flusse, und unten in einer schmalen, künstlich geschaffenen Bucht schaukelte ein bequemes Boot.

In einem der hohen Parterre-Zimmer, das in seinen dicken Teppichen und reichen Damastvorhängen, seinen weichen Fauteuils und Causeusen, in dem reichgeschnitzten Piano und dem marmornen Kamin die ganze Fülle amerikanischen Comforts zeigte, wiegte sich eine junge Dame nachlässig im Schaukelstuhl und schien kaum auf den ältlichen, sorgfältig gekleideten Mann zu achten, welcher vor ihr den Boden mit ungeduldigen Schritten maß. „Es muß zu einem Ende kommen, Jessy,“ begann dieser jetzt, vor dem Mädchen stehen bleibend, „und ich bitte Dich recht dringend, Deinen seltsamen Launen einmal zu entsagen. Mr. Graham drängt auf eine bestimmte Antwort, zu der er jetzt ein volles Recht hat, und ich darf wohl von meiner Tochter die nöthige Rücksicht gegen mich, der ich die Angelegenheit unterstützt, verlangen, wie noch mehr die Erhaltung ihres eigenen guten Rufs. Man spielt als achtbare junge Lady nicht fast ein Jahr lang mit der Neigung eines ernsten Mannes, ohne ihr endlich voll gerecht zu werden!“

Das Mädchen richtete rasch den schönen Kopf auf. „Spielen? mit einer Neigung spielen, Sir?“ fragte sie, während sich ihr dunkles Auge ernst und fest auf den vor ihr Stehenden heftete. „Habe ich schon jemals in meinem Leben irgend einem Manne Anlaß zu Hoffnungen in Bezug auf mich gegeben? Ich habe den Gentleman, von dem die Rede ist, in meiner Gesellschaft gelitten, da Du es selbst warst, Vater, der ihn als fast täglichen Gast in unser Haus brachte; aus Achtung gegen Dich bin ich vielleicht weniger schroff gegen ihn als manchen Andern gewesen, der mich zum Gegenstände seiner Speculation machte; aber trotzdem hätte ihm sein eigenes Gefühl sagen müssen, daß von einer weitern Annäherung nie eine Rede sein könne –“

„Und deshalb ertrugst Du auch recht gern eine Reise nach Europa in seiner Gesellschaft, eine Reise, die hier in den Augen aller vernünftigen Menschen für den Beweis euerer näheren Beziehung gilt!“ entgegnete der Alte mit einem leichten Achselzucken seinen Gang wieder aufnehmend.

Sie saß blitzschnell gerade auf, und eine leichte Blässe trat in ihr Gesicht. „Der Vorwurf kam nicht aus Ihrer Ueberzeugung, Sir!“ sagte sie, während ein eigenthümliches Licht in der schwarzen Tiefe ihres Auges blitzte, „oder Sie zwingen sich zu einer Annahme, die sich leicht zu einer Kette für mich machen ließe. Ich mag Ihnen nicht in’s Gedächtniß zurückrufen, wie ich Ihre Begleiterin ward, Ihre und keines andern Menschen, Sir! aber ich versichere Ihnen einfach, daß ein solches Spiel die schlechteste Waffe gegen meine Entschlüsse ist!“

„Und darf man diese Entschlüsse wissen, Miß?“ fragte er stehen bleibend. „Ich erwarte den Mann, der bisher durch Ihre eigene Haltung als mein künftiger Schwiegersohn angesehen ward, in der nächsten Stunde. Sie werden hoffentlich nicht sagen wollen, daß Ihnen der Zweck von Graham’s Besuchen und die Hoffnungen, welche er auf unsere gemeinschaftliche Reise setzte, unbekannt waren, wenn sie auch unausgesprochen blieben; – Sie werden mich wahrscheinlich nicht als Betrüger hinstellen wollen, Miß Tochter, wenn ich, der diese Verbindung in vielfacher Beziehung nur wünschen konnte, mir aus Ihrer Duldung von Graham’s Werbung selbst die schönsten Hoffnungen schöpfte! Und so werden Sie vielleicht auch einsehen, auf wessen Seite der Vorwurf des falschen Spiels in dieser nur schon zu öffentlich gewordenen Angelegenheit liegen bleiben könnte!“

„Habe ich,“ erwiderte sie, sich groß und langsam erhebend, „allen diesen unausgesprochenen Dingen, die mir zur Last fallen sollen, gegenüber, Ihnen nicht zu verschiedenen Zeiten die wiederholte Erklärung gegeben, daß ich zu keinem von diesen Männern, wie sie in unserm Gesellschaftskreise leben, jemals in eine nähere Beziehung treten würde? Ist Ihnen das noch nicht klar und bestimmt genug gewesen, um mich jetzt vor Mißdeutung zu schützen?“

„Pshaw! Schulmädchen-Ideen!“ rief er, in einen leichteren Ton überspringend. „Du aber bist zwanzig Jahr geworden, Jessy, die Phantasie-Liebhaber, aus einem besondern Teig für jeden Geschmack gebacken, fallen nicht vom Himmel, und so durfte wohl jeder vernünftige Mensch rechnen, daß diese Schrullen zu Ende seien! Darf man wenigstens wissen, was die Ursache dieser ausgedehnten Ungnade ist?“

„Ich mag keinen Mann haben, Sir,“ erwiderte sie ruhig, aber in eigenthümlich tiefem Tone ihrer klangvollen Stimme, „dessen Denk- und Begriffsweise sich nur um den Dollar dreht, der eine Frau aus Speculation in sein Haus nimmt und sein Interesse für sie nur durch die Summe bezeichnet, welche er jährlich für ihren äußeren Schmuck bezahlt. Ich mag keinen Mann, Sir, der von innerm Zusammenleben mit der, die seine Gefährtin sein soll, nicht mehr kennt, als ihm hier und da ein zufälliges Bedürfniß gebietet, dessen ganzer Lebenszweck in dem, was er sein Geschäft nennt, aufgeht, zu welchen, seine Frau erst in zweiter oder dritter Linie steht, und der Alles, was die Menschheit bewegt, nur nach dem Maßstabe dieses Geschäfts mißt. Ich mag keinen Mann, Sir, bei dem eine Frau von weicher Seele verkümmern, den eine Frau von starkem Herzen bemitleiden und eine Frau von ausgebildetem Verstande verachten müßte.“

Sie ließ sich ruhig wieder in den Schaukelstuhl nieder, während sich ein Zug aus Bitterkeit und halbem Hohn gemischt in dem glatten, sorgfältig rasirten Gesichte des Vaters zeigte. „Und diese Wucht der Verachtung,“ sagte er, „fällt jedenfalls auch auf den alten John Winter, der nur durch die ausschließlichste Aufmerksamkeit in seinem Geschäfte, durch eine volle Würdigung des Dollars sich sein Vermögen erworben.“

„Sie sind mein Vater, Sir, dem ich Achtung und Ehrerbietung schulde,“ erwiderte sie, leicht den Kopf senkend, „und nicht der Mann, dem ich meine ganze Zukunft hingeben soll.“

Ein Ausdruck von Sorge stand zwischen seinen Brauen, als er jetzt einen neuen Gang durch das Zimmer machte und dann vor der Dasitzenden stehen blieb. „Und doch, Kind,“ sagte er, fast mit einem Anklange von Weichheit, „ist es dieser Dollar allein, welcher die Stellung eines Menschen in unserem Lande bestimmt. Wie, wenn ich heute mein Vermögen verlöre, vielleicht das Deinige, das in meinem Geschäfte mit arbeitet, dazu?“

„Ich würde Kraft haben, mir eine Existenz zu schaffen, Vater, und dann vielleicht Menschen finden, die mir nicht aus Speculation nahe träten.“

[387] „Und ich, Jessy? und Deine beiden Geschwister?“ Es war ein eigenthümlich forschender, sorgenvoller Blick, welcher sich in das Auge des Mädchens senkte; sie sah dem Manne vor sich starr in’s Gesicht, und eine plötzliche Ahnung schien in ihr wach zu werden.

„Sprich ohne Vorbereitung zu mir, Vater, wenn Du mir etwas mitzutheilen hast!“ sagte sie aufmerksam, und der fremde Ton, welcher bisher ihre Rede bezeichnet, schien einem Ausdrucke erwachender Theilnahme Raum geben zu wollen.

Winter nahm einen Stuhl und ließ sich neben der Tochter nieder. „Ich möchte Dir nur beweisen, Jessy,“ begann er gedrückt, seine Stimme dämpfend, „daß Graham es am wenigsten ist, der aus Speculation um Dich wirbt. Wir stehen seit längerer Zeit in freundlicher Geschäftsbeziehung; aber während er mit vielem Glück gearbeitet hat, bin ich in den letzten Jahren zurückgekommen, ohne doch eine Ahnung davon laut werden lassen zu dürfen – ich gestehe Dir sogar, daß es oft nur Graham’s Beistand war, durch den ich mich aus bittern Verlegenheiten befreite. Unsere Geschäftsinteressen nun gehen naturgemäß so Hand in Hand, daß sich der Vortheil einer engern Geschäfts-Vereinigung längst herausgestellt hat; ich war indessen nicht im Stande, ihm so viel baare Mittel, wie sie nur einigermaßen seiner Geldkraft entsprechend gewesen wären, zu bieten. Nimm das einfache Geständniß, daß das Vermögen Deiner Tante, welches an Dich übergegangen ist, schon fast seit Jahresfrist meine einzige Stütze bildet, daß aber selbst dies der ersten neuen Verwickelung, die mich aus Mangel an disponiblen Fonds treffen könnte, nicht gewachsen ist. Trotz dieser Lage, in die mich nur eine Verkettung einzelner Unglücksfälle gebracht, erklärte mir Bennet bei einer offenen gegenseitigen Aussprache, daß ich und meine Erfahrungen ihm genügen würden, wenn nur Dein Vermögen dem gemeinschaftlichen Geschäfte erhalten bliebe, daß, wenn er Dich als Frau gewinnen könne, er mir den vollen Theil eines gleichberechtigten Partners einräumen wolle. Das hieß also: ein neuer sicherer Boden gegen einen Ruin, der über kurz oder lang, aber sicher auf mich einbrechen mußte. Ich hätte Dir diese Dinge schon längst mittheilen können, Jessy,“ fuhr er zu Boden blickend fort, „hätte Dir sagen können, daß es mir in den beabsichtigten Verhältnissen eine Kleinigkeit werden müßte, Verlorenes wieder zu erwerben und vor Allem die Zukunft Deiner andern Geschwister, die jetzt meine schwerste Sorge ist, sicher zu stellen – wenn ich überhaupt eine Einwirkung auf Dich hätte ausüben wollen, wenn ich nicht gehofft hätte, daß Alles auf natürlichem Wege sich zum Guten gestalten würde. Jetzt, wo von der nächsten Viertelstunde die ganze Zukunft unserer Familie abhängt, habe ich freilich sprechen müssen; dennoch wäre es wohl nicht einmal geschehen, wenn ich nicht gegen Graham bestimmte Hoffnungen geäußert, die ich geglaubt hatte aus Deiner Haltung gegen ihn schöpfen zu dürfen.“

Das Mädchen hatte den ruhigen, festen Blick in seinen Zügen ruhen lassen, und nur die zeitweilige Aenderung ihrer Farbe deutete den Wechsel ihrer Empfindungen an. „Das ist der Dollar!“ sagte sie jetzt halblaut, wie mehr zu sich selbst redend, und erhob sich rasch, nach dem Fenster tretend und den Blick in die abendlich beleuchtete Landschaft des jenseitigen Ufers senkend. Winter sah ihr mit ängstlich gespanntem Blicke nach.

Als sie nach längerer Zeit sich wieder zurückwandte, war ihr Gesicht auffallend bleich, und der Glanz der tiefblauen Augen schien völlig erstorben. „Und Du schwörst mir beim allmächtigen Gott, Vater,“ sagte sie, langsam auf den Wartenden zutretend, der sich bei ihrem Nahen erhob, „daß an meinem jetzigen Entschlusse die Zukunft meiner Geschwister wie Deine eigene hängt? daß Du nicht die Verhältnisse zu einem bestimmten Zwecke anders gefärbt hast, als sie der strengen Wahrheit nach bestehen?“

„Ich habe Dir die Wahrheit und nichts als die Wahrheit gesagt, meine Tochter,“ erwiderte er, ihr die Hand entgegenstreckend.

Sie faßte eine Secunde lang seine Finger und sah ihm starr in die Augen, dann senkte sie den Kopf. „Ich kann Dir meine ganze Zukunft opfern, Vater,“ sagte sie, als liege ein innerer Druck auf ihrer Summe, „aber nicht mich selbst – es wäre Hochverrath gegen das heiligste innere Gesetz des Weibes, wäre Selbstentwürdigung, und ich könnte dann nur auch sofort mit meinem Leben abschließen. Aber es wird auch dessen nicht bedürfen, es handelt sich hier nur um den Dollar und das Geschäft. Wenn Mr. Graham kommt, so sende ihn mir – bis dahin aber laß mich allein!“

„Ich weiß nicht, ob ich Dich recht verstehe, Kind,“ versetzte er zögernd, „es handelt sich nicht um das Opfer Deines Vermögens, das ich unter keinen Umständen und nicht in der dringendsten Gefahr annehmen würde; es handelt sich um ein Band, das naturgemäß die Verhältnisse ordnen würde, und wohl auch zugleich um eine Genugthuung Graham’s der Welt gegenüber!“

„Er soll seine Genugthuung der Welt gegenüber haben!“ nickte sie, „laß mich aber jetzt allein mit mir selbst, Vater!“

Er schüttelte leise den Kopf und wandte sich nach dem Ausgange; als sich aber die Thür hinter ihm schloß, sank das Mädchen auf den nächsten Sitz und drückte das Gesicht in die Polster der Lehne.

Auf dem Vorplätze ward im gleichen Augenblick das Geräusch eines herangaloppirenden Pferdes laut, und Winter’s Stimme trieb einen der zum Dienste im Hause bestimmten Schwarzen herbei.

Zehn Minuten darauf meldete ein hellfarbiges Mulattenmädchen „Mr. Graham!“

Jessy richtete sich langsam auf, warf einen Blick in den Spiegel und strich ihr Haar glatt; ein Hauch von Röthe kam wieder auf ihre Wangen, und ein heller Strahl, wie die Sicherheit eines klaren Entschlusses, belebte ihr Auge. Sich leicht auf die Lehne eines Stuhles stützend, blieb sie stehen, bis der Angemeldete in der Thür erschien, einen Blick voll halben Forschens in ihre ruhigen Züge warf und dann rasch auf sie zutrat. Sein Aeußeres ließ deutlich die besondere Absicht seines Besuchs erkennen; das duftende Haar zeigte das Werk des Friseurs; der dünne Backenbart war sorgfältig gekräuselt, der steif emporstehende Halskragen wie das feingefältelte Hemd von untadelhafter Weiße und der übrige Anzug sichtlich erst kurze Zeit aus der Hand des Schneiders.

„Ihr Vater sagt mir, Miß Jessy,“ begann er, den Kopf neigend, während die steifen Züge den Versuch zum Ausdrucke eines weichen Gefühls zu machen schienen, „daß ich endlich eine klare Frage an Sie richten und auf eine bestimmte Antwort rechnen dürfe – ist das so, Jessy?“

Ihr Auge begegnete voll seinem Blicke, aber sie bog leicht den Oberkörper zurück, als wolle sie einen Zoll mehr Raum zwischen sich und ihren Freier setzen, und deutete aus den nächsten Sessel. „Es bedarf wohl Ihrer Frage nicht mehr, Sie, mein Vater hat mir bereits das Nöthige mitgetheilt,“ sagte sie mit ruhiger Bestimmtheit, den Armstuhl neben sich einnehmend. „Soweit ich blicken kann, handelt es sich um ein geschäftliches Interesse, um eine Vereinigung zwischen Ihnen und meinem Vater, zu welcher ich, mit dem was ich besitze, ein natürlich verbindendes Glied bilden soll –“

„Aber, Miß Jessy, wer wird denn in diesem Augenblicke vom geschäftlichen Interesse reden?“ unterbrach er sie eifrig, „Sie haben mir zum ersten Male vergönnt, mich gegen Sie auszusprechen, und so lassen Sie mich doch auch dieser Stunde ihr Recht geben!“

Ein Ausdruck von eisiger Kalte legte sich plötzlich über ihr Gesicht. „Ich wünschte, Mr. Graham, Sie ließen mich ruhig ausreden,“ erwiderte sie; „wie wir außergeschäftlich zu einander stehen, wird Ihnen wohl Ihr eigenes Gefühl längst gesagt haben, und ich habe auch jetzt keine Veranlassung, ein anderes inneres Verhältniß zwischen uns anzubahnen!“

Er hob den Kopf und blickte sie wie in einer plötzlichen Verwirrung aller seiner Vorstellungen an, sie aber fuhr ruhig fort: „Ich habe meinem Vater gesagt, daß er über meine Zukunft verfügen kann, soweit dies nur mit der Würde einer Frau vereinbar ist, und so bin ich auch bereit, Ihnen vor dem Richter meine Hand, die Sie gewünscht, und damit die freie Verwaltung meines Vermögens zu geben, betrachte dies aber als einen reinen Geschäftsact, Sir, der Ihnen nur die Rechte über meine Person verleiht, welche der Hausherr der Öffentlichkeit gegenüber auf sein Weib zu beanspruchen hat.“ Ein höheres Roth war bei den letzten Worten in ihre Wangen gestiegen, aber sie schien kräftig jede hemmende Regung ihrer Seele zu unterdrücken. „Wenn es Ihnen um eine derartige Genugthuung in den Augen unseres Gesellschaftskreises zu thun ist, so sollen Sie diese vollständig haben,“ fuhr sie fort, „unser inneres häusliches Leben aber bleibt so völlig getrennt, wie unsere bisherigen Beziehungen zu einander es nur je gewesen sind – ich werde die Vorsteherin Ihres Hauswesens sein, Sie der Verwalter und Nutznießer meines Vermögens; darin liegen die gesammten Interessen, welche uns aneinander binden werden, ausgedrückt. – Und um jeder falschen Erwartung für die Zukunft vorzubeugen,“ setzte sie, wie ihre ganze Kraft aufraffend, hinzu, „sage [388] ich Ihnen für den Fall einer Annahme dieses Geschäfts sogleich, daß niemals von einer Aenderung des angedeuteten Verhältnisses die Rede sein kann, daß ich zwar bereit bin, mich Ihrer Ehre und Ihrem Worte anzuvertrauen, daß aber, wenn diese nicht genug Schutz für mich bieten sollten, ich mich selbst zu schützen wissen würde!“ Sie erhob sich rasch wie in einer sie plötzlich überkommenden Erregung und trat, ihm den Rücken kehrend, zum Fenster.

Er war mit starren, weitgeöffneten Augen ihren Worten wie den Veränderungen in ihren Zügen gefolgt, und erst ihr plötzliches Erheben schien ihn aus einer völligen Consternation zu wecken. Er blickte ihr nach und sah dann mit einem halben Kopfschütteln zu Boden. Nach Kurzem aber stahl sich ein finsteres Lächeln über sein Gesicht, das sich wie in der Verfolgung eines aufgetauchten Gedankens mehr und mehr zu einem eigenthümlich spöttischen Ausdrucke aufklärte. Langsam, wie in einem gewonnenen Entschlusse, richtete er endlich den Kopf auf, ließ den Blick über die schlanke, biegsame Gestalt laufen und erhob sich. „Darf ich reden, Miß Jessy?“ fragte er.

Sie wandte sich rasch um und ließ das ernste Auge groß und erwartend auf ihm ruhen.

„Ich hätte nach der Eigenthümlichkeit Ihres Wesens und nach den bereits gemachten Erfahrungen kaum auf eine unbedingte Gewährung meines Lieblingswunsches rechnen sollen,“ sagte er, und nur ein unbestimmter Ausdruck in seinem matten Auge strafte die Ruhe und Ergebenheit in seinem Tone Lügen; „ich bin nach einigem Nachdenken nicht einmal mehr überrascht von der Sonderbarkeit Ihres Vorschlags und nehme ihn als ruhiger Geschäftsmann, der in manchen Dingen anders fühlen mag, als die gewöhnliche Jugend, mit Dank an. Nur zwei Bedingungen habe ich meinerseits zu stellen, die übrigens schon die einfache Rücksicht auf unsere Stellung zur Welt lehren muß. Sie halten die Bedingungen unseres Vertrags vor jedem Menschen, wäre es auch die vertrauteste Busenfreundin, geheim, und Sie gewähren mir sodann wenigstens das Verhältniß eines Freundes zu einer vertrauenden Freundin. Trotz alles geschäftlichen Charakters unserer Verbindung möchte ich eine Häuslichkeit haben, die ich nicht zu fliehen brauche!“

Er war langsam auf sie zugetreten und streckte ihr jetzt die lange magere Hand entgegen. Ein leichter Schauer schien sie zu durchrieseln, als sie, noch wie unwillkürlich zögernd, ihm ihre Finger reichte. „Ihr erster Punkt hätte nicht der Erwähnung bedurft,“ sagte sie, als werde ihr das Reden schwer, „und ich verspreche Ihnen, daß meine Haltung, Ihnen gegenüber, nur von Ihrer eigenen Verfahrungsweise abhängen soll!“

„So mag es vorläufig sein, Miß Jessy, und ich bin zufrieden,“ erwiderte er, kurz ihre Hand drückend, „was einmal noch die Zukunft bringen kann, wissen wir Beide nicht, jedenfalls wird aber Alles von Ihren eigenen Empfindungen abhängen. Und somit lassen Sie uns in präciser Geschäftsweise an dem Tage, der zur Abfassung meines Contracts mit Ihrem Vater anberaumt ist, auch den unserigen abschließen; bis dahin aber will ich Sie mit meiner Gegenwart nicht mehr plagen, als durchaus erforderlich ist!“

Er verbeugte sich ruhig und wandte sich nach dem Ausgange; als er aber nach dem Thürschlosse griff, lag ein bitterer, höhnischer Zug fest in seinen Mundwinkeln.

Das Mädchen war in ihrer Stellung verharrt, bis er verschwunden war, dann begann sie, wie in peinlicher Unruhe, einen raschen Gang durch das Zimmer, „So nicht!“ sagte sie endlich stehen bleibend; „entweder kein Opfer oder es mit freiem Muthe gebracht! Und es ist kaum ein Opfer! Ein lebenslängliches Engagement, wie ich es als Glück betrachtet haben würde, hätte ich mir selbst eine Existenz schaffen müssen!“ Sie bewegte die Schultern, als wolle sie eine letzte peinliche Empfindung von sich schütteln, und trat langsam nach dem Tische in der Mitte des Zimmers, wo in einem flachen silbernen Körbchen eine Anzahl Visitenkarten lagen. Sie begann, wie einem neuen Gedanken sich hingebend, eine nach der andern aufzunehmen – sie trugen sämmtlich europäische Adressen, und zwischen den Firmen bekannter Geldgrößen blickten ruhig die Wappen hochadliger Familien hervor – bis ein sichtlich oft berührtes Blatt mit einem einfachen Namen, der sogar der Standesbezeichnung bedurft hatte, ihren sinnenden Blick zu fesseln schien. „Träume!“ sagte sie endlich, die Karten rasch zurücklegend und die letzte Adresse tief unter den übrigen bergend, „Träume, mit denen ich eine glückliche Zukunft für Carry und John bezahle, und darum fort damit!“

Sie war, als wolle sie ihren Gedanken entgehen, hastig zum Fenster getreten, als die Thür geräuschvoll aufsprang und ein junges Mädchen wie ein wilder Vogel hereinflatterte. „Jessy, sag, daß es nicht wahr ist, ich glaube nicht daran,“ rief sie, auf die Dastehende zueilend; „Vater sagt, daß Du heirathest – den langbeinigen Graham heirathest, der heute wie eine ganze Barbierstube duftete!“ Sie schlug ein klingendes Lachen auf und warf ihre beiden Arme um den Hals der Anderen. „Nicht wahr, das ist ein schlechter Spaß?“

Ein flüchtiges Roth kam und ging in den reinen Zügen der Angeredeten, aber sie hielt den Blick ruhig auf das rosige lachende Gesicht vor sich geheftet und strich dem Mädchen das leicht aufgebundene, reich herabfallende Haar aus der Stirn. Es war das Bild sprudelnder, noch ahnungsloser Jugend, das vor ihr stand, wenn auch die knospende Fülle der feinen Formen den bereits vollendeten Uebergang zur Jungfrau bezeichnete.

„Und warum soll es ein schlechter Spaß sein, Carry?“ fragte die Aeltere, „ist Mr. Graham nicht ein voller Gentleman und gehört zu den ersten Geschäftsleuten der Stadt?“

Carry wurde plötzlich ernst und blickte forschend in das Auge der Sprechenden. „Und das sagst Du, Jessy?“ fragte sie langsam, als könne sie das Unbegreifliche nicht fassen. „Was ist denn hier vorgegangen? Ist er denn nicht einer von den ersten Dollarmenschen, der einen Krampf in die Kinnbacken bekommt, wenn er die steife Geschäftsmiene lassen soll?“ Sie lachte wie unwillkürlich auf; als sie aber ein leichtes Zucken zwischen den Brauen der Schwester bemerkte, umschlang sie diese und küßte sie heftig. „Ich sage nichts, gar nichts, Jessy,“ rief sie, „ich will auch nichts wissen – aber, gieb Acht, ich peinige ihn, wenn er Dir Kummer macht, daß er keinen Fuß wieder nach Oakhill setzen soll. Und was sagt Mutter dazu?“ unterbrach sie sich, ihre ernste Miene wieder annehmend.

„Mutter!“ wiederholte die Aeltere mit einer eigenthümlichen Betonung, „wenn wir eine wirkliche Mutter hätten, Carry, so wäre Manches anders. Ich wäre nicht der fashionablen Ausbildung halber bei der Tante erzogen worden, hätte nicht ihr Vermögen geerbt – doch nichts weiter davon! Mutter wird wohl jetzt Nachricht erhalten und wie immer zufrieden mit dem sein, was Vater für gut befindet! – Und nun laß uns über die ganze Angelegenheit schweigen,“ fuhr sie, sich zu ihrer frühern Haltung aufraffend, fort; „was ich gethan habe, ist freiwillig und wohlbedacht geschehen, und später einmal wirst Du vielleicht meine Gründe würdigen lernen!“

Sie faßte, wie in einer plötzlichen Gefühlsregung, den Kopf der Jüngern in ihre beiden Hände und neigte sich, um sie zu küssen; diese indessen wand sich mit einem trotzigen Ausdruck des kleinen Mundes los. „Ich bin doch nicht zufrieden, Jessy,“ rief sie, „warum bist Du mit einem Male so bedacht geworden? mir soll einmal Niemand einen Mann aufdrängen, den ich nicht mag, und duftete er noch einmal so süß als der künftige Herr Schwager. Schwager!“ wiederholte sie auflachend, „o so lache doch selbst einmal, Jessy, damit ich wenigstens sehe, daß Du nicht unglücklich bist!“


(Fortsetzung folgt.)




Wild-, Wald- und Waidmannsbilder.

Von Guido Hammer.
Nr. 17. Königs Weinberg und das letzte Wild im dortigen Thiergarten.
(Schluß.)


In einem kleinen traulichen Häuschen, das früher als Vogelheerd dem Prinzen Max, der leidenschaftlicher Vogelsteller war, gedient hatte, wurde so lange um den warmen Ofen herum bei Erzählung lustiger Jägerschnaken – denn wo Genossen der grünen Farbe zusammenkommen, geht es immer heiter zu – gewartet, bis die bestellten Treibeleute eintrafen. Da das Terrain des Thiergartens [389] nicht groß war und zum größten Theil aus dem schon erwähnten, ziemlich steil abfallenden Grunde bestand, den kleineren Theil dagegen das hochwaldbestandene Plateau ausmachte, wo sämmtliches Wild seinen Hauptstand hatte, so hatte man den Theil am Grunde hin quer durchgestellt, während die drei anderen Seiten die Thiergartenvermachung bildete. Auf der den gestellten Netzen gegenüberliegenden Seite befand sich überdies außer dem Zaune noch ein Stück Ackerland, das, für den Futterbedarf des Wildes bestimmt, ebenfalls Vermachung hatte. An dieses Ackerstück, natürlich innerhalb des Wildparkes, wurden nun die Leute angelegt, und das erste möglichst ruhig gehaltene Treiben begann. Das Wild war schon ziemlich rege, da es, das sonst so ungestörte, ängstlich die ihm fremden Anstalten betrachtete. Während sich das meiste Damwild bei diesem ersten Anlaß schlau durch die Treiberlinie an den Seiten drückte, wurde der Trupp Hochwild, irre ich nicht, achtundzwanzig Stück, flüchtig und zwar gerade auf die Netze zu.

Das Einfangen des Wildes.

Doch hier angekommen, prallten sie zurück, machten Kehrt und durchbrachen in stürmendem, unaufhaltsamem Lauf die Treiberlinie, ihrem gewohnten Stande zufliehend. Hier Halt machend, äugten sie in nun schon höchst erregtem Zustande auf die jetzt am Zaune hinschreitenden Menschen, die, um sie abermals zu treiben, sich von Neuem anlegen mußten. Diesmal ließ sich der Trupp, dem sich nun auch Damwild beigesellte, nicht lange nöthigen, und donnernden Laufes stürzten die Massen abermals auf gewohntem Wechsel dem Grunde zu, den heute die hemmenden Netze versperrten. Jetzt unternahm es ein Hirsch, in rasendem Anlauf die Netze zu überfallen. Doch da dieselben so hoch gestellt waren, daß dies Wagniß selbst einem Hirsch nicht so leicht gelingen konnte, so flog er in die Banden hinein, die ihn, indem er sie herabriß, nebst zwei ihm auf den Fersen gefolgten Stück Wild deckten. Wie Sturmwind ging der Troß über die Gefallenen dahin, und in ungeheueren Bogensätzen die Cameraden und die sie fesselnden Garne überfliegend, drängte sich Hoch- und Damwild dicht zusammen und floh in tollster Hast, manche sich dabei überstürzend, hinab in den Grund, um sofort die andere Höhenseite emporzuhetzen, wo ihnen die jenseitige Planke des Thiergartens Stillstand gebot.

Unterdessen warf sich, was Hände hatte, auf die Gefangenen, um sie aus ihren Banden zu befreien und dafür in die schon bereit stehenden Transportkästen zu stecken. Dem Hirsch wurde nun erst das Geweih, welches er noch trug, abgesägt, weil er sonst in seinem engen Gefängniß nicht Raum genug gehabt haben würde. Man stelle sich nur vor, wie einem Hirsche, den niemals eine [390] Menschenhand berührte, zu Muthe sein muß, wenn er, durch die umstrickenden Fesseln fest gebannt und seine Glieder von Fäusten juchzender Bauern gepackt fühlend, seines Hauptschmuckes durch die unheimlich schnarchende Säge beraubt wird! Das gehetzte, seinen Feinden erliegende herrliche Geschöpf erwartet mit weitaufstehenden Nasenlöchern und heraushängender Lecke, die Lichter in schmerzvoller Pein verdrehend, sein Schicksal – in solchen und ähnlichen Zuständen mag wohl das feuchte Weiß im angsterfüllten Auge zu der Sage Veranlassung gegeben haben, daß der edle Hirsch in der Stunde des Todes helle Thränen weine.

Rasch waren diese ersten Gefangenen in die bereit stehenden Behälter gebracht, worin sie sich, wie alles Wild, vom Augenblick der engen Gefangenschaft an, vollkommen ruhig benahmen. Nun war die nächste Aufgabe, das Wild von der andern Seite des Grundes, wo der ganze Trupp jetzt stand, auf das Plateau zurück zu bringen, um dann die Netze hinter ihnen wieder zu heben und das Treiben von Neuem zu beginnen. In zitternder Hast floh der geängstigte Haufe bei Annäherung der Treiber seinem alten Stand zu, und schnell erhob sich hinter ihnen die verhängnißvolle Netzwand, gegen die die Verfolgten nun abermals getrieben wurden. Während ein Theil derselben den Netzen zuprallte, durchbrach ein anderer die Treiberlinie, wobei ein altes Thier versuchte, den Zaun, der das Ackerland vom Wildpark trennte, zu überfallen. Er war jedoch zu hoch, so daß es zu kurz sprang und dadurch mit der vollen Wucht seines Körpers die oberste, etwa vierzöllige Stange zerbrach. Die Splitter flogen weit umher, aber das Thier entkam wirklich auf den Acker. Da es dort nicht entfliehen konnte, so ließ man es vor der Hand ruhig gehen. Mich interessirte der Fall zu sehr, als daß ich nicht die Wirkung des kühnen Sprunges hätte näher betrachten sollen, besonders da der Haupttrupp diesmal, bis auf ein Schmalthier, das sich fing, über die das letztere deckenden Netze hinwegfloh. Ich fand, daß jenes Thier sich nicht unbedeutend verletzt, nämlich beim Durchbruch sich ein Stück Haut aus der Seite gerissen, das, von der Größe eines Handtellers, auf dem Schnee lag; auch bezeichnete die fortgehende Schweißfährte die erhebliche Verwundung. Beim abermaligen Herumholen des wieder über den Grund geflohenen Truppes entdeckte ich auch noch, daß ein weißer Damhirsch sich, schlau wie ein Fuchs, unter ein das Thalbächlein überspannendes steinernes Brückchen gedrückt hatte und hier ruhig allen Lärm an sich vorüber gehen ließ. Man gestattete ihm vor der Hand diesen Zufluchtsort, bis er zuletzt herausgestöbert und ebenfalls gefangen genommen wurde. In fiebernder Aufgeregtheit folgte der gehetzte Trupp nun abermals, da ihm kein anderer Ausweg blieb, dem Dränge der Nothwendigkeit und stürzte dem Fangplatz zu. Wieder stiegen die Netze empor, und wieder flogen die Massen darüber hin. Es ist mir heute noch unbegreiflich, wie es möglich war, daß nicht sämmtliches Wild Hals und Läufte brach, wenn es, da die Netze unmittelbar am Hange, statt ein Stück herein nach der Ebene zu, gestellt waren, mit ungeheuern Sätzen über dieselben hinflog und den jähen Hang hinunter stürmte, wo der steinröllige Boden vom frischgefallenen Schnee noch außerdem schlüpfrig geworden war. Schweiß von geschundenen Gliedern fand man allerdings überall. Mir galt es, möglichst viel und Interessantes zu beobachten, und so postirte ich mich jetzt dicht an die Netze hinter eine starke Kiefer, um den wie anbrandende Wogen herandonnernden Trupp in seiner höchsten Action vor mir zu haben. Hier sah ich denn auch, wie einem Stück Wild, das über seine gefangenen Geschwister mit weitschießendem Sprunge hinwegsetzte, der gefährliche Abhang verderbenbringend wurde; beim Aufsetzen auf die schroff abfallende Fläche kam es zum Stürzen, und indem es radschlagend hinabschoß, hörte ich des in die Tiefe rollenden Thieres klatschenden Schlag in’s Wasser. Beim abermaligen Herumholen des noch freien Wildes ging ich mit hinunter zur Stelle und sah nun hier den jammervollsten Anblick. Das schwerverwundete Geschöpf stand im Bache und zwar vorn auffallend niedrig; das bedauernswürdige Thier hatte beide Vorderläufte oberhalb des Knies (anatomisch richtiger: über dem Handgelenk) gebrochen. Mit diesen Stumpfen stand es, während die abgeknickten Vordertheile nach außen lagen, auf dem spitzsteinigen Geröll des Flußbettes und äugte nach mir zu. Das Herz ging mir über, und ich beschloß sofort, da sämmtliche Jäger ziemlich fern von mir mit dem Trupp beschäftigt waren, und ich ohne Zeitverlust die Qualen des Thieres zu enden wünschte, dasselbe abzunicken. Doch so wie ich mich ihm näherte, floh es, nachdem es mir zuvor einen wahrhaft herzzerreißenden vorwurfsvollen Blick zugeworfen, auf seinen entsetzlich verstümmelten Läuften den Bach entlang, so daß ich, um ihm die größere Pein zu ersparen, von meiner wohlgemeinten Verfolgung absah und den Vorfall einem der Jagdbeamten meldete, damit er das Stück Wild todtschießen möchte. Im Dränge seiner augenblicklichen Geschäfte leistete er jedoch erst später Folge und versagte mir meine Bitte, mir auf einen Augenblick sein Doppelzeug zu überlassen. Wahrscheinlich hielt er mein Anliegen nur für den Ausdruck einer unangebrachten Schießlust. Freilich, als er nach längerer Zeit sich von dem hülflosen Zustand der gequälten Creatur durch den Augenschein überzeugte, bedauerte der Mann aufrichtig, nicht eher haben einschreiten zu können, und mitleidig schoß er dem Stück Wild eine Kugel auf den Kopf. Als sollte aber dieses Thier die höchste Pein ausstehen, kam der Schuß etwas zu hoch, und die Kugel faßte die Hirnschale nur so, daß quer über derselben ein Riß entstand. Ein zweiter Schuß erst endete die jammervolle Lage. Ein anderes Stück Wild saß noch in einer Ecke und schien unfähig, an der Hetze Theil zu nehmen, obgleich man ihm äußerlich nichts ansah; daß es aber krank war, bewies seine Trennung vom Trupp. Da es sich im Thale befand, konnte man sich augenblicklich auf seinen Fang, obgleich es mit Händen zu greifen war, nicht einlassen; man hätte es sonst empor tragen müssen, um es in einem der Kasten zu bergen, die natürlich bei den Netzen standen. So ließ man es ruhig sitzen, und erst Nachmittags, als sämmtliches andere Wild eingegangen war, wurde es in sein ihm bestimmtes Behältniß gebracht. Wie ich später erfahren, ist es auf dem Transport seinen Leiden erlegen; es hatte sich das Netz gesprengt gehabt. Das zuletzt noch übrige Wild war durch die häufigen Hetzen endlich im höchsten Grade aufgeregt und erhitzt worden. Gewann es nach dem immer wieder stattfindenden Ueberfallen über die Netze am jenseitigen Hange einmal einen Moment Ruhe, so stand es, Hirsche, Mutter- und Schmalwild, mit offenen Geäßen und mit fliegenden Nasenlöchern keuchend und mühsam Athem schöpfend. Dabei stieg über dem so haltenden Trupp der heißen Thiere, denen die Flanken vor Anstrengung und Erschöpfung zitterten, eine Dampfsäule auf, die den blauduftigen Waldhintergrund wie mit einem Nebelschleier umhüllte. Doch keine Rast ward ihnen gegönnt, und immer mehr schmolz die Zahl der Freien zusammen.

Unter ihnen war noch der Altvater des Trupps, der starke Hirsch, der nach Moritzburg bestimmt war. Er, der am Morgen noch eine Stange seines mächtigen Geweihes trug, hatte nun auch noch diese verloren und führte den Rest seiner Getreuen barhäuptig an. Endlich schlug auch seine Stunde; kraftlos, wie er mehr und mehr geworden, vermochte er das Hinderniß nicht ferner zu überwinden und fiel in die ihm gestellten Fallstricke. Alles stürzte sich auf ihn, und mein Gesellschafter vom Morgen, der ihn zum Weitertransport zu übernehmen hatte, bohrte dem Ueberwundenen in Eile einen mächtig großen eisernen Ring durch das Gehör, um ihn, wie er sich aussprach, „für spätere Zeiten zu markiren“. Es war dies nicht nöthig, denn der Aermste verendete binnen vierzehn Tagen in seinem neuen Asyl, wo ihn weder Hafergarben noch sonstige Leckerbissen am Leben zu erhalten vermochten – er ging ein in Folge der ausgestandenen Strapazen und wohl auch aus Heimweh; denn, getrennt von seinem ihm gewohnten Trupp, war er in dem leeren sogenannten „weißen Hirschgarten“ in Moritzburg vereinsamt. Jetzt steht er ausgestopft im königlichen Naturaliencabinet zu Dresden, seinen einstigen Schmuck wiederum auf dem Kopfe tragend. Er war zur Zeit des Fanges ein Vierzehnender, früher aber schon Achtzehn- oder gar Zwanzigender gewesen, ein Beweis, daß er schon sehr alt war, da er bei vollkommen gleich bleibender Aeßung und sonstiger Lage dennoch zurückgesetzt hatte. Daß es schließlich mit dem Einfangen des Wildes verhältnißmäßig schneller ging, lag in der Natur der Sache ; denn es wurde zuletzt so entkräftet und resignirt, daß es leicht ward, sämmtliches Hoch- und Damwild in die bergenden Transportkästen zu bringen. Nur das durchgebrochene Stück Hochwild, der Damhirsch unter dem Brückchen und das kranke Thier im Grunde waren noch zu berücken. Nachdem auch sie ohne bemerkenswerthe Umstände der Gefangenschaft verfallen waren, war der Tag beinahe zur Neige gegangen.

Nach dieser harten Arbeit für Menschen und Thiere kamen diese zur Ruhe und jene zum Lohn, beides wohlverdient. Und somit schloß denn diesen Tag besonders für „Treiber“ und „Lärmmacher“ ein freudiger Jubel, den das sämmtliche Jagd- und [391] Forstpersonal, sowie die Zeug- und Stellleute, mit Recht theilen konnten, denn auch ihnen wurden ihre Mühen in wahrhaft nobler Art vergütet. Der glückliche Wohlthäter des Tags war ein Herr v. F., der den größten Theil des Wilds gekauft und für seine Güter im Mecklenburgischen bestimmt hatte.

Späteren Erkundigungen zufolge sind von diesem gefangenen Wilde nur wenige Stück eingegangen, was um so mehr zu bewundern ist, da der Fang im März geschah, also zu einer Zeit, wo das Mutterwild hochtragend war. Man sieht hieraus, was die Natur eines solchen freigeborenen Thieres auszuhalten im Stande ist; das Wild hat nicht nur nichts gelitten, sondern auch rechtzeitig gesetzt, und die Kälbchen sind alle frisch und munter gewesen.




Schlaf und Traum.

Von Dr. M. J. Schleiden in Jena.
Nr. 2.

Es scheint, daß gerade die Unabhängigkeit des Traumes von Ordnung und Inhalt der Wirklichkeit schon früh in den Menschen den Aberglauben erweckte, es sei im Traume selbst eine höhere Weisheit zu suchen und Götter könnten dem Menschen im Traume die Zukunft enthüllen. Es könnte das, wie bei allen Mitteln die Zukunft zu erfahren, nur der boshafteste Teufel und kein guter Geist sein. Denn kann man die drohende Zukunft durch Wissen abwenden, so war ja die Verkündigung eine Lüge; kann man es nicht, so ist man in der Höllenpein, mit sehenden Augen dem Unglück entgegengehen zu müssen. – Aber die Erfahrung wird hier wie überall als gültige Zeugin aufgerufen, und Niemand läßt sich einfallen, daß sie, falsch gefragt, die größte Lügnerin sein kann. – Man führt einige Fälle an, in denen prophetische Träume eingetroffen, aber hat man je versucht, die anderen Fälle daneben zu stellen; in denen der scheinbar prophetische Traum täuschte und die sich wenigstens wie 1000 zu 1 verhalten und so zeigen möchten, daß das Eintreffen des einen ein blinder Zufall war, der sehr natürlich stattfinden kann, da sich die Träume doch immer im Gebiete des Möglichen bewegen müssen? Ich träume von dem Tode eines fernen, kranken Verwandten, und auch ohne Traum steht die Wette auf sein Leben wie 1 zu 1, der Traum kann also ebenso gut eintreffen als nicht eintreffen.

Indessen der Aberglaube hat sich einmal in den ältesten Zeiten gebildet und ist heute noch nicht überwunden. Die Griechen schliefen in den Tempeln des Amphiaraos oder Trophonios, um prophetischer Träume theilhaftig zu werden, die alten Skandinavier nach der norwegischen Chronik weniger poetisch in den Schweineställen. Wo der Traum von den Gesetzen der Wirklichkeit abwich oder ein an sich gleichgültiges und nichtssagendes Bilderspiel brachte, fanden sich bald die Priester und später kluge Leute, um von der Leichtgläubigkeit der Menschen, ihren Hoffnungen oder ihrer Furcht Vortheil zu ziehen. Traumbücher gab es von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Das älteste uns erhaltene, das des Griechen Artemidoros, hatte nach seinen eigenen und anderen Zeugnissen schon einige zwanzig Vorgänger, und er schöpfte, wie er sagt, aus ägyptischer und morgenländischer Weisheit. – Pappus von Alexandrien, der Grieche Astrampsychos, Nicephorus, der Patriarch von Constantinopel, so wie die Araber Achmet und Ebn Roscho und viele Andere waren seine Nachfolger. Am berühmtesten aber wurde im 15. Jahrhundert Junianus Magus in Neapel und endlich im 16. Jahrhundert das Traumbuch des Cardanus, das mannigfach nachgeahmt und abgeschrieben die Grundlage für alle späteren Traumbücher bis auf unsere Zeit geworden ist. Wenn Artemidoros seine Deutungen fast allein der religiösen und künstlerischen Symbolik, so wie den Sitten und Gebräuchen seiner Zeit entlehnte und dadurch, wenn auch in ganz anderem Sinne, noch jetzt von Bedeutung ist, so mischten sich doch bald rein willkürliche Einfälle hinein, und es verlor sich endlich in den Traumbüchern jeder wenn auch der Sache fremde Gehalt, und sie wurden zu vollkommenen Albernheiten. Als in neuerer Zeit Schelling die Phantasien der Neuplatoniker wieder in anachronistischem Abklatsch aufwärmte, fanden seine Schüler in diesem Gebiete auch treffliche Gelegenheit, die Thorheiten ihrer überspannten Phantasie für tiefere Weisheit zu verkaufen, und Schubert schrieb alles Ernstes eine Symbolik des Traumes. Das Buch ist selbstverständlich wissenschaftlich werthlos, und wenn man sieht, daß es die Bedeutsamkeit der Träume aus der (nicht einmal wahren) Uebereinstimmung der Volkstraumbücher, gedruckt in diesem Jahre mit Lottonummern, als den Schatz tausendjähriger Erfahrung, beweist, daß seine Hauptautorität, die er fast auf jeder Seite anführt, der verdorbene Komödiant, weiland Ritter-und Räuberromanschreiber Spieß ist: so gehört ein großer Fond von christlicher Liebe dazu, den Mann nicht für unredlich, sondern nur für einfältig zu halten.

Aus dem, was oben über den Schlaf mitgetheilt ist, folgt schon von selbst, daß unsere ganze Seelenthätigkeit, soweit dieselbe ohne das Bewußtsein bestehen kann, im Schlafe ununterbrochen fortdauern wird, daß wir also immer und ununterbrochen träumen. Dies ist oft bezweifelt worden; einige haben den Traum als eine seltene Erscheinung auf die Fälle beschränkt, wo man sich des Traumes erinnert, andere haben wenigstens den tiefsten, eigentlich gesundesten und normalsten Schlaf für traumfrei ausgegeben. – Aber dieselben, die diese Behauptungen aufgestellt haben, sagen mit löblicher Inconsequenz und besserer Beobachtung, daß jeder Schlafende durch die unwillkürlichen Bewegungen die Fortdauer seines inneren Lebens dem Beschauer verräth und daß er, zu jeder Zeit geweckt, immer die Erinnerung hat, daß er aus einem Traume erwache. Man hat sich hier dadurch täuschen lassen, daß wir uns so weniger Träume erinnern, was aber ganz natürlich ist. Eine Vorstellung, die nicht vom Bewußtsein begleitet wird, fällt außerordentlich schnell aus dem Gedächtniß heraus; das lehrt uns schon das wache Leben, und es bedarf gar keiner Erklärung, weshalb wir so weniger Träume uns erinnern, als vielmehr umgekehrt eines Nachweises der Ursachen, die es möglich machen, einen Traum in der Erinnerung festzuhalten.

Auch dafür giebt uns das wache Leben die erläuternden Thatsachen an die Hand. Wenn wir irgend einen Gegenstand mit angestrengtem Nachdenken in uns verfolgen, wenn wir, wie man sagt, ganz in Gedanken versunken sind, so treffen zwar die Anregungen von dem um uns her Vorgehenden unsere Sinne, aber ohne unsere Aufmerksamkeit in’s Spiel setzen zu können, weil dieselbe augenblicklich vollständig einem anderen Gegenstände zugewendet ist. Werden wir aber durch irgend etwas aus diesem Zustande plötzlich zum Bewußtsein unserer Umgebung zurückgerufen, so treten nicht nur die augenblicklichen Verhältnisse, sondern auch sogleich wegen der unmittelbaren Verbindung die Vorstellungen des nächst Vorhergegangenen in unsere Erinnerung, so daß wir von der Gegenwart keineswegs als von etwas Unbegreiflichem überrascht werden, sondern in derselben durch die Erinnerung an das Vorhergehende vollkommen orientirt sind. Je weniger tief und intensiv unser Nachdenken war, je weniger vollständig unsere Aufmerksamkeit also von unserer Umgebung abgezogen war, desto deutlicher und treuer tritt nun auch die Erinnerung an die vorher nicht beachteten Vorstellungen in uns auf, und umgekehrt. Dauert der Zustand des Versunkenseins aber so lange, daß, wenn wir von selbst wieder zu uns kommen, dasjenige, was in unserer Gegenwart vorging, schon lange vorüber ist, so haben wir oft nur das Gefühl, es sei etwas geschehen, aber ohne uns an das Was erinnern zu können, wenn nicht äußere Einwirkungen, die im Stande sind, jenes unbewußt vorübergegangene Vorstellungsspiel wieder zu beleben, uns dabei zu Hülfe kommen.

Ganz dasselbe findet nun aus denselben Ursachen im Traume statt. Wir werden plötzlich geweckt und erinnern uns des eben gehabten Traumes um so leichter, je weniger tief der Schlaf war, also am leichtesten beim Einschlafen und kurz vor dem natürlichen Erwachen. Wir wachen von selbst auf und haben das Gefühl, wir hätten geträumt, aber wir wissen nicht mehr, was. Wir glauben gar nicht geträumt zu haben, aber mitten im wachen Leben regt irgend ein zufälliger Umstand das Gedankenspiel des Traumes wieder an, und nun tritt der Traum sogleich lebhaft wieder vor unsere Seele. Oft findet auch dieses nicht statt, wie denn Lessing [392] sagte, er habe nie geträumt, und Gleiches von Aristoteles, Plutarch und Locke erzählt wird.

Es ist hier aber noch darauf aufmerksam zu machen, daß die Erinnerung an das, was unbewußt in uns vorging, selten eine ganz vollständige und treue ist. Hängt doch überhaupt unser Gedächtniß vorzugsweise von der Lebendigkeit und Spannung der Aufmerksamkeit ab, mit der wir irgend etwas auffassen, und ich gestehe offen, daß ich, durch eigene und fremde Erfahrung belehrt, gegen die ausführliche Mittheilung langer und zusammenhängender Träume immer sehr mißtrauisch bin und mich überzeugt halte, daß dabei die Phantasie unwillkürlich viele Lücken ausfüllt, welche die Erinnerung gelassen oder die vielleicht schon in Folge des ungeregelten, von zufälligen Anregungen abhängigen Vorstellungsspieles im Traume selbst stattgefunden hatten. – Wie oft glaubt man sich zu erinnern, daß man im Traume etwas sehr Geistreiches gesagt, oder eine Sprache, die man wachend nur radebrecht, ganz geläufig gesprochen habe! Aber jeder treu und vorurtheilsfrei sich selbst Beobachtende weiß auch, daß er, aus solchen Träumen plötzlich erweckt, sich recht deutlich erinnern konnte, daß das angeblich Geistreiche, die vermeintlich fließende Rede baarer Unsinn war. Ich erwähne hier nur des gleichen Geständnisses von einem Manne wie Johannes Müller.

Nichts ist leichter zu verstehen, als die Entstehung einer großen, vielleicht der größten Zahl der Träume aus den körperlichen Zuständen des Schlafenden und seinem Verhältnisse zur Umgebung. Hier kann Jeder, der es der Mühe werth hält, diese Dinge sorgfältig zu beobachten, viele seiner Träume auf solche Thatsachen, wodurch dieselben körperlich veranlaßt wurden, zurückführen. Jedes Geräusch, das unser Ohr, jeder Lichtschein, der unser Auge trifft, regt damit zusammenhängende Vorstellungsspiele an. Das Stechen einer Feder, eines Strohhalms wird zu Kampf und Verwundung. Der tiefe bequeme Schlaf, in dem kein Druck auf der Oberfläche empfunden wird, erscheint als Fliegen, das wieder Deutlicherwerden der Unterlage als Herabfallen aus der Höhe. Eine Störung im Blutumlauf und im Athmungsproceß durch überfüllten Magen oder durch unbequeme Lage nimmt die tausendfach verschiedenen, oft wunderlich phantastischen Formen des Alpdrucks an. Das in Folge des Druckes durch den darauf liegenden Körper oder durch zufällige Entblößung im Winter erstarrte Glied kann schreckhafte Bilder hervorrufen. So träumte Casanova in den venetianischen Bleidächern, man öffne die Thüre seines Gefängnisses, trage die Leichen Hingerichteter herein und werfe sie neben ihm auf sein Lager; abwehrend griff er hin und erfaßte die eiskalte Leichenhand. Das Entsetzen weckte ihn, aber es war kein Traum, noch immer hielt er die feuchtkalte Hand in seiner Rechten. Lange wagte er keine Bewegung, die ihn mit den Leichen in nähere Berührung bringen konnte; endlich entschloß er sich hinzublicken und sah, daß er seine eigene, vom Drucke des eigenen Körpers erstarrte Hand erfaßt hatte.

Eine weitere Berücksichtigung verdienen die Träume noch hinsichtlich ihres Zusammenhanges mit dem wachen Leben. Oft bewegen sich dieselben in dem Gedankenkreise, der unmittelbar dem Einschlafen vorherging, fort, oft überspringen sie dagegen lange Zeiträume und beleben nur die fernsten Erinnerungen, so wie bald die übermäßig aufgeregten Nervenfasern noch längere Zeit fortzittern, ehe sie zur Ruhe kommen, bald gerade die eben thätig gewesenen ruhen und die durch lange Ruhe gekräftigten leichter erregt werden. Blinde träumen meist nur kurze Zeit nach ihrer Erblindung noch von Gesichtseindrücken, aber der im 18. Jahre erblindete Huber sah in seinen Träumen noch im 66. Jahre.

In eine andere Seite des ganzen Traumlebens führt uns abermals eine Betrachtung des wachen Menschen ein. Wer nur irgendwie aufmerksam beobachtete, dem kann es nicht entgangen sein, wie unendlich verschieden bei den verschiedenen Individualitäten die Gewalt des Selbstbewußtseins und der sich daran knüpfenden Selbstbeherrschung ist. – Wenig Menschen giebt es, die sich, um mich so auszudrücken, selbst vollständig in Besitz genommen haben, wie etwa ein Kant , die ihr ganzes Leben bewußt und gewollt selbst führen, bei denen daher alle einzelnen Theile im innigsten Zusammenhange stehen und von jedem Punkte aus in jedem Augenblicke klar überblickt werden können, bei denen keine Handlung, kein Vorstellungsspiel von zufälligen äußeren Anregungen hervorgerufen oder verändert wird. Die meisten Menschen thun gar Vieles instinctmäßig nach zufälligen Anregungen des Nervensystems, handeln zu Zeiten abgerissen, ohne inneren Zusammenhang mit ihrem ganzen geistigen Leben, und können sich deshalb nach einiger Zeit ihres eigenen Thuns oder ihrer Gedanken nicht mehr erinnern. – Daß dergleichen Erscheinungen noch häufiger, ausgeprägter und in auffallenderen Formen im Schlafenden auftreten werden, wo das Bewußtsein ganz ruht, ist sehr natürlich.

Hierher gehört sicher ein großer Theil der Erzählungen über Menschen, die schlafend Gedichte gemacht, wie Professor Wähnert und Graf von Seckendorf, oder mathematische Aufgaben gelöst, wie Krüger, oder gar die Deduction der kantischen Kategorieen fanden, wie Reinhold, und deutlich werden diese Vorgänge als vergessene wache Handlungen gezeichnet durch die Erfahrung Osann’s, der, nach anstrengender mehrtägiger Praxis aus tiefem Schlafe geweckt, den Bericht über eine Krankheit las, eine Antwort und ein Recept schrieb, dem Diener auftrug, für den andern Morgen einen Wagen bereit zu halten, und von alledem am andern Morgen nicht das Geringste mehr wußte und sich selbst dann auf sein Thun nicht besinnen konnte, als man es ihm erzählte und er seinen Brief in die Hand nahm. – Während Einige aus dem Schlaf gleich zu voller Klarheit des Bewußtseins erwachen, ist bei Anderen insbesondere der Uebergangszustand zwischen Schlaf und Wachen, den man als Schlaftrunkenheit bezeichnet, von längerer Dauer und von mannigfachen theilweisen Störungen des Bewußtseins begleitet. Spielen gar noch nicht ganz verschwundene Traumbilder in diesen Zustand hinein, so erhalten wir Erscheinungen, die augenblicklichem Wahnsinne nicht ferne zu stehen scheinen. Die Annalen der Criminaljustiz bewahren uns gar viele traurige Beispiele von Menschen, die in diesen Augenblicken der gestörten Selbstbeherrschung, Ort und Persönlichkeit verkennend, Menschen, die ihnen unvorsichtig nahten, also gewöhnlich solche, die sie besonders lieb hatten, wie Vater, Frau oder Freund, erschlugen.

Aber auch der wirkliche Traum im wirklichen Schlaf zeigt uns sehr eigenthümliche Erscheinungen, die von Phantasten gar häufig zum Ausspinnen mystischer Theorieen benutzt worden sind. Um dieselben richtig beurtheilen zu können, müssen wir einige andere Verhältnisse zunächst in’s Auge fassen. Wenn man einen rasch enthaupteten Frosch am Halse kitzelt, so macht er mit einem Hinterbeine eine Bewegung, um den kitzelnden Gegenstand wegzukratzen; kneipt man ihn an einem Hinterbeine, so macht der Körper, um zu entfliehen, einen Sprung; führt ihn dieser Sprung in ein Wasserbecken, so macht er die Bewegung des Schwimmens. Daraus ergiebt sich, daß im thierischen Körper die Nerven in der Weise zweckmäßig zusammengeordnet sind, daß auf einen äußeren Reiz, auch ohne Einfluß des Willens, ganz automatisch die dem bestimmten Reize entsprechende zweckmäßige Bewegung erfolgen kann, daß also aus der Zweckmäßigkeit selbst einer sehr complicirten Bewegung gar nichts für einen stattgehabten Einfluß des Willens, also der Seelenthätigkett gefolgert werden darf. Im Gegentheil wird eine Bewegung dieser Art oft gerade um so sicherer und zweckmäßiger auftreten, je weniger der Wille eingreifen, also auch störend eingreifen kann.

Ganz natürlich ist es daher, daß sich zu den verschiedenen Traumvorstellungen gar häufig die entsprechenden Bewegungsversuche oder, wenn die Vorstellungen sehr lebhaft werden und der ganze Körper sehr nervös empfindlich ist, die wirklichen, vollständigen, den Vorstellungen entsprechenden Bewegungen gesellen, und daß diese Bewegungen nach automatischer Anordnung, nach früherer Gewohnheit und so weiter ganz zweckmäßig sich gestalten. Wir bezeichnen diese Erscheinungen, die von dem einfachsten unruhigen Liegen und Herumwälzen im Bette bis zu den verwickeltsten Handlungen des wachen Lebens gehen können, mit dem Worte des Schlafwandelnd oder des Somnambulismus. Daß diese Vorgänge vom Lichte, wie von allen die Nervenreizbarkeit erhöhenden Einflüssen befördert werden, ist natürlich, daß sie vom Einflüsse des Mondes für sich abhängen, eine alte Fabel. – Man hat hier insbesondere darin etwas Wunderbares finden wollen, daß die Nachtwandler mit völliger Sicherheit Bewegungen ausführen, gefährliche Pfade beschreiten, wozu sich der Wachende niemals verstehen würde. Hat man sich dabei wohl Rechenschaft davon gegeben, weshalb derselbe Mensch ohne besondere Aufmerksamkeit in der Stube auf einem Brete hin und her geht, über das er, wenn es 25 Fuß vom Boden erhoben wäre, niemals gehen, von dem er bei gemachtem Versuche vielleicht herabstürzen würde? – Das Bewußtsein der Gefahr läßt ihn eingreifen in das Muskelspiel, wodurch der Schwerpunkt des Körpers in der richtigen Lage erhalten wird, und [393] da er mit seiner Kenntniß des Schwerpunktes und der zur Erhaltung desselben nöthigen Bewegungen lange nicht so weit reicht, als die automatischen Gegenwirkungen ohne Eingreifen des Willens, so stört er leicht das Gleichgewicht und stürzt. Die mesmeristischen Thoren müssen von ihrer eignen geistigen Befähigung sehr gering denken, wenn sie das Gebahren des Nachtwandlers für einen erhöhten Seelenzustand ansehen, denn sie stellen sich damit noch unter die geistige Stufe einer Katze, die ja auch mit aller Sicherheit, und zwar aus denselben Gründen wie der Nachtwandler, auf der Dachfirste dahinschreitet. –

Und noch eine andere Erscheinung hängt hiermit zusammen, die den meisten Menschen noch viel wunderbarer vorkommt. Es sind in der That einige Beispiele constatirt, daß ein Mensch einen Gegenstand, ein wichtiges Document oder dergleichen viele Tage vergebens suchte, bis ihm im Traume der Ort sich darstellte, wo es lag. – Wer den Mechanismus des Erinnerungsvermögens kennt, wird sich nicht darüber wundern. Wir erinnern uns einer Sache, weil eine Vorstellung, die wir haben, direct oder durch viele Zwischenvorstellungen eine frühere Vorstellung wieder belebt. Es ist die durch Gleichzeitigkeit, Reihefolge und dergleichen gebildete Association der Vorstellungen, die hier eintritt. Sobald diese Reihe der Wiederbelebungen ungestört abklingt, führt sie nothwendig, ich möchte sagen mechanisch, zu der gesuchten Vorstellung; greift aber der Wille nach bestimmten Ansichten über vermeintliche Verbindungen in dieses Spiel ein, so führt er leicht diese Associationen immer wieder auf falsche Reihen; sowie aber der Wille aufhört einzuwirken, so stellt sich die richtige Verknüpfung von selbst her. Ist es doch ein bekanntes Mittel, wenn man sich mit aller Mühe auf etwas nicht besinnen kann, eine Zeitlang nicht an die Sache zu denken. – Wie eigensinnig in dieser Beziehung die Associationen sind, zeigt das Beispiel, welches Richerz von sich erzählt: Der Name einer Person, für den er noch dazu ein lebhaftes, wenn auch unangenehmes Interesse hatte, fiel ihm immer nur dann ein, wenn er in dem Zimmer war, wo er den Namen zuerst hatte nennen hören, und das auch nur dann, wenn er nicht an die Sache dachte; sowie er das Zimmer verließ, war der Name seinem Gedächtniß wieder entfallen.

Mit Anwendung dieser ganz feststehenden und ziemlich allbekannten Erfahrungen und Gesetze in der Lehre vom Gedächtniß auf die zuletzt erwähnten Traumerscheinungen hört aber jeder Schein des Wunderbaren sogleich auf; man wundert sich höchstens noch darüber, daß die Erscheinung leichter und sicherer Erinnerung im Traum nicht noch weit öfter vorkommt, und sieht, daß diese Thatsachen, weit entfernt ein höheres Geistesleben zu bekunden, vielmehr ein Zurückgehen auf den rein materiellen Mechanismus darstellen.

Auf diese Weise erklären sich uns leicht alle scheinbar rätselhaften Vorgänge auf diesem Gebiete als ganz natürliche, ja nothwendige Folgen psychologischer und physiologischer Verhältnisse, wenn wir nämlich kritisch zu Werke gehend unzählige Ammenmärchen, die erzählt, geglaubt und weitergetragen werden, aus der Sammlung wirklicher Thatsachen ausscheiden. Hier wie auf allen anderen ähnlichen Gebieten hat sich noch nie eine der viel verbreiteten Wundergeschichten einem zugleich welterfahrenen und kenntnißreichen Naturforscher zur Prüfung gestellt oder, wenn sie es that, die Prüfung bestanden. – Hat doch vergebens die Pariser Akademie jahrelang einen Preis von 3000 Franken der Somnambule geboten, die mit wirklich verbundenen Augen aus einem wirklich geschlossenen Briefe auch nur ein einziges Wort lesen könnte. Ohne Ausnahme sind alle, die sich meldeten, als entlarvte Betrügerinnen fortgejagt worden.

So hätten wir denn das ganze Gebiet, wegen der Fülle des Stoffes mehr andeutend als ausführend, durchschritten und können als Resultat hinstellen: Traum ist das zufällige Spiel der Vorstellungen bei im Schlafe aufgehobenem Bewußtsein. – Hat der Traum darin eine Aehnlichkeit mit dem wachen Leben? Gewiß! Denn, wenn auch nicht aufgehoben, ist unser Bewußtsein doch auch im wachsten Zustande in mannigfacher Weise beschränkt. Um nur Eins zu erwähnen: wie unendlich wenig von dem ganzen Besitzthum unserer Seele können wir in jedem Augenblicke übersehen! Wie Vieles liegt im dunklen Hintergrunde verborgen, wie vieler Mühe, welch’ künstlicher Veranstaltungen bedarf es oft, um Einzelnes davon wieder in unser Bewußtsein zurückzurufen! Wohl können wir uns einen Zustand in einem Jenseits denken, in dem unser Bewußtsein, von allen Beschränkungen befreit, jeden Augenblick unser ganzes geistiges Eigenthum als gegenwärtig beherrscht. Ein solcher Zustand würde sich dann zu unserm wachen Leben, wie dieses zum Traum verhalten. – Aber ein wesentlicher Unterschied bleibt doch bestehen zwischen Traum und Wachen, auf den wir oben schon hingedeutet. Der Traum hat nichts Festes. Aber durch die schwankenden Nebelbilder des Erdenlebenstraumes zieht sich ein unerschütterlicher Gedanke, der dem Ganzen Halt verleiht, die Idee der Sittlichkeit, und so dürfen wir unsere ganze Betrachtung wieder mit den Worten des Prinzen Sigismund schließen:

Doch sei’s Traum, sei’s Wahrheit eben:
Recht thun muß ich; wär’ es Wahrheit,
Deshalb, weil sie ’s ist; und wär’ es
Traum, um Freude zu gewinnen,
Wenn die Zeit uns wird erwecken.






Vom verlassenen Bruderstamme.

Nr. 5. Die danisirte Domschule.

„Der deutsche Schulunterricht in der deutschen Sprache wird in vielen Gemeinden theils auf zwei Stunden, theils überhaupt nur auf die obern Abtheilungen beschränkt, während die Sprachrescripte diese Beschränkung nicht kennen; in andern Gemeinden hat ihn das Kirchenvisitatorium ganz abgeschafft, damit die Kinder erst ordentlich dänisch lernen. Selbstverständlich hat die dänische Sprachpropaganda insonderheit auf die Schulen auch in den deutschen Districten ihre Aufmerksamkeit gerichtet. Von den frühern vier von Alters her deutschen Gelehrtenschulen im Herzogthum Schleswig besteht nunmehr nur noch die schleswigsche Domschule als die einzige deutsche Gelehrtenschule des Landes. An derselben sind aber bereits von 13 Lehrern 11 geborne und des Deutschen zum Theil nur in sehr geringem Grade mächtige Dänen als Lehrer angestellt. Eine deutsche Realschule in der als deutsch anerkannten Stadt Schleswig ist mit Aufhebung bedroht, und dieselbe bisher nur noch durch den eben entlassenen und durch einen Dänen ersetzten Propst Thieß hinausgeschoben, der sich weigerte, „diesen Act der schnödesten Willkür“, wie er sich ausdrückte, vollziehen zu lassen.“

„In der ebenfalls zum rein deutschen District gehörigen Stadt Husum ist die gelehrte Schule in eine Realschule umgewandelt und mit dänischen Lehrern versehen worden, deren Unterricht freilich so wenig Anklang findet, daß die einst stark besuchte Anstalt im Herbste dieses Jahres in der dritten Classe nur einen einzigen Schüler zählte. Selbst die Danisirung in den in rein deutschen Districten belegenen Volksschulen ist in diesem System der Consequenzen nicht außer Acht gelassen worden, und für diesen Zweck wird selbst der Unterricht in deutscher Sprache benutzt.“

Dies sind die trockenen Worte eines diplomatischen Actenstückes, der preußisch-ministeriellen Denkschrift vom Juli 1860. Ich hätte mich, um die in Schleswig durch die dänische Regierung eingeführte Knechtschaft der Geister in den Schulen zu charakterisiren, auf andere Zeugnisse beziehen, ich hätte von jenen „Allotriis, von jenen Carricaturen des Heiligen, von jenen Faustschlägen, die der Moralität in’s Gesicht versetzt worden, von der in Schleswig um sich greifenden geistigen Verdummung“[1] sprechen können; ich habe absichtlich hier die höchst mäßigen Worte eines diplomatischen Actenstückes gebraucht. Aber wie viel Jammer, wie viel Schmerz, welch’ tolle Willkür liest sich aus diesen trockenen Worten heraus! Wie müssen die Mitglieder des Wiener Cabinets geschüttelt haben, als sie diese Schilderung dänischer Wirthschaft in einem deutschen Lande in der preußischen Denkschrift lasen! Wahrhaftig, da konnten sie mit einem Gefühl innerster Befriedigung an ihre eigene Regierung in Venetien denken und sich mit Recht sagen: „Einer so brutalen und dummen Willkür gegenüber fühlen wir uns rein, wie neugeborene Lämmer.“ Mir aber klingt, wenn ich an diesen geistigen Kindermord denke, den ich im verflossenen Sommer täglich in Schleswig vollziehen sah, die alte Klage durch die Seele: „Auf dem Gebirge hat man ein Geschrei gehört, viel Klagens, Weinens und Heulens. Rahel beweinte ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen.“ – –

Ich werde nun den schlagendsten Commentar zu den Worten der preußischen Denkschrift liefern, den ich zu schreiben im Stande

[394] bin, eine Skizze des Unterrichts und der dänischen Lehrer an der ersten deutschen Gelehrtenschule in Schleswig, an der Schleswiger Domschule. Meine Skizze wird oft wie eine alberne Farce klingen, wie ein Stück aus einer halb burlesken, halb obscönen Posse auf einem der niedrigsten Vorstadttheater; – in den Seelen der Mütter, deren Kinder geistig gemordet und körperlich mißhandelt werden auf den Bänken dieser Schule, klingt sie wie ein Stück bitterer Tragödie voll Herzeleid und Jammer! - -

Treten wir ohne Weiteres in die erste beste Classe dieser deutschen Gelehrtenschule. Der Adjunct Quistgaard Munsmann steht gerade auf dem Katheder. Seit August 1855 fungirt er als Lehrer. Als er sein Katheder in der Domschule bestieg, sprach er einzig und allein die Sprache von Kopenhagen. Deutsch sprach und verstand er gar nicht. Während der sieben Jahre, daß er nun deutschen Schulunterricht giebt, hat er nur so viel deutsch radebrechen gelernt, um sich mit Mühe verständlich machen zu können. Aus dem Schulprogramm von 1856 entnehme ich, daß er ein Jüte ist und 1822 in Aarhuus geboren wurde. Seine Bildung erhielt er auf der dortigen Kathedralschule und auf der Kopenhagener Universität, absolvirte das philologisch-philosophische Examen, hielt sich in Norwegen, Paris und Oxford auf und kehrte dann nach dem dänischen Mekka des Nordens, nach Kopenhagen zurück, um eine Lehrerstelle an der Domschule in Schleswig anzunehmen, als deren Danisirung begann. Wie er diese letztere betreibt, zeige das folgende Beispiel: Der Sohn eines Schleswiger Bürgers, eines braven Handwerkers, wurde von Munsmann in der Schreibestunde gefragt, wo die Stadt Schleswig liege.

„In Schleswig,“ antwortete natürlich der zehnjährige Knabe.

„Nein,“ schrie der Lehrer das Kind an, „in Südjütland in Dänemark. Weißt Du nun, wo Schleswig liegt?“

Keine Antwort. Der Knabe konnte sich nicht überzeugen, daß Schleswig plötzlich „Südjütland“ geworden sein solle. Nochmals wurde er von dem Lehrer in der barschesten Weise angefahren; aber seine Erwiderung lautete:

„In Schleswig!“

Da stieg dem Dänen der Eiderdanismus zu Kopfe. Roth vor Wuth und Erbitterung schlug er das Kind mit der Faust. – „Wo liegt Schleswig?“

Ein langes Schluchzen des mißhandelten Knaben war die einzige Antwort. Wiederholte Ohrfeigen und Faustschläge. Endlich hörte man die leise Antwort des Kindes:

„In Dänemark!“

Wie wird sich Orla Lehmann, der jetzige Minister in Kopenhagen, gefreut haben, als er diesen Act der Brutalität gegen ein armes Kind vernahm! Das war so recht in seinem Sinn gehandelt. „Man soll es den Schleswigern mit blutiger Schrift auf den Rücken schreiben, daß sie „Dänen“ sind!“ Das Wort stammt von ihm, als er noch Amtmann in Veile war. Aber auch Du, deutsches Volk, erinnere Dich einst des mißhandelten Knaben! Der Tag wird kommen, wo all das Bullbeißergebell und die Gladiatorenstellungen jenseit der Eider auf einmal ein plötzliches und rasches Ende nehmen werden, und Orla Lehmann zum zweiten Mal gefangen eingebracht wird!

Ein deutscher Renegat, seit Kurzem aus seinem Amte geschieden, um für seine glänzenden Verdienste um die Wissenschaft würdig belohnt zu werden, heißt Christian Claus Lorenzen. Er ist der Verfasser des berüchtigten „Lesebuchs für deutsche Volks- und Gelehrtenschulen“, welches der loyale dänische Propst Thieß sich durchaus weigerte, in die Schulen der deutschen Propstei Gottors einzuführen, „weil es ebenso unchristlich wie unsittlich und undeutsch“ sei,[2] und lieber seinen Abschied nahm. Wie Lorenzen’s pädagogische Fähigkeit und Lehrunterricht gewesen sein mag, möge man aus jeder Seite dieses berüchtigten Lesebuchs beurtheilen; trotz alledem ist der Verfasser aber durch allerhöchste Resolution zum Prediger in Angeln – in einem ganz deutschen District – zur besondern Belohnung für seine genialen Leistungen an der Schleswiger Domschule ernannt worden.

Mit ihm verließ der Lehrer Gilbert Preysz die danisirte Domschule. Seit dem August 1852 half er die deutsche Gelehrtenschule danisiren. Auch er war ohne jedes pädagogische Talent, dazu der deutschen Sprache nur insoweit mächtig, um sich eben verständlich machen zu können, und zeigte ganz deutliche Spuren des Irrsinns. Ende 1853 endigte dieser halbblödsinnige Zustand, wie es im Schulprogramm heißt, mit einer derartigen allgemeinen Nervenschwäche, daß er den Unterricht vollkommen aufgeben mußte. Trotz alledem bestieg er später noch einmal das Katheder, bis sein Zustand sich dermaßen verschlimmerte, daß er zur Cur eine Reise in’s Ausland machen mußte. Man sah in Kopenhagen denn doch endlich ein, daß es mit dem Dociren nicht weiter ging – und da wurde er zur Belohnung für seine vielfachen Verdienste und Danisirungsbestrebungen – – zum Prediger in einem ganz deutschen District in der Nähe von Flensburg ernannt.

Werfen wir nun einmal einen Blick in die Classe, wo Unterricht in der Mathematik gegeben wird. Vor der schwarzen Tafel steht, ein Stück Kreide in der Hand, ein hektisch aussehender Mensch. Er scheint höchst jähzorniger Natur zu sein; oder vielleicht ist es die Krankheit, welche ihm das Blut in den Kopf treibt? Heute jagt in seinem Vortrag ein Zornausbruch den andern. Er spricht in Ausdrücken und Redensarten, welche nur in der Mathematikclasse der danisirten Domschule, aber nicht in der Gartenlaube öffentlich wiederholt werden können. Sowie ein derartiger Ausdruck gefallen ist, entsteht unter den Schülern ein Murren der Entrüstung. Es wird mit den Füßen getrampelt, ein schallendes Gelächter folgt dem andern. Das Deutsch des Vortrages ist ganz miserabel. „Ein neues Punkt“ – „Der Quadrat“ – „Nordenwind“ – „Die mütterliche Schatten“ – „Tempus heißt eine Zeitveränderung“ – „Der Satz sollte in Conjunctiv übergehen“ – „Dazu zeugen“ (soll heißen: Eid leisten) – „Da ist keine neue Griffel zu Dir“. – So geht es eine Zeit lang fort. Dann zeichnet der geistreiche Mathematiker eine Mondscheibe auf die schwarze Tafel. Er fragt einen Schüler, was diese Mondscheibe bedeute. Niemand weiß eine Antwort. Da lacht der Mathematiklehrer laut auf, sein hektisches Gesicht überfliegt eine purpurne Röthe. Er schreit: „Ich will es sie sagen. Es ist Euer schleswig-holsteinsches Vaterland.“

Und nun folgt ein fürchterlicher Spectakel, den der Lehrer, dem der Eiderdanismus zu Kopfe gestiegen ist, durch die rohsten Ausbrüche zu überbieten trachtet.

Soll man etwa über derartige Scenen lachen? – Ich dachte daran, von welcher Wichtigkeit die Mathematik in der geistigen Ausbildung unserer Jugend ist, und wie dieser Zweig der Wissenschaft in der ersten Gelehrtenschule des Landes selbstredend bei einem solchen Vortrage vernachlässigt werden muß! –

In der zweiten Classe des Gymnasiums fungirt der Subrector Henning Niß Lorenzen als Lehrer. Er gehört jedenfalls zu den dänischen Lehrern an der Domschule, welche der deutschen Sprache am wenigsten mächtig sind. Aus seinen Vorträgen sind mir unglaubliche Dinge mitgetheilt worden, welche mit darin ihren Grund haben müssen, daß der Lehrer die deutsche Sprache in einer ganz miserablen Weise spricht. „Die Königin Margarethe legte den Thron nieder,“ sagte er in einem Vortrage über nordische Götterlehre, und in einer Lehrstunde der Geschichte äußerte er: „Das Concil versetzte sich nach Basel und starb daselbst.“ Zuweilen wurde der Vortrag so unverständlich, daß die Schüler glauben mußten, vollkommenen Unsinn zu hören. „Es war ein unehelicher Sohn seiner im vierten Lebensjahre verstorbenen Schwester,“ ist doch wohl eine Probe dieses vollkommenen Unsinns.

Ich kann und darf es mir nicht nehmen lassen, noch einige Specialitäten aus den geistvollen Geschichtsvorträgen Lorenzen’s anzuführen, da sie oft ganz sinnlose Dinge enthalten. Ob die Unkenntniß der deutschen Sprache oder Mangel an historischen Kenntnissen die Ursache dieser sinnlosen Mittheilungen ist, wage ich nicht zu entscheiden. „Franz des Ersten Mutter war acht Jahr alt,“ äußerte er, „Franz war zwanzig Jahre alt, so legen wir noch zwanzig Jahre hinzu, so ist sie volle dreißig Jahre“ – „Wie bekannt, wurde Alexander der Große in Abwesenheit seiner Eltern geboren“ – „Wenn der Menschen Leichnam stirbt“ – „Konnte denn Marcus auch Latein sprechen?“ fragte er einmal in höchst geistreicher Weise, und ein anderes Mal warf er die höchst naive Frage auf: „Wie heißt die Sprache der Araber?“ – „Wie sahen die Säulen aus, Herr Subrector, auf denen die Säulenheiligen lebten?“ fragte einst ein etwas neugieriger Schüler. Der Lehrer gerieth in sichtbare Verlegenheit. Dann antwortete er in einem etwas schwankenden Tone: „Ich weiß es nicht ’mal, ich habe sie nicht gesehen.“

Eduard Sidonius Boje lehrte an der Domschule Geographie und Geschichte. Vollkommen indolent, versteht er fast gar kein Deutsch. Zu seinen Vortragen über Geschichte und Geographie ist [395] es oft gar nicht möglich, den richtigen Sinn aus diesem Kauderwälsch von Deutsch herauszufinden. Als Pendant zu ihm kann in gewisser Weise der Adjunct Lohse dienen; denn er spricht gar kein Deutsch, sondern principiell nur dänisch. Er ist ein deutscher Renegat, war Dirigent der deutschen Gelehrtenschule in Husum, hieß damals „der Vater Lohse“ und wurde in Folge seiner deutschen Gesinnung seiner Stelle entsetzt. Da ging er ganz offen in das eiderdänische Lager über. – Soll ich auch des Lehrers H. O. Hansen erwähnen? Auf ihn muß der Ausspruch von Moritz Busch ganz besonders anwendbar sein: „Dänen, von welchen mehrere ein Deutsch reden, wie das Englisch des Doctor Cajus in den „lustigen Weibern von Windsor“, lehren deutschen Kindern, wie man Deutsch spricht und schreibt. Ist das nicht, als ob das Hackebret die Harfe lehren wollte, wie sie zu klingen habe[3] Mein geistiger Kampfgenosse für Schleswig-Holstein sah die danisirte Domschule fünf Jahre früher als ich.

In exaltirtem Eiderdänenthum wetteifern hier ferner mit einander der Collaborator Helms, der Conrector Dr. Manicus, Sohn des Dr. Manicus, der mit seiner Tochter in so würdiger Weise die Flensburger Zeitung redigirte, und der Collaborator Peter Knudsen Blichert. Helms ist der geniale Verfasser des Liedes „vom tappern Landsoldaten“, des dänischen Nationalliedes, eines solchen Gemisches von Trivialität und Unsinn, daß es wirklich nicht zu begreifen ist, wie dies einfältige Gedicht im neunzehnten Jahrhundert hat zum Nationalliede eines gebildeten Volkes werden können. Helms zeichnete sich aber nicht allein als Sänger, sondern auch als Held im Schleswig-Holsteinischen Kriege aus – ein zweiter Tyrtäos. Das Schulprogramm theilt ausführliche Nachrichten über die Lorbeeren mit, welche er sich in der Schlacht bei Idstedt errang. Er avancirte – zum Sergeanten und erhielt das Danebrogskreuz und bald nachher, trotz seiner überaus mangelhaften Bildung, einen Ruf nach Schleswig. Sein eifrigstes Studium besteht darin, die Verwandtschaft des Dänischen mit der plattdeutschen Sprache zu entdecken, und er verwendet die Schulstunden, um seinen Schülern die Resultate seiner Forschungen mitzutheilen. Er, Blichert und Munsmann würzen jede Schulstunde mit politischen Vorträgen. Im Unterricht in der griechischen Sprache – denn auch damit ist Blichert betraut – vermeidet er stets die Formen der Verba abzuhören, weil er sie nicht kennt. Wie darnach die Erklärung der Classiker ausfallen muß, bedarf wohl keines Wortes.

Damit man mir nun dänischerseits nicht vorwerfen kann, daß ich von meinem Parteistandpunkte aus die Zustände und Personen an der danisirten Domschule in Schleswig geschildert habe, welche zugleich die erste deutsche Gelehrtenschule des Landes sein soll, so will ich zum Schluß meiner Schilderung auch von den Lehrern Grünfeld und Christian Johannsen sprechen. Schleswiger von Geburt sind Beide königlich dänisch gesinnt. Wie ihnen das bei den unerhörten Zuständen, welche in Schleswig herrschen, bei der maßlosen Tyrannei, mit der alle nationalen Rechte dort Seitens der dänischen Regierung mit Füßen getreten werden, möglich ist, ist mir freilich unbegreiflich; aber der Wahrheit gemäß muß ich von beiden Männern sagen: Sie waren das, was sie heute sind, immer; sie haben nie aus Egoismus oder aus persönlichem Interesse ihre politische Ueberzeugung gewechselt und sie sind als Lehrer Männer von wissenschaftlichem Streben, von pädagogischer Tüchtigkeit und von einem ernsten Pflichtgefühl. Daß sie, geborene Schleswiger, ein dänisches Herz haben, mögen sie vor ihrem Gewissen und vor dem mißhandelten Lande verantworten. Mögen diese wenigen Worte der Anerkennung, welche ich mitten in diesem Sumpfe von Bornirtheit und eiderdänischem Fanatismus beiden Männern schuldig zu sein glaube, ihnen nicht zum Nachtheil gereichen!

Wenn er diese Zeilen liest, er, der die deutsche Gelehrtenschule in diesen Sumpf von Bornirtheit und eiderdänischem Fanatismus verwandelt hat, der Grundpfeiler der Danisirungsbestrebungen an der deutschen Jugend in Schleswig, so glaubt er vielleicht, ich habe seiner vergessen. Wie wäre das möglich, wie könnte ich Ludwig Sören Porelsen’s vergessen, des Rectors und ersten Dirigenten der danisirten Domschule, des gefügigsten Werkzeuges der dänischen Regierung, deutsche Herzen zu danisiren, des Busenfreundes des Polizeimeisters Jörgensen, der verhaßtesten Persönlichkeit in Schleswig-Holstein! „Es ist meine Mission, die Trotzköpfe zu bändigen!“ schrie er, als er einen zwanzigjährigen Schüler, der gerade die Universität in Kiel beziehen wollte, für eine geringe Vergeßlichkeit mit Ohrfeigen regalirt hatte. Diese Mission übernahm er im Jahre 1855, als er zum alleinigen Dirigenten der Domschule ernannt und der bisherige Rector seiner flauen Gesinnung wegen entlassen wurde. Ein exaltirter Eiderdäne, vom Magister schnell zum Doctor creirt, um doch seiner Persönlichkeit ein gewisses Ansehen zu verleihen, besitzt er sämmtliche Eigenschaften, um ein starker Grundpfeiler des Dänenthums zu werden. In seiner Antrittsrede sprach er seine Absichten mit ganz deutlichen Worten aus, und der Bischof Breaen, der den neuen Rector einführte, machte Schüler und Lehrer darauf besonders aufmerksam, daß dies wichtige Amt nur mit des Himmels Segen zu verwalten sei! – Deutsch spricht der neue Rector der deutschen Gelehrtenschule in höchst mangelhafter Weise. Er giebt sich auch nicht die geringste Mühe, die deutsche Sprache zu erlernen. Und weshalb auch? Grenzenlose Verachtung deutscher Bildung und deutscher Literatur sind ja Grundzüge seines innersten Wesens, und seine Mission besteht ja gerade darin, alle deutschen Elemente aus der Bildung der schleswigschen Jugend zu verdrängen. Der Rector interpretirt seinen Schülern Homer’s Odyssee. Mögen folgende, wörtlich von einem Primaner niedergeschriebene Sätze Proben dieser geistvollen Interpretation des großen Griechendichters liefern: „Odysseus schneiderte sich einen Stab.“ – „Der Wein stiegt Polyphem zum Kopfe; er wurde des Auges geraubt.“ – „Die Phäaken wetteiferten sich.“ – „Den ganzen Tag saß Penelope fleißig.“ – „Odysseus erhob sich in der Höhe, daß er das Land ersehen konnte.“ – „Als sie aus dem Thore gingen, traten ihnen drei Männer in’s Gesicht.“ – „Ein mütterlicher Großvater.“ – „Xenophon vernahm den Geruch.“ – „Wir sind bereit, Dich Alles zu ersetzen.“ – „Er hatte beworben um die Gattin.“ – „Wie geht es Dich?“ – „Hast Du Dich einen Loch in’s Kopf gefallen?“ – „Es wird in Erfüllung gesetzt.“ – „Ich habe mich Mühe gegeben.“ – Was würde der alte Grieche sagen, wenn er in dieser Weise sein Epos erklären hörte? –

Aber Eines hat der dänische Rector gründlich verstanden. Er hatte in Jahresfrist alle Einrichtungen in der Schule nach dem Muster der Schulen in Dänemark umgewandelt, und das Grundprincip dänischer Wissenschaft und dänischen Unterrichts, die Methode des Auswendiglernens, eingeführt. Das Einpauken und das Auswendiglernen nimmt in Dänemark, sowohl auf der Universität zu Kopenhagen, wie in allen Gelehrtenschulen, die Stelle der Erforschung des Geistes in der Wissenschaft ein. Entwickelung und Fortbildung des Geistes war ja auch nicht des neuen Rectors Mission, wohl aber, ein infames Princip zur Geltung zu bringen, nämlich den Gemüthern der heranwachsenden deutschen Jugend dänische politische Sympathien einzuimpfen und wenn diese Beimpfungen fruchtlos ausfallen sollten, die Herzen der Kinder so lange durch kleinliche Quälereien zu martern, bis sie den Glauben an sich selbst verlieren würden. Dies infame Princip wird freilich nicht erreicht. Bei dem Bruderstamme in Schleswig stählt der Widerstand die Kraft, und wenn einst die unermeßliche Schuld an Dänemark vergolten wird, dann wird er beweisen, daß, wie Egmont sagt, er sich wohl drücken, doch nimmermehr unterdrücken läßt!

Gustav Rasch.





Fichte und der Berliner Landsturm.

Es war am 19. Februar des Jahres 1813, als der berühmte Philosoph Fichte, dessen hundertjähriger Geburtstag erst vor wenig Wochen von dem deutschen Volke in erhebender Weise gefeiert wurde, mitten unter seine Zuhörer trat und das Katheder bestieg. Tiefes, ehrfurchtsvolles Schweigen herrschte in dem großen Auditorium, und die Blicke der Schüler hingen voll Erwartung an den Zügen des geliebten Lehrers, dessen ganzes Wesen in diesem Moment eine ungewohnte Erregtheit verrieth. Seine Wangen waren geröthet, seine Augen strahlten in eigenthümlichem Glanze, und seine sonst so feste und markige Stimme, mit der er einst jene gewaltigen Reden an [396] die deutsche Nation gehalten, zitterte merklich vor innerer Bewegung. Es mußte etwas Großes sein, das den Mann der Wissenschaft, den besonnenen Denker, so mächtig ergriffen und umgewandelt hatte. Ganz Berlin, oder vielmehr das gesammte Vaterland befand sich in einer eigenthümlichen Lage, am Ausgangspunkte einer neuen, großen Zeit. Nachdem Napoleon auf den Eisfeldern Rußlands sein Heer begraben und die Hand des Schicksals den Welteroberer gedemüthigt, erwachte auch das deutsche Volk aus seiner Betäubung und rüttelte, wenn auch nur zaghaft, an seinen Ketten. Vor Allen war es Preußen, das sich zum Kampfe rüstete, aber noch lastete das Joch des Feindes schwer auf seinen Schultern, seine Festungen waren in des Unterdrückers Hand und selbst die Residenz von französischen Truppen besetzt.

Fichte als Landwehrmann
Nach einer Originalzeichnung von Albrecht Schadow.


Auch geschlagen und halb vernichtet blieb Napoleon furchtbar und gefährlich. Die Regierung wagte nicht, ihn offen anzugreifen; der kühne York, welcher durch seinen Abfall dem Könige ein Heer gerettet, mußte verleugnet, die Rüstung heimlich betrieben, die kaum mehr zu zügelnde Kriegslust der Nation durch allerhand diplomatische Künste verborgen und bemäntelt werden. Da der König sich in seiner Hauptstadt nicht mehr sicher fühlte, hatte er Berlin verlassen und sich nach Breslau begeben. Von hier aus erließ er jenen denkwürdigen Aufruf „an mein Volk“, dessen Wirkung eine so bedeutende war, daß Jung und Alt zu den Waffen griff.

Auch die studirende Jugend und sie vor Allen wurde von dem mächtigen Sturm erfaßt; die Hörsäle der neu gegründeten Berliner Universität hallten von kühnen und begeisterten Reden wieder, aber noch hatte keiner der Lehrer das letzte entscheidende Wort gesprochen, da sich die Hauptstadt noch immer in des Feindes Hand befand und Vorsicht in mehr als einer Beziehung geboten war. Nur Fichte fürchtete nicht die drohende Gefahr, unerschrocken entfaltete er die Fahne der Begeisterung, forderte er seine Schüler auf, für das Vaterland in den heiligen Kampf zu ziehen. „In einer solchen Lage,“ sprach er muthvoll zu der Jugend, „was können die Freunde der Geistesbildung thun? Ich habe schon früher meine Ueberzeugung ausgesprochen, daß, wenn die Gesellschaft, der Inhaber der materiellen Kräfte, dies sich gefallen läßt, sie selbst dagegen durchaus nichts thun können, als was sie ohnedies thun würden, sich und Andere mit allem Eifer bilden. Sie sind ein höchst unbedeutender Theil der vorhandenen Körperkraft, wohl aber sind alle bis auf ihre Zeit entwickelte Geisteskraft, und in ihnen ist niedergelegt das Unterpfand eines dereinstigen besseren Zustandes. Sie müssen darum sich selbst, ihre äußere Ruhe und Sicherheit, und, was sie eigentlich schützt, ihre scheinbare Unbedeutsamkeit erhalten, so gut sie können, und durch nichts die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollen. Wir haben ein leuchtendes Beispiel dieses Betragens an denen, die wir als die Fortpflanzer der höchsten auf uns herabgekornmenen geistigen Bildung betrachten müssen, an den ersten Christen. – Wenn nun aber in dieser Lage eine Veränderung einträte, daß die Gesellschaft die Unterjochung ihrer Kräfte für fremde Zwecke nicht mehr dulden, sondern sich freimachen wollte für selbst zu wählende Zwecke: was könnten und sollten die Freunde der Geistesbildung sodann thun?

„Zuvörderst wird der Kampf begonnen im letzten Grunde für ihr Interesse; ob auch nicht Jeder es so meint und versteht, sie können es also verstehen. – Es kann gar nicht fehlen, daß nach dieser Befreiung der Geist, wenn er neu seine Zeit erwarten und nichts ungeduldig übereilen will, auf die neu zu gestaltende Zeit einfließen werde. – Sodann soll das Ganze von der Schmach, welche die Unterdrückung auf dasselbe warf, gereinigt werden. Diese ist auch auf sie mitgefallen, freilich unverdient, ja zu ihrer Ehre, weil sie um höherer Zwecke willen frei und entschlossen duldeten. – Jetzt möchte es scheinen, als ob der, welcher das Seinige thut, die Schmach abzuwälzen, gern geduldet hätte, nicht um höherer Zwecke, sondern aus Mangel an Muth. Doch so könnte es auch nur scheinen, und wer nur seines wahren Muthes sich bewußt wäre, könnte auch den haben, über den Schein sich hinwegzusetzen. – Um Muth zu zeigen, bedarf es nicht, daß man die Waffen ergreife: den weit höhern Muth, mit Verachtung des Urtheils der Menge treu zu bleiben seiner Ueberzeugung, muthet uns das Leben oft genug an.

„Aber wenn ihnen die Theilnahme an dem Widerstände nicht nur freigelassen wird, wenn sie sogar zu derselben aufgefordert werden, wie verhält es sich sodann? Die Masse der zum Widerstand nöthigen Kräfte können nur diejenigen beurtheilen, die jenen Entschluß faßten und die an der Spitze des Unternehmens stehen. Nehmen sie Kräfte in Anspruch, die in der Regel nicht dazu bestimmt sind, so müssen wir, nachdem wir Vertrauen zu ihnen haben können, ihnen auch darin glauben, daß diese nöthig sind. Und wer möchte bei ungünstigem Ausgang den Gedanken auf sich laden, daß durch sein Sichausschließen und durch das Beispiel, das er dadurch gegeben, das Mißlingen veranlaßt sein könne? Das Bewußtsein, meine Streitkraft ist nur klein, wenn es auch ganz gegründet wäre, könnte dabei nicht beruhigen. Denn wie, wenn nicht sowohl auf die Streitkraft, als auf den durch das Ganze zu verbreitenden Geist gerechnet wäre, der hoffentlich, aus den Schulen der Wissenschaft ausgehend, ein guter Geist sein wird? wie, wenn gerechnet wäre auf das große, den verbündeten deutschen Stämmen zu gebende Beispiel eines Stammes, der in allen seinen Ständen sich erhebt, um sich zu befreien?“ – Mit solchen tiefen und zugleich ergreifenden Worten entzündete Fichte in der Brust der ihn umgebenden Jünglinge die heilige Flamme der Vaterlandsliebe und kriegerischer Thatenlust, und als sie den Hörsal verließen, meldeten sich die Meisten freiwillig zu den Waffen, darunter zwei Lieblingsschüler des großen Philosophen, welche im muthigen Freiheitskampfe auf dem Felde der Ehre blieben und mit ihrem Blute die Worte ihres hochgeehrten Lehrers besiegelten. Weit wichtiger jedoch als die bloße materielle Kraft war die geistige Unterstützung, welche Fichte in seinen Schülern dem Heere zuführte, jene moralische Macht und flammende Begeisterung, die sich unwillkürlich der schwerfälligeren Menge mittheilte und dieselbe in mächtigem Aufschwung fortriß.

Aber ein Charakter wie Fichte, dessen innerste Natur die That war, konnte und mochte es nicht bei den bloßen Worten bewenden lassen. Er bat um die Erlaubniß, das Heer begleiten zu dürfen, um als Feldredner „die Krieger in Gott einzutauchen und die in letzter Instanz Beschließenden und Handelnden durch Beredsamkeit [397] in die geistige Stimmung und Ansicht zu heben.“ So gedachte er, indem er Weib und Kind verlassen und sich den Wechselfällen des Krieges aussetzen wollte, das Volk zu begeistern und die Führer mit sich fortzureißen. Aber zu einer solch idealen Höhe konnten sich die Häupter und Lenker selbst jener großen Erhebung nicht aufschwingen, und das seltsame Anerbieten wurde nicht weiter berücksichtigt. – Da er im Felde keine Verwendung fand, so wurde er ein eifriges Mitglied des sich bildenden Landsturms, dem der Schutz des heimischen Heerdes anvertraut war. Mit Fichte traten fast alle Lehrer der Berliner Hochschule in den Landsturm ein, darunter Männer wie Buttmann, Boekh, Solger, Neander, Savigny, Lichtenstein, Erman, Zeune und vor Allen der berühmte Schleiermacher. Feierlich verbanden sie sich zum Schutze für das Vaterland, und daß sie selbst den Tod nicht scheuten, beweist das folgende interessante Actenstück: „Da unter den gegenwärtigen Kriegsverhältnissen jeder tüchtige Mann der Gefahr ausgesetzt ist, bei Vertheidigung des Vaterlandes sein Leben zu verlieren und seine Familie hülflos zu hinterlassen, so verpflichten sich die Unterzeichneten auf ihr Gewissen und ihre Ehre, falls einer oder mehrere im Kriege umkommen sollten, für deren Hinterbliebene Weiber und Kinder theils durch eigene Beiträge, theils durch alle mögliche Verwendung beim Staate, oder wo irgend Beihülfe zu erwarten sein könnte, dergestalt zu sorgen, daß die Subsistenz derselben gesichert sei, es mag nun der Familienvater im Kampfe selbst oder als Opfer des Krieges verstorben sein. Auf die Weise den ehrenvollen Dienst für das Vaterland einander wechselseitig zu erleichtern, versprechen die Unterzeichneten feierlich durch ihre Unterschrift.“

Mit dem größten sittlichen Ernst jedoch, der jeder Handlung seines Lebens gleichsam eine religiöse Weihe verlieh, erschien Fichte in seinem neuen kriegerischen Wirkungskreise. Der friedliche Mann der Wissenschaft vertauschte den bequemen Professoren-Rock mit der Alles gleichmachenden Blouse; sein würdiges Haupt bedeckte der breite runde Hut mit der damals zuerst auftauchenden preußischen Kokarde; im Ledergurt steckten zwei große Pistolen, und der mächtige Schleppsäbel klirrte an seiner Seite. Seine ganze Haltung aber verrieth vor Allem den Geist, der ihn beseelte, die hohe Bedeutung, welche er seinem militärischen Berufe beilegte. Man sieht es dem aus jener Zeit stammenden Bilde des großen Philosophen an, dem entschlossenen Ausdruck dieser scharf geprägten Züge, daß er nicht Anstand genommen hätte, muthig sein Leben für das Vaterland zu opfern. Mit wahrhaft rührendem Eifer nahm er an den täglichen Uebungen, Märschen und Excercitien des Landsturms Theil, indem er seine liebsten Studien verließ und die wichtigsten wissenschaftlichen Untersuchungen ruhen ließ, um seiner patriotischen Pflicht zu genügen. Mit Schleiermacher stand er mehr als einmal Wache, und die beiden Gelehrten gaben ein herrliches Beispiel von Unterordnung und wahrer Bürgertugend.

In jenen denkwürdigen Tagen war es auch Fichte vergönnt, der Stadt Berlin einen wesentlichen Dienst zu leisten und durch seine Besonnenheit eine große Gefahr abzuwenden. In den letzten Tagen des Februars 1813 war die Residenz noch immer von einem schwachen französischen Heerhaufen besetzt, der durchaus nicht geneigt schien, die Stadt so bald zu verlassen, obgleich bereits die Vorposten des russischen Heeres sich in der Nähe zeigten und bis an die Thore streiften. Die Aufregung der Bürger hatte einen hohen Grad erregt. Da faßte ein Mann, der einen großen Anhang unter der feurigen Jugend hatte (Jahn?), den abenteuerlichen Plan, die französische Besatzung in den Häusern zu überfallen und ihre Magazine anzuzünden. Der Gedanke war um so gefährlicher, da der König noch nicht seine Kriegserklärung erlassen und der Vicekönig von Italien noch mit einem ansehnlichen Heere sich auf Berlin werfen und eine furchtbare Rache nehmen durfte. Die Ausführung war auf die nächste Nacht angesetzt, unter den Eingeweihten befand sich aber ein Schüler Fichte’s, der den Gedanken des Mordes von dem sittlichen Standpunkte seines Lehrers aus nicht rechtfertigen konnte. Um sein Gewissen zu beruhigen, wollte er die Ansicht und den Rath Fichte’s vernehmen. Dieser nöthigte ihn zu einem umfassenden Geständnisse des ganzen Vorhabens, dessen entsetzliche Folgen er sogleich erkannte. Ohne Zögern eilte er zu dem damaligen Chef der Polizei, durch dessen energisches und doch zugleich schonendes Einschreiten das unreife Unternehmen verhindert und somit ein großes Unheil von Berlin abgewendet wurde.

So wachte und sorgte Fichte unablässig, furchtlos und unerschrocken, kräftig und besonnen für das Heil des Vaterlandes, bei Tag und Nacht keine Mühe, keine Anstrengung scheuend, das belebende und begeisternde Wort mit der männlichen That, die feurige Rede mit der todesmuthigen Opferfreudigkeit verbindend. – Groß war seine Freude über die ersten Siege der Freiheitskämpfer, und als die Nachricht von der gewonnenen Völkerschlacht auf Leipzigs Feldern ihn erreichte, betheiligte er sich an der allgemeinen Illumination, welche die Residenz veranstaltete, indem er selbst die Lampen und Lichter herbeiholte. Als die verständige Gattin dabei bemerkte, ob es nicht besser sei, das dafür zu verwendende Geld den verwundeten Kriegern zu überschicken, antwortete er ihr: „Das Eine thun und das Andere darum nicht lassen.“ – Aber selbst die glänzendsten Triumphe trübten nicht den hellen Blick des freisinnigen Denkers; bald erkannte er den veränderten Geist der Fürsten, die nur in ihrer höchsten Noth das Volk gerufen, so wie die Verwendung des Heeres im Dienste einer sich bereits, wenn auch nur leise und mit Vorsicht, regenden Reaction, die bald ihr Haupt mit frecher Stirn erhob und unberechenbares Unheil häufte. – Der Tod ersparte ihm eine Reihe von Enttäuschungen und Verfolgungen, welche Männer wie Arndt, Jahn etc. trafen. Bei der Pflege der Verwundeten in den Spitälern hatte sich Fichte’s Gattin, die in seinem Geiste handelte, ein Nervenfieber zugezogen; indem er die durch seine Pflege Wiedergenesene in seine Arme schloß, athmete er den Keim der entsetzlichen Krankheit ein. Fichte starb am 27. Januar 1814 im kräftigen Mannesalter. War es ihm auch nicht vergönnt, sich durch kriegerische Thaten auszuzeichnen, so legte sein Eintritt in den Berliner Landsturm ein herrliches Zeugniß ab für den Geist, der ihn beseelte, und daß er jeden Augenblick bereit war, sein Leben für das Vaterland und die Freiheit einzusetzen, nachdem er durch seine Reden an die deutsche Nation den gesunkenen Muth seines Volkes aufgerichtet, die Verzweifelten erhoben, die Schwachen gestärkt und gleichsam die Saat gesät, aus der die geharnischten Krieger des Befreiungskampfes emporstiegen. Auch Fichte war ein Held, nicht blos des Gedankens, sondern auch der That, und verdient neben Scharnhorst, Gneisenau und Blücher dreist genannt zu werden, wenn er auch nur im Berliner Landsturm als Gemeiner diente.

Max Ring.





Blätter und Blüthen

Die Taubenpost. Die elektro-magnetischen Telegraphenlinien sind ein Erzeugnis; des letzten Decenniums, soweit dieselben auf dem Continente von Europa zur Beförderung von Depeschen benutzt werden. Eine kleine derartige Entrichtung bestand zwar schon vor dieser Zeit auf der Rheinischen Eisenbahn, um An- und Abfahrt der Züge auf den Endpunkten der etwa 1/2 Meile langen sogenannten geneigten Ebene zwischen Aachen und Ronheide (eine besonders steile Eisenbahnstrecke, welche auf je 38 Fuß Länge um einen Fuß steigt) zu signalisiren; diese elektrische Telegrapheneinrichtung gab indessen nur Zeichen mit der Glocke, ohne daß sie zu wörtlichen Uebermittelungen hätte benutzt werden können.

Regierungen hatten zwar auf besonders wichtigen Linien optische Telegraphen, wie z. B. eine solche Einrichtung zwischen Berlin und Coblenz bestand, nämlich durch Uebermittelung von bekannten Zeichen an Stangen von hohen Punkten aus, welche einander auf Entfernungen von einigen Stunden gegenseitig sichtbar blieben. Solcher optischen Telegraphenlinien gab es jedoch nur wenige, und diese blieben außerdem der Benutzung des Publicums unzugänglich.

Wer also vor jener Zeit Mittheilungen von großer Eile und Wichtigkeit zu versenden hatte, der mußte sich der Eisenbahn-Posten, und wo solche nicht bestanden, der Estafetten oder Couriere bedienen, welche Beförderungsart nicht nur oft eine verhältnißmäßig langsame, sondern auch eine recht theuere sein mußte. Aber auch die Schnelligkeit der Eisenbahnzüge auf großen Hauptlinien hat sich gegen diejenige vor zehn Jahren und mehr verdoppelt, was theils den besseren Anschlüssen und Betriebs-Einrichtungen, großentheils jedoch der vorgeschrittenen Leistungsfähigkeit der Locomotiven beizumessen ist. Fand doch die erste Beförderung auf der Eisenbahn zwischen Mecheln und Antwerpen vermittelst Schienen statt, welche auf der Oberfläche wellenförmige Gestalt hatten, weil man damals annahm, eine oben glatte Schiene biete den Rädern zu wenig Reibung dar und sei für die Beförderung nicht hinreichend zuverlässig. Derartige Eisenbahnschienen

[398] lagen noch vor wenigen Jahren als Curiosum an der Einfahrt des Bahnhofes zu Mecheln und erweckten jetzt allerdings bei jedem Beschauer ein mitleidiges Lächeln.

Den mangelhaften Anschlüssen und Einrichtungen auf den Eisenbahnen eine schnellere Beförderung abzuringen, war schon damals Gegenstand der Speculation für denkende Köpfe. Uebten dieselben auch auf Verwaltungen keinen Einfluß aus, so stand es ihnen doch frei, Beschleunigungen für eigene Nachrichten auf ihre Kosten einzurichten.

Der schnellsten, womöglich blitzartigen Beförderung sind am meisten politische und Börsen-Nachrichten bedürftig, die letzteren, weil sie etwas berühren, wobei alle Gemüthlichkeit aufhört, nämlich den Geldbeutel, und was die ersteren betrifft, so kann man sich vorstellen, daß eine wichtige politische Nachricht nicht nur für die Regierung, sondern auch für die Besitzer großer Tagesblätter außerordentlichen Werth hat, wenn man sich an jene fieberhafte Aufregung erinnert, welche entscheidende Nachrichten in den letzten allgemein bewegten Jahren hervorbrachten. Deshalb ging der damalige Eigenthümer der Kölnischen Zeitung bereitwillig auf Vorschläge ein, welche ihm gemacht wurden, um sein Blatt in den Stand zu setzen, die neuesten Pariser Nachrichten schon mit der Abend-Ausgabe versenden zu können, während sie bis dahin erst in der Morgen-Ausgabe enthalten waren. Die Kölnische Zeitung, eines der ersten Blätter Deutschlands, hatte natürlich allen Grund, darüber zu wachen, daß ihr die Vortheile der günstigen geographischen Lage ihres Redactions-Sitzes nicht entgingen, und ein Zeitgewinn von vier Stunden war damals, als es noch keine elektrischen Telegraphenlinien gab, so entscheidend, daß dieses Blatt dadurch in den Stand gesetzt wurde, die westlichen Nachrichten schneller als die betreffenden einheimischen Zeitungen in ganz Deutschland zu verbreiten.

Denn die westlichen Nachrichten sind es, die in allen Fragen der Politik und der Börse den Ausschlag geben. Nicht erst seit unsern Tagen ist der Pulsschlag der europäischen Politik in Paris hörbar, sondern schon lange vor der Zeit, als das Orakel in Frankreichs Hauptstadt die Welt durch das Wort: l’empire c’est la paix zu dupiren glaubte. Politik und Börse aber sind durch so zarte Beziehungen mit einander verwachsen, daß man oft kaum zu sagen vermag, welcher von diesen beiden gewaltigen Hebeln den andern an Wichtigkeit übertrifft. Die Kölnische Zeitung scheute deshalb die bedeutenden Opfer nicht, um sich vermittelst einer Tauben-Briefpost um einige Stunden früher in Besitz der Pariser Nachrichten zu setzen, als ihr dieselben durch die ausschließliche Benutzung der Eisenbahnpost hätten zugehen können. Zu diesem Zwecke installirte sich damals, nachdem mit dieser Zeitung deshalb contrahirt war, eine Persönlichkeit in Aachen, deren Name heute in jeder Nummer nicht nur der Kölnischen Zeitung genannt wird, um jene Taubenpost zu vermitteln. Ein ehemaliger preußischer Officier wurde zu gleichem Zwecke in Brüssel stationirt, und ich löste Letzteren ab, als derselbe in eine andere Stellung eintrat. Der Gang der Sache war nun der, daß jeden Abend zwei Tauben per Eisenbahn von Aachen in einem verschlossenen Kasten in Brüssel eintrafen und die Nacht über in meiner Wohnung stehen blieben. Der Pariser Correspondent übergab seine Nachrichten in doppelter Ausfertigung auf ganz feines Papier geschrieben einem Schaffner, welcher den Abends um 8 Uhr von Paris abgehenden und um 5 Uhr Morgens in Brüssel eintreffenden Zug begleitete: derselbe Schaffner schob den Brief bei seiner Ankunft in Brüssel unter meiner Hausthüre durch, woselbst ich ihn beim Aufstehen in Empfang nahm. In dem Kasten der Tauben befand sich das nöthige Futter sowie Wasser, sodaß diese Thiere unterwegs auf der Eisenbahn keinen Mangel litten und die nöthige Kraft behielten, ihre Rückreise andern Tages ohne Aufenthalt im Fluge zurückzulegen. Die beiden Depeschen wurden kurz zusammengefaltet und jeder der Tauben ein Exemplar davon an eine der Federn unter dem Flügel festgenäht, doch mußte man sich zuvor überzeugen, daß die betreffende Feder nicht auszufallen drohte. Gegen 6 Uhr Morgens warf ich dann diese geflügelten Boten zum Fenster hinaus, wo man sie einige Mal über dem Hause kreisen sah, um sich zu orientiren; dann ließen sie sich entweder erst einen Augenblick auf einem benachbarten Dache nieder, oder flogen ohne Aufenthalt der Heimath zu. Ich habe jedoch nicht bemerkt daß die eine von der andern Notiz genommen hätte, es ging vielmehr jede ihre eigenen Wege. Es wurden zwei Thiere genommen, damit in jedem Falle eine Nachricht ihre Bestimmung erreichte, falls eine Taube durch einen Raubvogel oder auf andere Weise verunglücken sollte. War Nebel in der Luft, so durften die Tauben nicht abgelassen werden, ich hielt sie vielmehr zurück, bis sich derselbe verzog; fand dies indessen vor 7 Uhr Morgens nicht statt, so blieben sie ganz zurück; denn im Nebel können sie sich nicht orientiren, und flogen sie nach 7 Uhr von Brüssel ab, so war es ihnen nicht mehr möglich, im Anschlüsse an den Zug von Aachen ab dort einzutreffen. Bei heiterem, windstillem Wetter legten die Tauben den Weg von Brüssel nach Aachen in stark zwei Stunden zurück. Die Eisenbahnzüge bedurften deren damals beinahe sieben, denn die Entfernung betragt 32 französische Lieues (etwa 20 deutsche Meilen). Bei ihrer Ankunft wurden die Tauben in ihren Schlägen bereits erwartet, der Depeschen entledigt und letztere, nöthigenfalls unter Zuhülfenahme einer Droschke, rasch zur Bahnhofspost abgeliefert, um mit dem um 9 Uhr Morgens von Aachen abgehenden Zuge nach Köln befördert zu werden, woselbst die Redaction gegen 12 Uhr Mittags in deren Besitz gelangte, während der um 7 Uhr Morgens von Brüssel abgehende Zug erst um 4 Uhr Nachmittags in Köln eintraf. Diese Nachrichten umfaßten die Tagesereignisse von Paris und sonstige Neuigkeiten, sowie die Börsencourse des Tages und figurirten in der Abend-Ausgabe der Zeitung unter der Rubrik „Neueste Nachrichten“, wie sich die Leser der Kölnischen Zeitung aus dem Jahre 1850 vielleicht noch erinnern werden.

Was nun die Tauben selbst betrifft, so ist es bekannt, daß dieselben einen überaus raschen Flug sowie die Gabe haben, sich auch in großen Entfernungen von der Heimath leicht zu orientiren, wobei ihr äußerst scharfes Auge sehr dienlich ist. Das Wiederauffinden der Heimath ist lediglich einem diesem Vogel in hohem Grade innewohnenden Instincte beizumessen; denn von einem mittelst des Gesichtsorgans wahrnehmbaren Erkennen kann natürlich bei großen Entfernungen nicht die Rede sein. Eine Taubenart zeichnet sich in dieser Beziehung vor allen übrigen besonders aus, weshalb man diese vorzugsweise Brieftauben nennt. Jedoch auch von diesen würde es zuviel verlangt sein, den Weg von Brüssel nach Aachen sofort wieder aufzufinden; die Thiere werden vielmehr durch eine Art von Cursus auf ihren Beruf vorbereitet, und man würde sie beispielsweise zuerst nach Lüttich bringen, um von dort nach Aachen zurück zu fliegen, ehe man von ihnen die Rückkehr von Brüssel nach letzterer Stadt verlangen dürfte. Der Eigenthümer in Aachen erhielt für das Herleihen, Besorgen etc. von zwei Tauben täglich zwanzig Franken (5 Thlr. 10 Sgr.), incl. Risico. Es ist jedoch zu bemerken, daß diese Thiere mit Sicherheit nur im Sommer verwandt werden können; sobald die Blätter gelb werden und von den Bäumen abfallen, und durch den Eintritt von Nebel erhalten die Landschaften einen so veränderten Charakter, daß das scharfe Auge dieses Vogels den oft zurückgelegten Weg nicht mehr zu erkennen vermag. Die Tauben trafen daher um diese Jahreszeit oft sehr verspätet, einzelne gar nicht, und mehrmals gar keine wieder ein, sodaß mit Schluß des Monats October der Dienst eingestellt werden mußte. Von den ausgebliebenen kamen einzelne nach mehrtägigem Herumirren endlich doch noch glücklich in der Heimath an.

Schon in Aachen, mehr aber noch in ganz Belgien, ist die Liebhaberei an Brieftauben sehr verbreitet, und es giebt in diesem Lande zahlreiche Vereine, welche mit einander in Verbindung stehen, um die Zucht der Brieftauben durch Prämien und Wetten zu befördern. So wurden beispielsweise Tauben Morgens früh in Madrid aufgelassen, welche schon im Laufe des folgenden Tages, jedoch außerordentlich ermüdet, wieder in Aachen eintrafen, eine erstaunliche Thatsache, wenn man die zum Aufsuchen des unentbehrlichen Futters nothwendige Zeit in Abzug bringt und bedenkt, daß diese Thiere über die Pyrenäen, eines der höchsten und größten Gebirge in Europa, hinwegfliegen mußten, wo das Zurechtfinden nach der so entfernten Heimath einen überaus scharfen Instinct voraussetzen läßt, selbst dann noch, wenn die Tauben vorher, wie natürlich, von 4 oder 6 successive entfernter liegenden Städten aufgeworfen worden waren, wie etwa von Lüttich, Brüssel, Valenciennes, Paris und Bordeaux.

Zur Beruhigung für die schönen und theilnehmenden Leserinnen sei übrigens die Mittheilung hinzugefügt, daß zwar die Schwungfedern der Flügel durch das oft wiederholte Annähen der Depeschen, wobei die Federn einmal durchstochen werden müssen, mit der Zeit sehr beschädigt und zerstochen aussehen; diese Operation hat aber durchaus nichts Schmerzliches für die Thiere, indem sie natürlich in den Federn in Ermangelung von Nerven keine Empfindung haben. Den Schaden selbst bessert die gütige Natur wieder aus, indem sie ihren kleinen Geschöpfen alljährlich einen neuen Anzug verehrt.




Zum deutschen Bundesschießen in Frankfurt a. M. Immer näher und näher rücken die Tage des vom 13–18. Juli in Frankfurt abzuhaltenden ersten deutschen Bundesschießens heran. Während Frankfurt selbst im großartigsten Maßstabe rüstet, um seine Gäste würdig zu empfangen, beschäftigt sich die ganze deutsche Presse schon seit längerer Zeit mit dem nationalen Feste, freilich in sehr verschiedener Tendenz, theils um es zu unterstützen und auf seine Bedeutung hinzuweisen, theils um es zu verkleinern oder gar zu verdächtigen. Die Einen wollen eine geschickt in Scene gesetzte große Demonstration des Nationalvereins, die Andern gar einen Zusammenfluß der revolutionären Elemente Europa’s darin erblicken und befürchten bei dieser Gelegenheit nichts Geringeres, als einen unglücklichen Putsch mit Barrikaden, Bürgerblut, rothen Blousen u. s. w. Leider hat eben im Augenblicke, wo wir dies schreiben (zu Ende Mai), ein unliebsamer Zwischenfall diesen Hetzereien von verschiedener Seite neue Nahrung gegeben. Obgleich nämlich das Fest kein internationales, sondern ein rein deutsches ist, so können doch nach § 40 der Bundessatzungen nichtdeutsche Schützen als Gäste theilnehmen. Dieser Bestimmung gemäß hatte das Centralcomité auf eine Anfrage mailändischer Schützen wegen Betheiligung am Feste dieselben in einem Schreiben willkommen geheißen. Kaum war dieser Umstand bekannt geworden, als ihn sofort eine Anzahl süddeutscher Zeitungen zu erwünschten Hetzereien und Verdächtigungen ausbeutete und die bairischen und österreichischen Schützen von dem Besuch des „Garibaldianer-Festes in Frankfurt“ abzuhalten suchte. Ein dahin abzielender Beschluß von Seiten der Haupt-Schützengesellschaft in München stand wirklich in Aussicht, als man noch rechtzeitig von Seiten des Gesammtcomité’s in Frankfurt eine Vermittelung anbahnte, die zu gutem Resultate geführt und es verhütet hat, daß das Fest der Eintracht zu einem Zankapfel erneuerter Zwietracht werde.

Bei diesem Stande der Dinge und den ängstlichen Gemüthern und Schwarzsehern oder absichtlichen Entstellern des Festes gegenüber dürfte ein Rückblick auf die Entstehung und den Zweck des deutschen Schützenbundes am Platze und für die Leser der Gartenlaube von Interesse sein.

Die erste Anregung zur Gründung einen deutschen Schützenbundes ging auf dem Coburger Turnfeste im Jahre 1860 von Dr. J. B. v. Schweitzer aus Frankfurt a. M. aus, welcher auch gegenwärtig als überaus thätiges Mitglied des Centralcomité’s und als Chef des seit einigen Wochen eröffneten ständigen Bureau’s für die laufenden Arbeiten bei der Organisation und Leitung des Festes eine wesentliche Rolle spielt. Schon dieser Umstand dürfte die Behauptung, daß das Fest ein nationalvereinslerisches und kein nationales aller Parteien werde, zur Genüge widerlegen, denn Schweitzer, eine in der letzten Zeit viel genannte und als Vorsteher eines Turnvereins und des Arbeiterbildungsvereins, sowie als Verfasser mehrerer politischer Broschüren (deren letzte „Zur deutschen Frage“ in Berlin confiscirt wurde) und des social-philosophischen Werkes „Der Zeitgeist und das Christenthum“ vielfach angefeindete Persönlichkeit, steht ganz entschieden nicht auf dem Boden des Nationalvereins, sondern er ist [399] übrigens sehr befähigter und geistvoller Vertreter der streng-demokratischen Partei. Daß aber auch sein Einfluß nicht der maßgebende werde, dafür bürgt außer der Organisation der Geschäfte selber der weitere Umstand, daß in demselben Centralcomité, dessen Vorsitzender, Dr. S. Müller, ein Mitglied des Nationalvereins ist, sowie weiter in dem Gesammtcomité alle politischen Parteistellungen vertreten sind, ohne daß sich eine derselben bisher über Gebühr und zum Schaden der nationalen Sache hervorgedrängt hätte. Nach der ersten Anregung in Coburg nun ward die Idee des Schützenbundes im Jahre 1861 aus dem Schützenfeste in Gotha wieder aufgenommen. Hier wurden die Schützenvereine von Gotha, Frankfurt a. M. und Bremen mit der Gründung eines allgemeinen deutschen Schützenbundes beauftragt. Drei Abgeordnete aus jeder dieser drei Städte constituirten sich zuerst in Bremen als Ausschuß und vereinbarten die Grundzüge des Bundes, woraus sie später in Braunschweig die Satzungen desselben und die Fest- und Schießordnung feststellten und den schweizer Ordonnanzstutzen für die gemeinsame deutsche Schützenwaffe erklärten. Aus diesen in Braunschweig vereinbarten Satzungen heben wir die Hauptparagraphen nachstehend heraus.

§. 1. Der Zweck des deutschen Schützenbundes ist die Verbrüderung aller deutschen Schützen, Vervollkommnung in der Kunst des Büchsenschießens und Hebung der Wehrfähigkeit des deutschen Volkes. §. 2. Zur Förderung des Bundeszweckes findet alle zwei Jahre während der Monate Juli oder August ein allgemeines deutsches Schützenfest statt. §. 3. Mitglied des deutschen Schützenbundes kann sein jeder Deutsche, welcher im Vollgenuß der staatsbürgerlichen und Ehrenrechte seines Heimathlandes und Mitglied eines deutschen Schützen- oder Wehrvereins ist. §. 5. Jedes Mitglied zahlt einen jährlichen Beitrag von 10 Silbergroschen an die Bundescasse. §. 8. Die Organe des Bundes sind a) der Gesammtausschuß, b) der Vorort. §. 9. Dem Gesammtausschuß steht die gesetzgebende, dem Vorort die ausführende Gewalt im Bunde zu. §. 10. Der Gesammtausschuß wird von den Bundesmitgliedern gewählt. Je 100 Bundesmitglieder wählen ein Bundesmitglied zum Mitglied des Gesammtausschusses. §. 13. Der Vorort wird von dem Gesammtausschuß gewählt, §. 14. Wählbar zum Vorort ist jede deutsche Stadt, welche sich zur Abhaltung des nächsten deutschen Schützenfestes erbietet und genügende Sicherheit für dessen Abhaltung gewährt, §. 15. Die Mitglieder des deutschen Schützenbundes, welche am Vorort wohnen, wählen einen Vorstand, der aus neun Bundesmitgliedern besteht.

Dies sind die wesentlichsten allgemeineren Punkte der Satzungen. Die Gründer des Bundes hoffen durch diese Organisation den mit dem Schützenwesen zusammenhängenden Bestrebungen überhaupt einen Mittelpunkt zu schaffen, sodann auch die einzelnen Vereine zu heben und manchen alten Schlendrian auf den Schießplätzen derselben abzuschaffen und die Einheit der Waffe und des Kalibers zu erzielen. Der moralische Einfluß, den alle diese Bestrebungen auf den Einheitsdrang der Nation auszuüben berufen sind, ist unverkennbar. Wir können darum nur wiederholt den Wunsch äußern, daß die junge Schöpfung der Eintracht nicht durch kleinlichen Hader schon im Keime erstickt werden möge, uns zum Verderben und den Fremden, die auf unsere Einheitsbestrebungen geringschätzig herabsehen, zum Nutzen.

Wir fügen diesen Mittheilungen noch einige Notizen über den gegenwärtigen Stand des Unternehmens bei. Während vor den Thoren Frankfurts auf einem dazu sehr geeigneten großen Feld- und Wiesenraume, der sogen. Bornheimer Haide, sich eine kleine Stadt aus Backsteinen und Bretern erhebt, welche die Schießhalle, die Festhalle, den Gabentempel, die verschiedenen Bureaux, Küche, Keller, zahlreiche Verkaufsbuden und Wirthschaftsstände in sich schließen wird, sind in der Stadt selber nicht weniger als 200 Personen mit den directen Vorbereitungen zum Feste beschäftigt. Diese 200 Personen vertheilen sich in 10 Comités, deren jedes eine bestimmte Function hat und die von Zeit zu Zeit sich zu einer Gesammtcomitésitzung vereinigen, um sich gegenseitig Bericht über den Fortgang der Arbeiten zu erstatten und Fragen von allgemeinem Interesse zu besprechen. Die oberste Leitung des Ganzen hat das aus 8 Personen bestehende Centralcomité, dem sich ein Schießcomité, ein Festcomité, ein Wohnungscomité, ein Ordnungscomité, ein Preßcomité, ein Baucomité, ein Wirthschaftscomité, ein Empfangscomité und ein Finanzcomité anschließen. So complicirt diese Einrichtung auf den ersten Blick erscheinen möchte, so erweist sie sich doch in Anbetracht der großen Dimensionen, in denen das Fest angelegt ist, als praktisch und nöthig, denn jedes der einzelnen Comités hat mit der Lösung der ihm anvertrauten Ausgabe hinreichend zu thun.

Der eigentliche, 480,000 ◻' große Festplatz – außer diesem wird noch ein zweiter, Jedermann zugänglicher, größerer für die Volksbelustigungen hergerichtet – wird mit einer Holzwand eingefaßt und ist außer den Schützen dem Publicum und gegen ein Eintrittsgeld geöffnet, das theils zur Deckung der ganz außerordentlichen Kosten, theils zur Vermeidung eines das Schießen selbst erschwerenden übermäßigen Andranges Schaulustiger erhoben wird. Dieser innere Festplatz enthält: die Schießhalle mit hundert Ständen (1170’ lang, 50’ breit), den Gabentempel (64’ hoch), dessen Spitze die Figur der Germania ziert, die Festhalle (400’ lang, 100’ breit), welche wie ein Garten mit Grün, Fontainen u. s. w. angelegt wird und eine freie Aussicht über den ganzen Festplatz gewährt, ferner ein Post- und Telegraphenbureau, eine Badeanstalt, eine Bierhalle, – kurzum, alle diejenigen Einrichtungen, welche es dem Festtheilnehmer ermöglichen, den ganzen Tag auf den Festplätzen zu verweilen und daselbst für alle seine Bedürfnisse bequem sorgen zu können. Außer der Zeit der gemeinschaftlichen Mittagstafel wird in der Festhalle den ganzen Tag Restauration gehalten, und ein Jeder findet daselbst das, was er sucht, – vom billigen Tischwein oder „Schützenwein“, von dem 60,000 Flaschen vorräthig sind, bis zum feinsten Rheinwein oder Champagner. Die Leitung der Wirthschaft liegt in den Händen der in Massenbewirthung durch mehrjährige Leitung der Restaurationen bei den eidgenössischen Bundesschießen geübten schweizerischen Festwirthe Hafner und Guggenbühl. Jeden Abend nach beendigtem Schießen werden mehrere Musikcorps auf beiden Festplätzen spielen, Gesangvereine Lieder vortragen, Feuerwerke abgebrannt werden, ein Reitercircus seine Vorstellungen geben u. s. w., mit einem Worte Alles geschehen, was zur Erheiterung und Unterhaltung der Schützen und der in großer Masse zu erwartenden Gäste von nah und fern beitragen kann.

Einen Begriff von den enormen Summen, welche die Stadt Frankfurt für dieses Fest aufwendet, kann man sich machen, wenn man erfährt, daß für die Bauten allein nicht weniger als 130,000 fl. verausgabt werden. Rechnet man hierzu die Kosten für Festpreise von Seiten des Comité’s mit 10,000 fl., die Entschädigungen für Quartiere derjenigen Schützen, die nicht bei den Bürgern untergebracht werden, die Ausgaben für den Festzug, die Decorationen, Musik, Feuerwerk und die andern auf das Fest Bezug habenden Angelegenheiten, so beläuft sich die Gesammtsumme der nur von Seiten des Comité’s für das Fest zu verausgabenden Gelder auf fast 200,000 fl., wovon 102,000 fl. durch freiwillige Zeichnungen von Seiten der Bürgerschaft gedeckt sind.

Was die Ehrengaben betrifft, so giebt das Festcomité 300 silberne Becher à 30 fl.; die Stadt Frankfurt einen silbernen Pokal mit eigens hierzu geprägten Münzen, 1000 Festthalern, sowie 5000 fl. als Beitrag zu den Unkosten; der Nationalverein 1000 fl.; der Schützenverein zu Frankfurt 1000 fl.; der „Liederkranz“ von Frankfurt einen Pokal im Werth von 600 fl.; die verbündeten Frankfurter Männergesangvereine einen Preis von 600 fl.; die Bierbrauerinnung einen Preis von 500 fl.; die Frankfurter Schützengesellschaft eine Gabe im Werth von 300 fl.; eine Anzahl ungenannter Frankfurter einen Preis von 2000 fl. Die von Frankfurt allein ausgesetzten Preise beliefen sich bis Ende Mai auf 15,000 fl. Aber auch von außerhalb werden täglich mehr oder minder bedeutende Preise angemeldet, so von den in Rotterdam und Amsterdam lebenden Deutschen zwei Gaben, jede im Werthe von 600–800 fl., eine gleiche von München, aus der Schweiz prachtvolle Büchsen mit Zubehör, meist 300–500 fl. werth, der vielen silbernen Gefäße, der Fässer voll edlen Rheinweins u. s. w. nicht zu gedenken. Man darf als gewiß annehmen, daß ungefähr 500 Ehrenpreise eingesandt und zwischen 3000–4000 Schützen an dem Feste theilnehmen werden.




Neuestes Reisehandbuch für die Schweiz. Das Reisepublicum machen wir auf ein neues „Reisehandbuch für die Schweiz“ aufmerksam, das soeben im Bibliographischen Institut erschienen ist. Es ist von H. A. Berlepsch, der durch seine ausgezeichneten Schriften und namentlich durch sein Werk: „die Alpen in Natur- und Lebensbildern“ schon längst sich einen Namen erworben hat und auch die Leser der Gartenlaube durch so manchen vortrefflichen Aufsatz über Natur und Leben der Schweiz sich zum Danke verpflichtet hat. – Das gegenwärtige Reisehandbuch ist eine neue vollständige Umarbeitung der früheren Reisebücher des Verfassers, nach dem Routensysteme; es enthält 20 Bogen mit zwölf Specialkarten, sechzehn Ansichten, sieben Stahlstich-Panoramen (Rigi, Faulhorn, Aeggischhorn, Torrenthorn, Bella Tola, Pilatus, Riffelgrat) und fünf Städtepläne (Zürich, Bern, Basel, Genf, Mailand). Den anderen Reisehandbüchern für die Schweiz gegenüber zeichnet es sich besonders dadurch aus, daß es namentlich für Fußtouren in den Gebirgen specieller, genauer und zuverlässiger orientirt, daß es Notizen für den botanisirenden Dilettanten enthält und interessante, gedrängte Charakteristiken der einzelnen Cantone von Land und Leuten, Leben und Verkehr bringt, Besonderheiten hervorhebt, Eigenthümlichkeiten schildert. Wenn dagegen der Verfasser die Reisenden mit dem gewöhnlichen unbedeutenden, meist aus allem Zusammenhange herausgerissenen historischen Apparat anderer Reisehandbücher nicht belästigt, so bringt er doch alles übrige dem Reisenden nothwendige, nützliche und bequeme Material in Beziehung auf Entfernungen, Posten, Eisenbahnen, Gasthöfe u. s. w., in einer Vollständigkeit, Genauigkeit und Richtigkeit, wie sie von einem Schriftsteller zu erwarten sind, der seit vierzehn Jahren in der Schweiz lebt, überall selbst war, mit hellen Augen zu sehen gewohnt und in seiner Kritik unbestechlich ist. Das Handbuch kann auf das Angelegentlichste empfohlen werden und wird neben dem Baedeker’schen Rothen Buche sicher viele Käufer finden.




Aus dem Leben eines trefflichen Fürsten. Einer der ausgezeichnetsten Fürsten seiner Zeit, nicht blos durch Regententugenden, sondern auch durch tiefe Gelehrsamkeit, war der Herzog Ernst II. von Gotha-Altenburg, geb. 1745, der Urgroßvater des jetzt regierenden Herzogs Ernst II. von Coburg-Gotha mütterlicher Seits. Diese großen Eigenschaften waren die Früchte der Erziehung, durch seine hochbegabte, freiheitliebende Mutter Louise Dorothee, die mit den ausgezeichnetsten Männern damaliger Zeit, wie mit Friedrich dem Großen, Voltaire, Baron von Grimm, J. J. Rousseau und Anderen, in vertraulichem Briefwechsel stand, und des Unterrichts vortrefflicher Lehrer, wie des berühmten Lichtenberg in den Naturwissenschaften. Seine fürstlichen Erlasse gaben sowohl seinen festen Willen als auch seine weise Umsicht und vor Allem seine strenge Erfüllung der Regentenpflichten kund. Für seine Menschenfreundlichkeit spricht die Schonung seiner Landeskinder bei Stellung seines Contingentes zur Reichsarmee, ohne seine Pflicht als Reichsfürst zu verletzen, indem er, um Menschen zu schonen, statt Infanterie lieber Cavallerie stellte, weil nach dem Reichsfuß für 3 Mann zu Fuß einer zu Pferd gerechnet wurde. Durch seine wissenschaftlichen Studien in Physik, Astronomie, Geographie und Geschichte und seine Liebe zur Kunst stand er mit den bedeutendsten Gelehrten, z. B. dem damals berühmtesten französischen Astronomen Lalande, mit Goethe und Anderen, in häufigem Briefwechsel. Er sprach neben lebenden Sprachen das Lateinische gut, und im Griechischen, das man ihn in seiner Jugend nicht gelehrt hatte, versuchte er sich noch als Mann. – Ein Feind alles äußeren Gepränges war er schlicht und sparsam, nicht blos um die durch den Druck des siebenjährigen Krieges [400] und den Hofstaat seiner Eltern erschöpfte Staatscasse wieder zu füllen, sondern auch um desto freigebiger zweckmäßige Anstalten, die er in’s Leben rief, und Wissenschaft und Kunst unterstützen zu können. – Kein engherziger Aristokrat, war er hochbegeistert für die Freiheitsidee des nordamerikanischen Freistaates und schenkte auch der französischen Revolution die regste Theilnahme. Als diese aber in blutgierige Zügellosigkeit ausgeartet war, mißfielen ihm auf’s Höchste die Lobredner derselben in den Abendcirkeln seiner Gemahlin, die darin nur die gerechte Strafe für die übermüthigen Großen erblickte, die – wie sie sich ausdrückte – nichts gelernt hätten. Als die Gräuel der Anarchie eine nicht zu berechnende Ausdehnung anzunehmen drohten, wurde er von solcher Besorgniß für das längere Bestehen der oberen Stände erfüllt, daß er im Stillen auf seine fürstliche Würde so gut wie verzichtete, was er seinem zweiten Sohn, dem Prinzen Friedrich, damals (1793) Obersten des gothaischen Regiments in holländischen Diensten, in folgendem denkwürdigem Briefe ausdrückte. Gerade jetzt wird dieses Schriftstück Manchem lesenswerth erscheinen, da es außergewöhnliche Ansichten enthält.

„… O mein Kind! wir leben in schlimmen Zeiten und sehen einer unerwarteten Zukunft entgegen, deren Folgen und Endschaft Niemand zu bestimmen im Stande ist. Bedenke dies, mein lieber Sohn, und folgere die Lehren daraus, die ich Dir gegeben habe. Alles, ja Alles will unserem Stande zu Leibe, will ihn verdrängen und vernichten. An ihm selbst würde nach meinem Gefühle eben nicht sehr Vieles verloren gehen; dies giebt wohl ein Jeder zu; allein hiermit ist noch nicht Alles gethan, sondern die Ordnung der Dinge, die nun einmal in der Welt stattfindet, geht zu Grunde, die gesellschaftliche Verbindung löst sich auf, eine allgemeine Anarchie und Verwirrung der Gesinnungen und Leidenschaften muß jene Stelle in der Zukunft vertreten. Daraus folgt natürlich, daß alle Diejenigen, welche bisher zu irgend einem Stande erzogen worden sind, nicht mehr zu demselben taugen werden; daß Vermögensumstände, wo solche noch zu retten sind, nicht mehr in dem Maße werden angewendet werden können, wozu man solche anzuwenden gewohnt war; ja, daß die mehrsten Güter dieser Erde verloren gehen werden, und daß Diejenigen, die jetzt darauf rechnen, in der Folge sich in ihrer Rechnung gewaltig irren und verrechnen werden. Du siehst leichtlich ein, mein guter Fritz, daß Dir’s nicht besser als anderen ehrlichen Leuten gehen wird, und daß Du bei Zeiten Dich darauf vorbereiten mußt, um nicht, wenn das Schicksal auch uns, Dich und mich, trifft, in der Verlegenheit Dich zu befinden, einmal betteln zu gehen. Noch bist Du jung genug, etwas Ernsthaftes zu erlernen, was es auch sei, um einmal Dein Brod zu verdienen und der dann noch übrigen menschlichen Gesellschaft nicht zur unnützen Last zu sein. Bedenke dies, mein guter Fritz, und bedenke es ernstlich wie ein Mann. Etwas mußt Du doch anfangen, um Dir nicht selbst zur Last zu bleiben. Ich für mein Theil, ich bin ganz gefaßt. Kann ich nicht mit dem Kopfe arbeiten, so habe ich von Gott Gesundheit, Hände und Muth als Gnadengeschenk erhalten, so daß ich hoffen darf, nicht für Hunger zu sterben; aber Du und Dein Bruder,[4] Ihr macht mir Sorgen und Kummer. Ich bitte Dich, fange an, ernstlich über die Zukunft nachzudenken und irgend einen vernünftigen Plan zu entwerfen, was Du dermaleinst anfangen willst, wenn ich Dich nicht mehr zu unterstützen im Stande sein werde. Du hast mir Dein Bildniß überschicken wollen, mein guter Fritz, es soll mir herzlich lieb sein, und ich danke Dir auch aufrichtigst dafür; aber schicke mir Deinen festen ernsten Entschluß, ein Mann – ein deutscher Mann zu werden, damit wirst Du mich noch weit mehr verbinden; denn Du wirst mir die Sorge erleichtern, die mir Dein künftiges Schicksal macht. Nur werde bestimmt Etwas, damit Du Dich nicht vor Dir selber zu schämen brauchst. Nun leb’ wohl! behalte mich lieb! und sei von meiner treuen Zärtlichkeit überzeugt! Ich habe Dir vielleicht unangenehme Dinge gesagt: mög’s sein, wenn Du nur noch ein brauchbarer Mensch wirst, der nur zu Etwas nütze ist. Aber mein Ernst, mein voller Ernst ist es; denn die Zeiten werden immer verworrener und am Ende kommt das Auswandern gar an uns selbst … Ernst.“

C. P.



Von Max Wirth’s deutscher Geschichte ist im Laufe des verflossenen Winters der Schluß des ersten Bandes erschienen, welcher die Periode der Bildung der germanischen Staaten abschließt und an und für sich als ein selbstständiges Ganze zu betrachten ist. Wenn der Verfasser uns auch ganz außer Stande zu sein scheint, die Versprechungen des Verlags hinsichtlich der kurzen Frist des Erscheinens des ganzen Werkes, welches nunmehr von 3 auf 4 Bände ausgedehnt wird, ohne Erhöhung des Preises (von 6 Thlr.) zu erfüllen, weil der Verfasser fast wider Willen durch die Natur des Gegenstandes in tiefes Quellenstudium versenkt worden ist, so hat er doch in Beziehung auf den Inhalt redlich Wort gehalten. Seine Methode ist wirklich eine neue und kann mit Recht eine volkswirthschaftlich-pragmatische genannt werden. Dem Leser wird so wohl dabei, daß er zuversichtlicher in die Zukunft schaut, weil er aus den Beweisführungen des Verfassers, der alle Begebenheiten auf ihre innersten Ursachen zurückführt, sich die Ueberzeugung schafft, daß die Geschichte kein Werk des Zufalls ist, daß der Einzelwille nur da mächtig, und öfter verderblich als segensreich, durchgreift, wo das Volk roh und ungebildet oder an Geist, Körper und Muth entartet geworden ist; daß der Fortschritt der Cultur und die wahre Macht der Staaten von der wachsenden Vernunft und Kraft des Volkes abhängt. Der Verfasser hat uns Wort gehalten, indem er die Resultate der gelehrten Forschungen der letzten 20 Jahre in seinem Werk wiederzugeben und der wirthschaftlichen Thätigkeit des Volkes mehr als bisher Aufmerksamkeit zu scheinen versprach. Die ganze zweite Hälfte des ersten Bandes ist daher mit einer Fülle neuer Anschauungen und Schilderungen des inneren Lebens der Germanen in Hinsicht auf sämmtliche Gebiete der wirthschaftlichen und geistigen Thätigkeit des Volkes bereichert, welche man im Kreise des größeren Publicums noch gar nicht gekannt hat; das Land, seine Beschaffenheit und seine Bewohner, Gewicht, Geld, Maß, Preise, Landwirthschaft, Transportwesen, Handel, Gewerbe, Genossenschaftswesen, Capital, Stände, Verfassung, Rechtspflege, Wehrwesen, Finanzen, Literatur und Kunst, Religion, Armenwesen, Kleidung, Nahrung und Sitten sind mit Hülfe der neuesten Forschungsresultate wie noch in keinem anderen Werke vollständig in ihrem Zustande in der ältesten Zeit durch genaue Erforschung der Quellen mittelst der volkswirtschaftlichen Kritik dargestellt, so daß der Leser ein ganz neues, aber zugleich, was die Hauptsache ist, ein in möglichster Annäherung wahres Bild der ältesten Zustände erhält, die noch viel mehr, als man anzunehmen pflegt, in die Gegenwart hinein greifen, wie aus dem vorliegenden Bande zu ersehen ist. Wir schließen mit dem Wunsche und der Aufforderung, daß der Verfasser sich in der Vollendung seiner Arbeit durch kein anderes Motiv als die völlige Ergründung der Wahrheit in den Quellen leiten lassen und, so sehr die baldige Vollendung des Werkes wünschenswerth sein mag, die Gründlichkeit desselben dem letzteren Motiv nicht unterordnen möge.

Potsdam, im Juni 1862.
Schulze-Delitzsch.




Kleiner Briefkasten.

Fr. M. in Frankfurt a. M. Ihre Nachricht, daß das „Freie deutsche Hochstift“ dahin strebe, daß Ludwig Köhler’s „Dithmarsen“ beim großen deutschen Schützenfeste als Feststück zur Aufführung gebracht werde, hat uns sehr gefreut. Möge der gute Gedanke siegen; nur bei solchen Gelegenheiten kann der wirkliche Wille und wirkliche Geschmack des so viel geschmähten deutschen Theaterpublicums gegen die sonst allzu souverainen Dircetionen entscheidend hervortreten.

S. R. in D. Sie haben ganz Recht, die Portraits Serre’s und Hertel’s sind wirklich nicht aus dem xylographischen Atelier der Gartenlaube hervorgegangen, sondern uns von befreundeter Hand geliefert worden. Zeichnung und Schnitt der Gartenlaube-Portraits zeichnen sich stets durch vortreffliche Ausführung und Aehnlichkeit vor vielen andern aus.

A. v. S. in Hannover. Unter Chiffre werden von der Post keine Packete befördert. Wir bitten daher um Mittheilung Ihrer vollständigen Adresse, um das empfangene Manuscript, für welches wir keine Verwendung haben, zurücksenden zu können.

v. K. in Königsberg. Es fehlt uns zur Aufnahme Ihrer Gedichte an Raum. Wollen Sie dieselben zurück haben, so müssen wir um Mittheilung Ihrer Adresse bitten.



Für Wilhelm Bauer’s „Deutsches Taucherwerk“

sind ferner (bis zum 7. Juni) eingegangen: 5 Thlr. von der Gesellschaft „Lantane“ zu Buchholz, durch A. Fischer; 12 Thlr. als erste Sendung, ges. auf dem Rathskeller und dem Berge, sowie unter den Turnern zu Löbau; 3 Thlr. von einigen Postbeamten zu Riesa; 2 Thlr. vom Turnverein und 4 Thlr. 25 Ngr. von mehreren Lesern der Gartenlaube zu Zeulenroda, durch Cantor Fr. Solle; 4 Thlr. von der Familie Wintgens in Moers; 1 Thlr. von einem „Gutheil!“; 1 Thlr. von E., 1 Thlr. von G., 1 Thlr. von W. und 9 Thlr. 71/2 Ngr. von Mitgliedern des Turnvereins und Turnfreunden bei der Einweihung des neuen Turnlocals zu Vegesack, durch die Redaction der Vegesacker Wochenschrift; 1 Thlr. „Bauer baue – und vertraue – Deines Genius hehrer Kraft! etc. In der Tiefe – gern noch schliefe – was dem Licht sich scheu entzieht; – doch gehoben – werd’ nach oben – von einigen Mitgliedern der Gesellschaft „Erholung“ in Reichenbach, durch A. Hameyer; 1 Thlr. von Jacob B., Liqueurfabrikant zu Osterberg bei Memmingen; 4 Thlr. gesammelt von Schülern zweiter Classe der Annenrealschule zu Dresden; 5 Thlr. von dem Gewerbeverein zu Weißenfels durch Lehrer Felß; 6 Thlr. 15 Ngr. von Lesern der Gartenlaube zu Merseburg, durch Friedrich Stollberg; 525 Thlr. von dem Comité zur Unterstützung der Erfindung W. Bauer’s zu Stettin, durch Theod. Hellm. Schroeder daselbst.



Nicht zu übersehen!

Mit nächster Nummer schließt das zweite Quartal, und ersuchen wir die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das dritte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.

Leipzig, im Juni 1862

Ernst Keil

  1. Schleswig-Holsteinische Briefe von Moritz Busch. Bd. II. S. 65.
  2. So wörtlich in der Preußisch-ministeriellen Denkschrift.
  3. Schleswig-Holsteinsche Briefe von M. Busch. Bd. I, S. 125 und 126. Verlag von Gustav Mayer in Leipzig. 1856.
  4. August wurde der Nachfolger seines Vaters und Friedrich IV. der seines Bruders.