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Die Gartenlaube (1864)/Heft 22

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1864
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[337]

No. 22.   1864.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.




Der Heimathschein.
Erzählung von Fr. Gerstäcker.
(Schluß.)


8.0 Wie die Kirmeßbauern ihr Recht ausüben.

Und das ging jetzt lustig da oben zu, denn ein solches Musikcorps war noch nicht im Orte gewesen, so lange Dreiberg stand. Das schmetterte durch den Saal, daß die Tanzlust sich aller Gäste bemächtigte. Die ersten drei „Reihen“, wie man es dort nennt, gehörten aber wiederum den Platzpaaren, die damit gewissermaßen die Kirmeß eröffneten; aber als die erst getanzt waren, hatte Jeder freien Zutritt, d. h. er mußte sich vorher bei den Platzburschen um fünf Groschen ein Band lösen, das er dann, wie eine Eintrittsmarke, im Knopfloch trug. Das berechtigte ihn zu freiem Tanz und freiem Bier bis zum Abendbrod.

Nach den drei ersten „Reihen“ oder Tänzen hatten die Platzjungfern, für die ganze Kirmeßzeit, das Recht, sich ihre Tänzer selber auszusuchen, wenn sie eben Extratouren tanzen wollten. Nur der Platzbursche, der sich die Maid gewählt, konnte einspringen, wenn er wollte, und einen Tanz verlangen – und das verstand sich auch von selbst und war ganz in der Ordnung.

Hans tanzte aber vor der Hand nur die ersten Reihen mit Lieschen, denn als erster Platzbursche bekam er zu viel zu thun, um neu Hinzukommende, die sich dem Tanz anschließen wollten, mit Bändern zu versehen, und Lieschen hatte sich nach ihm Herrn von Secklaub, der sich auch ein Band gelöst, ausgesucht, und zwar für zwei Tänze hintereinander. Dann forderte sie die beiden anderen Platzburschen auf, und darauf wieder Herrn von Secklaub. Aber auch aus der Stadt waren ein paar Bekannte herausgekommen, denen sie diese Gunst gewährte, und sie versäumte keinen einzigen Reihen bis zum Abendbrod.

Katharine hielt sich mehr zurück, obgleich sie es auch nicht gut vermeiden konnte, den und jenen aufzufordern. Mit den anderen Platzburschen mußte sie natürlich auch tanzen, und Hans, der heut ganz wild und ausgelassen war, schwang sich mit ihr lustig im Kreise.

„Mach’ kein so traurig Gesicht, Kathrin,“ sagte er dabei zu seiner Tänzerin, „die Leute glauben Dir’s ja sonst gar nicht, daß Du fidel bist, und warum sollten wir heute nicht Alle fidel sein, es ist ja Kirmeß!“

„Ich bin ja lustig, Hans,“ sagte sie leise, ganz glücklich jetzt. „Hab’ ich denn wirklich so ernst ausgesehen?“

„Wie der Herr Pfarrer auf der Kanzel,“ lachte der junge Bursche, „aber sieh nur, wie der Mosje da drüben, der mit von Wetzlau gekommen ist, die langen Beine herumwirft. Er will uns hier auf dem Dorfe zeigen, wie man tanzen muß, aber wir wollen einmal sehen, ob er aushält, wenn’s erst einmal in die dritte Nacht hinein geht. Da wird er wohl auf dem Rücken liegen und alle Viere strecken. Das weiß der liebe Gott, die Stadtleute haben gar kein Mark in den Knochen.“

„Wie hübsch Lieschen tanzt!“ sagte Katharine.

„Ja,“ meinte Hans, „aber man sieht’s gar nicht vor den langen Kleidern. Ich weiß nicht, die Stadtmoden gefallen mir doch lange nicht so gut, wie unsere Tracht, Du siehst viel hübscher aus, Kathrine, mit Deinen kurzen Röcken.“

Katharine war blutroth geworden, doch der Tanz war gerade aus und Hans wurde zu einer neuen Bändervertheilung abgerufen, da er vor dem Abendbrod dies Geschäft übernommen hatte, und bis um neun Uhr, wo es zum Essen ging, kam er nur noch ein einziges Mal zum Tanzen, dann wurde er ja aber auch von seinem Amt abgelöst und konnte sich ganz seinem Vergnügen überlassen.

Natürlich führte jeder Bursche sein Mädchen zu Tische, und die Platzpaare saßen obenan, Hans mit Lieschen in der Mitte, und die anderen Beiden rechts und links, und wenn auch eben nicht viel gegessen ward, getrunken wurde desto mehr. Der Tisch brach aber trotzdem fast unter den verschiedenen Speisen, und Kalbsbraten, Schweinebraten, Truthahn, Gans, Enten, Hühner und Schinken deckten mit einer Menge von Zuspeisen und süßen und sauren Sachen die Tafel wirklich von einem Ende bis zum anderen. Der Bauer, so mäßig er sonst lebt, hält etwas darauf, daß bei solchen Gelegenheiten die Speisen gut und hauptsächlich in Masse dasein müssen. Und hier war es noch besondere Ehrensache, daß es auf ihrer Kirmeß an nichts fehle, damit die Burschen, die von anderen Dörfern herüber gekommen waren, sich nicht am Ende später über die Festgeber lustig machten.

Es war das überhaupt eine eigene Sache mit dem Besuch von anderen Dörfern, und dieser, wenn auch gestattet, doch immer nur mehr geduldet, als gern gesehen. Mit dem größten Vergnügen konnten die Burschen kommen, mit trinken und mit tanzen, aber sie durften kein Mädchen „aus unserem Dorfe“ besonders auszeichnen, oder gar Abends heimführen wollen. Nachher gab es böses Blut. Die Burschen wurden dann, zwar nicht gerade von den Platzburschen, aber von den Uebrigen, geneckt und gehänselt. Man spielte ihnen jeden Schabernack, den man nur gelegentlich anbringen konnte, und setzten sie sich zur Wehr oder nahmen sie nicht Alles gutmüthig hin, dann kam es auch wohl zu Thätlichkeiten und der Tanzboden verwandelte sich plötzlich aus einem Lust- in einen [338] Kampfplatz. Es geschah aber doch verhältnißmäßig selten, denn die fremden Burschen wußten schon, wie sie sich zu benehmen hatten, und die „hiesigen“ hielten ebenfalls soviel als möglich mit solchen „letzten Hülfen“ zurück, weil sie ja doch auch manchmal die Nachbardörfer besuchten, wo ihnen alsdann hätte Aehnliches widerfahren können.

Vor Tische fiel überhaupt nie eine derartige Scene vor, und der erste Tag verging fast jedes Mal in Ruhe und Frieden.

So auch hier. Heute tanzte das junge Volk bis zwei Uhr des andern Morgens. Jeder im Ort wohnende Tänzer geleitete dann sein Mädchen heim, und am andern Morgen fing die Musik schon wieder um zehn Uhr an zu spielen. Auch an diesem Tage fiel nichts Bemerkenswerthes vor, und Jeder stimmte damit überein, daß eine so prachtvolle und reiche Kirmeß noch gar nicht in Dreiberg gefeiert worden wäre und eine so friedliche ebenfalls nicht.

Am dritten Tage kam, etwa um drei Uhr Nachmittags, Herr von Secklaub wieder nach Dreiberg, der in der That einen Zwischentag gebraucht hatte, um sich ordentlich auszuruhen, und die Burschen zischelten und lachten über ihn, als er den Saal betrat. Er ließ sich aber dadurch wenig stören, und Lieschen entschädigte ihn auch bald dafür, da sie ihn, von ihrem Rechte Gebrauch machend, gleich zu dem nächsten Tanz abholte.

Mit Dunkelwerden hatte Katharinens Tänzer, der Soldat gewesen war und in der Stadt eine Menge neue Tänze gelernt zu haben schien, von denen man auf dem Lande eben keinen Gebrauch machte, eine Française oder einen Contre-Tanz vorgeschlagen. Erst wollten die Mädchen nicht darauf eingehen, zuletzt aber, unter Kichern und Lachen, stellten sie sich an, die drei Platzpaare und noch ein anderes, und der arme Teufel, der den Tanz vorgeschlagen, bereute es bald bitter, denn sie machten ihm das Leben dabei sauer genug. Die Mädchen begriffen trotzdem ziemlich rasch, wie sie sich dabei zu verhalten hätten, und, von Lieschen unterstützt, ging es schon gar nicht so schlecht. Die Burschen ließen sich aber desto ungeschickter an, und Hans besonders konnte das Ding nicht in den Kopf oder vielmehr in die Füße kriegen.

Herr von Secklaub, der zum vierten Paar gehörte, war dagegen in diesem Tanze vollkommen zu Hause, und daß er sich so geschickt dabei benahm und Hans so hölzern, ärgerte diesen ganz besonders. Das dauerte aber nicht lange. Hans sowohl, wie die andern Platzbursche, bekamen das „Durcheinanderdrehen“ bald satt. Mitten drin ließen sie abbrechen, und wieder wirbelten die Paare in einem rasenden Rutscher dahin und umeinander herum.

Jetzt wurde zum Essen trompetet und Lieschen stand einen Augenblick allein, da Hans nach dem anderen Ende des Saales gerufen wurde, wo ein Streit entstanden war, ob ein Fremder sein Band gelöst habe oder nicht. Secklaub, der den letzten Tanz frei geblieben, trat auf Lieschen zu und bot ihr seinen Arm, um sie zu Tische zu führen.

„Ich weiß nicht, ob ich darf,“ flüsterte sie, „Hans könnte es übelnehmen.“

„Aber wenn er Sie so vernachlässigt, mein Fräulein,“ sagte der junge Mann, „so darf er sich doch darüber nicht beklagen. Kommen Sie, ich will Sie ja nur begleiten und stehe dann gern von näheren Anrechten zurück.“ Er ließ auch keinen Widerspruch zu, zog Lieschens Arm in den seinen und führte sie zu Tische.

„Na?“ sagte Katharinens Platzbursche, den Fremden erstaunt ansehend, als dieser mit seiner Dame an den oberen Theil des Tisches trat, „blöde sind Sie gerade nicht. Ist das etwa der Stellvertreter für den Bräutigam, Jungfer Braut?“

Lieschen wurde feuerroth, ehe sich aber Secklaub zurückziehen konnte, stand Hans neben ihm und seinen Arm ergreifend, daß die blauen Flecke daran noch nach acht Tagen sichtbar blieben, sagte er eben nicht höflich: „Will der Herr wohl so gut sein und die Hand davon lassen? Das ist meine Platzjungfer, und die hat Niemand anders zu Tisch zu führen, als ich selber!“

„Hans, fang’ keinen Streit an,“ bat Katharine leise flüsternd, indem sie seinen Arm ergriff. „Er hat es ja nicht so bös gemeint. Er weiß ja nicht, was hier Sitte ist.“

„Sie entschuldigen,“ sagte Secklaub, dem es nicht unangenehm war, daß ihn Hans wieder losließ, „ich wußte nicht, daß ich dabei einen Eingriff in Ihre Rechte beging, aber Fräulein Erlau –“

„Komm, Lieschen,“ sagte Hans, vor den Fremden tretend und ihm den Rücken kehrend, während er seine Braut auf ihren Stuhl niederzog, „setz’ Dich und mach’ Dir’s bequem. Und nun wollen wir einmal tüchtig einhauen, denn ich bin nicht schlecht hungrig geworden.“ Den Stadtherrn beachtete er gar nicht mehr, und Herr von Secklaub zog sich, eben nicht erfreut von der Behandlung, an das andere Ende der Tafel zurück. Mit den Bauerburschen konnte er doch nicht gut Streit anfangen.

Um halb elf Uhr begann der Tanz von Neuem, und es wurden jetzt blaue Bänder ausgegeben. Vor Tische waren wieder rothe getragen worden. Katharinens Platzbursche hatte die Vertheilung derselben. Das ging auch rasch und ohne Schwierigkeit vor sich, und das junge Volk warf sich der Lust wieder mit solchem Eifer in die Arme, als ob das der erste Abend gewesen wäre und sie nicht schon zwei halbe Nächte durchtanzt hätten.

„Hallo, Freund,“ begann Katharinens Tänzer, der mit seiner Sparbüchse in der Hand durch die Reihen schritt und jetzt damit, dicht vor Herrn von Secklaub, klapperte. „Ihr habt noch Euer Band von vor Tisch ein, bitt’ um die fünf Groschen, hier ist ein anderes.“

„Bitte um Verzeihung,“ sagte Secklaub, indem er in die Westentasche griff und sein blaues Band herausholte und vorzeigte, „ich habe es mir eben von Ihnen selbst eingelöst und trage nur das rothe, weil es mir besser gefällt.“

„So? na, das ist Geschmacksache,“ sagte der Bursche, „aber wenn Sie hier mittanzen wollen, müssen Sie das blaue tragen, wie’s meine Platzjungfer trägt, nicht dem Hans seine, verstehen Sie mich? oder ich komme wieder mit der Büchse,“ und damit wandte er sich lachend ab, und Herr von Secklaub knüpfte das blaue Band zu dem rothen.

„Tanz’ nicht mehr mit dem Herrn mit dem Schnurrbart!“ flüsterte Katharine leise dem Lieschen zu.

„Und warum nicht?“ frug diese rasch und etwas heftig zurück.

„Die anderen Burschen haben schon darüber gesprochen,“ warnte sie das junge Mädchen. „Sie haben auch heut Abend ’was im Kopf, und es könnt’ sonst Streit geben. Es wär’ besser, wenn er ganz wegginge.“

„Sie dürfen ihm nichts thun,“ sagte aber Lieschen trotzig, „er ist Gast hier in Dreiberg und hat seine Musik bezahlt, so gut wie die Andern, auch noch Niemanden beleidigt, und der Hans ist doch schon vorhin recht grob mit ihm gewesen.“

„Sei dem Hans nicht böse drüber, Lieschen,“ bat Katharine gutmüthig, „Du weißt, daß die Platzburschen ihre Rechte haben und sich nicht gern ’was davon nehmen lassen. Es kostet ihnen ja auch viel Geld. Uebrigens war’s gewiß nicht so bös gemeint, Hans ist nun einmal so gradhin.“

„Er hätte mehr Lebensart haben sollen,“ zürnte Lieschen noch immer. „Uebrigens hab’ ich als Platzjungfer auch meine Rechte und kann tanzen, mit wem ich will.“

„Das kannst Du ja, Lieschen,“ beschwichtigte sie das junge Mädchen, „aber thu’s mir zu Liebe nicht mehr heut’ Abend mit dem fremden Herrn. Es läuft wahrhaftig nicht gut ab.“

„Unsere Kirmeß!“ jubelte da mit einem hellen Jauchzer Katharinens Tänzer dicht neben ihnen, umschlang das junge Mädchen und wirbelte mit ihm zum Tanze fort; Lieschen aber, durch die Warnung nur noch mehr gereizt, ging geraden Weges auf den etwas abseits stehenden Secklaub zu, bot ihm die Hand und trat in die Reihe ein.

„Du, Hans,“ sagte da einer der Dreiberger Burschen, indem er ihn auf die Schulter klopfte, „wer ist denn hier eigentlich Platzbursch’, Du oder der da?“ und damit zeigte er auf den gerade vorbeitanzenden Secklaub; „einen Strauß trägt er auch schon im Knopfloch.“

„Ach, laß ihn,“ sagte Hans, indem er dem Paare mit einem finsteren Blick folgte, „was weiß der Laffe von unseren Gebräuchen hier!“

„Ei zum Henker,“ rief ein Anderer, der daneben stand, „dann muß man ihn gescheidt machen. Von meinem Mädchen wollte er vorher einen Kuß haben, die hat ihn aber schön ablaufen lassen. Das weiß ich, wenn er mir so in die Quere käme, ich wollt’ ihm bald zeigen, wo der Zimmermann das Loch gelassen hat.“

Hans, obgleich er ein bischen viel getrunken, wollte doch nicht gern Streit anfangen. Das Necken der Cameraden war ihm aber doch nicht recht, und als der Erste jetzt sogar wieder spöttisch meinte, das Heimführen würde der ihm wohl auch ersparen, da er die Jungfer gewiß gleich heute Abend nach Wetzlau hinüberbrächte, [339] stieg ihm das Blut in den Kopf. Noch ein paar Minuten blieb er mit verschränkten Armen stehen, dann aber, als er sah, wie der Fremde seinem Mädchen eine Menge Sachen in’s Ohr flüsterte, schritt er plötzlich ruhig, aber entschlossen zwischen den Tanzenden durch, gerade auf das Paar zu, und Lieschen an der Hand nehmend, zog er sie mit sich fort und sagte: „Komm, Jungfer, Du hast jetzt genug mit dem Herrn da getanzt.“

„Aber, Hans!“ rief Lieschen erschreckt und zugleich beleidigt, denn die Mädchen in der Nachbarschaft lachten.

„Entschuldigen Sie,“ rief aber auch Herr von Secklaub, „die Dame hat, so viel ich weiß, das Recht –“

„Hier sind keine Damen,“ trat ihm ein anderer Bursche, der schon darauf gewartet hatte, gerade vor das Gesicht, „das da ist dem Hans seine Platzjungfer – verstanden?“

„Mit Ihnen habe ich gar nichts zu schaffen,“ sagte der junge Mann und wollte ihn bei Seite schieben. Das war gefehlt.

„Na, das auch noch?“ rief der junge kräftige Bursche und warf Secklaub’s Arm zurück, daß dieser gegen einen der Cameraden anflog.

„Oho!“ schrie dieser, indem er den Städter augenblicklich beim Kragen faßte, denn fast die sämmtlichen Burschen hatten viel weniger auf eine Ursache, als einen Anfang gewartet, „wissen Sie nicht, wie man sich zu benehmen hat? Treppe frei!“

„Treppe frei! Treppe frei!“ schrie die jubelnde Schaar. Herr von Secklaub wollte sich zur Wehr setzen, allein, lieber Gott, in den Händen der Burschen war er wie ein kleines Kind, und während die Uebrigen lachend und schreiend beiseite wichen, wurde der arme Teufel ohne Weiteres mehr zur Treppe getragen, als geführt und dort mit einem „Kopf weg, da unten!“ hinabgesandt. Er polterte auch die ziemlich steilen Stufen bis unten hin, raffte sich dann auf und schien einen Augenblick nicht übel Lust zu haben, in voller Wuth wieder nach oben zu stürmen. Das aber wäre blanker Wahnsinn gewesen, denn wenn er sich auch kräftig genug fühlte, einem Einzelnen Stand zu halten, hätte er dort oben den ganzen Schwarm gegen sich gehabt. So war er denn, mit zerrissenem Rock und ohne Hut, genöthigt, sein Pferd zu bestellen, das ihm der Hausknecht bald brachte. Uebrigens nicht gewillt, im bloßen Kopf heimzureiten, nahm er unten im Haus die erste beste Kopfbedeckung, von denen dort überall genug an den Nägeln hingen, stülpte sie auf und galoppirte kaum eine Viertelstunde später, eben nicht besonders gut gelaunt, in die dunkle Nacht hinein nach Wetzlau hinüber.




9. Weshalb man nie eine Gartenthür offen lassen soll.

Die Kirmeß war vorbei, und am Freitag Morgen geleitete Hans seine Braut wieder, mit der vollen Musik, nach Wetzlau hinüber. Am nächsten Sonntag zur Nachkirmeß war aber Lieschen unwohl geworden und konnte nicht nach Dreiberg kommen. Sie hatte spät am Sonnabend Abend noch einen Boten hinüber gesandt, damit die Musik nicht umsonst käme, um sie abzuholen.

Hans fühlte sich unbehaglich darüber, denn er wußte recht gut, daß ihn die Dreiberger Burschen auslachen würden, wenn ihn seine Platzjungfer im Stich ließ. Und war sie auch so ernstlich krank? – das wäre ja noch viel schlimmer gewesen. Am Ende war sie nur ein wenig böse auf ihn, des letzten Abends im Wirthshause wegen. Trug er denn aber die Schuld? Der Fremde hatte ja mit den anderen Burschen Streit bekommen, und er bei der ganzen Sache keine Hand angelegt, ja, dem Stadtherrn nicht einmal ein böses Wort gesagt – und was ging sie auch überhaupt der Laffe an, daß sie ihm seinetwegen böse sein konnte – und doch war sie an jenem Abend gar nicht mehr so freundlich mit ihm gewesen, wie sonst. Die Botschaft von Wetzlau aber konnte er nicht aus dem Kopf bringen und beschloß endlich am nächsten Morgen mit Tagesanbruch selber hinüber zu reiten.

Der Vater war an demselben Tage nochmals in der Stadt gewesen, und es schien fast, als ob er jetzt bald einen Heimathschein, und zwar von hier, erhalten würde. Der alte Barthold hatte nämlich, des ewigen Hin- und Herschreibens müde, drinnen erklärt, daß er seinem Sohn sein Gut in Dreiberg übergeben würde. Dadurch wurde Hans ansässig, und sie konnten ihm dann das Heimathrecht nicht länger verweigern. Der Traubenwirth hatte ihn dazu vermocht, ihm dauerte selber die Sache zu lange und er wünschte, daß die Hochzeit recht bald sein könnte, weshalb, sagte er aber dem alten Barthold nicht.

Das war doch wenigstens eine gute Nachricht, die der Hans mit hinüber nach Wetzlau nehmen konnte, und eben schaute am anderen Morgen die Sonne über die östlichen Gebirgshänge herüber, als er auf seinem Braunen in den herrlichen Herbstmorgen hineintrabte. Eigentlich war es noch ein wenig früh für einen Besuch, aber auf dem Lande wird es nicht so genau genommen, und daß Lieschen, wenn nicht ernstlich krank geworden, schon um diese Zeit auf und munter sei, wußte er außerdem.

Zu Pferd brauchte er auch nicht den nichtswürdigen Fahrweg einzuhalten, wenigstens ein kleines Stück vor Wetzlau konnte er abschneiden, wenn es auch verboten war den Pfad zu reiten, weil man damit das Chausseehaus umging. Dadurch kam er gleich hinter dem Wirthshaus in’s Dorf, und da er die Gartenpforte offen fand, ritt er hinein, hing den Zügel seines Pferdes über den Ast eines Apfelbaumes – aufhalten durfte er sich doch nicht lange, er mußte ja zurück nach Dreiberg zur Nachkirmeß – und kam durch den Hof in das Haus.

Unten traf er das Hausmädchen, das ihm aber auf seine Frage, wie es Lieschen ginge, antwortete: „Die Jungfer? o, die ist ganz wohl. Sie war vorhin unten und ist eben wieder hinaufgegangen.“

„Also nicht krank, Gott sei Dank!“ dachte Hans, als er die Treppe langsam hinanstieg, „und sollte sie mir da wirklich böse sein? ei, das will ich bald sehen, was sie für ein Gesicht macht, wenn sie mich zuerst sieht, ob sie nur so thut, oder ob sie’s wirklich ist, und nachher muß der Alte gleich einspannen und sie wieder hinüberfahren lassen. Das wäre eine schöne Nachkirmeß ohne Platzjungfer! Ein Glück nur, daß ich herübergekommen bin!“

Damit hatte er den oberen Theil der Treppe erreicht und betrat eine Art Vorsaal, der in einige Gaststuben führte, dahinter lag eine Vorrathskammer, und links ab durch den Gang kam man in Erlau’s Familienwohnung, wo Lieschens Zimmer dicht neben der Schlafkammer der Eltern lag. An der Treppe vorüber führte ein anderer Gang nach dem linken Flügel des Hauses, wo sich die gewöhnlich benutzten Gastzimmer befanden. Die an dieser Seite wurden nur in Ausnahmsfällen benutzt und standen meistens leer.

Hier blieb Hans unschlüssig stehen, denn er scheute sich nach Erlau’s Wohnzimmer hinüber zu gehen; es war ihm doch noch ein wenig zu früh, und er überlegte sich eben, daß es das Beste sei, wenn er lieber erst von unten das Hausmädchen hinaufschicke und Lieschen sagen lasse, er sei da und müsse sie einen Augenblick sprechen. Als er eben wieder umkehren wollte, hörte er drüben auf dem Gang den festen Schritt eines Mannes. Das war gewiß der Mosje mit dem Schnurrbart, der hinuntergehen wollte, dem mochte er nun gerade hier nicht begegnen, wenn er es vermeiden konnte, und eines der leeren Gastzimmer öffnend, trat er hinein und ließ die Thür angelehnt.

Der Schritt kam aber näher und mußte die Treppe längst passirt haben. Jetzt betrat er den diesseitigen Gang, es war wahrhaftig der alte Bekannte mit dem Schnurrbart; was hatte denn der auf dieser Seite des Hauses zu thun? Er konnte ihn, als er vorüberging, durch die Thürspalte deutlich erkennen, und dann blieb der Mensch auch noch gar dort stehen und ging auf dem kleinen Vorplatz auf und ab. Ob der Laffe nicht überall im Wege war!

Hans ärgerte sich, daß er in das Zimmer getreten war; wenn er es aber jetzt verließ, was mußte der Bursche dann von ihm denken, daß er sich hier versteckt gehalten? Nein, warten mußte er noch eine Weile, bis die Luft rein war. Der Mosje würde doch gewiß keine halbe Stunde dastehen bleiben.

Jetzt wurde die Gangthür geöffnet, er kannte sie am Knarren. Da kam am Ende Lieschen, und der alberne Mensch stand auf dem Vorsaal, und draußen wurde jetzt geflüstert. Hans horchte hoch auf, das konnte doch nicht Lieschen sein? gewiß eines der Dienstmädchen aus dem Hause.

Die Stimmen kamen näher, und dicht vor seiner Thür blieben die Beiden, wer es auch immer war, halten.

„O, geh fort, Otto.“ bat jetzt Lieschens Stimme – dem Hans war genau so zu Muthe, als ob ihn Jemand mit einem Messer in’s Herz gestochen hätte – „ich habe den Vater schon in seiner Kammer gehört, und wenn er Dich hier mit mir fände, wäre ich unglücklich. Er hat überdies schon Verdacht geschöpft und mir gedroht. Wenn uns nun Jemand hier zusammen sähe!“

„Aber, liebes, herziges Kind,“ bat des Fremden Stimme, „ich muß heute in die Stadt, und werde unter vierzehn Tagen nicht [340] zurückkommen. Ich konnte doch nicht fortgehen, ohne Abschied von Dir zu nehmen.“

„Und Du mußt fort?“

„Würde ich gehen, wenn ich nicht müßte? Ach, Lieschen, jetzt fühl ich es erst, wie lieb ich Dich habe, und daß ich nicht ohne Dich leben kann. O mein Gott, wie soll das später werden?“

„Ich weiß es nicht,“ seufzte das Mädchen, „aber der Vater gäbe seine Einwilligung nie zu unserer Verbindung, und ich bin jetzt unglücklich für meine ganze Lebenszeit.“

„So bist Du mir wirklich gut?“

„Von ganzer Seele.“

Die Thür, vor der sie standen und sich umfaßt hielten, öffnete sich plötzlich und Hans trat heraus. Er sah leichenblaß aus und schritt, ohne ein Wort zu sagen, langsam und den Blick stier auf Herrn von Secklaub geheftet, auf diesen zu.

„Hans!“ stöhnte Lieschen emporschreckend, – er sah sie gar nicht – er wußte wahrscheinlich selber nicht genau, was er that, und streckte nur langsam den Arm nach seinem Nebenbuhler aus. Dieser wich scheu einen Schritt zurück, denn der Blick des jungen Mannes kündete nichts Gutes.

„Hans!“ rief nochmals Lieschen und warf sich ihm erschreckt entgegen, „was willst Du thun?“

Die Berührung des Mädchens schien ihn sich selber wiederzugeben. Er sah seine Braut starr an, machte sich dann von ihr los, drehte sich ab und stieg, ohne auch nur ein Wort zu sagen, die Treppe wieder hinab. Aber er that das, wie ohne eigenen Willen, als ob er von einer Maschine getrieben würde.

„Haben Sie die Jungfer gefunden?“ frug ihn das Hausmädchen unten.

Er nickte nur mit dem Kopfe, schritt durch den Hof und den Garten, machte das Pferd los, stieg wieder auf, und sprengte wenige Minuten später in gestrecktem Galopp in der Richtung nach Dreiberg fort.

Eine Stunde später, und kaum noch einen Büchsenschuß von Dreiberg entfernt, fanden drei junge Bauern, die hinüber zur Nachkirmeß wollten, den Dreiberger Platzburschen besinnungslos auf dem Wege liegen. Er mußte jedenfalls mit dem Pferd gestürzt sein, das noch, etwa hundert Schritt von ihm entfernt, auf einer Kleestoppel weidete, und hatte sich den Kopf an den scharfen Steinen blutig geschlagen.

Die Burschen hatten aber Verstand genug, ihn nicht in solchem Zustande in seiner Eltern Haus zu tragen; die Mutter hätte den Tod vor Schreck davon haben können. Einer von ihnen holte deshalb das Pferd, setzte sich auf und sprengte voraus, um es dem alten Barthold zu melden, und die andern Beiden nahmen den Bewußtlosen in die Arme und trugen ihn dem Dorfe zu.

Eine halbe Stunde darauf lag Hans entkleidet, aber immer noch ohne Besinnung, in seinem Bett, während der Dorfchirurg seine Wunden – er hatte eine an der Stirn und eine über dem linken Schlaf – untersuchte und verband, und um das Bett standen in sprachlosem Jammer Vater und Mutter und die arme Katharine.

Das war eine recht gestörte Nachkirmeß heute in Dreiberg, denn es fehlte dabei ein Platzbursche und zwei Platzjungfern – aber getanzt wurde doch, das Fest mußte ja natürlich abgehalten werden, und wer fehlte, wurde eben durch Andere ersetzt. Was hätte eine Kirmeß in ihrem Gange auch aufhalten können?




10. Im Bett.

Und wie traurig ging es indessen im Hause des alten Barthold zu, denn mit Hans wurde es nicht besser, und als er am zweiten, dritten, ja selbst am vierten Tag noch immer nicht zur Besinnung kam, da war es der Mutter, als ob sie sich selber mit in’s Grab legen müsse, wenn sie sehen sollte, wie sie den einzigen Sohn hinaustrügen, auf Nimmerwiederkehr.

Auch der Vater ging wie gebrochen umher; der alte Mann schien in den wenigen Tagen um doppelt die Anzahl von Jahren älter geworden zu sein. Er sprach fast mit Niemandem, und die Knechte hatten noch nie mit einem solchen Eifer ihre Arbeit gethan und nach ihrer Pflicht gesehen, wie in diesen Tagen, denn es war ihnen gar so unheimlich, daß der alte Mann nicht manchmal mit einem, aber immer gut gemeinten Donnerwetter dazwischen fuhr und ihnen auf die Finger sah. Die Einzige, die noch die Arbeit im Hause besorgte, war Katharine; aber wo sie sich eine Minute an ihrer Zeit abmüßigen konnte, saß sie oben am Bett des Kranken und strickte, und wenn sie Niemand sah – denn sie wollte die Eltern nicht noch trauriger machen – fielen ihr die großen schweren Thränen auf ihre Arbeit nieder.

So war der vierte Nachmittag gekommen. Der Vater hatte die ganze Nacht bei dem kranken Sohn gewacht, die Mutter war dann den ganzen Morgen oben bei ihm gewesen, und jetzt hatte Katharine bei ihm die Wacht. Die Arme hatte wieder eine Weile gestrickt, dann ließ sie die Arbeit in den Schooß sinken, und ihr Blick haftete an den todtbleichen Zügen des Kranken, bis sich endlich von den vielen herausstürzenden Thränen ihr die Augen verdunkelten. Da aber hielt sie sich nicht länger; am Bett fiel sie nieder auf die Kniee, drückte ihre heiße Stirn gegen das Unterbett und rief mit halblauter, von Schmerz und Jammer fast erdrückter Stimme: „O, laß ihn leben, lieber Gott, laß ihn leben! sei barmherzig und nimm ihn nicht seinen armen Eltern, die den Jammer ja nicht ertragen könnten. Wenn aber eines sterben muß, o Du barmherziger Gott, so laß mich es sein. Wie gern, wie gern sterb ich für ihn, und besser, viel besser wäre es ja auch, Du nähmst mich fort, ich werde ja doch mein ganzes Leben elend und verlassen sein.“ Und halb an dem Bett niedersinkend, daß sie sich nur noch mit den Händen hielt, schluchzte sie, als ob ihr das Herz brechen müsse.

Während sie betete, hatte der Kranke auf dem Lager langsam die Augen geöffnet und erstaunt aufgesehen. Jetzt schloß er sie wieder; die Betende lag aber noch lange neben dem Bett zusammengebrochen und erhob sich erst, als sie draußen Schritte hörte. Es war der Vater, der in’s Zimmer kam, um nach seinem Sohn zu sehen.

Nur einen Blick warf er nach dem Kranken, seufzte tief auf und wandte sich dann gegen das Mädchen, dem noch die hellen Thränen über die Wangen liefen.

„Arme Katharine,“ sagte er herzlich, umfaßte sie und küßte ihre Stirn, „thut Dir’s denn auch so weh, daß wir den Jungen verlieren sollen? Aber härme Dich nicht so ab, Kind, Du wirst uns ja sonst selber krank. Wir stehen Alle in Gottes Hand, Herz. Er hat ihn uns gegeben; will er ihn wieder nehmen – sein Name sei gelobt.“

Katharine legte sich jetzt an die Brust des Alten, und ihr Schmerz löste sich allmählich in lindernde Thränen auf.

„Geh’ jetzt, Schatz,“ sagte der Vater leise und richtete sie auf, „die Mutter hat nach Dir verlangt. Ich bleibe bei dem Jungen. Der Chirurg muß auch bald wieder kommen. Sowie er da ist, schick’ ihn mir augenblicklich herauf, hörst Du?“

„Ja, Vater,“ sagte Katharine, die sich gewaltsam zusammennahm, „ich geh’ schon, nur frische Umschläge möcht’ ich ihm noch geben, daß es ihm die Wunden wieder ein Bischen kühlt.“

Der Vater nickte still und langsam vor sich hin, und setzte sich dann auf den Stuhl, zu Füßen des Bettes, während Katharine mit vorsichtiger Hand die kalten Umschläge erneuerte und dann leise, als ob sie einen Schlafenden zu stören fürchte, das Zimmer verließ.

Der Vater saß, nachdem die Katharine schon lange hinausgegangen, noch immer so, den Blick auf das bleiche, kalte Antlitz des Sohnes geheftet. Endlich stützte er auf dem Lehnstuhl den Kopf in die rechte Hand und schaute stier und lautlos viele, viele Minuten lang vor sich nieder.

„Vater,“ sagte da eine leise Stimme, und wie von einem Schuß getroffen, sprang der alte Mann empor.

„Vater!“ Hans sah ihn aus den eingefallenen Augenhöhlen groß an, er lebte. Der Verwundete war zum Bewußtsein zurückgekehrt.

„Junge, Junge!“ rief der Alte, und was der Schmerz und Jammer um den Todtgeglaubten nicht vermocht, das erzwang die Freude. Am Bette stürzte er nieder und des Sohnes Hand mit Küssen bedeckend, weinte er wie ein Kind.

Aber nicht lange konnte der starke Mann von solchem Gefühl bewältigt werden, und mit dem Bewußtsein – der Arzt hatte ihn besonders davor gewarnt – den Erwachten nicht zu sehr aufregen zu dürfen, sagte er, mit vor innerer Bewegung fast erstickter Stimme, indem er die Hand des Kranken drückte und streichelte: „Hans, lebst Du wieder, o, das ist brav! das ist brav! Aber lieg’ still, mein Junge, rühre und rege Dich nicht. Der Doctor wird gleich da sein, und ich muß jetzt hinunter und es der Mutter [341] sagen – und der Kathrine – ich bin gleich wieder da, lieg’ nur noch einen Augenblick still, mein Hans, nur einen Augenblick.“

Der alte Mann wußte selber kaum, was er that. Die Glieder flogen ihm wie in Fieberfrost, und vor Freude bebend – er fand kaum die Thürklinke: eilte er hinaus, um der Mutter die Botschaft zu bringen – „Dein Sohn lebt!“

Wie wär’ es möglich den Jubel zu beschreiben, der jetzt das Haus erfüllte, denn der Chirurg hatte ihnen schon gesagt, wenn Hans wieder zum Bewußtsein käme, dann brauchten sie für sein Leben nicht mehr zu fürchten; nur ruhig müßten sie ihn halten. Das wollten sie auch, aber sehen mußten sie ihn erst einmal, nur einen einzigen kleinen Augenblick, und leise, selbst auf den Zehen, schlichen die Mutter und Katharine in die Kammer hinein. Als sie aber dem Blick des Sohnes und Bruders begegneten, der ihnen freundlich zulächelte, da konnten sie sich nicht mehr halten und thaten wie der Vater. Sie stürzten an sein Bett, und bedeckten seine Hand mit Küssen und Thränen. Aber der Alte stand jetzt Wacht.

Beefsteak-Lieferung für das österreichische Armeecorps in Jütland.
Friedliche Erinnerung aus kriegerischen Tagen.
Nach der Natur gezeichnet von Otto Günther.

„Hinaus mit Euch!“ rief er in gutmüthigem Zorn, „wollt Ihr den Jungen rebellisch machen, daß er mir wieder ohnmächtig wird? Fort und hinunter, bis der Doctor kommt, ich bleibe so lange bei ihm auf Posten.“ Und Mutter und Katharine, die wohl wußten, daß der Vater Recht hatte, rissen sich von dem Wiedergeschenkten los, nickten ihm noch in seliger Freude zu und verließen jetzt das Zimmer, um sich unten in ihrer Stube recht von Herzen auszuweinen – doch es waren Freudenthränen.

„Aber Vater,“ sagte Hans mit wohl noch sehr matter, indeß vollkommen deutlicher Stimme, „weshalb treibst Du die Mutter und die – die Kathrine hinaus? es fehlt mir ja Nichts mehr, und – ist denn die Kathrine heute nicht zur Kirmeß gegangen?“

„Fehlt Dir Nichts mehr? – so?“ sagte der Vater, indem er ihn kopfschüttelnd betrachtete, „und heute zur Kirmeß? Weißt Du denn, welchen Tag wir heute schreiben, und wie lange Du dagelegen hast?“

„Nun? ist’s nicht Sonntag? aber wie bin ich denn eigentlich hier in’s Bett gekommen? was ist denn vorgefallen?“

„Heute Sonntag? Mittwoch ist heute und noch dazu Mittwoch Abend und der vierte Tag, daß Du hier liegst und keinen Bissen Essen, keinen Tropfen Wasser über die Lippen gebracht hast!“

„Mittwoch? aber wie ist das möglich?“

„Bist Du am Sonntag nicht mit dem Pferd gestürzt? Der Braune hatte ja doch die Spuren am Körper.“

„Mit dem Pferd gestürzt? – ja!“ sagte Hans da plötzlich, und sein Antlitz, das sich beim Reden etwas gefärbt hatte, wurde wieder leichenblaß, „als ich von Wetzlau herüberkam. Der Braune stolperte auf dem schlechten Weg – ich glaube er stürzte auch – aber weiter weiß ich mich auf Nichts zu besinnen.“

„Ja, weil sie Dich nachher für todt hier in’s Haus trugen. Und was für Sorge haben wir um Dich gehabt, die Mutter und die Kathrine und Deine Braut!“

„Meine Braut?“ sagte der Hans leise.

„Nun gewiß,“ sagte der Alte. „Wir mußten ihr doch natürlich gleich die Botschaft hinüberschicken, und als sie am Montag selber mit dem Traubenwirth oben war und Dich hier auf dem [342] Bett wie todt liegen sah, hat sie geweint, als ob ihr das Herz brechen müßte. Jetzt ist sie selber krank und liegt im Bett, aber alle Tage hat sie herübergeschickt, um fragen zu lassen, wie es Dir geht; manchmal zwei Mal an einem Tag. Es soll mir auch gleich ein Bote nach Wetzlau, daß sie sich mit uns freuen können.“

Hans sank wieder auf sein Kopfkissen zurück und schloß die Augen. Der Kopf that ihm noch weh und das Besinnen that ihm auch weh, und doch hätte er in dem Augenblick Gott weiß was darum gegeben, wenn er gewußt hätte, was jetzt wirklich geschehen sei und was er nur geträumt habe. Wie ihm das Alles so wild und toll in seiner Erinnerung durcheinander schwamm – er konnte die einzelnen, verworrenen Bilder gar nicht von einander trennen.

„Hans,“ rief der Vater ängstlich, „bist Du wieder krank?“

„Nein, Vater,“ sagte der junge Bursche leise, ohne aber die Augen noch zu öffnen, „der Kopf schwindelt mir nur. Laßt mich einmal einen Augenblick ausruhen; es wird gleich wieder besser werden.“

Hans hatte auch nicht zu viel versprochen. Eine solche Natur, wie er, kann wohl einmal geworfen werden, aber sie arbeitet sich auch wieder kräftig nach oben, und Träume und Phantasien können nie lange Gewalt über sie haben. Doch die Augen durfte er nicht dazu geschlossen halten; er mußte sehen, was um ihn her vorging, und wie er wieder in das ängstlich besorgte Gesicht des Vaters schaute, kam ihm die Erinnerung an das Vergangene – an das wirklich Geschehene, klar und deutlich zurück.

„Wo ist die Kathrine, Vater?“ sagte er leise.

„Die Kathrine? unten bei der Mutter. Laß die Frauen nur noch eine Weile gehen, denn die machen Dich sonst nur noch unruhiger, als Du schon bist. Aber ich hab’ Dir auch eine gute Kunde zu melden, Hans – eine recht gute Kunde.“

„Eine gute Kunde?“

„Dein Heimathschein ist angekommen. Jetzt ist’s auf einmal schnell gegangen. Aber nun mach’ auch, daß Du wieder auf die Füße kommst. Ich hab Dir das ganze Gut verschrieben, und da mußten sie ihn Dir wohl geben, denn Du bist ja jetzt Landeigenthümer geworden und kannst nun heirathen, wann Du willst. Aber nach Gotha werden wir doch noch müssen, denn die Herren Geistlichen sind zäh und wollen nicht nachgeben.“

„Wo ist denn die Kathrine, Vater?“

„Aber was hast Du nur mit der Kathrine? unten, ich hab’ Dir’s ja schon vorher gesagt, bei der Mutter.“

Wieder schloß Hans die Augen und schien jetzt wirklich müde geworden zu sein, denn als ihn der Vater wieder anredete, bewegte er nur leise die Hand und öffnete die Augen nicht. Da er aber ruhig und regelmäßig athmete, war der Alte vernünftig genug, ihn nicht weiter zu stören, und zwei volle Stunden blieb er so liegen, während die Frauen ein paar Mal leise das Zimmer betraten, aber immer wieder auf den Zehen hinausschlichen, sobald sie den Schlaf des Kranken bemerkten.

Gegen Abend kam der Chirurg, und als Hans die fremde Stimme hörte, öffnete er die Augen. Er hatte wirklich geschlafen und fühlte sich dadurch merklich gestärkt.

Der Chirurg war außerordentlich zufrieden; der Puls ging ruhig, die Kopfwunden waren nur noch wenig entzündet. Wundfieber hatte er gar nicht gehabt, und mit einiger Ruhe hoffte jener ihn in ein paar Tagen wieder auf den Füßen zu haben.

„In ein paar Tagen?“ lächelte Hans, „ich stehe morgen auf, Doctor, die Schrammen am Kopf heilen auch so.“

„Und fallen mir nachher wieder um,“ sagte der Chirurg.

„Denke nicht daran,“ meinte Hans.

„Nur nicht zu früh,“ warnte der Doctor, als er das Haus verließ, „daß wir keinen Rückfall kriegen.“

Mutter und Katharine durften jetzt bei ihm bleiben, und als das junge Märchen wieder zu seinem Bett trat, nahm er ihre Hand, drückte sie leise und sah ihr so lange in die guten blauen Augen, bis sie den Blick vor ihm zu Boden schlug. Aber eine große Veränderung zum Besseren war mit ihm vorgegangen. Er schien die anfängliche Schwäche schon fast abgeschüttelt zu haben, und die Mutter war ganz glücklich, als sie sah, wie aufmerksam er ihr zuhörte, als sie ihm Alles erzählte, was indessen in Dreiberg vorgegangen, seit er dagelegen, wenn er auch Katharine immer dabei anschaute.

„Vater,“ fragte Hans, nachdem die Frauen zur Bereitung des Abendbrods hinuntergegangen waren und er eine Weile schweigend in seinem Bett gelegen, „habt Ihr nach Wetzlau hinübergeschickt?“

„Ei gewiß,“ lautete die Antwort, „der Bote ist auch schon zurück. Er hat aber die Liese nicht selber gesprochen, doch ist sie wieder auf und gesund. Sie lassen Dich Alle herzlich grüßen und Dir Glück wünschen.“

„Vater, ich möchte jetzt nicht gern mehr viel Zeit verlieren, bis ich meinen eigenen Heerd gründe.“

„Aber wohl und gesund mußt Du doch erst wieder sein.“

„In vierzehn Tagen werden kaum noch die Narben zu sehen sein, und so lange braucht’s ja doch zu dem Aufgebot,“ meinte Hans.

„Hm,“ sagte der Vater, „aber da kommt uns wieder die verwünschte Geschichte mit dem Consistorium dazwischen. So rasch geht die Sache nun auf keinen Fall.

„Ich hab’ mir das Alles anders überlegt, Vater,“ sagte der Hans ruhig, „wir brauchen das Consistorium gar nicht – ich heirathe die Kathrine.“

„Hans!“ rief der Vater und fuhr erschreckt von seinem Stuhl in die Höhe, denn er glaubte im ersten Augenblick, sein Hans sei durch den Sturz im Kopf verwirrt geworden, „um Gottes willen, Junge, was hast Du? was ist mit Dir? Du solltest noch nicht so viel nachdenken, Du solltest hübsch still liegen und Dich ruhig halten.“

Hans, der wohl ahnen mochte, was sein Vater fürchtete, lächelte still vor sich hin; endlich sagte er: „Die Kathrine hat mich lieb, ich weiß es. Vorhin hab’ ich’s gehört, als sie noch glaubte, ich könnte sie nicht hören, und ich bin ihr auch von Herzen gut, und sie paßt besser für mich, für uns Alle, als das Lieschen.“

„Aber der Traubenwirth hat mein Wort, das Lieschen hat Deins. Das geht im Leben nicht und brächte Schand’ auf uns Alle,“ rief jetzt der Alte, denn der Hans sprach zu vernünftig, als daß er nun nicht hätte merken können, es sei ihm Ernst.

„Wär’ Euch die Kathrine zur Schwiegertochter recht, Vater?“

„Was hilft das Fragen, Hans? zerquäl’ Dir den Kopf nicht mit derlei Dingen,“ mahnte der Vater ab, doch noch immer nicht so ganz beruhigt. Wie kam der Junge jetzt nur auf die Kathrine?

„Bitte, beantwortet mir nur die eine Frage,“ bat Hans, „wär’ Euch die Kathrine zur Schwiegertochter recht?“

„Wenn Du sie früher gewählt hättest, ich wollt’ nichts dagegen sagen,“ setzte er zögernd hinzu, „aber so –“

„Vater, wollt Ihr mich einen Augenblick ruhig anhören?“

„Du darfst nicht so viel sprechen.“

„Nur ein paar Worte, ich muß es vom Herzen haben, und Ihr müßt morgen ganz früh nach Wetzlau reiten und mit dem Traubenwirth sprechen.“

„Und was ist’s?“

Hans lag noch eine Weile still, dann erzählte er dem Vater mit kurzen, einfachen Worten die ganzen Erlebnisse, erst von dem letzten Kirmeßabend, dann von jenem Sonntag-Morgen, was er gehört und was er selber gesehen, und der Vater saß dabei und schüttelte nur unablässig mit dem Kopfe. Und dann erzählte Hans weiter, wie er wieder zur Besinnung gekommen sei und wie Katharine an seinem Bett gelegen und gebetet und was sie dabei gesagt habe. Und jetzt nickte der Alte und sagte leise: „Ob ich’s mir nicht gedacht – ob ich’s mir nicht gedacht!“

„Und soll ich das Lieschen jetzt noch heirathen, Vater? könnt’ ich’s nach dem, was vorgefallen ist, je wieder recht von Herzen lieb haben? und hat’s mir nicht damit selbst mein Wort zurückgegeben?“

Der Alte antwortete nichts, er war aufgestanden, kraute sich den Kopf und ging eine ganze Weile im Zimmer auf und ab. Endlich rief er: „Morgen früh reit’ ich zum Traubenwirth hinüber. Gern thu’ ich’s nicht, aber Recht hast Du. Wenn die Sache denn einmal so steht, mag sich das Lieschen den Stadtmenschen nehmen. In die Stadt paßt es auch besser mit den weiten Röcken, als zu uns in die engen Stuben – und die Kathrine?“

„Sagt ihr noch nichts, Vater,“ bat Hans, „ich möchte sie selber darum fragen; auch der Mutter nicht, heute Abend bin ich noch zu schwach. Das viele Reden hat mich angestrengt, vielleicht auch der Hunger; aber da kommt die Mutter mit der Suppe, die wird mir gut thun. Mir ist ordentlich zu Muthe, als ob ich in einem ganzen Jahre nichts gegessen hätte.“



[343]
11. Was Katharine dazu sagte.

Hans hatte Recht gehabt. Die vier Tage Fasten paßten nicht zu seinem Körper, und als er einen großen Teller kräftige Fleischbrühe aufgegessen, fühlte er sich besser, legte sich auf die andere Seite und schlief sanft und ruhig bis zum andern Morgen.

Nach Sonnenaufgang lugte der Vater in’s Zimmer hinein und fand den Sohn schon munter und wohl in seinem Bette aufsitzen.

„Bleibt’s beim Alten?“ frug er nur; Hans nickte, und der alte Barthold ging hinunter, setzte sich auf den Braunen und ritt hinüber nach Wetzlau. Hans aber, durch den herrlichen Schlaf neu gestärkt, ließ sich von der Mutter seine Kleider geben, die Sonntagskleider, mit denen er zuletzt drüben in der Traube gewesen war, dann setzte er sich in den Lehnstuhl. Das Ankleiden hatte ihn doch ein Bischen mitgenommen, und er sah wieder etwas blaß aus und sagte, als die Mutter bald darauf in’s Zimmer schaute und frug, ob er noch ’was brauche:

„Mutter, ich möcht’ gern einmal die Kathrine sprechen.“

„Kann ich’s nicht auch besorgen, Hans?“

„Nein, Mutter, Ihr nicht. Die Kathrine kann wohl einmal heraufkommen; die hat noch junge Beine – sie hat mir so noch nicht guten Morgen gesagt – und kann mir auch gleich den Kaffee mit herausbringen.“

Die Mutter schüttelte mit dem Kopf, that ’aber des Sohnes Willen, und eine kleine Weile später kam Katharine mit dem Verlangten, setzte das kleine Kaffeebret auf den Tisch, ging dann zu Hans, reichte ihm die Hand und sagte: „Guten Morgen, Hans; Gott sei ewig gedankt, daß Du wieder aufsitzen kannst und so gut und wohl dabei aussiehst.“

„Guten Morgen, Kathrin’,“ erwiderte Hans, ließ aber die Hand noch nicht sogleich wieder los, die sie ihm geboten, „freut’s Dich wirklich, daß ich wieder gesund bin?“

„Aber Hans, wie kannst nur so was fragen? Glaubst Du’s nicht?“

„Doch, Kathrine,“ sagte Hans, „gewiß glaub’ ich’s und gern noch obendrein.“

„Und das Lieschen wird erst eine Freud’ haben. Der Vater ist heute Morgen hinüber und bringt’s vielleicht gleich mit. Die ist gar krank geworden vor lauter Sorge, die arme Maid.“

„Meinst, Kathrine, daß sie wegen meiner krank geworden ist?“

„Aber was Du mir heut für sonderbare Fragen thust, Hans! Wegen wessen denn sonst?“

„Ja, ich weiß nicht,“ sagte Hans und schaute still und sinnend vor sich hin, er wußte aber doch, wegen wessen. Kathrine hatte indessen ihre Hand wieder frei gemacht, schenkte ihm den Kaffee ein und rückte ihm dann den kleinen Tisch zu dem Lehnstuhl, damit er die Tasse leicht erreichen konnte. Sie hätte es ihm gern noch bequemer gemacht, wenn es nur möglich gewesen wäre.

„Der Kaffee wird kalt, Hans, wenn Du nicht trinkst,“ sagte sie, „er ist ohnehin ein Bischen dünn, aber die Mutter wollte nicht, daß ich ihn Dir stark kochen sollte, weil er Dir sonst schaden könnte, wie sie meinte. Trink ihn nur wenigstens, so lang er noch heiß ist.“

Hans hörte gar nicht, was sie ihm von dem Kaffee erzählte, denn ihm gingen andere Dinge im Kopf herum.

„Heut’ in drei Wochen soll die Hochzeit sein, Kathrine,“ meinte er endlich, und sah das Mädchen fest und forschend dabei an.

„Ja, ich weiß schon,“ sagte Katharine, aber viel leiser, als sie vorher gesprochen, „das Papier ist endlich gekommen.“

„Hast Du nichts dagegen, Kathrine?“

„Ich? Aber Hans, wie Du nur heut’ bist! Was kann denn ich dagegen haben? und weshalb?“ setzte sie noch viel leiser hinzu.

„Ja, Du wärst aber doch eigentlich die Hauptperson,“ meinte Hans; „die Braut hat doch das Meiste dabei zu sagen.“

„Hans, das ist schlecht von Dir, daß Du einen solchen Scherz mit mir machst,“ sagte Katharine. Sie war leichenblaß dabei geworden und es war, als ob die blauen Augen ein paar Glasdeckel bekommen hätten, so lagen ihr zwei große schwere Thränen darin und füllten sie bis zum Rande aus.

„Und wenn’s nun kein Scherz wäre, Kathrine?“ sagte Hans und streckte die Hand nach ihr aus, wenn nun das Lieschen falsch gegen mich gewesen und der Vater heute hinübergeritten wäre, um dem Traubenwirth die Heirath aufzusagen? Wenn ich Dir nun von Herzen gut wäre, Kathrine, und gestern auch gehört hätte, was Du an meinem Bett gebetet, und keine Andere weiter auf der Welt möcht’, als Dich, und Dich von Herzen bäte, daß Du das Kind im Hause bleibe, und nur dazu noch mein Weib, mein liebes Weib werden wolltest, Kathrine?“

„Hans!“

„’s ist mein Ernst, Kathrine,“ sagte Hans treuherzig, indem er ihr nochmals die Hand entgegenstreckte. „Das Lieschen hält’s mit dem Stadtherrn. Ich hab’s selber gehört, wenn sie auch nicht wußte, daß ich dabei stand, daß sie ihn von Herzen lieb hat. Sie hat’s ihm selber gesagt und ist ihm dabei auch um den Hals gefallen. Da war’s aus mit uns Beiden, und blind und taub bin ich gewesen, daß ich nicht schon lange eingesehen habe, daß wir Zwei hier doch am besten zusammen passen. Wenn Du mich haben willst, schlag ein, Kathrine, und ich will Dir gut sein mein ganzes Leben lang.“

Und Katharine sagte gar nichts dazu, aber neben dem kranken Hans kniete sie nieder und lachte und weinte und war so glücklich, daß ihr das Herz hätte zerspringen mögen in der Brust.

Und wie der Kaffee dabei eisig kalt wurde, kam die Mutter herein und blieb vor Erstaunen auf der Schwelle stehen und schlug die Hände zusammen. Als sie aber hörte, was hier vorgefallen und wie es des Traubenwirths Tochter drüben getrieben und wie falsch sie gewesen und wie gut Hans der Katharine sei und Katharine dem Hans, da setzte sie sich mit hin und weinte und lachte, gerade wie Katharine. Und jetzt kam’s auch heraus, daß das ihr heißester Seelenwunsch gewesen und sie sich vor der Zeit eigentlich gefürchtet hätte, wo Lieschen als Schwiegertochter in das Haus gezogen wäre, eben weil sie immer so vornehm und gar nicht wie ein Bauermädchen war. Aber sie hatte trotzdem nichts sagen mögen, weil man bei solchen Dingen – worüber aber die Meinungen verschieden sind – eigentlich keinem anderen Menschen zureden müsse.

Gegen Mittag kam der Vater zurück. Drüben in Wetzlau war’s heiß hergegangen. Der Traubenwirth hatte noch von nichts gewußt, und Lieschen war vor ihm auf die Kniee gefallen und hatte ihm gestanden, daß sie den fremden Herrn liebe und daß er sie heirathen wolle. Und der Traubenwirth war außer sich gewesen und hatte seine Tochter von sich gestoßen und sie allerhand schreckliche Namen genannt, und das hatte der alle Barthold endlich nicht länger mehr mit anhören kennen und war wieder fortgeritten nach Dreiberg.

Und an dem Mittwoch über drei Wochen war wirklich Hochzeit und der katholische Pfarrer dazu aus der Stadt herausgekommen. Wie aber die beiden jungen Leute eingesegnet waren und Hans sein glückliches freudeglühendes Weibchen im Arme hielt, da meinte der alle Barthold: „Hans, erinnerst Du Dich wohl noch dran, was Du damals sagtest, als uns der Heimathschein ausblieb und Du Dich für den unglücklichsten Menschen in der Welt hieltest, weil Du das Lieschen nicht gleich Knall und Fall heirathen konntest? Ich glaube, es war: ‚ich wollte, ich wär’ todt und begraben‘ und ‚kein Mensch in der ganzen Welt hat mehr Unglück, als ich.‘ War’s nicht so?“

Hans ließ beschämt den Kopf hängen.

„Siehst Du nun,“ fuhr der Vater fort, „wie wohl und weise es der allgütige Gott da oben einrichtet, wenn wir armen Sterblichen hier unten auch manchmal nicht gleich einsehen können, wozu das oder das wohl gut sein könnte? Am Ende führt er doch immer Alles zum Besten hinaus, und wir Alle arbeiten nur in seinem Dienste und dienen nur zu seinen Werkzeugen – selbst die langsamen Behörden da drinnen in der Stadt,“ setzte er lächelnd hinzu. „Aber jetzt mag das Vergangene vergessen sein, und nun segne Euch Beide Gott und seid glücklich miteinander.“

Und Hans und Katharine waren glücklich, und die Eltern sollten nie im Leben bereuen, daß sie die kleine Waise damals an Kindesstatt angenommen und sich ein wirklich Kind daraus erzogen halten.

An dem nämlichen Abend aber, an dem Hans und Katharine mitsammen Hochzeit machten, lief des Traubenwirths Tochter mit ihrem Schatz heimlich davon, und man hat nie wieder von ihnen gehört, denn sie gingen miteinander nach Amerika. Der Traubenwirth aber überlebte die Schande nicht lange, die ihm sein Kind angethan. Er kränkelte von da an, und wie das Jahr um war, trugen sie ihn still hinaus in sein letztes Kämmerlein.



[344]
Im Hopfenparadiese.
Allen biertrinkenden Lesern und – Leserinnen der Gartenlaube gewidmet.
(Schluß.)

Wir brachen auf. Allerwärts begegneten uns die aus den Pflanzungen heimkehrenden Arbeiterinnen, manch hübsches Gesicht darunter, mit dessen tiefem Brunett das lichte Kopftuch anmuthig contrastirte, und oben im Berge meines Freundes häufte man eben die Blättersträuße zum letzten Bündel zusammen. Der abgeleerten und niedergelegten Riesenstangen waren schon ein gut Theil mehr, als heute Morgen. Mein Mentor blickte mit sichtlicher Zufriedenheit auf das vollbrachte Nachmittagswerk.

„Macht nun, daß Ihr nach Hause kommt, Ihr Leute,“ redete er freundlich die Bindenden an, „die Knödeln sind fertig, und ’s giebt noch ein paar Stunden zu blatten, wißt Ihr.“

„Ich hab’ Dir schon erzählt,“ wandte er sich an mich, während wir auf kürzerem Pfade quer durch die Anlage zum Städtchen zurückgingen, „was für eine heikle Prinzessin unsere Hopfennessel ist. Auch hinsichtlich des Bodens, auf dem sie wachsen will, macht sie gar exklusive Ansprüche; sie gedeiht nur in einem warmen lehmigen Erdreiche, das keine stauende Nässe im Untergrunde hat. Darum will ihr Anbau bis jetzt nur in verhältnißmäßig so wenigen Gegenden Deutschlands ordentlich gelingen. Im Saazer Kreise Böhmens zieht man noch immer den besten Hopfen, ihm nahe kommt der Spalter, dann unser Hersbrucker. Auch in Baden und Württemberg bauen sie neuerdings recht leidliche Quantitäten, die schon ganz respectabel mit uns concurriren; die geringsten Sorten bringt Preußisch-Polen in den Handel. Diese vielfache junge Concurrenz hat uns alten Hopfenproducenten anfangs große Besorgnisse eingeflößt; so Mancher hat bedenklich den Kopf darüber geschüttelt. Wo soll’s denn noch hin mit alle diesem Hopfen? so haben wir uns Einer den Andern gefragt; zuletzt müssen wir den Centner noch um ein paar Gulden losschlagen und froh sein, wenn wir’s nur bekommen. Doch bis jetzt sind alle unsere Aengste grundlos gewesen. Trotz der mehr als 100.000 Centner, die unser Mittelfranken allein auf den Markt sendet, und der 30.000, welche davon auf Hersbruck und Umgegend fallen, steigt die Production noch mit jedem Jahre, und die Preise haben sich wacker gehalten. Ihr sorgt ja sammt und sonders in anerkennenswerther Weise mit dafür, daß wir nicht über den Bedarf produciren. Wie Pilze schießen allerwärts die neuen Brauereien aus der Erde, nicht blos in Euerem unwirthlichen Norden, wo ehedem nur Kartoffelfusel und, für den verwöhntern Gaumen, die Kümmelbulle regierten, nein, mitten im ureigensten Gebiete des Bacchus, am Rhein und am Neckar, an der Ahr und an der Mosel.“

Wir hatten inzwischen wieder den Fuß der Anlage erreicht. Hier fielen mir die niedrigern, kaum 6–10 Fuß hohen, dünnen Stangen auf, mit den schwanken, zarten Ranken, welche sie umzogen.

„Das ist sogenannter Jungfernhopfen,“ belehrte mich mein Freund, dem mein fragender Blick nicht entgangen war. „Sieh die kleinen dürftigen Zäpfchen an! Es sind dies Pflanzen, die wir erst heuer im Frühjahr gelegt haben. Der Hopfen, den sie geben, taugt nicht viel, ‚hat keine Qualität‘, wie wir sagen, aber verkauft wird er doch; denn Alles findet eben seine Verwendung. Die Anlage solch’ einer neuen Hopfenpflanzung ist, beiläufig, kein leichtes Ding, mindestens mühsam und arbeitsvoll übergenug. Zuvörderst muß die Düngung eine sehr reichliche und gründliche sein und der Boden so tief wie möglich umgebrochen werden. Darauf gilt es, etwa alle 4–5 Fuß, Löcher zu graben, um darein die Rebenfexer zu legen, und zwar so, daß die treibenden Augen derselben in die Höhe zu stehen kommen. Dies pflegt im April zu geschehen. Nicht lange währt es, so schlägt die junge Pflanze aus und erhält nun die verhältnißmäßig kurzen und schmächtigen Stäbe, wie sie hier stehen. Wenn wir später die Ernte im Rücken haben, schneiden wir die Reben da ab, so daß höchstens noch zwei Fuß von ihnen übrig bleiben, legen die Stöcke nieder und decken sie zu, ganz wie man es mit dem Spalierwein macht. Nachdem im Frühjahr die schützende Decke beseitigt, die alten Fexer gestutzt und neu gedüngt sind, geben wir den nunmehr sprossenden Trieben die mächtigen hohen Stangen, die Du überall bemerkt hast, Pfahlkolosse, die an ihren Fußenden armsdick sind. An ihnen wird die Pflanze mit Binsen festgebunden. Hier und da hat man auch versucht, den Hopfen an Drähten in die Höhe zu ziehen, allein man ist von dieser Methode fast überall wieder abgekommen, weil meist eine totale Verwirrung und Verfilzung der Ranken ihre Folge war.“

Ganz Ohr bei dieser gründlichen Belehrung, war ich nicht gewahr worden, daß wir unsern Fuß nicht nach der Stadt zurückgelenkt hatten, sondern auf einem Nebenwege das Thal hinauf wanderten, das, noch immer weit und offen, hier von dem Gansberg und hinter diesem vom Kegel der Houbirg, dem viel besuchten Luginsland der Gegend, überragt wird. Lustig plätscherte die Pegnitz uns zur Seite und auf den kleinen Wellenkreiseln um die Kieselblöcke sprühte die untergehende Sonne ihre letzten Funken. Es war schon volle Dämmerung, als mein Freund Halt machte.

„Da,“ sagte er, „ist unser Ziel. Komm, laß uns eintreten.“

Ich konnte eben noch erkennen, daß wir vor einem kleinen ländlichen Gehöfte standen, dessen Wohnhaus sich in dichtem Rebgeblätter verbarg. Bereits waren die Läden des Erdgeschosses geschlossen, doch ein einladender Lichtschimmer drang uns durch ihre Spalten entgegen. Und noch einladender klang eine tiefe volle Frauenstimme, die eben die Schlußstrophe eines alten schönen deutschen Volksliedes sang:

Nachtigall, du thust ihn finden,
Flieg umher auf Berg und Gründen;
Schwing dich auf, Frau Nachtigall,
Grüß mein Schatz viel tausendmal!

Leise klinkte mein Begleiter die Hausthür auf, noch leiser öffnete er die Stubenthür. Ja, er hatte Recht gehabt, es war ein vollkommenes Genrebild, was ich da erschaute, dasselbe liebliche Bild, das, nach der Zeichnung eines tüchtigen Nürnberger Künstlers, meine Darstellung schmückend erläutert. Die ganze Familie war noch rüstig beisammen, in drei Generationen, von Großvater und Großmutter bis zur Enkelin und zum Kleinen in der Wiege. Was helfen konnte, half beim Blatten. Alles schnitt emsig und doch vorsichtig die Blüthendolden und füllte damit den weiten Trog, um den man sich gruppirt hatte.

Wir waren einen Augenblick an der Thür stehen geblieben, weil ich erst den ganzen Eindruck der anmuthigen Scene auf mich wirken lassen wollte, ehe ich mich mit den Einzelheiten derselben beschäftigte, und mit besonderem Interesse betrachtete ich die kleidsame Frauentracht des Thales. Doch lange konnten wir unsern Beobachtungsposten nicht behaupten. Mit einem herzlichen „Grüß Gott, Ihr Herren!“ wurden wir in’s Innere genöthigt. Der Alte rückte freundlich die Zipfelmütze und nahm die Ulmer Pfeife aus dem Munde, um meinen Freund willkommen zu heißen, und aus Ton und Art der Begrüßung ersah ich, daß dieser ein hochgehaltener Gast war von Alt und Jung im Hause. Auch mir schüttelte Alles zutraulich die Hand, und bald waren wir mitten unter den fleißigen Leuten häuslich etablirt und hörten den verständigen Reden des Alten zu, der uns viel zu erzählen wußte von „dazumal, wo sie noch Nürnbergisch waren und wie’s ihnen gar nicht in den Kopf gewollt, daß sie nun auf einmal baierisch werden sollten.“ Inzwischen war auch, mit der letzten mächtigen Blätterbürde auf dem Kopfe, der eigentliche Hausvater heimgekehrt – denn die Alten saßen bereits auf dem Leibgedinge, – ein stattlicher, kräftiger Mann. Auch er freute sich des Besuchs von Herzen; sein erster Blick aber galt doch dem Jüngsten drüben in der Wiege und der noch jungen Mutter, die, während ihre Hände rastlos schafften, mit glückstrahlendem Auge den Schlaf des kleinen Lieblings behütete.

„So, Babeli,“ sagte mein Freund, indem er von der Bank aufstand und dem erröthenden Mädchen, der Tochter des alten Auszüglers, eine dicke Hopfenguirlande um das bis auf das Mieder herabfallende Kopftuch legte, „so, die Krone ziemt der wackern Sängerin. Jetzt, Ihr Leute, b’hüt Euch Gott; aber ’s ist spät und wir müssen eilen, daß wir endlich einmal nach Hause kommen. Vergeßt nicht, daß wir nächsten Dienstag unsern ‚Niederfall‘ halten; da seid Ihr allesammt unsere Gäste, das wißt Ihr. Und wenn [345] sie dann die Hopser und die Schottischen aufspielen, da wird ’s Babeli wohl kein so ernstes Gesicht machen, wie heut, wo’s so schwermüthige Lieder singt. Ja, ja, wir haben draußen an der Thür gehorcht.“ –

Und der Sonntag kam, goldig klar, ein echtes Septemberkind, und schon in erster Morgenfrühe zogen wir mit Stock und Ranzen das anmuthige Thal hinauf nach der Nürnberger Schweiz. Draußen im Häuschen, wo wir neulich Abends eingesprochen waren zum Blatten, schlief noch Alles, auch das Babeli noch, dem wir gern unsern Morgengruß geboten hätten. Es war frisch, doch nicht kühl, so recht angenehm zum Marschiren, und so wurde uns der Aufstieg über den Gansberg zu der edelgeformten Houbirg nicht sauer, selbst meinem Freunde nicht, in dessen körperlicher Stattlichkeit seine Doppelwürde als wohlgediehener Hopfenmatador und hochmögender Hersbrucker Magistratsrath ihre Ausprägung findet. Ueber thaufeuchten Rasen ging’s in die Höhe, und bald öffnete sich dem Blick eine weite Aussicht auf die Hersbrucker Gegend. Das Städtchen kämpfte noch mit dem leicht durchsonnten Duft der Frühe, die Felsen und Höhen des obern Thales aber säumte bereits das glühendste Roth, und weit links sahen wir die dampfende Schlange des ersten Bahnzuges sich abwärts winden.

„Sieh hier,“ begann mein Gefährte, nachdem er ein paar Minuten luftschnappend gerastet hatte, „die Ueberbleibsel eines Erdwalls; wir heißen sie kurzweg die ‚Schanze‘. Die rührt noch von den Urbewohnern unseres Gaues her, behaupten die Antiquare, und mag ehedem Opferstätte und Heiligthum gewesen sein. Auch zum Begräbnißplatze hat sie gedient, denn ringsum findet man noch viele alte Grabhügel, sogenannte Hünengräber. Neulich war ich zufällig mit dabei, als solch ein Hünengrab geöffnet wurde; da kamen gar verschiedene Trümmer wunderbarer Waffen, Menschenknochen, zerbrochene Schmuckgegenstände und einige andere unbestimmbare Geräthe zum Vorschein, die auf eine fern im fernsten Mythenduft liegende Urzeit deuteten.“

Noch eine Viertelstunde tapfern Klimmens, noch einige Stoßseufzer des Magistratsrathes, und der Gipfel ist gewonnen. Inzwischen hat sich die ganze Landschaft in Sonnenlicht gebadet, nur die Kuppen der Oberpfalz, die man von hier aus überschaut, liegen in tiefem Schatten und geben dem heitern Bilde einen ernsten, stylvollen Abschluß.

Raschen Laufes schreiten wir zu dem freundlichen Flecken Happurg hinab, der sich an den jenseitigen Fuß des Berges schmiegt. Hier vor dem behaglichen Wirthshause des Benedictus Meyer hielt der Omnibus, der nach Ankunft der Bahnzüge in Hersbruck die Verbindung mit dem neuen schönen Hotel von Ruprechtsstegen vermittelt. Dies war ja auch das eigentliche Ziel unseres Ausfluges „in die Berge“, wie mein Gefährte sich stolz ausdrückte, und so ließen wir alle unsere kühnen Pläne von weiteren Fuß- und Kletterpartien schwinden und zogen die Bequemlichkeit des Vehikels vor. Mit der Bequemlichkeit freilich durfte es nicht so streng genommen werden; der Sonntag und das herrliche Herbstwetter hatten noch Andere als uns in die Romantik und nach den Forellen des Pegnitzthales gelockt, und der Omnibus war bereits ziemlich angefüllt von lustigem Nürnberger Volke, das sich in seiner „Schweiz“ einen guten Tag machen wollte.

Die Gegend hat keinen großartigen Charakter, ist wenigstens noch mehr Miniaturschweiz, als andere deutsche Hügellandschaften, denen man aus einem sehr übel angebrachten Localpatriotismus und Localenthusiasmus die Ehre der Vergleichung mit dem gewaltigen Alpenlande anthut, aber die Höhen sind malerisch geformt, die Felsen des Jurakalks oft grotesk umrissen und die Belaubung der Hänge und Gipfel thut dem Auge wohl, so daß die Fahrt, immer hart an der munter plaudernden Pegnitz hin, Wechsel und Erquickung sattsam bot. Schon frühzeitig scheint man auch die Anmuth und die Vorzüge des Thales erkannt zu haben, durch das sich die alte Straße nach Böhmen zog. Rundum auf den Büheln und Felsenkuppen hatten sich die Herren vom Stegreif ihre Raubnester aufgerichtet. Die wußten die reichen Waarenzüge, welche aus der rührigen Handels- und Gewerbstadt ostwärts geführt wurden, nach Herzenslust zu brandschatzen und warfen manchen wackern Bürger und Kaufherrn in die Nacht ihrer tiefen Verließe, bis ein hohes Lösegeld den Armen dem Tage zurückgab. Da sind denn der Fehden zwischen den Junkern und der mächtigen Reichsstadt gar häufige gewesen, bis endlich den Ersteren der Athem ausging und die Nürnberger Geschlechter sich ihre lustigen Herrensitze fast in allen unterthanen Dörfern bauten und jeder Flecken sein Schloß mit Eckthürmen und Wallgraben erhielt, zu denen das vorige Jahrhundert seine Amoretten und Wasserkünste, seine steifen Taxushecken und allongenperrückte Statuen gefügt hat. Auch später haben die Nürnberger Patricier sich manch hübsches Berg- und Waldasyl im Pegnitzthale gegründet. Eben führte uns der Weg an einem solchen vorüber; links der Straße, doch am rechten Ufer des Flusses, zeigten sich die Trümmer einer alten Ritterburg. „Das ist der Lichtenstein,“ erklärte mein Begleiter, „das Stammschloß derer von Lichtenstein, das die Bürger von Nürnberg einst gebrochen haben. Jetzt gehört es den Herren von Ebner, einer bekannten reichsstädtischen Patricierfamilie; die haben es ganz dem Style gemäß restaurirt und die Höhe mit zierlichen Garten- und Waldanlagen geschmückt.“

Und so rollten wir noch an unterschiedlichen älteren und neueren Nürnberger Herrensitzen vorüber, durch mehrere freundliche Dörfer mit stattlichen Kirchen und ansehnlichen Schlössern, und die Felspartien des Thales thürmten sich immer wundersamer und abenteuerlicher übereinander, bis bei Enzendorf ein förmlicher Strom von Steinen und größeren und kleineren Kalktrümmern die Höhen überrieselt zu haben schien. Die Sonne lag bereits drückend über dem Thale, und allerlei Ausrufe und Seufzer der Ungeduld und unruhiges Hin- und Herrücken unter unserer Wagengesellschaft kündeten die Sehnsucht, endlich an Ort und Stelle zu sein. Auch der Magistratsrath zog wiederholt seine Uhr aus der Tasche, die Mittagsstunde war nahe, und drunten im hüpfenden Bache schnellte manche Forelle so verlockend in die Höhe! Jetzt eine abermalige Wendung der Straße und ein allgemeines freudiges Ah! Da erhob sich wie ein zierliches Schlößchen mit elegantem Thurme und wehender Flagge über dem Dorfe Ruprechtstegen das neue Jegel’sche Gast- und Curhaus. Noch eine Brücke ist zu passiren, dann geht es langsam die zum Hotel führende Allee hinan, und da waren wir, und oben empfing uns der liebenswürdige gebildete Wirth, ein alter Freund meines Genossen, mit einem herzlichen Willkommen, während ein Häuflein von Sommergästen in den übrigen Ankömmlingen liebe Bekannte begrüßte und der Freude und des Jubels ob der vergnüglichen Ueberraschung kein Ende fand.

„Nun, wie behagt Dir’s hier?“ frug mich der Freund, als wir auf der Veranda des eleganten Gebäudes standen und Umschau hielten über die landschaftliche Scenerie, die es umgiebt. „Ist’s nicht ein allerliebster Schmollwinkel, um einmal auf ein paar Tage oder meinetwegen Wochen die ganze Welt draußen und selbst den – Hopfen zu vergessen? Sieh, die Felsen dort, das sind die Hüter des Ankathales, und das ist das Lauterbrunnen oder besser das Münsterthal unserer Schweiz. Heut’ Nachmittag, wenn’s kühler geworden und ein Schlummerstündchen gehalten ist, wollen wir unsere Schritte in diese Schlucht lenken. Vorerst, vor Allem aber an die Forellen!“

Der Wirth war inzwischen zu uns getreten und lud zu einer Besichtigung des neuen Baues ein, ehe die Tischglocke nach dem Speisesaale rief. Gern folgten wir der Führung des freundlichen Mannes, an dessen Lebensschicksale sich ein eigenthümliches Interesse knüpft. Früher Redacteur einer einflußreichen fränkischen Zeitung, war er später nach Amerika ausgewandert und hatte in New-York das noch unter diesem Namen bestehende „Jegel’sche Hotel“ begründet. Da mitten in einer gedeihlichen Thätigkeit traf ihn ein entsetzlicher Schlag. Auf der Reise zu ihm wurde seine Familie eines der bejammernswerthen Opfer, welche der bekannte grausige Brand des Dampfers „Austria“ forderte. Jegel mochte nun nicht mehr in Amerika bleiben; er verkaufte sein Gasthaus und ging nach dem Vaterlande zurück, um wieder, wie ehedem, die getreue Feder zur Hand zu nehmen. In regem Verkehr mit der amerikanischen Presse, wurde er 1859 von der New Horker Staatszeitung als Special-Correspondent auf den italienischen Kriegsschauplatz gesandt. Zwar kannte ich im Allgemeinen bereits diese erfahrungsschwere Vergangenheit des jetzigen Besitzers unsers allerliebsten Ruprechtsstegener Curhauses, doch war es mir interessant, nun aus dem Munde des Mannes selbst noch manche Einzelheit seines bewegten Lebens zu vernehmen, so interessant, daß ich darüber auf unserm Gange durch das Hotel da und dort eine besondere Schönheit oder einen Hauptvorzug der Einrichtung übersah und erst von meinem Hersbrucker Gastfreunde auf das Unbeachtete aufmerksam gemacht werden mußte.

Das Curhaus ist erst seit Beginn der vorjährigen Saison, Anfangs Mai, eröffnet worden. Nach dem Plane des Professor [346] Böhrer in Nürnberg auf- und ausgeführt, imponirt es durch Bauart und Lage, welche letztere in der That kaum mit feinerem Geschmack und glücklicherem Verständniß des Terrains hätte gewählt werden können.

Wie dem Leser die obere Mittelrandskizze unseres Bildes zeigt, ist das Hotel in jenem graziösen Style errichtet, zu welchem das schweizerische Alpenhaus und die italienische Villa vereint die Motive geliefert haben. Aus der inneren Einrichtung des Gebäudes spricht überall der gebildete Sinn seines Gründers, und manche kleine Bequemlichkeit der Zimmer, mancher Comfort des Geräthes verräth, daß jener nicht umsonst durch die Schule der praktischen Amerikaner gelaufen ist. Am besten von allen behagte mir ein Gemach im Thurme, das mit den bunten Glasmalereien der Fenster, den Wappenschildern und den schweren Eichenmöbeln an die Lichtseite des „romantischen“ Mittelalters erinnerte. Und es war ein gar ergötzlich Spiel, durch die verschieden gefärbten Scheiben sich das Thal und die Höhen drüben zu beschauen, bald unter die Flammengluth eines afrikanischen Samumhimmels, bald in die „mondbeglänzte Zauberwelt“ der Sommernacht versetzt; – aber „die Glocke, die Glocke!“ rief mein forellenbegieriger Gefährte, und richtig, es läutete zum Essen, auch mir kein unwillkommenes Signal, trotz Naturbegeisterung und Kunstgenuß. Wie hurtig war mein Magistratsrath die Stiege hinunter, so daß wir andern Beide Noth hatten, dem Dicken zu folgen; wie stürmte er in den Speisesaal hinein, in dem es schon von lustigen Sonntagsstimmen und Sonntagslaunen schwirrte! Alt und Jung schien nur von dem einem Streben erfüllt zu sein, den Ausflug recht ausgiebig auszukosten; von Neuem ward ich inne, daß ich die vielgenannte Mainlinie passirt hatte, hinter der unsere norddeutsche Zurückhaltung und Steifheit zurückzubleiben pflegen. Plötzlich stieß mein Freund mich an: die Forellen waren aufgetragen, und in der That, sie bewährten ihren und des Pegnitzthales Ruf: klein, zart, von rosaröthlichem Fleische. „Bekenne, das ist die Forelle aller Forellen!“ sprach mein Nachbar in Begeisterung. „Hast Du irgendwo oder -wie schon eine andere geschmaust, welche die unserer Pegnitz überbietet?“

„Gewiß, sie ist untadelhaft, eine Perle ihres Geschlechts. Darf ich noch einmal um die Schüssel bitten?“ gab ich zur Antwort. Die Gesellschaft wurde immer sonntäglicher gelaunt; von dem jungen Volke hatte sich Eines nach dem Andern in den angrenzenden Salon geschlichen, und bald tönten muntere Klänge in drei und zwei Viertel-Takte verlockend zu uns herüber. Ein anderer Theil etablirte sich um den Kaffeetisch auf der Veranda, und einige ältere Herren blieben, enger zusammengerückt, bei der Flasche sitzen und ergingen sich, trotz Schweiz und Sonntagslust, in der unerschöpflichen Frage der Zeit und des Landes, den Aussichten und Conjuncturen des heurigen Hopfengewächses. Ich wanderte im Saale umher und betrachtete seine Decoration, die in sinnig gruppirten waidmännischen Emblemen andeutet, daß Herr Jegel zu den vielen anderen Annehmlichkeiten seines Musterhotels den Ruprechtstegener Luftcurgästen auch das kräftigende Vergnügen der Jagd in den umliegenden Gehölzen, in Thalgründen und Schluchten zur Verfügung stellen kann.

Es ist in der That ein auserlesener Winkel, dies heimelige Ruprechtstegen, um seine Sommerfrische dort abzuhalten, und gern möchte ich recht viel davon erzählen und von dem schönen Stück des lieben Frankenlandes, zu dem es gehört, damit dem Leser der Mund wässerig werde danach und er es zum Ziele seiner nächsten Sommerreise wähle, – allein die Gartenlaube sagt „quod non“. Denn der Raum, den sie mir überlassen, ist schon über und über erschöpft. Ich will daher nur noch erwähnen, daß das Jegel’sche Gasthaus den natürlichen wie den bequemsten Ausgangs- und Stationspunkt für die anziehendsten Punkte des obern Pegnitzthales bietet.

Da schiebt zuerst wenige Minuten nur vom Hotel das enge Ankathal seine bizarren Felscoulissen auseinander, mit den abenteuerlichen Gestalten der rechts und links sich aufgipfelnden und oftmals überhangenden Kalkblöcken ein wahrhaftes Cabinetsstückchcn von pittoresker Landschaftsscenerie. Durch diese wildschöne Schlucht führt der Weg nach dem höchsten Punkt Mittelfrankens, dem Hohenstein, einem zertrümmerten alten Bergschlosse, das man nunmehr zu einer viel benützten Warte für friedliche Besucher und harmlose Naturbewunderer umgewandelt hat, von der man weit in’s Land hinaus schaut, gen Nordosten bis zu den bewaldeten Kuppen des Fichtelgebirges.

Eine andere ähnliche unkriegerische, aussichtreiche Warte ist der Veldenstein, der, obschon nur anderthalb Stunden thalauf, unweit einer der malerischsten Verengungen des Pegnitzthales gelegen, in die sich mancherlei Mühlen und Eisenhämmer zwängen, bereits zur Oberpfalz gezählt wird. Eine halbe Stunde tiefer im Grunde endlich befindet sich die Hauptmerkwürdigkeit, die „first sight“ der Gegend, wie die Engländer sprechen, welche mit ihren langlockigen Misses schon ab und zu die Nürnberger Schweiz zu kosmopolitisiren beginnen. Es ist die große Tropfsteinhöhle von Krottensee, eine der größten Höhlen in Deutschland, wie Höhlenkundige behaupten.

Im dolce far niente, bei trefflicher Verpflegung und unter lustigen Streifen nach den genannten Wanderzielen verstrichen Sonntag und Montag nur zu geschwind. Am andern Morgen trug uns der Omnibus durch die liebliche Uferlandschaft nach Hersbruck zurück. Wie gern hätte ich im behaglichen Jegel’schen Luftcurhause noch länger Rast gehalten, doch das war leider nicht möglich! Heut’ Abend gab’s ja den angekündigten „Niederfall“ bei meinem Freunde, und das Fest durfte ich nicht versäumen, um meinen Studien im Hopfenparadiese den rechten und würdigen Abschluß zu verleihen und um – das schöne Bäbeli vom „letzten Hüttchen“ draußen noch einmal zu sehen.

Schon rüstete sich das ganze Haus zu dieser Feier; denn hier galt es einen förmlichen wohlarrangirten Ball, nicht blos ein improvisirtes Tänzchen nach den bald erschöpften Klängen der Harmonika, und die gesammte Sippschaft und alle die Honoratioren des Ortes wurden erwartet. Man durfte mithin auf Stattliches aufsehen und mußte ebenfalls seine Vorbereitungen treffen, der Gelegenheit Ehre zu machen.

Wirklich es war ein Fest, dieser magistratsräthliche Niederfall, und Bäbeli hatte alle Schwermuth und alle traurigen Lieder daheim gelassen. Obschon auch heute ohne Crinoline und in der Pegnitzgauer Tracht, war sie der Schönsten Eine und ging, eine vielbegehrte Tänzerin, von einer Hand in die andere. Ich aber schlich mich zeitig aus dem lustigen Getümmel; denn der erste Frühzug sollte mich der anmuthigen Gegend und den lieben biederen Leuten wieder entführen.

„Auf Wiedersehen beim nächsten Blatten,“ sprach mein Freund, der sich’s nicht hatte nehmen lassen, mich trotz seiner schlaflosen Nacht zum Bahnhofe zu geleiten, indem er mir noch in’s Coupé hinein zum letzten Male die Hand schüttelte.

Die Stationsglocke läutete, und fort sausten wir erst gen Nürnberg und bald unaufhaltsam nordwärts. Doch die Erinnerung an die Tage im Hopfenlande und im Pegnitzthale fuhr mit mir heim, und wenn ich Abends, nach gutem deutschem Brauche, in der Kneipe saß, – bei jedem Kruge Biers, an dem ich mich labte – und es sind leiblich viele seitdem gewesen! – zog eine oder die andere Phase des Hopfenlebens, wie ich’s in Hersbruck kennen lernte, an mir vorüber. Und weil ich nun weiß, wie König Gambrin hochgehalten wird von den meisten Lesern und auch gar vielen Leserinnen der Gartenlaube, so habe ich gemeint, das kleine deutsche Culturbild, welches ich hiermit zu zeichnen versuchte, werde sich ihres Interesses wohl erfreuen dürfen. Wer von ihnen aber noch nicht die Wahl getroffen hat, wo er demnächst ein paar Ferienwochen oder nur einige freie Sommertage in gemüthlicher Beschaulichkeit verbringen soll, der wandere hinein in die Nürnberger Schweiz und schlage sein Zelt auf im Ruprechtstegener Gasthause, – er wird’s nimmer bereuen und im andern Jahre wiederkehren. Will’s Gott, so begegnen wir uns dort.




Die grüne Insel in Wien.
Eine Zufluchtsstätte deutschen Humors.
Von Franz Wallner.

Unter der Metternich’schen Polizeiregierung nannte der Volkswitz die zahllosen geheimen Spione, mit welchen alle Classen der Gesellschaft in Wien gespickt waren, „Naderer“, und der Warnungsruf: „Naderer da!“ ertönte sofort, wenn Jemand, der im Verdacht stand, ein solcher Söldling zu sein, in einem öffentlichen Local erschien. Auch „Spitzl“ (Spitz) hießen diese gefährlichen Handlanger [347] eines verhaßten Systems. Der Chef dieser Meute war ein „Hofrath Persa“, ein ebenso mißliebiger als gewaltthätiger, unangenehmer Patron.

Im Jahre 1827 machte derselbe durch einen Sturz aus dem Fenster seiner Wohnung in den Stadtgraben seinem Leben ein Ende. Ein schöner Pudel, das Lieblingsthier des Selbstmörders, sprang seinem Herrn nach, brach beide Vorderfüße, kam aber wunderbarer Weise noch mit dem Leben davon.

„Welche Gattung von Hund ist treuer,“ hieß es damals in Wien, „der Pudel oder der Spitz?“

„Natürlich der Pudel, da der Pudel des Hofrath Persa seinem Herrn aus dem Fenster nachsprang, während dies keinem seiner Spitzl eingefallen war.“

Die Wiener verziehen Persa sein Leben, weil sein Tod ihnen die Gelegenheit zu diesem seichten Witz gab, der den Weg vom Palast bis zur Hütte zurücklegte. Der letzte Gewaltgeniestreich Persa’s war die Auflösung der Ludlamshöhle in Wien am 26. April 1826. Die Ludlamiten, eine durchaus harmlose, aller Politik ferne Gesellschaft, bildeten einen Verein der heitersten und witzigsten Köpfe der Residenz und eine Merkwürdigkeit derselben. Einheimische und Fremde drängten sich zu diesem Tempel des höheren Blödsinns, zu dessen eifrigsten Priestern ein Grillparzer, Rückert, Holtei, Carl Maria von Weber, Saphir, Lewald, Castelli, Theodor Hell, Anschütz und noch viele Andere zählten, deren Namen guten Klang in der deutschen Kunstwelt hatten.

Castelli erzählt in seinen Memoiren das originelle Treiben der Ludlamiten in ergötzlichster Weise. Und doch wurde diese Gesellschaft, eine Gesellschaft, die öffentlich zusammen kam, in der jedes politische Wort aufs Strengste verpönt war, die aus den geachtetsten Männern der Residenz bestand, eine Gesellschaft, deren Dasein jedem Kind in Wien bekannt war, diese Gesellschaft wurde der damaligen Polizei verdächtig, und die Aufhebung derselben, wie Castelli erzählt, mit einem Aufwand von Zwangsmaßregeln bewerkstelligt, als ob es gälte, eine Bande von Räubern und Mordbrennern zu fangen. Man erbrach das Local, nahm jedes Stückchen Papier mit, confiscirte Bilder, Albums, Portraits, sogar die schwarze Ankündigungstafel, auf welcher die rätselhaften geheimnißvollen Worte standen: „Diesmal ist der Samstag an einem Sonntag“.[1] Zwei Polizeicommissäre mußten jedes der verdächtigen Mitglieder Morgens um sechs Uhr schon im Bette überfallen und ihm die Pistole des ersten Verhörs auf die Brust setzen. Unendlich komisch wirkte die Vernehmung des Oberhauptes (des Hofschauspielers Schwarz), welcher auf die dringende Frage, warum er zum Chef der Gesellschaft ernannt worden wäre, und auf die ernste Mahnung, die Wahrheit zu gestehen, wenn er sich nicht die größten Unannehmlichkeiten zuziehen wolle, ganz ernsthaft antwortete: „Er sei zum Oberhaupt der Ludlamiten ernannt worden, weil er unter Allen der Dümmste sei und eine schöne Tochter habe.“

Obwohl sich nicht ein gravirendes Atom bei der strengsten Untersuchung herausstellte, wurde doch die Auflösung der Höhle beschlossen, die lustigen Streiche hatten ein Ende, die Polizeigewalt war Sieger!

Ich erzähle diese Brutalität nur als Einleitung für meine heutige Skizze und als Beweis, was damals möglich war. Zahllose Versuche zur Gründung eines ähnlichen Vereins in dem lebenslustigen Wien schlugen fehl oder verwandelten sich in gewöhnliche Concertkränzchen mit der üblichen Fütterung der anwesenden Bratenbarden. Es kam kein rechter Zug in die Sache, bis einige humoristische Köpfe Wiens die „grüne Insel“ für sich eroberten, dies frische Eiland, auf welchem unter der rosigen Flagge der Heiterkeit und dem Panier des Frohsinns sich jene beigesellten, „die neben kunstreichem Wissen und frischem Muth auch ein Erbtheil überkommen haben alter Freudigkeit und Lust und diese hegen wollen in treuer Innung.“

Die barocke Form der launigen Satzungen, an denen alle, die der Insel angehören, treu festhalten müssen, dieses scheinbar kindische Spiel, welches die Bewohner der grünen Insel dem absoluten Willen des Großmeisters (Otto, der Grausambe) unbedingt unterwirft, hält das flotte Reich seit Jahren fest zusammen.

Was Wien an witzigen Köpfen, an hervorragenden Talenten zählt, versammelt sich an bestimmten Abenden an der Tafelrunde, und consumirt bei einem solchen Feste in ein paar Stunden mehr treffliche Scherze, als die übrige Gesammtbevölkerung Wiens während eines vollen Monats. Wer einmal einer solchen Versammlung beigewohnt, den überfällt in der Ferne manchmal dahin ein Heimweh, welches dem der Schweizer nichts nachgiebt.

In den „Satzungen“ kommen unter Anderem auch folgende Bestimmungen vor:

„Die Mitglieder der Rittergesellschaft ,grüne Insel’ bestehen aus dem Großmeister (als Vorsitzenden), Würdenträgern, darunter vier, welche mit dem Großmeister die Leitung besorgen, Comthuren, Rittern, Knappen, Troßbuben und den Dienstleuten der Würdenträger (Burgpfaff, Geheimschreiber, Archivar, Burggärtner, Büttel), und können nur Künstler aller Kunstzweige, Dichter und Gelehrte dem Verbande der Gesellschaft angehören. Jedes neue Mitglied tritt als Troßbube ein und wird nach seinen Verdiensten in höhere Grade befördert, hat sich einen mittelalterlichen Namen zu wählen, bei dem es (unter Strafe von 2 kr. für jeden Uebertretungsfall) von den übrigen Mitgliedern zu nennen ist; auch die Anrede mit Sie, und der Gebrauch eines Fremdwortes wird mit 2 kr. Strafe belegt.

Außer den angeführten Ordnungsstrafen kann die Strafe des Verließes, und zwar mit oder (bei Verschärfung) ohne Atzung, nach Ermessen des Großmeisters verhängt oder auf Anklage eines Mitgliedes gegen den Schuldigen verfügt werden.

Jedes Mitglied verpflichtet sich durch Handschlag: ohne Bewilligung des Capitels keinerlei Mittheilung über Vorträge, Verhandlungen, kurz das ganze Treiben der ‚grünen Insel‘ in öffentliche Blätter zu geben.“

Zu den ferneren Satzungen der Insel gehört es auch, daß Frauen und „Mägduleins“ der Besuch des Eilandes streng verwehrt ist, und nur einmal ließ sich der strenge Großmeister, nach langen und lebhaften Debatten, erweichen, „zwölf edlen Frawen und sittsamblichen Mägduls den Eintritt in diese sonst so geheimnißvoll verschlossenen Räume zu gestatten.“

Der feierlichen Erlaubniß wurde folgende Zuschrift beigelegt: „Reguln, so Ihr Euch danach zu benemben habt als da seyend:

1. Sullt Ihr kummen in schlichter Tracht.
2. In Euer Anred ziemt nur das ,Ihr’, gleichart Ihr auch von uns mit Euern Vornamen und dem ,Ihr’ sullet geheißen werden.
3. Ihr seyend unsere lieben Gäst und dahero nit verhalten uns zu erlustigen mit ein Vortrag.
Versammlungsort: die Albrechten Dürer Burg.
Versammlungstund: der Abend des 8. Martii,
am Tage Johannis von Gott, als man schrieb
im Jahre des Unheils, so Ihr angerichtet 1864,
unserer Regierung im ersten.
00Der Großmeister
Odo der Grausambe.

Am 27. Februar 1864.

Der Schriftwart
     Hans Max,
Comthur und Chronist.“

An diesem Abend prangte an langer Tafel, angethan mit allen Zeichen seines Ranges, im vollen Ornate der Großmeister, rund herum die Damen im schönsten Kranz zwischen den Rittern, Knappen und Troßbuben.

Die geniale Frau Heitzinger, die reizende Gabillon, die große Tragödin Rettich, die Tänzerin Friedberg, der ernste Dichter Halm neben dem allbekannten Komiker Fritz Beckmann, Carl la Roche und der Componist Flotow, Constantin von Wurzbach, Herausgeber des Schillerbuches und der Dichter der Eglantine, vis-à-vis dem echtesten Wiener, dem Redacteur des Fremdenblattes, daneben Heine, der Bruder des berühmten Heinrich, Mosenthal, die witzigen Schriftsteller Woyl und Grandjean; kurz wer zählt sie alle, die Lieblinge des Wiener Publicums, die da gekommen waren, um sich „einen Jux zu machen“.

Die Feier begann mit einer Ansprache des Großmeisters, worin er die Gäste unterrichtete:

Was wir Euch bieten? Freien Sinn vor Allen,
Ein froh Gemüth und kindisch lust’gen Schwank;
Wir sind der Kunst, der heiteren, Vasallen,
Und nicht an der modernen Lüge krank.

[348]

Was wir Euch bieten? Hofft nicht Pilgerinnen,
Nein, fürchtet nicht ein ewiges Concert;
Das habt Ihr draußen in der Welt; wir spinnen
Ganz andern Flachs an unserm Ritterheerd.

Laßt uns in blüh’nden Unsinn untertauchen,
In weltvergessende Freilebigkeit,
Zum Kitt der Herzen süße Thorheit brauchen,
Beherrscher und nicht Kinder unsrer Zeit!

So Ihr, geliebte Frauen, dies verstanden,
(Und Ihr versteht’s, das sagt mir Euer Blick)
Entfesselt selbst Euch von der Erde Banden,
Empfangt und gebt der weisen Thorheit Glück!

So waltet Eures Amtes, Ritter, Knappen,
Und seid des Rufes uns’rer Insel werth!
Und haltet rein ihr unbeflecktes Wappen,
Die Narrenkappe und das blanke Schwert.

Und froher Kumpanei als Gast
Dich ritterlich benommen hast!
Du hobst des Deckelglases Bürde
Mit ehrenfester, edler Würde,
Und was Du trankst, Bier oder Wein,
Es ließ Dich nie betrunken sein!
Doch wähne nicht, daß Du im Haufen
Der Ritter sitzest, um zu saufen.
O lieber Kämpe mein, mit nichten!
Wir haben auch noch andre Pflichten!
Die grüne Insel, schau’ Dich um,
Besteht aus einem Ritterthum,
Wo jeder Einzelne als Mann,
Sowie als Ritter etwas kann!
Was kannst denn Du? Du bringst viel mit;
Vor Allem bist Du gleich ein Schmied.
Und das ist gut, mein dicker Sohn,
Wir brauchen Deine Profession,
Dieweil in seinen alten Tagen
Schon mancher Ritter schlecht beschlagen

Die böhmischen Musikanten in der grünen Insel.
Maler Zampes. Souppé. Dr. Wacher. Maler Cramolini. Schauspieler Braumüller. Hofschauspieler Wagner. Fritz Beckmann.
Maler Swoboda.

Dies Programm wurde treulich festgehalten. Unser Bild, von dem überaus talentvollen Maler Swoboda, zeigt uns „einen Ritterschlag“ auf der grünen Insel, wo ein neuaufgenommenes Glied, Doctor Schmidt, umgeben von allen um den Thron versammelten Würdenträgern des Reiches, die Zeichen seines neuen Amtes empfängt, und im Namen „der Freundschaft, der Kunst und der Menschlichkeit“ den Ritterschlag erhält.

Von unbeschreiblicher Wirkung war die Ansprache des Großpriors (Beckmann) an den neuen Ritter, Vortrag und Text bildeten ein urkomisches Ensemble und riefen ein Lachen hervor, daß die Wände dröhnten.

Wir lassen die Anrede zugleich als Muster des Tones folgen, der auf der Insel herrscht:

Ein Wort an Dich, zwei an die Bande!
 Mein Sohn!
Man hat zum Ritter Dich geschlagen,
Dieweil Du stets bei Trinkgelagen
An Geist, an Witz und frommen Sitten,
D’rum taugst Du her in uns’re Mitten.
Will hoffen, daß Du Curschmied bist,
Was sonderlich von Nutzen ist,
Da unser Insel-Dichtergaul
Oft flügellahm und hufefaul!
Magst zuseh’n, wie man das curirt,
Damit das Vieh uns nicht krepirt!
Zum engen Bund in Lust und Frieden
Magst Du als Schmied die Ketten schmieden!
Du dicker Gauch bist auch ein Sänger,
Und zwar ein Baß, der treibt’s noch länger,
Als Bariton und Tenoristen,
Dieweil er auf den Krankenlisten
Nur dann gewöhnlich steht zu lesen,
Wenn Nachts vorher er Lump gewesen.
Wohlan, als Sänger ehrt Dich hoch
Die Insel. Du hast’s tiefe „doch“.
Sei hier Sarastro und sing süß,
Wenn Einer kommt in’s Burgverließ,
Was auch in unsern heil’gen Hallen

[349]

Damen-Capitel am 8. März 1864.
Der Ritterschlag.
Nach einer Originalzeichnung vom Maler Swoboda in Wien.

[350]

Schon ziemlich häufig vorgefallen.
Hier kennt man Rache wirklich nicht.
Und wenn ein Ritter Dummes spricht,
Zahlt er zwei Kreuzer Unsinnsteuer,
Dann ist er, nach wie vor, uns theuer.
Du bist in Mußestunden Jäger,
Bist Waidsackschlepper, Flintenträger,
So Einer, der im Wald verknöchert,
Mit grobem Schrot die Luft durchlöchert!
Ich kenne das [2] – in meiner Nähe
Erschrecken auch gar oft die Rehe,
Und wenn ein Hase mich nur wittert,
So flieht er weit davon und zittert!
Sei, Bruder Nimrod, uns willkommen,
Ein Jäger wird gern aufgenommen.
Hier ist das Wild: Humor und Witz,
In diesem Sinn’ sei Insel-Schütz.
Du bist ja endlich, wackrer Gauch,
So wie wir wissen, Doctor auch;
Und noch dazu ein Mediciner,
Von Aeskulap ein flücht’ger Diener,
Der weislich vorzog, brav zu singen,
Statt Menschen künstlich umzubringen.
Die Insel dankt Dir feierlich,
Denn dieser Tausch war ritterlich!
Somit bist Du mit Glanz und Ruhm
Qualificirt zum Ritterthum!
Und weil gegeben das Capitel
Von Hatto Dir den Rittertitel,
Schlägst in mein Fach Du offenbar,
Dieweil der Hatto Bischof war!
Daß den die Mäuse einst gefressen,
Das hast Du Sohn wohl nicht vergessen.
Nun denke Dir, welch’ saft’ge Speise
Du selber wärest für die Mäuse.
Das wär’ ein Speck, wenn Dich und mich
Die Mäuse theilten unter sich!
D’rum laß fromm leben uns auf Erden,
Damit wir nie gefressen werden!
Erfülle Deine Ritterpflicht,
Und heißt es: Sing’, so spreiz Dich nicht!
Sonst ist die Strafe Dir gewiß
Und Du brummst dann im Burgverließ!
Ihr aber, Inselritter all’,
Quält ihn mir nicht in jedem Fall;
Glaubt nicht, daß, weil er ein Bassist,
An ihm nichts zu verderben ist.
Treibt nie mit einem Sänger Scherz,
Denn glaubt: er fühlt wie Ihr den Schmerz.
Und selbst ein Riesenbaß wird toll,
Der trinken will, und singen soll!
Und nun, mein Sohn, stärk Deine Glieder,
Geh hin in Frieden, setz’ Dich nieder,
Sei brav als Ritter, lieb’ die Damen,
Zeig Dich der Insel würdig. Amen!

Nach dieser Amtshandlung folgte eine Scene heiteren Blödsinns der anderen. Das kleinere Bild veranschaulicht uns eine solche in der Production einer Bande herumwandernder böhmischer Musikanten und erklärt sich von selbst. Nicht schildern aber läßt sich, ohne es gehört zu haben, der überaus komische Vortrag des von Suppé componirten Musikstückes, in welchem Beckmann als Flötenvirtuose die erste Stimme spielt. Ströme von Lachthränen, ein seltener Artikel in unserer „ernsten Zeit“, werden vergossen, und nicht eher legt sich der brandende Applaus, bis die Künstler ihre Leistung wiederholen.

Der Großmeister und der Narr (Otto Prechtler und Grandjean[3] brachten nun eine parodirende Scene „nach Anregungen in Schiller’s Don Carlos“ durch Ernst und Würde im Vortrag zur vollen Geltung. Großmeister Philipp ruft dem Posa Zeitungsschreiber vergebens zu:

 „Dies Feuer
Ist lobenswerth. Ihr möchtet Gutes stiften.
Wie Ihr es stiftet, kann dem Patrioten,
Dem Narren gleichviel heißen. Suchet Euch
Den Posten aus in meinem Inselreiche,
Der Euch berechtigt, diesem edlen Triebe
Genug zu thun.“

Dieser antwortet kühnen Muthes:

„Ich finde keinen.
Die Zeitung in der Hand hier Spaß verbreiten
Ist mir genug. Nach Höh’rem streb’ ich nicht.
Des Priors frommer Sinn ist mir nicht eigen,
Und nicht die Demuth des Almoseniers,
Zum Büttel fehlt das Ohr mir und die Faust,
Als Castellan zerreiß ich zu viel Stiefeln,
Als Kanzler brauch ich zu viel Briefpapier,
Als Säckelmeister dauern mich die Ritter,
Den Monatsbeitrag sammeln, das ist bitter.
Otto der Grausame, schau, sekir mich nicht!
Nur keinen Stempel, bitt’ ich, auf die Zeitung,
Den Stempel der Empfindlichkeit. Verworfen
Sind alle Stempel, welche diesem gleichen,
Denn was dem Schatze frommen kann, ist das
Auch mir genug? O nein, ich muß
Mich weigern, diese Stempel auszugeben.
Jetzt wißt Ihr es, hier steh ich – sperrt mich ein.“

Großmeister (etwas rasch):

„Ihr seid ein dummer Kerl.“

Narr (nach einigem Bedenken):

„Ihr Glaube, Sire, ist auch der meinige“ (nach einer Pause):
„Ich werde mißverstanden,
Das war es, was ich fürchtete“ etc. etc.

Erst das Tagesgrauen scheucht die Gesellschaft und die Geister froher Laune auseinander. Ich weiß recht wohl, daß ich mit meiner Schilderung weit hinter dem Eindruck zurückbleibe, den das originelle Treiben auf der grünen Insel auf jeden Besucher hervorruft, und verweise nochmals auf die beigegebenen Illustrationen, die ein viel besseres Bild von demselben geben, als meine arme Feder zu zeichnen vermag. Möge das österreichische Eiland des deutschen Humors auch in Zukunft grünen und blühen und diese Zeilen als Dankesspende hinnehmen für die vielen unvergeßlich frohen Stunden, welche Schreiber derselben dort verlebt hat!




Blätter und Blüthen.


Auswanderung ist ein Naturproceß, die fortgesetzte Völkerwanderung, das hat man jetzt ziemlich allgemein begriffen, aber noch immer will man nicht einsehen, daß sich auch in dieser Beziehung die Natur keine Vorschriften machen läßt, d. h. daß auf falsch gewählten Zielpunkten der Auswanderung, zu denen der natürliche Strom nicht freiwillig geht und wohin man ihn daher durch künstliche Mittel zu lenken und zu zwingen sucht, auch niemals eine wahre und gedeihliche Colonisation das Ergebniß wird sein können. Die Pilger der Mayflower gründeten Neu-England, weil sie die rechte Richtung eingeschlagen hatten; nach Brasilien möchten immerhin Tausende solcher Schiffe ziehen, sie würden doch nimmer den Grund zu Staaten gleich den nordamerikanischen legen, sie würden nichts weiter thun, als ein dem Mutterlande verlorenes Element an jenen Südgestaden absetzen, damit es sich brasilianisire, d. h. als Dünger für eine Mischlingsrace diene, der es versagt ist, jemals eine erhebliche Rolle in dem großen Völkerdrama zu übernehmen.

Nach alledem fragt aber freilich nicht der Auswandereragent, der gar viel zu thun glaubt, wenn er sich den Anschein eines Menschenfreundes giebt, welcher armen Teufeln irgendwo ein Unterkommen nachweist; auch die Masse der Auswanderungslustigen fragt wenig darnach, die eben nur ein Unterkommen wünschen, gleichviel wo; und auch ein brasilischer Coloniedirector fragt nicht darnach, der blos sein Steckenpferd als patriarchalischer Colonien- oder Städtegründer reitet, oder den es gelüstet, den mittelalterlichen Feudalherrn zu spielen, und der daher Unterthanen braucht.

Stellt man sich auf den Standpunkt der hier Genannten und handelt es sich alsdann blos darum, Leuten, die es daheim schlecht haben, eine Lage zu verschaffen, wo sie sich physisch wohlbefinden können, dann läßt sich wenig dagegen einwenden, daß man Auswanderer nach dem südlichen Brasilien schickt; nur sollte man nicht so weit gehen, Brasilien überhaupt, also auch das nördliche, und obendrein das verrufene Parceriesystem herauszustreichen, wie es der ungenannte Verfasser eines Buches thut, das uns zu diesen Zeilen veranlaßt und dessen Titel lautet: „Was Georg seinen deutschen Landsleuten über Brasilien zu erzählen weiß. Schilderungen eines in Südbrasilien wohlhabend gewordenen Proletariers. Ein Beitrag zur Länder- und Völkerkunde. Mit 25 Holzschnitten etc. Leipzig, 1863“.

Es ist begreiflich, daß die brasilischen Werber die dermaligen Umstände, unter denen Nordamerika den Auswanderern momentan verleidet ist, auszubeuten suchen, und ein Buch, wie das angeführte, ist auch sehr geeignet, nichtunterrichtete Leute und Solche, denen es nicht darauf ankommt, sich als übelverwendeten Völkerdünger brauchen zu lassen, zu überreden und zu gewinnen. Es ist offenbar von einer mit den geschilderten Verhältnissen vertrauten Person verfaßt, nur sicherlich nicht (wie es vorgiebt) von einem Manne, der Jahre lang als Halbschiedler Kaffee gepflückt hat. Während [351] der Verfasser alle brasilischen Zustände entweder zu loben oder doch zu beschönigen bemüht ist, faßt er den deutschen Proletarier schlau bei dessen schwacher Seite und zeigt ihm seine freilich nicht wegzuleugnende üble Lage, um dadurch die brasilischen Herrlichkeiten desto glänzender erscheinen zu lassen. Redlicherweise könnte man nur sagen: „Im südlichen Brasilien könnt Ihr als fleißige Arbeiter Euer gutes Auskommen finden; für Deutschland aber werdet Ihr dort verloren sein, und Eure Kinder werden Brasilianer werden.“ Wem damit gedient ist, nun wohl, der mag hingehen! Der Colonist Georg, unter dessen Maske der Verfasser schreibt, ist in der That ganz zufrieden damit, er will, daß die Einwanderer aufhören Deutsche zu sein, und mißbilligt, daß dieselben deutsche Schulen unterhalten und ihre Kinder hineinschicken, indem er vorgiebt, es werde dadurch die nöthige Erlernung den Portugiesischen verhindert. Wunsch und Absicht der brasilischen Regierung ist in der That, daß die deutschen Einwanderer so schnell als möglich in den Brasilianern aufgehen, und das vorliegende Buch ist ganz im Sinne jener Regierung und daher entschieden nicht im deutsch patriotischen Sinne geschrieben.

Was das Buch sagen will, ist mit kurzen Worten: „Wandert womöglich über Antwerpen nach Brasilien aus, dient nöthigenfalls erst als Parceristen, wendet Euch aber, sobald Ihr etwas Geld habt, nach der Provinz Rio Grande do Sul und zwar in dieser nach der Colonie Santa Cruz.“ Dieser Rath wird mit großer Schlauheit ertheilt: dem Wege über Hamburg wird erst viel Lob gespendet, um dann das Haus Steinmann und Comp. in Antwerpen scheinbar um so unparteiischer rühmen zu können. Man verlangt nur Arbeiter (nämlich solche, die ungeschult und daher recht lenksam sind) und lehnt „verdorbene Genies, Professoren aller Art, ehemalige Officiere, Künstler und dergleichen“ entschieden ab, weil diese „meist Unzufriedenheit und Mißhelligkeiten hervorrufen“; – das klingt sehr verständig; allein man will solche Leute in Wahrheit nur deshalb fern halten, weil sie den Herrn Coloniedirector in der Rolle des Feudalherrn behindern, weil sie das Vergessen der deutschen Sprache verhüten und überhaupt die Brasilianisirung des deutschen Elements wenigstens erschweren.

Das brasilische Parceria (Halbschied- oder Halbpart) System, worüber längst mit vollem Rechte der Stab gebrochen worden ist, wird von diesem Pseudonymen Georg als sehr gemüthlich und idyllisch geschildert und warm empfohlen als ein Durchgangsstadium für arme Einwanderer, und er scheut sich nicht, zu sagen, daß „dieser Gedanke ein großer und herrlicher, der einst noch reiche Früchte zu bringen bestimmt sein dürfte“. Auch sogar für das Mucurithal hat er nur eitel Lob, meint, die dort zu Grunde gegangenen Einwanderer hätten ihr Unglück nur durch ihr eigenes Benehmen verschuldet, und jene Colonie sei nur von „bezahlten Lohnschreibern “ so schlecht und schwarz gemalt worden. Hätte er diese „bezahlten Lohnschreiber“ doch genannt!

Das Klima des südlichen Brasilien konnte der Verfasser mit Recht als ein gesunden, mildes und schönes bezeichnen; aber er lobt in dieser wie in jeder andern Beziehung auch den Norden sehr. Gelbes Fieber ist dort so gut wie eine bloße Sage! Von der Cholera spricht er gar nicht. Und dann die häufigen Fälle außerordentlich hohen Alters! Er sagt, es gebe „außer Brasilien wohl kein Land, wo so viele Greise vorkommen, die das hundertste Jahr zurückgelegt haben“. O ja, z. B. Rußland ist in gleicher Lage, sowie alle halbcivilisirten Länder, wo Geburts- und Sterberegister vernachlässigt sind und wo, wie in Brasilien, keine Zeitung behagt, worin nicht fast täglich eine gräßliche Mordthat und ein Fall ungeheurer Langlebigkeit erzählt wird. Und mit welchen Nebenumständen werden solche Fälle ausgeschmückt! Im vorigen Jahre meldete z. B. ein Blatt den Tod einer Matrone von Rio Vermelho in der Provinz Minas Geraes, die 120 Jahre alt gestorben war und eine – „legitime“ Tochter von funfzehn Jahren hinterlassen hatte!

Der Verfasser bemerkt auch, die Regierung lasse jetzt sehr häufig protestantische und katholische Geistliche aus Deutschland für die Colonien kommen. „Protestantische“ ist, gelinde gesagt, ein Schreibfehler; und was die katholischen anlangt, so sind das nur jene österreichischen Jesuiten, die des Unheils und der Stänkerei genug unter den deutschen Colonisten angerichtet haben und die zugleich als Werkzeuge zur Romanisirung und Brasilianisirung des deutschen Elements dienen. Von dem berüchtigten Ehegesetz für die Protestanten und ähnlichen Sächelchen schweigt der schlaue Georg.

Bezüglich der verbotenen Einfuhr der Sclaven sagt er, in den letzten zehn Jahren seien nur zwei Schiffe voll gebracht, aber sogleich aufgefangen worden; „seitdem habe man nichts weiter davon gehört“. Andere Leute, die sich um die Sache bekümmert haben, schätzen die Zahl der seit 1831 (wo die Sclaveneinfuhr gesetzlich verboten wurde) importirten Schwarzen auf dritthalb Millionen!

Indem Senhor Georg die mancherlei Freiheiten aufzählt, deren er als Colonist genießt, vergißt er, daß das zum Theil nur Freiheiten der Wildniß sind; z. B.: „Niemand schreibt mir vor, wie ich mein Haus zu bauen habe“; natürlich, weil er weit und breit keinen Nachbar in seinem Walde hat, aber deshalb auch all der Vortheile entbehrt, die eine dichte Bevölkerung mit sich bringt. In solcher Hinsicht ist man in der Sahara und auf Spitzbergen noch weit freier als in Brasilien. „Niemand zwingt mich, mein Kind impfen zu lassen“ – auch das mag Köder für dumme Menschen sein. Unter den aufgetischten Lockspeisen fehlt denn auch nicht jene plumpe Täuschung der brasilischen Steuerfreiheit. In Folge der ungeheuren Einfuhrzölle (und man bezieht alle Producte der Industrie aus dem Auslande) ist gerade der eigentliche Colonist, der Landbauer, dort am höchsten besteuert. – Th. O. 




Der fünfte Zeuge. Es giebt in Paris neben den anerkannten und patentirten Gewerben noch eine große Anzahl kleiner Neben-Industrien, die sich dem aufmerksamen Beobachter nach und nach offenbaren. Z. B. das Feueranbieten auf den belebtesten Plätzen und Straßen, das Aufheben weggeworfener Cigarren-Stummel auf dem Boulevard des Italiens, das Oeffnen und Schließen der Wagenthüren an Kirchen und Theatern macht die tägliche Beschäftigung einer gar nicht unbedeutenden Anzahl von allerdings nicht eben hoffnungsvollen Pariser Jünglingen aus. Ferner findet man Katzenjäger, die allen Batels der Barrieren den Stoff zu ihren Fricasssé liefern; Künstler in Silhouetten, die für den bescheidenen Preis von zehn Sous in den kleinen Weinkneipen etwa gewünschte Portraits sehr zierlich im Profil ausschneiden. Sodann existirt die große Zunft der „Contremarken-Verkäufer“, die übrigens eine geordnete Gesellschaft bilden und eine Casse von 400.060 Francs besitzen. Noch zu nennen sind die „Fabrikanten von volksthümlichem Gefrorenen“ (fabricants de glaces populaires, wie sie sich nennen), die der Bevölkerung von Paris für zwei Heller eine anständige Portion von Gefrorenem à la vanille und au citron anbieten. Die „vereinsamten Claqueurs“ darf ich nicht vergessen; sie sind nicht zu verwechseln mit der großen Masse der in allen Theatern angestellten und allabendlich bezahlten Claqueure, nein, der „vereinsamte Claqueur“ klatscht und überläßt sich den lebhaftesten Beifallsbezeigungen nur dann, wenn alle anderen Menschen still sind, er zieht also die allgemeinste Aufmerksamkeit auf sich und sein Zweck ist, das Publicum auf diese Art zum größten Enthusiasmus hinzureißen; es geschieht ihm freilich zuweilen, daß er vor die Thür geworfen wird, oft aber erreicht er seine Absicht und dann wird er sehr gut bezahlt. Alle diese kleinen Gewerbe ernähren ihre Leute mehr oder minder gut.

Es giebt aber noch ein Metier, das meiner Nomenclatur bis jetzt fehlte; ich werde es „das Geschäft des fünften Zeugen“ nennen. Es ist jedenfalls eine der Eigenthümlichkeiten der großen Stadt.

Auf der Mairie des zweiten Arrondissements bemerkte ich sehr oft einen jungen Mann von einnehmenden Aeußern, in der Uniform eines National-Gardisten, der auf dem Hofe des stattlichen Gebäudes regelmäßig Sonnabends in den Stunden zwischen zwölf und zwei Uhr zu lustwandeln schien.

„Sie haben wohl Dienst?“ fragte ich ihn eines Tages.

„Ja, mein Herr!“

„Alle Sonnabende?“

„So ist es.“

„Das setzt mich in Erstaunen, da meines Wissens jeder Pariser National Gardist nur aller zwei Monate zum Wachdienste gezogen wird!“

„Da haben Sie allerdings Recht; indessen mich bestimmen philanthropische Rücksichten den Dienst für meine Cameraden zu übernehmen.“

„Jeden Sonnabend gerade?“

„Ja, jeden Sonnabend. Nun aber thun Sie mir den Gefallen und lassen Sie mich allein, begleiten Sie mich nicht und sprechen Sie nicht mehr mit mir. Sie sind doch nicht hierher gekommen, um mir zu schaden?“

„Gewiß nicht.“

„Sie haben auch nicht den grausamen Hintergedanken mir Concurrenz zu machen?“

„Da sei Gott vor!“

„So bitte ich Sie, verlassen Sie mich. Später bin ich gern bereit Ihnen Alles zu erklären, was Sie zu wissen wünschen.“

Ich gab der Bitte nach, aber meine Neugierde war lebhaft angeregt.

Ich wollte wissen, warum dieser National-Gardist, dessen Diensteifer mir offenbar eine belobende Anerkennung zu verdienen schien, gerade den Sonnabend gewählt hatte, um sich dem Vaterlande zu widmen, und warum er so eindringlich darauf bestand zwischen zwölf und zwei Uhr auf dem Hofe der Mairie allein herum zu spazieren. Ich wendete mich an den Sergeanten der Wache.

„Wer ist der junge Mann,“ fragte ich den bärtigen Sohn des Mars, „der da auf und nieder geht?“

„Das ist ein sehr bekannter junger Mann, ein Original!“

„Was thut er?“

„Er ist Schreiber bei einem Notar.“

„Um einen gerichtlichen Act aufzunehmen, ist er denn doch wohl nicht hier?“

„Vielleicht doch. Passen Sie nur auf, was geschehen wird. Er liebt das Vergnügen, die gute Kost, Musik und Tanz.“

„Und darum zieht er auf die Wache?“

„Eben darum.“

„Ich verstehe Sie nicht!“

„Passen Sie nur auf, und Sie werden nach und nach vielleicht verstehen. Ich muß Sie aber nun verlassen, um die Parole zu holen.“

Der Sergeant ging, und ich stellte mich neben ein Fenster des Wachtgebäudes. Von hier aus konnte ich Alles übersehen, was in dem Hofe vorging. Es erschienen Täuflinge, die in ihren schönen weißen Mänteln von sorgsamen Ammen getragen und von freudestrahlenden Papas geleitet wurden; es kamen lustige Hochzeitszüge mit ihrem Gefolge von geputzten Brautjungfern, bedenklichen Großeltern und gerührten Müttern etc.

Plötzlich kam ein Herr mit weißen Handschuhen, weißer Cravatte, frisirtem Haar, neuem schwarzem Frack, mit sehr besorgtem Gesicht die breite Treppe der Mairie wieder herab gesprungen, er sah sich ängstlich nach allen Seiten um und schlug sich plötzlich vor die Stirn.

Mein lustwandelnder National-Gardist sah den Herrn sehr wohl, that aber als ob er ihn nicht bemerke, ging in weiten Bogen um ihn herum und pfiff: „Malb’rough s’en va-t-en guerre!“ Plötzlich stellte sich der Mann in weißen Handschuhen dicht vor ihn hin. Beide standen ganz in meiner Nähe, ich verlor also kein Wort ihrer Unterhaltung.

„Mein Herr,“ seufzte der schwarze Frack, „ich bin recht unglücklich!“

„Was fehlt Ihnen?“ fragte der Nationalgardist.

„Ich verheirathe mich.“

„Das nennen Sie ein Unglück?“

„Das nicht, aber es fehlt mir ein Zeuge, und die Trauung ist unmöglich ohne die vorgeschriebenen fünf Zeugen.“

„So will es das Gesetz; ein Artikel des Code Napoléon hat diesen Fall vorausgesehen, mein Herr!“

„Wollten Sie wohl die große Liebenswürdigkeit haben, den fehlenden Zeugen zu vertreten, der mich schändlicher Weise im Stich läßt?“

[352] „Mit dem größten Vergnügen, mein Herr!“ entgegnete sehr höflich der Nationalgardist und folgte dem Bräutigam nach der Mairie. Als er von der Feierlichkeit zurückkehrte, schien mir sein Gesicht ganz verklärt.

Mittlerweile war der Sergeant wieder an mich herangetreten, stieß mich mit dem Ellenbogen an und flüsterte mir zu: „Jetzt hat er seinen Zweck erreicht; er ist Hochzeitsgast.“

„Wirklich?“

„Versteht sich; man kann doch einen Mann, der die Gefälligkeit gehabt hat, den Contract mit zu unterzeichnen, nicht wieder verabschieden, ohne ihn zum Hochzeitsschmause und Balle einzuladen.“

„Und er macht das Geschäft alle Sonnabende?“ (Der Sonnabend ist nämlich der Tag, der in der Regel zu den Trauungen auf den Mairieen anberaumt wird.) „Ja, alle Sonnabende, und zwar in der Hoffnung, daß es ihm einmal glücken wird, irgend eine der niedlichen Brautjungfern als Gattin heimzuführen. Er ist übrigens kein übler Mensch, hat angenehme Manieren, ist sehr unterrichtet, leider aber besitzt er einen Hauptfehler.“

„Und der wäre?“

„Er ist arm, wie eine Kirchenmaus.“

Wir hatten eben, der Sergeant und ich, unsere Unterredung beendet, als der heirathslustige Nationalgardist an seinen Vorgesetzten herantrat und ihn für den heutigen Abend um Urlaub bat.

„Wie gewöhnlich!“ sagte lachend der Sergeant.

„Was wollen Sie? Ich suche die Gelegenheit, Bekanntschaften anzuknüpfen, und darum übernehme ich das Geschäft eines ‚fünften Zeugen‘. Das ist ein Gewerbe, so gut wie ein anderes.“

„Ich wünsche, daß Ihnen die Hochzeit, der Sie heute beiwohnen werden, Glück bringen möge!“ sagte ich, indem ich mich in das Gespräch mischte.

„Gott gebe es,“ erwiderte der Nationalgardist, „ich bin dreißig Jahre alt, demnach ist es die höchste Zeit, und ich muß mich dazuhalten.“

„Wohlan,“ entgegnete ich scherzend, „ich habe Ihnen heute keine Concurrenz gemacht, und dafür müssen Sie mir einen Dienst leisten.“

„Mit Freuden; Alles, was ich kann!“ rief er.

„Wenn Sie sich in Folge des heutigen Hochzeitsballes, dem Sie beiwohnen werden, verheirathen, so erzeigen Sie mir die Ehre, mich zu Ihrem Trauzeugen zu wählen.“

„Topp! Ich nehme Ihr Anerbieten an!“ sagte er vergnügt. Wir schüttelten uns die Hände, wechselten unsere Karten und trennten uns lachend.

Zwei Monate waren verflossen. Ich hatte das lustige Abenteuer schon wieder vergessen und hatte mich begnügt, das Geschäft eines „fünften Zeugen“ meiner Liste über seltsame Gewerbe beizufügen. Da brachte mir einen schönen Morgens die Post zwei Briefe. Der eine, schön gestochen auf elegantem Papier, war folgenden Inhaltes: „Herr Anatole Desberois giebt sich die Ehre, Ihnen seine Verlobung mit Cléonine verwittweten Frau von Arboville anzuzeigen. Die feierliche Einsegnung dieses Bündnisses, welcher er Sie beizuwohnen bittet, wird kommenden 17. März in der Kirche Notre-Dame de Lorette stattfinden.“

Der andere Brief sagte Folgendes: „Ich habe Ihnen versprochen, Sie zu meinem Trauzeugen zu wählen, wenn ich mir auf dem Hochzeitsballe, zu dem ich mich in Ihrer Gegenwart einladen ließ, eine Frau erobern könnte. Das Glück hat mir gelächelt, und der Maire des zweiten Arrondissements wird nächsten Sonnabend meiner innigsten Befriedigung gesetzliche Geltung verschaffen. Ich bitte Sie, mir zum Zeugen zu dienen; lassen Sie mich aber ja nicht im Stiche, denn, soviel ich weiß, habe ich noch keinen Nachfolger im Hofe der Mairie.
Anatole.“ 

Zwei Tage vor der Hochzeit begab ich mich zu dem glücklichen Sterblichen und hoffte von ihm den nähern Bericht über sein Glück zu erfahren.

„O,“ sagte er, „jener Hochzeitsball war mir günstig.“

„Aber eine Wittwe!“ warf ich ein.

„Ja wohl, eine Wittwe, aber immerhin eine reizende Frau!“

„Hat sie Vermögen?“

„Sehr viel.“

„Kinder?“

„Nein.“

„Sie werden also reich durch sie?“

„Ja; das ist aber gerade, was mich ärgert, denn ich liebe sie wirklich.“

„So sind Sie denn belohnt und glücklich durch Ihr sonderbares Gewerbe?“

„Allerdings. Aber da fällt mir ein, Sie sind ja auch unverheirathet, warum folgen Sie nicht meinem Beispiel?“

„Wer weiß, was geschieht,“ sagte ich, „jedenfalls soll mir Ihr glückliches Abenteuer nicht verloren sein!“

Ich nahm mir vor, die lustige Geschichte dem freundlichen Leser der Gartenlaube zu erzählen und zu etwaiger Nachachtung zu empfehlen.




Aus den Erinnerungen eines Secretairs der „großen Oper“ zu Paris. „Sieben Jahre bei der Oper.“ So heißt ein Werk, welches soeben in Paris erschienen ist und einen Secretair an der kaiserlichen Oper zum Verfasser hat. Es enthält interessante Einzelnheiten und nützliche Documente über einen Gegenstand, der das allgemeine Interesse und somit auch das Ihrer Leser mehr oder minder in Anspruch nimmt. Ich theile Einiges daraus mit.

Niemand besser als der Secretair der Verwaltung ist in der Lage, uns über die Eintheilung und Vertheilung der Plätze in jenem weitläufigen und großartigen Opernhause Aufklärung zu geben, wohin die große Masse der Fremden sehr bald nach ihrer Ankunft in Paris zu strömen pflegt. Fast sämmtliche Logen und der größte Theil der Sperrsitze sind fortwährend abonnirt; von den verfügbaren Plätzen kommt eine nicht unbedeutende Anzahl auf Autoren und Journalisten, die zu Freibillets berechtigt sind. Somit ergiebt sich das für Opernlustige ziemlich traurige Resultat von etwa 4 bis 500 disponiblen Plätzen auf 3000 Anfragen, die durchschnittlich einlaufen. Der Zudrang zu den ersten Vorstellungen neuer oder neu einstudirter Opern ist ungeheuer, und es erscheint fast unglaublich, welche Intriguen und Machinationen angewendet werden, um den Eintritt zu diesen Festlichkeiten zu erlangen. Als Beleg dafür erzählt der Verfasser folgenden komischen Zug. Ich lasse ihn selbst sprechen:

„Es giebt Leute, die, um einen Platz in der ersten Vorstellung einer neuen Oper zu erlangen, einem förmlich die Pistole auf die Brust setzen. So entsinne ich mich der ersten Vorstellung des ‚Tannhäuser‘; es war im ganzen Hause nicht das kleinste Plätzchen mehr zu vergeben oder zu verkaufen. Plötzlich trat ein Herr mit einem sehr starken Barte, auffallend hohen Vatermördern und hermetisch zugeknöpftem Oberrocke in mein Cabinet und hielt mir im tiefsten Baßton folgende Anrede: ‚Mein Herr, ich habe vierzig Dienstjahre mit zwanzig Feldzügen hinter mir, bin acht Mal schwer verwundet worden, und dort unten‘ – er zeigte mit verächtlicher Gebehrde nach der Casse, – ‚dort unten will man mir einen Platz zu der heutigen Vorstellung verweigern!’

Die Art, den Eintritt zu verlangen, schien mir so neu und die Ueberzeugung, die der ehrenwerthe Krieger von seinem guten Rechte hatte, kam mir so begründet vor, daß ich das Billet, welches ich für mich selbst zurückgehalten hatte, hervorholte und es ihm anbot. Ein ,Ich danke Ihnen, mein Herr!’ in einem Tone, den Frédéric Lemaitre beneidet haben würde, war der Lohn meiner großartigen Aufopferung.“

Ueber die Kostspieligkeit eines regelmäßigen Logen-Abonnements läßt sich der Verfasser also vernehmen:

„Ich glaube schwerlich, daß die Tänzerinnen den Marquis von C… zu Grunde richten werden, aber was seine Loge ihm bereits kostet, würde manchem Menschen schon für ein ziemlich ansehnliches Vermögen gelten. Es war am Tage einer außerordentlichen Vorstellung, und der Zettel hatte, wie das bei derartigen Veranlassungen üblich ist, die Abonnenten benachrichtigt, daß man über ihre Logen verfügen werde, falls sie dieselben nicht bis zu einer gewissen Stunde für sich selbst in Anspruch genommen hätten. Diese Stunde war bereits vorüber, als der Marquis von C … sich bei mir anmelden ließ. ‚Wie, mein Herr,’ redete er mich an, ‚ist es wirklich wahr, daß man sich erlaubt hat, für diesen Abend über meine Loge zu verfügen?’ Ich berief mich auf die Anzeige, die der Zettel gebracht hatte. ‚Das geht mich Alles gar nichts an,’ fiel mir der Marquis in’s Wort, ‚ich habe meine Loge bereits seit dreißig Jahren inne und bezahle dafür 16.000 Francs jährlich, somit glaube ich mehr Anspruch auf Berücksichtigung zu haben, als alle übrigen Abonnenten.’ 16.000 Francs jährlich? … Das heißt also, daß der Mann bereits 480.000 Francs für seine Loge bezahlt hatte. In der That, er verdiente Berücksichtigung. Seine gewöhnliche Loge konnte ich ihm für jenen Abend nicht mehr verschaffen, da sie bereits vergeben war, aber ich trug Sorge, daß er andere Plätze bekam.“

Es mögen nun einige interessante Notizen über die Debüts von Mme. Gueymard, die berühmte und allgemein bekannte Primadonna der großen Oper, folgen.

„Eine kleine Scene, die sich hinter den Coulissen zutrug, wurde für Mme. Gueymard zu einem ziemlich richtigen Thermometer ihres Triumphes. Zum besseren Verständniß des Nachfolgenden muß ich einige Details vorausschicken. Mme. Gueymard hatte sich nach ihrer Ankunft in Paris an einen der bekanntesten hiesigen Meubleshändler gewendet mit dem Auftrage, er möge ihr eine vollständige Einrichtung, Meubles, Tapeten u. s. w. besorgen. Die Künstlerin und der Händler wären aber nicht ganz einig geworden; Letzterer, der die Leistungen der Debutantin noch nicht kannte, wollte sich nicht zu weit mit ihr einlassen. Mme. Gueymard verlangte eine Einrichtung von Palissanderholz, halbseidene Ueberzüge und eben solche Tapeten; der vorsichtige Meubleshändler schlug dagegen Mahagoni Meubles und Kattun-Ueberzüge vor. Das Geschäft war etwa so weit gediehen, als der Abend der ersten Vorstellung des ‚Trovatore’ heranrückte. Mme. Gueymard debutirte in dieser Oper, in der Rolle der ‚Leonore’. Nach dem ersten Acte kam der Meubleshändler auf die Bühne und sagte der Debutantin leise in’s Ohr: ‚Sie sollen Palissander-Meubles und halbseidene Ueberzüge haben!’ – ‚Warten Sie noch!‘ erwiderte Mme. Gueymard. Sie hatte Recht, denn kaum war der zweite Act vorüber, als der Händler abermals vor ihr erschien und ihr mit dem Ausdruck höchster Befriedigung sagte: ‚Sie können Rosenholz und Damast-Ueberzüge haben!’ ‚Warten Sie noch!’ entgegnete abermals die Sängerin. Endlich war der Vorhang zum letzten Male gefallen; die triumphirende Künstlerin wurde lebhaft hervorgerufen und verneigte sich von der Mitte der Bühne aus vor dem jubelnden Publicum, da unterschied sie durch alle lebhaften Beifallszeichen und Bravo’s hindurch eine Stentorstimme, welche ihr zuschrie: ‚Meubles von Boule, Brokat-Tapeten! Alles was Sie wünschen! Alles! Alles!’ Es war der begeisterte Meubleshändler, der auf diese Art seinen ganzen Laden zu Leonore’s Verfügung stellte.“

„Unser Jahrhundert liebt zu sammeln; Jeder nach seinen Kräften wünscht eine Sammlung zu besitzen: Bilder, Medaillen, Porzellan, seltene Bücher, Autographen, Photographien, Postmarken – Alles wird gesammelt! Der Herzog von Moruy hat sich eine der prachtvollsten Gallerien von Bildern aus allen Zeiten und allen Schulen angelegt. Herr Torre, der Gatte der berühmten Tänzerin Ferraris, besitzt eine prachtvolle Bibliothek der seltensten Bücher, Incunablen, Elzevirs etc. Die Sammler von Photographien und Postmarken bilden geradezu eine Legion; Kinder, Männer, Weiber, Greise, alle Welt beschäftigt sich damit. Diese Sammler kennen sich zumeist untereinander, haben Beziehungen zusammen und tauschen sich gegenseitig ihre Doubletten aus. Einen Sammler aber kenne ich, der schwerlich mit irgend einem seiner Collegen einen Tauschhandel wird eingehen können, und das ist Herr Raffin; er war längere Zeit an der großen Oper als Inspector angestellt. Dieser Herr sammelt – rathen Sie – doch nein, geben Sie sich keine Mühe – Herr Raffin sammelt: Tanzschuhe! und zwar von allen Tänzerinnen, die an der hiesigen Oper mit Beifall aufgetreten und zu irgend einer Berühmtheit gelangt sind. Der Einfall ist unstreitig originell.“


  1. Der Versammlungstag war für diese Woche vom Sonnabend auf Sonntag verlegt worden.
  2. Beckmann ist passionirter Jäger, der aber öfter „ein Loch in die Natur schießt“, als dem Wilde gefährlich wird.
  3. Grandjean ist zugleich Redacteur und einziger Mitarbeiter der überaus witzigen Inselzeitung; Otto Prechtler, der bekannte lyrische Dichter, handhabt die Großmeisterwürde mit einer Fülle von parodirendem Ernst in ergötzlichster Weise.