Die Gartenlaube (1864)/Heft 7

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1864
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[97]

No. 7.   1864.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.





Unsichere Fundamente.
Erzählung von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)

Als Hellmuth in das hell erleuchtete, von zahlreichen Pulten besetzte Comptoir hinaustrat, in welchem die dort arbeitenden jungen Leute sich eben fertig machten, ihr Tagewerk zu beschließen, blieb er wie unwillkürlich stehen und überschaute den Raum, worin alle Fäden des ausgebreiteten Geschäfts zusammenliefen – sein Blick fiel auf das einzige verlassene Pult, und langsam strich er, als wolle er einen plötzlich entstehenden Zug von Sorge verbergen, mit der Hand über die Stirn; in der nächsten halben Minute aber schon hob er mit völlig klarem Gesichte den Kopf wieder und wandte sich dem Platze seines ersten Buchhalters zu. „Herr Gruber, es würde mich freuen, Sie morgen bei mir zu Tische zu sehen!“ sagte er, und mit einem hellaufschießenden Roth in seinen Wangen verbeugte sich der junge Mann. Der Principal nickte wohlwollend und trat dann nach der hohen erleuchteten Hausflur hinaus, in welcher die breite gebohnte Treppe nach den oberen Stockwerken führte. Langsam, wie in Gedanken versinkend, erstieg er jene, und erst als nach Aufschließen der Corridorthüre ihm das helle Lachen einer Mädchenstimme entgegenklang, schien er mit Macht das, was seine Seele beschäftigt, von sich zu weisen.

In dem großen, mit dem vollen modernen Luxus ausgestatteten Zimmer, welches er öffnete, saßen zwei junge Damen; die eine an dem glänzenden Stutzflügel, noch immer lachend, die andere in einen Fauteuil zurückgelehnt, eine zusammengerollte Stickerei im Schooße; die erstere im weißen Casimir-Negligé, im frischesten Blühen und Strahlen der Jugend, die andere im dunkeln einfachen Hauskleide, die bleichen feinen Züge nur durch ein Paar große dunkelblaue Augen belebt. „O Papa, Du kennst die Anna noch nicht,“ rief die Erstere dem eintretenden Hellmuth entgegen; „sie hat sich vorgenommen, mich nicht spielen zu lassen, oder zu klimpern, wie sie es in ihrer Artigkeit nennt, und sie darf auch nur eine ihrer trockenen Bemerkungen machen, so ist meine Aufmerksamkeit verloren!“

„Glaub’ der Eugenie doch nicht, Vater,“ sagte die Zweite ruhig, während es dennoch wie leichter Humor in ihren Mundwinkeln zuckte, „es kann ja Niemand verlieren, was er noch gar nicht gehabt hat!“

Der Eingetretene nickte lächelnd, indem er, langsam mit der Hand durch das dichte graue Haar fahrend, mit einem eigenthümlich aufmerksamen Blick die beiden Mädchen musterte, der dann an Eugenie’s glänzender Erscheinung haften blieb. „Ich kam nur, Kinder, um Euch mitzutheilen, daß wir morgen zum Mittag einen Gast haben,“ sagte er, „einen jungen Mann von weither, den ich Eurer Aufmerksamkeit empfehle; es liegt mir etwas daran, daß er sich bei uns wohl fühlt. Theilt der Wirthschafterin das Nöthige mit. Und Du, Anna, machst dann auch wohl ausnahmsweise und mir zu Liebe einmal etwas mehr Toilette als gewöhnlich?“

Die Angeredete erhob sich leicht, und ein Lächeln, das ihren Zügen ein ganz neues Leben gab, glitt über ihr Gesicht. „Dir zu Liebe würde ich Alles thun, Väterchen,“ erwiderte sie; „aber denke doch nur, wie ungeschickt ich mich im Putz ausnehme. Eugenie ist in der Pension zur großen Dame erzogen worden, ich aber bin bei der Großmutter ein bescheidenes Gänseblümchen geblieben – ist es ein so großer Herr, so laden wir die Tante Geheimeräthin ein, und ich bleibe vom Tische weg –“

„Glaube ihr nicht, Papa!“ unterbrach sie Eugenie, vom Flügel aufspringend, „sie ist reizend, wenn sie nur Toilette machen will; aber sie hat die Marotte, sich für zu unbedeutend zu halten!“

Ueber Hellmuth’s Stirn war ein Gedanke gegangen, welcher dem augenblicklichen Gespräche ganz fremd zu sein schien, und wie noch unter dem Einflusse desselben wandte er sich nach dem Mädchen im Fauteuil. „Thue denn, wie Du willst, Anna, aber wir wollen nur unter uns sein!“ sagte er, auf die Angeredete zutretend und sie auf die Stirn küssend, „Du, denke ich, würdest in jeder Lage glücklich werden können! – Für Dich, Eugenie, bedarf es ja wohl keiner Ermahnung,“ setzte er von Neuem lächelnd hinzu, einen Blick vollen Wohlgefallens über die Gestalt der Genannten laufen lassend; „ich will nur noch bemerken, daß ich Euern Freund Gruber mit eingeladen habe, um etwas Leben in unser Zusammensein zu bringen.“

„Unsern Freund Gruber?“ sagte Eugenie, mit gekräuselter Lippe die Augen senkend, „was habe ich denn mit dem jungen Herrn zu schaffen?“

„Gut, so wird sich Anna seiner annehmen,“ erwiderte der Hausherr mit einem eigenthümlichen halben Blicke nach der Andern.

„Wenn er es sich gefallen läßt, herzlich gern,“ erwiderte diese trocken; „er geht mir aber immer gern drei Schritte weit aus dem Wege, da ich nicht sehr für blondes Haar, und was damit zusammenhängt, schwärme.“

Hellmuth nickte mit einem leichten „Hm“ der Befriedigung, aber es war, als hätten sich seine Gedanken bereits wieder von dem Gespräche entfernt. Langsam wandte er sich nach dem Ausgange. „Ich habe noch zu arbeiten, Kinder,“ sagte er, „und so denkt an das Nöthige.“

„Denkt an das Nöthige,“ wiederholte Eugenie, als sich die Thür hinter dem Davongehenden geschlossen; „hast Du den Vater schon so in Sorge um einen einzelnen Gast gesehen? was hat er bei uns zu thun?“

[98] „Ei, wir haben zwei Gäste, Du ignorirst den Herrn Gruber, als ob er Dich hören könnte!“ unterbrach sie die Schwester, während ein leichter Schalk in ihren Mundwinkeln zuckte.

„Laß das jetzt!“ war die rasche Antwort, während dennoch ein helles Roth in die Wangen der Sprecherin trat; „ich muß wissen, wer der Mensch ist, um dessenwillen der Vater schon am Abend vorher seine Anordnungen für das Mittagsessen trifft und uns eine gewählte Toilette anempfiehlt; wenn Jemand davon Kenntniß hat, so ist es Willmann –!“ Sie ging rasch nach der Thür, dort die Glocke ziehend, und nach kurzer Weile erschien eine Dienerin, wohl so alt, als beide Mädchen zusammengenommen, welcher Eugenie sich mit einer Miene voller Vertraulichkeit zuwandte. „Sehen Sie doch zu, Margarethe, ob Sie dem Willmann nicht ein heimliches Wort sagen können, wir möchten ihn sprechen, aber bald.“ Die Dienerin nickte, als sei ihr ein derartiger Auftrag kaum ungewöhnlich, und verschwand.

„Aber warum interessirt Dich nur der Fremde so sehr? Hast Du nicht gehört, daß Gruber ebenfalls eingeladen ist?“

Eugenie machte eine Bewegung der Belästigung. „Ich glaube, weil Du seine Vertraute in Bezug auf mich gewesen bist, wirst Du in seiner Seele schon eifersüchtig auf den Fremden. Ich habe den jungen Mann recht gern – nun gut, was aber weiter?“

„Daß er mir trotz seiner blonden Haare und der Weichheit in seinem Wesen, die nicht mein Geschmack sind, doch als eine viel zu achtbare Persönlichkeit erscheint, als daß man mit ihm spielen sollte,“ erwiderte Anna mit einer eigenthümlichen Bestimmtheit. „Und meinst Du es aufrichtig mit ihm, so habt Ihr Beide noch einen viel zu harten Kampf um des Vaters Zustimmung vor Euch, als daß der geringste leichtsinnig gesäete Zweifel zwischen Euch selbst sich rechtfertigen ließe.“

Eugenie verzog die frischen Lippen. „Wir sind noch nicht so weit miteinander, als daß nur eine bestimmte Aussprache zwischen uns erfolgt wäre; ich sehe also auch nicht ein, welchen Zwang ich mir, einer einfachen Neugierde halber, auferlegen sollte. Papa rechnet auf unsere Freundlichkeit gegen den fremden Gast – will Jemand mir ein Verbrechen daraus machen, nun gut, ich bin gegen Niemand eine bindende Verpflichtung eingegangen!“

Anna hielt die großen Augen noch eine Weile ernst auf die Sprecherin gerichtet, als diese bereits ihren früheren Platz am Flügel eingenommen hatte und zerstreut einzelne Accorde anschlug; dann senkte sie das Gesicht nach der Stickerei in ihrem Schooße, diese wie mechanisch entrollend.

Kein Wort fiel weiter zwischen Beiden, bis sich geräuschlos die Thür aufthat und Willmann’s kahles Haupt mit einem: „Darf ich eintreten?“ halb in der Oeffnung zeigte.

Anna schien kaum Notiz von ihm zu nehmen, aber Eugenie erhob sich rasch, den Kopf wie in leichtem Trotze zurückwerfend. „Nur herein, Willmann!“ rief sie, und als die kleine Gestalt das Zimmer betrat, zog sie rasch einen Stuhl herbei und deutete mit einem bestimmten: „Hier, setzen Sie sich!“ darauf. Der Comptoirdiener, wie längst an eine ähnliche Verfahrungsweise gewöhnt, zögerte auch keinen Augenblick, dem Befehle nachzukommen, und sie ließ sich unweit von ihm auf einem Divan nieder.

„Papa hat uns für morgen einen Gast von weither angekündigt,“ begann sie, „und Sie sollen uns sagen, Willmann, was Sie von diesem wissen, oder was sonst damit zusammenhängt, damit wir uns danach einrichten können. – Sie werden doch jedenfalls schon etwas von der Angelegenheit kennen?“

Der Comptoirdiener begann plötzlich wunderlich zu blinzeln und seinen Mund krampfhaft nach allen Seiten zu ziehen. „Ich – ich muß Ihnen sagen, Fräulein Eugenie, daß ich von einem Gaste nicht das Geringste weiß,“ sagte er endlich, „wenn er aber von weither kommt und die Ankündigung erst jetzt erfolgt ist, so wird es wohl derselbe sein, von welchem Herr Hellmuth vor einer Stunde erst einen Brief erhalten hat – und es muß jedenfalls eine sonderbare Bewandtniß mit ihm haben. Herr Meier ist heute Abend ohne Weiteres aus dem Comptoir entlassen worden, und das hängt mit dem Fremden zusammen, ich habe meine bestimmten Gründe dafür – um Gotteswillen aber lassen Sie nichts darüber laut werden,“ setzte er mit einem neuen Zucken seines Gesichts hinzu, „Sie wissen, wie der Herr Papa ist.“

„Ohne Sorge, Willmann, was geht mich denn der Herr Meier an? Das ist Papa’s Sache!“ unterbrach ihn Eugenie mit einer leichten Bewegung von Ungeduld, „ich will von dem Fremden selbst etwas hören. Wissen Sie von ihm etwas?“

„Er ist vorgestern angekommen und soll stark von der Sonne gebräunt sein, ich habe das aus Herrn Hellmuth’s eigenem Munde, das ist aber auch Alles, was ich weiß!“ war die Antwort.

Eugenie erhob sich mit einem kurzen Achselzucken. „Deshalb hätten wir Sie freilich nicht zu plagen brauchen,“ sagte sie, sich abwendend, aber Anna hatte bei den letzten Worten des Kleinen mit einer leichten Spannung in ihrem Gesichte ihren Sitz verlassen.

„Es war ja wohl vorgestern Abend, als Sie mich vom Posthofe abholten?“ begann sie; im gleichen Augenblicke aber trat auch ein leichtes Roth in ihr Gesicht, und wie sich einer Uebereilung bewußt werdend, fuhr sie fort: „Herr Meier war doch damals noch in Vaters vollem Vertrauen, was kann denn ein Fremder von weither mit unseren Verhältnissen zu thun haben?“

„Ich habe nur meine Gedanken darüber, wie sie mir aus einzelnen Worten des Herrn Meier gekommen sind, möchte aber um Gotteswillen nicht, daß etwas weiter davon laut würde,“ erwiderte Willmann, mit einem neuen krampfhaften Augenzwinkern von seinem Stuhle sich erhebend, „mir ist es aber, als käme mit dem Fremden wahrlich kein guter Engel in’s Haus!“

„Sie fangen an interessant zu werden mit Ihren Räthseln,“ wandte sich Eugenie nach ihm zurück, „was meinen Sie aber, wenn wir uns daran machten, den bösen Engel zu bekehren?“

Der Comptoirdiener sah die Sprecherin mit großen Augen an und nickte dann zwei Mal ernsthaft, wie von einer plötzlichen Idee berührt. „Es würde mir leid thun um Jemand, Fräulein Eugenie, der freilich kein Engel, aber ein recht guter Mensch ist,“ sagte er dann langsam, „aber es wird ja Alles kommen, wie es Gottes Wille ist. – Im Uebrigen, wenn mich die Fräulein nicht mehr brauchen – es wartet noch Arbeit auf mich –“ schloß er und wandte sich mit einer Verbeugung dem Ausgange zu.

„Er wird auch alt, der Willmann – früher war er anders!“ sagte Eugenie, als die Thür sich hinter dem Kleinen geschlossen, mit einem leichten Runzeln ihrer weißen Stirn und warf sich auf ihren früheren Platz am Flügel, regellos in die Tasten hineingreifend. Anna hatte schon während der letzten Worte ihren Sitz wieder eingenommen und schien, dem leise wechselnden Ausdruck ihres Gesichtes nach, eine ganze Reihe von Gedanken zu verfolgen.




3.

In dem Comptoir brannte nur noch eine einsame Lampe über Gruber’s Pulte, als der alte Diener dort eintrat, und auf diesen schien der junge Mann auch nur gewartet zu haben. „Etwas für mich, Willmann?“ fragte er halblaut, Jenem entgegengehend.

Der Ankömmling aber warf erst einen halbscheuen Blick nach der erleuchteten Glasthür zu Hellmuth’s Cabinet, ehe er mit vorsichtig gedämpfter Stimme erwiderte: „Ich hätte schon etwas, aber nur von mir selbst. Ich habe immer gesagt, daß die Neugierde die eigentliche Schlange im Paradiese gewesen ist, der heute noch kein Frauenzimmer widerstehen kann, und sollte Jede darum noch einmal ihr Paradies verlieren, und gerade so steht es oben bei den Fräulein. Herr Hellmuth hat den Ausländer für morgen zu Tische geladen – was mit dem los ist, wissen wir alle Beide nicht, etwas Gutes aber sicherlich nicht, sonst hätte der Herr Meier nicht so unverblümte Worte gegen mich gebraucht und sich so ohne Weiteres wegschicken lassen, und der Herr Papa hätte auch nicht heute Abend schon oben den Besuch zu morgen angekündigt; das aber, weil es ungewöhnlich ist, paßt so recht für die jungen Frauenzimmer. Sie wollten von mir nichts weiter als das Nähere über den Fremden wissen, und als ich geradezu sagte, es würde wohl kein guter Engel mit ihm in’s Haus kommen, meinte Fräulein Eugenie, sie würde versuchen, ihn zu bekehren –“

„Und was meinte Anna?“ unterbrach ihn der Hörer in sichtlich aufsteigender Sorge.

„Sie ist immer ruhiger, wenn sie auch die Jüngere ist; trotzdem konnte ich auch ihr anmerken, daß sie nicht gleichgültig über den ausländischen Besuch war; und nun möchte ich Ihnen Eins rathen. Sie gehen ja auch einmal ab und zu nach dem Hôtel Français, wo der Fremde logirt; sehen Sie sich doch einmal heute Abend noch das Geschöpf an, wenn Sie es vor die Augen bekommen [99] können. – Es ist nicht allein Ihretwegen, so viel sich auch Fräulein Eugenie nach dem Gespräche mit dem Vater für den Menschen zu interessiren scheint,“ fuhr er fort; „es ist noch etwas Anderes, man bekommt ein Vorgefühl über bestimmte Dinge, wenn man so lange in einem Geschäfte ist, wie ich hier, und mir ist es gerade, als wäre eine schwarze Gewitterwolke über unser Aller Köpfen aufgestiegen.“

„Sie sind wunderlich,“ erwiderte der junge Mann, leicht den Kopf schüttelnd, während seine zusammengezogenen Augen indessen einen ganz anderen Gedankengang verriethen; „wenn Jemand den Stand des Geschäfts kennt, das sich vor keinem In- oder Ausländer zu fürchten braucht, so bin ich es doch. Aber Sie haben in anderer Beziehung Recht; es ist für mich vielleicht gut, wenn ich morgen diesem Fremden nicht zum ersten Male und völlig unbekannt entgegentrete – ich werde ihn zu treffen suchen. Wenn Jemand, nach Ihren eigenen Andeutungen, etwas zu fürchten hat, Willmann, so bin ich es nur allein, auch nach der ganzen Weise, wie Herr Hellmuth verfahren – Unbekannte ladet man nicht gleich zu Tische, reißt sich auch nicht aus der Arbeit, um ihr Eintreffen sofort den Töchtern anzukündigen –“

„Aber ich kann Ihnen sagen, daß der Principal noch vor einer Stunde nichts über die Absichten des Menschen in unserer Stadt wußte,“ unterbrach ihn der Kleine mit gedämpfter Stimme eifrig, „kann Ihnen bestimmt sagen, daß es eine besondere Bewandtniß mit ihm haben muß –!“

„Ja wohl! vielleicht überrascht uns die Verlobung einer Tochter des Hauses mit ihm, als dem Sohne irgend eines alten Geschäftsfreundes. Nachdem der junge Mann die ersten Tage im Stillen verwandt, um gründliche Erkundigungen über uns im Orte einzuziehen, hat er sich als der Erwartete gemeldet, wird morgen in der Familie vorgestellt, tritt möglicherweise selbst mit in das Geschäft – und wenn, wie vorauszusehen, Eugenie die Erwählte wäre, die schon gegen Sie ihr lebendiges Interesse für ihn kund gegeben, könnte Gruber höchstens seine Entlassung nehmen – dürfte sich auch kaum mit irgend einem Rechte beklagen, denn es sind ja bis jetzt immer nur halb unbestimmte Hoffnungen gewesen, die ihm von der jungen Dame geworden. – Die Idee mag Ihnen etwas plötzlich erscheinen,“ fuhr der Sprecher fort, langsam die Flamme seiner Lampe niederschraubend, „aber Alles, seit Sie mir zuerst von dem Fremden gesagt, mahnt mich daran, selbst Meier’s unerwarteter Abgang, der schon meine bevorzugte Stellung nur ungern ertrug! – Ich sage Ihnen morgen Weiteres, Sie sind ja immer mein alter Freund gewesen!“ schloß er, dem Kleinen die Hand reichend, und verließ dann das Comptoir.

Eine Viertelstunde darauf trat er auch aus dem Hause, in dessen Seitengebäude er neben dem Zimmer des Comptoirdieners seine Wohnung hatte, blickte eine kurze Weile nach den Fenstern empor, deren helles Licht ihm den Aufenthalt der Töchter des Hauses anzeigte, und nahm dann den ziemlich langen Weg nach dem Hôtel Français auf. Es war ihm kaum anders, als sei er am Ende eines langen, süßen Traumes angelangt und soeben erst zur nüchternen Wirklichkeit erwacht. Die Zeit trat vor sein inneres Auge, in welcher er als ganz junger Mensch durch die Vermittelung eines Verwandten seine erste Commisstelle in Hellmuth’s Geschäfte erhalten; damals hatte die Frau des Principals noch gelebt, die, von dem Aeußern des kaum erwachsenen Gehülfen angesprochen, ihm eine Wohnung im Hause bewilligt und für ihn, den sie seiner langen, blonden Haare wegen nur „unsern Johannes“ genannt, wie eine halbe Mutter gesorgt hatte. Damals war Eugenie vierzehn und Anna dreizehn Jahre gewesen, und während die Erstere als halbes Fräulein ihn entzückt, war das „wunderliche Kind“ Anna in ihrer ernsten Weise seine Freundin geworden, die ihn selbst über Manches, das sie aus ihrem wohlbenutzten Unterricht besser zu wissen gemeint, zu belehren unternommen, aber sich auch niemals verletzt gefühlt hatte, wenn seine Aufmerksamkeit sich den lustigen Tollheiten Eugenie’s zugewandt. Fast mehr um des wohlthuenden häuslichen Familienlebens willen, als aus unabhängigem innerem Antriebe, hatte er fortdauernd alle seine Kräfte angespannt, um sich eine volle Zufriedenheit des Principals zu erwerben, hatte jedoch dadurch bereits nach dem ersten Jahre sich eine Gewohnheit der Gewissenhaftigkeit angeeignet, welche damals schon die Aufmerksamkeit Hellmuth’s auf ihn gezogen. Dann war die Mutter nach einer plötzlichen Erkrankung gestorben, Eugenie war in eine Erziehungsanstalt, Anna aber zu der Mutter der Todten in eine Provinzialstadt gekommen, und für den jungen Mann war es gewesen, als sei ihm selbst Alles, was er lieb gehabt, gestorben.

In dieser Zeit hatte er sich zum ersten Male dem Comptoirdiener angeschlossen, welcher fast seit der Geburt der Mädchen im Geschäfte war, um nur von den letzteren reden zu können; dem völlig in seinem Leide verschlossenen Hellmuth gegenüber aber war es ihm eine Herzenspflicht geworden, das Möglichste zu dessen Befriedigung aufzubieten – und der Principal schien dies zu empfinden. Wenn er stumm aus seinem Cabinet durch das Comptoir ging und Willmann ihm ernst folgte, um nach jedem seiner Privatbedürfnisse zu sehen, hatte er doch ein Nicken für Gruber, welcher die hellblauen Augen in voller Theilnahme zu ihm aufgeschlagen; später hatten sich hieran einzelne freundliche Worte geschlossen, und zuletzt war ihm sogar von Hellmuth lächelnd mitgetheilt worden, daß Anna in einem ihrer Briefe angefragt, ob Gruber immer noch der „blonde, sanfte Johannes“ sei. Dem jungen Manne hatte dabei eine Frage nach Eugenien auf den Lippen geschwebt, aber sie war nicht zu Tage getreten, und beim Einschlafen an demselben Abende hatte er sich darüber gefreut. Die still Geliebte mußte bis dahin weit in ihrer körperlichen Ausbildung vorgeschritten sein, er konnte sich fast ein Bild von ihr malen, wie sie einmal nach Hause zurückkehren würde, und in welcher Beziehung durfte dann er, der arme Commis, zu ihr stehen? Und dies war ferner auch seine Anschauungsweise geblieben, trotz des wachsenden Vertrauens des Geschäftsherrn, das sich bald in den ihm zugetheilten Arbeiten und in dem mit jedem Neujahr erhöhten Gehalte gezeigt, bis eines Tages, fast vier Jahre nach dem Tode der Frau, ihn Hellmuth zu sich in sein Cabinet gerufen.

„Wir haben mancherlei drängende Geschäfte,“ hatte der Letztere gesagt, „aber ich möchte gern meine Töchter wieder um mich haben, bedarf auch einer kurzen Erholung und weiß nicht, ob die nächste Zeit uns nicht noch Drängenderes bringt. Ich habe deshalb gedacht, mit den Mädchen eine kurze Reise zu unternehmen und sie dann wieder in’s elterliche Haus zu führen. Sie, Herr Gruber, sind in allem Laufenden au fait; es fragt sich indessen nur noch, ob Sie sich getrauen, mich während einiger Wochen zu vertreten; für wichtigere Fälle würde ich Sie immer in Kenntniß erhalten, wohin an mich zu schreiben!“

In des jungen Mannes Gesicht war, ob des ihm gezeigten Vertrauens, ein helles Roth getreten, zugleich aber auch etwas in ihm aufgestiegen, was ihm bis jetzt immer nur leise zum Bewußtsein gekommen – das Gefühl seiner eigenen Fähigkeit, welchem sich in diesem Augenblicke fast der Wunsch angeschlossen, seine Energie und Hingebung für das Geschäft in einer schwierigeren Lage, als sich voraussehen ließ, erproben zu können. Er hatte in einfacher Weise, aber hörbar bewegt geantwortet: „Ich getraue mir Alles, wofür Sie mich selbst für fähig halten, Herr Hellmuth!“ und der Kaufherr war nach einem Nicken voll schweigender Befriedigung daran gegangen, ihm seine besonderen Anweisungen zu geben, sowie das Comptoirpersonal von der getroffenen Anordnung zu unterrichten. Ob ihm bei diesem Letzteren das erbleichende Gesicht Meier’s, des Aeltesten im Geschäft, aufgefallen, hätte sich kaum bestimmen lassen; Gruber aber hatte aus zwei Blicken des Letztern die Ueberzeugung gewonnen, daß aus seiner Bevorzugung ihm ein unversöhnlicher Feind erwachsen sei, und instinctmäßig war er nach Hellmuth’s Abreise jeder näheren Berührung mit dem alten Buchhalter ausgewichen. Erst als die Depesche eines auswärtigen befreundeten Hauses über das unvermeidliche Fallissement eines mit der Firma in Verbindung stehenden Geschäfts einlief, eine Nachricht, die ebenso das schleunigste Handeln, als die tiefste Verschwiegenheit erforderte, hatte er unter dem Vorgeben, daß der Principal eine Rücksprache mit ihm verlange, die ihm gewordene Verantwortlichkeit an Meier übertragen und war in derselben Nacht abgereist. Als er aber nach verschiedenen Tagen der Strapaze und der Arbeit, indessen mit einem Gesichte voll glücklicher Zufriedenheit zurückkehrte, sah er das Arbeitscabinet des Principals erleuchtet.

Meier empfing ihn mit den ausgeprägt hämischen Worten: „Sie haben jedenfalls Herrn Hellmuth verfehlt – er erwartet Sie jetzt wenigstens schon seit heute Morgen!“ und ein vollkommen undurchdringliches Gesicht blickte ihm entgegen, als er vor den Geschäftsherrn trat. In zwei Minuten war selbstverständlich Alles erklärt; eine halbe Stunde mochte es hierauf noch zu genauem Bericht bedurft [100] haben, und dann faßte Hellmuth den jungen Mann unter den Arm: „So! es ist mir weniger um das Geld, so weh auch der Verlust dem Geschäftsmann gethan haben würde, als daß ich mich nicht einmal in Ihrer Besonnenheit getäuscht habe – und nun kommen Sie mit mir, die Mädchen wollen sehen, was aus ihrem Johannes geworden ist.“

Und so hatte ihn der Principal die Treppe nach dem ersten Stocke hinauf geführt, und als sich dort die Thür des großen Zimmers geöffnet, war sein erster Blick auf Anna gefallen, die sich wohl zur vollen Jungfrau entwickelt, aber doch kaum eine Veränderung in den feinen, bleichen Zügen und den großen, sinnenden Augen gezeigt, und wie unter einer plötzlichen Ermuthigung hatte er seine Augen nach der weiter zurückstehenden Gestalt gehoben.

„Da ist der Johannes, und ich kann Euch nur sagen, daß er es verdient, wenn Ihr ihm recht warm die Hand drückt!“ hatte Hellmuth gesagt, allein die Worte waren Gruber vor dem Anblick der im vollen Glanze des Liebreizes und der Eleganz ihm entgegenstrahlenden Eugenie kaum zum Gehör gekommen; selbst in seinen wachen Träumen von ihr hatte er sich nicht bis zu diesem Bilde jugendlicher Schönheit verstiegen. Ihr Auge aber hatte in sichtlicher Befriedigung die gereifte Gestalt des jungen Mannes, wie er noch in seinen Reisekleidern vor ihr stand, überlaufen, und dann war sie mit leicht ausgestreckter Hand ihm einen Schritt entgegengetreten.

„Ich freue mich recht, Herr Gruber, Sie wiederzusehen,“ hatte sie gesagt, dann aber, als sie seinen schweigsamen Händedruck gefühlt und in sein zitterndes Auge gesehen, sich, wie in einer leichten Verlegenheit und ihm ihre Hand entziehend, nach der Schwester gewandt. „Er hat sich recht verändert, meinst Du nicht, Anna?“

„Wenigstens etwas zu seinem Vortheile, denke ich – der Johannes aber ist er trotz des modernen Haarschnitts geblieben!“ war als Antwort erfolgt, und wie von dem klaren Ton der Worte aus seiner Befangenheit gerissen, hatte sich Gruber nach der Sprecherin gewandt, dieser in voller Herzlichkeit die Hand entgegenstreckend.

„Und Sie, Fräulein Anna, sind ja auch trotz aller äußeren Veränderung noch die Alte!“

„Ich hoffe es und bin auch ganz zufrieden damit!“ war die lachende Erwiderung des Mädchens gewesen, mit der sie ihm leicht und umstandslos die Hand geschüttelt; „jedenfalls denke ich, werden wir so gut mit einander durchkommen, wie es früher geschehen!“

„So, Kinder, und damit wollen wir Herrn Gruber nicht weiter aufhalten, er ist kaum von einer anstrengenden Geschäftsreise aus dem Wagen gestiegen!“ hatte Hellmuth die Begrüßung geschlossen. „Mit Ihnen aber, liebster Freund, spreche ich morgen früh ein Weiteres; ich werde mehr als bisher eines umsichtigen Vertreters, wie Sie sich mir erwiesen, bedürfen, da mir die Mädchen manche Zeit rauben werden und ich auch etwas für meine Gesundheit thun will – bis morgen früh also!“

Und damit war der junge Mann gegangen, um nach einem kurzen Abendbrod sein Zimmer zu suchen, die soeben erhaltenen Eindrücke mit sich selbst zu verarbeiten und von Eugenie zu träumen. An die Zukunft dachte er in den nächsten Stunden nicht, er gab sich voll und rücksichtslos dem Rausche hin, welcher ihn bei dieser ersten Begrüßung überkommen. Am andern Morgen wurde die Ertheilung der Procura an Gruber, sowie dessen volle Vertretung des Principals, wenn dieser nicht anwesend sei, dem Geschäftspersonal mitgetheilt – Meier hatte sich mit einer völlig theilnahmlosen Miene dabei verhalten – wenn aber auch der junge Mann damit zu einer Stellung gelangt war, an welche er früher kaum zu denken gewagt, so schienen doch seine Beziehungen zu Hellmuth’s Familie sich anders gestalten zu wollen, als es dem neuen Procuristen in dem Gefühle seines jungen Glückes vorgeschwebt. Wenn er auch im Hause wohnte, boten sich die Gelegenheiten einer Begegnung mit den Mädchen doch nur selten; die während der Wochenabende vielfach vorfahrende Equipage, die jedesmal auch den Principal vom Comptoir rief, deutete die mannigfachen gesellschaftlichen Verbindungen an, welche der Letztere um der Töchter willen angeknüpft, und mit einem Weh im Herzen, das er sich kaum selbst eingestehen mochte, sah Gruber oft das strahlende Gesicht, mit welchem Eugenie sich von Willmann in den Wagen helfen ließ. Sonntags Mittags war er zwar regelmäßiger Gast an Hellmuth’s Familientische; dann aber hatte der Principal so viel zu erzählen und vertraulich zu fragen, daß er kaum daran denken konnte, den Mädchen eine besondere Aufmerksamkeit zu widmen, und hatte sich der Vater auch endlich zu seinem Mittagsschlafe zurückgezogen, so war ihm doch niemals der Muth gekommen, sich in dem darauf folgenden Gespräche anders als in den gewöhnlichen Formen zu bewegen.

„Wissen Sie wohl, Herr Gruber, daß Sie noch mehr als Johannes sind, der doch wenigstens seine Herzensmeinung furchtlos aussprach?“ hatte Anna eines Sonntags Nachmittags, als Eugenie durch einen Zufall aus dem Zimmer gerufen worden, plötzlich begonnen, und dem jungen Mann war vor dem wunderlichen Blick ihres Auges das Blut in die Wangen geschossen.

„Ich verstehe Sie nicht ganz, Fräulein –“

„Nun ja, die Worte, die Sie gern zu meiner Schwester sprechen möchten, zittern Ihnen oft sichtlich auf den Lippen, daß ich bisweilen aus reiner Barmherzigkeit davongegangen bin, was Ihnen aber noch mehr den Muth genommen zu haben scheint. Ich will Ihnen sagen, daß Eugenie Sie recht lieb hat, und den Beweis dafür mögen Sie daraus nehmen, daß, wenn ich mich mit Ihnen hier recht gründlich gelangweilt habe, Sie von ihr noch ganz interessant gefunden werden –“

„Aber Fräulein, wie darf ich denn – was Sie hier so ruhig aussprechen –!“ hatte Gruber in einer ihn plötzlich überkommenden Verwirrung gesagt.

„Ja, es ist jedenfalls etwas Entsetzliches!“ war die achselzuckende Erwiderung gewesen, mit welcher sich das Mädchen erhoben hatte und, den Gast allein zurücklassend, der Schwester gefolgt war.

(Fortsetzung folgt.)




Und sie bewegt sich doch![1]

Zum Jubelgedächtniß eines Erlösers der Wissenschaft.

Sinnend die Blicke zum Himmel erhoben,
Forscht Galilei dem Sternenlauf nach,
Strebt zu entziffern die Räthsel da droben;
Und in dem grübelnden Geiste wird’s Tag.

5
     Ob auch die Satzung spricht:

     „Erde, du regst dich nicht!“ –
Lauter und stärker in deutlicher Klarheit,
Mit unumstößlicher, ewiger Wahrheit
     Ruft es der Himmel noch:

10
     „Ja, sie bewegt sich doch!


Und der Jahrhunderte Wahn zu vernichten,
Schreibt er sein großes, unsterbliches Buch.
Wahrheit, sie ist ihm die erste der Pflichten,
Treibt ihn, zu stürzen veralteten Trug.

15
     Wer es auch immer spricht:

     „Tellus bewegt sich nicht!“ –
Hier mit Beweisen und leuchtenden Gründen
Will ich der denkenden Welt es verkünden!
     Brechet des Irrthums Joch!

20
     „Hört’s! Sie bewegt sich doch!
[101]

Aber des tödtenden Buchstabens Knechte
Scheuen des Geistes lebendiges Licht,
Und, mit dem Bannstrahl in drohender Rechte,
Mahnet den Denker das Ketzergericht:

25
     „Sprich, wie die Schrift es spricht:

     Nein, sie bewegt sich nicht! –
Oder Du mögest Dein Leben beenden
Tief in des Kerkers umnachteten Wänden,
     Glaubst Du es immer noch:

30
     Ja, sie bewegt sich doch!


Als durch der Kerkernacht fressende Uebel
Endlich dem Greise die Manneskraft brach,
Spricht er’s – die Hand auf geschändeter Bibel –
Bebend und stammelnd den Peinigern nach,

35
     Wie es der Buchstab spricht:

     „Nein, sie bewegt sich nicht!“
Doch weil die Schrift, an dem Himmel geschrieben,
Tief in dem Herzen ihm stehen geblieben,
     Knirschen die Zähne noch:

40
     „Und sie bewegt sich doch!
[102]

Wahrheit! Du mußt Deine Märtyrer haben;
Ohne sie winket dir nimmer der Sieg!
Als man den Dulder schon lange begraben,
Lange sein Mund, der begeisterte, schwieg,

45
     Und nun kein Mensch mehr spricht:

     „Nein, sie bewegt sich nicht!“ –
Kündet ein Denkmal am heiligen Orte:
Wahrheit, du siegst! – Und es huldigt dem Worte
     Selber die Kirche noch:

50
     „Ja, sie bewegt sich doch!


Fesselt die Erde in zwängende Schranken!
Greifet der Zeit in das rollende Rad!
Bindet die Flügel der kühnen Gedanken!
Haltet die Menschheit auf strebendem Pfad! –

55
     Thörichter Blödsinn spricht:

     „Erde, beweg’ dich nicht!“ –
Nimmermehr zwingt ihr sie, stille zu stehen!
Vorwärts und vorwärts wird ewig sie gehen!
     Hindert und hemmet noch –

60
     Und sie bewegt sich doch!

 G. H-r.


Wir Deutsche haben während der letzten Jahre die hundertsten Geburtstage mehrerer unsterblichen Männer in einer Weise gefeiert, die als eine verklärte Wiedergeburt derselben im Geist und Streben der ganzen Nation gelten kann.

Die meisten dieser Geburtstage galten Dichtern und Denkern. Die befreiende Naturwissenschaft, die erst in unseren Tagen zum Gemeingute des Volkes zu werden beginnt, ward früher geboren. Wir feiern im Februar den dreihundertsten Geburtstag des Vaters der Physik und Märtyrers der Lehre von der Bewegung der Erden und Himmel um uns, Galileo Galilei’s. Er ist es gewesen, der mitten im Lande des festen Glaubens an eine unbewegliche Erde und an unerschütterliche Glaubenssätze die Entdeckungen eines Copernikus (der am 19. Februar 91 Jahre früher geboren worden war) von den Bewegungen und Umdrehungen der Himmelskörper den Priestern und Mönchen und selbst dem Papste 78 Jahre lang bewies, ihnen das Fernrohr dazu in die Hand gab und nach erzwungener Abschwörung dieses Wissens im Munde aller Nachwelt auf ewige Zeiten durch den Ausspruch unsterblich ward: „Und sie bewegt sich doch!“

Copernikus hatte die im Glauben der Menschheit beinahe zwei Jahrtausende stillstehende Erde wissenschaftlich in ewige Bewegung gebracht. Seine in Rom verbotene, von Galilei bekräftigte, genauer, unumstößlich bewiesene und „abgeschworne“ Lehre ward dadurch sofort Gemeingut aller gebildeten Nationen. Mit Galilei eine Zeit lang gleichzeitig lebte, lehrte und hungerte der größte aller deutschen Astronomen, Johann Kepler. Und im Todesjahre Galilei’s ward der wissenschaftliche Entdecker der astronomischen Schwere, der vierte Reformator der Himmelskunde und Naturlehre geboren, Isaak Newton.

Wir sehen, wie sich die Geister des Fortschritts im Wissen und Erkennen, in der Cultur und Freiheit, über Nationen und Jahrhunderte hinweg siegreich über den Häuptern der Mächtigen die Hände reichen und uns mit der tröstlichen Ueberzeugung erfüllen, daß der stets im Wissen und in der Freiheit fortschreitenden Menschheit kein Stillstand, noch weniger Umkehr geboten werden kann.

Ganz besonders tragisch und oft beinahe romanhaft dichterisch tritt diese Wahrheit im Leben Galilei’s hervor. Er ist eigentlich die Persönlichkeit des großen Wendepunktes in der Weltgeschichte, die bis zu Galilei’s Lehren und Leiden auf einer ruhenden, stillstehenden Erde gespielt hatte und sich nun auf einer durch die Himmel sausenden, um sich selbst drehenden Planetenkugel fortsetzen mußte, die Persönlichkeit des Kampfes der Vernunft gegen weltliches und geistiges Papstthum, der Triumph lebendigen Wissens gegen todten Glauben, gerade in dem Augenblicke, als letzterer es Schwarz auf Weiß und beschworen nach Hause trug, daß die Wissenschaft „umgekehrt“ sei und Buße gethan habe.

In dieser weltgeschichtlichen Persönlichkeit Galilei’s lernen wir nun auch eine feine, weltmännische, anmuthige Individualität kennen, verehrungsvoll umlauscht von weltlichen und geistlichen Großen, von künftigen Königen, wie Gustav Adolph, von berühmten Herrschern, wie dem Mediceischen Cosmo. Er singt und spielt und liest Dichter in Gärten, wo Citronen blühen, über welchen der italienische Himmel lächelt. In seinem gastfreundlichen Hause findet Jeder ein offenes Herz und einen gedeckten Tisch. Achtung, Ehre und Liebe umgeben ihn bis in’s späteste, blinde Alter, selbst vor dem Tribunale der furchtbaren Inquisition. Seine Feinde umlauern und umhorchen ihn Jahre lang mit Zaudern und Zagen und wagen endlich nicht einmal den Verurtheilten brutal zu behandeln. Obgleich man viel von Tortur und finstern Kerkern in Lebensbeschreibungen Galilei’s gefabelt hat: dies Zeugniß müssen wir seinen pfäffischen und festgläubigen Feinden geben, daß sie ihn, der die Grundlage ihrer Herrschaft gründlicher erschütterte, als Luther, nie in moderner Polizei- und soldatstaatlicher Weise brutal behandelten, und selbst bei dem Verbot seiner Lehren und seiner Bücher eine Rücksicht bewiesen, wovon bei den Verboten, Verwarnungen und Confiscationen jetziger Staaten keine Spur mehr zu finden ist.

Galilei war freilich nicht blos ein geborner, sondern auch ein wirklicher Edelmann des damals in Cultur blühenden Florentiner Staates. Er ward am 18. Februar 1564 zu Pisa geboren. Sein Vater scheint neben Wissenschaft auch Tuchhandel getrieben zu haben. Der Sohn aber hatte blos Sinn für Wissenschaft. Gehörig vorgebildet, studirte er von 1581 an auf der Universität seines Geburtsortes Medicin und Philosophie des Aristoteles, die als die vollkommenste, unveränderliche Quelle alles Wissens galt. Er aber hatte mit seinen feurigen Augen und seinem lichten Sinn bald ganz andere Quellen entdeckt.

Wie Newton durch einen vom Baume fallenden Apfel auf Entdeckung des Gesetzes der Schwere geführt ward, so kam auch der erst 19jährige Student Galilei im Dome zu Pisa durch eine alltägliche Kleinigkeit auf das wichtige Geheimniß von den Pendelschwingungen, durch welche seitdem die Naturwissenschaft eine Menge physikalischer Bewegungen erklärte, z. B. die Umdrehung der Erde, und die hernach zu Zeitmessungen und Perpendikeluhren verwendet wurden. Er sah im Dome eine an der Decke aufgehangene Lampe hin- und herschwingen.

In der Quelle aller damaligen Weisheit, dem alten Griechen Aristoteles, las er verschiedene wissenschaftliche Sätze, die zwei Jahrtausende ohne Prüfung als unumstößlich wahr gegolten, unter andern auch den, daß, wenn zwei Steine von verschiedener Größe gleichzeitig von einer Höhe herabgeworfen werden, der größere eher zur Erde komme.

„Das wollen wir doch erst einmal untersuchen,“ rief er, stieg auf den schiefen Thurm zu Pisa und warf vor Zeugen unten und oben Steine von verschiedener Größe herab. Sie kamen immer ohne Rücksicht auf ihre Größe gleichzeitig unten an, und mit jedem aufklatschenden Falle zerbröckelte ein Stück nach dem andern von dieser alten Zwingburg der Wissenschaft. Laßt uns untersuchen! Das war die einfache, aber allmächtige Zauberformel, womit die Autorität, die von oben her vorgeschriebene Formel des Wissens und Glaubens gestürzt, der Geist auf den Kampfplatz der Freiheil gerufen ward.

Demselben Thurme verdanken wir noch die von Galilei durch eine Reihe von Untersuchungen ermittelten Gesetze von der Geschwindigkeit des Falles oder der Wirkung der Schwere. Sodann untersuchte er mit besonderer Vorliebe die Wirkung der Körper je nach Schwere und Umfang auf das Wasser. Man wußte bis dahin noch nicht, warum manche Körper schwimmen, andere nicht, oder nur in bestimmter Form und Ausdehnung. Warum schwimmt das kleinste Stück Eisen nicht auf dem Wasser, wohl aber ein mit vielen hundert Centner Eisen beladenes Schiff? Durch seine Untersuchungen und sein späteres Werk „Von den schwimmenden Körpern“ entdeckte und bewies er die ersten Grundlehren der angewandten Mathematik, die wir Hydrostatik und Hydrodynamik [2] nennen, und die in der von ihm zuerst erfundenen hydrostatischen Wage, der hydraulischen Presse u. s. w. in Wissenschaft und Industrie ungemein wichtig geworden sind.

Es ist sehr erklärlich, daß der Student Galilei bald ein berühmter Mathematiker und schon 1589 Professor zu Pisa ward. Als solcher brachte er den Aristoteles, den mittelalterlichen Wissenschaftspapst, mit jedem Tage mehr um seine Autorität. Seitdem die Steine vom Thurme gefallen waren, konnte diese Revolution nicht mehr unterdrückt werden. Doch glaubte man, wie die „Automaten“ [103] noch heute, durch Absetzung des Professors die gute, alte Ordnung wieder herstellen zu können. Es half aber nichts. Im Gegentheil ward Galilei als vom Senate Venedigs berufener Professor der Mathematik in Padua (1592) weltberühmt. Nicht blos die wißbegierige Jugend Italiens strömte in das alte Padua, auch berühmte Cardinäle und Prinzen fernen Auslandes (wie z. B. Gustav Adolph) studirten hier, um die lebendigen, scharfen, graciösen und witzigen Vortrage Galilei’s im besten Italienisch zu hören. Daß er das alte Latein aufgab und im klangvollsten lebendigen Toscanisch sprach, war eine akademische Revolution. Sein Haus in der düstern, dicht von Studenten bevölkerten Universitätsstadt, lag unscheinbar neben der berühmten Benediktiner-Abtei Santa Giustina, aber das fortwährende Aus- und Einströmen von Studenten, berühmten Fremden und Damen und die heitere Geselligkeit, die zuweilen aus der geöffneten Thür vom Garten her sichtbar ward, verriethen die Wohnstätte des berühmtesten und glücklichsten Mannes. Mit einer schönen Griechin verheirathet und bald von herrlichen Kindern umspielt, in der Blüthe seines Glücks, seiner Gesundheit, seines Wissens, seines mächtigen Wortes, seines Ruhmes noch von keinem Neide, keiner Verfolgung berührt, genoß er hier den Hochsommer seines Lebens, der freilich durch den frühen Tod seiner Gattin empfindlich getrübt ward. Er überließ hernach seine glänzende, gastliche Häuslichkeit einer zuverlässigen Haushälterin, die für eine gar zu große Zahl von Gästen aus der Abtei immer so viel Silberzeug, als sie brauchte, geliehen bekam.

Während dieser Zeit sprudelten die wichtigsten Entdeckungen und Erfindungen aus seinem Geiste in die staunende Welt. Wir können hier nur die wichtigsten nennen, ohne uns auf deren Erklärung oder Wichtigkeit einzulassen, weil dies allein den vorgeschriebenen Raum überfüllen würde.

Nachdem er den Proportionalcirkel erfunden, rechnete er die mathematische Formel für die Gesetze des Falles heraus, nämlich daß ein fallender Körper in dem Maße von 1, 3, 5, 7 u. s. w. mit zunehmender Geschwindigkeit von der Erde angezogen werde oder falle, also z. B. in der ersten Secunde 15, in der zweiten 45, in der dritten 75, in der vierten 105 Fuß u. s. w. Ob er auch das Thermometer erfunden oder nur vervollkommnet, wie viel ihm in den Forschungen über Magnetismus zukomme und in welchem Grade er als Erfinder des Mikroskops und des astronomischen Himmelsschlüssels oder Fernrohrs im wörtlichen Sinne anerkannt werden müsse, kann hier der Umständlichkeit wegen nicht erörtert werden. Sicher ist, daß er zuerst wirkliche astronomische Teleskope zusammenstellte und damit den Himmel aufschloß. Die Galilei’schen Fernröhre wurden erst in Italien, dann in der ganzen Welt ein aufregendes Ereigniß, zumal als die von ihm entdeckten Monde des Jupiter, die Mondgebirge und Sonnenflecke und die daraus gezogenen Schlüsse bekannt wurden. An den Jupiter-Trabanten sah er die Bestätigung des Copernikanischen Systems von der Umdrehung kleiner Himmelskörper um größere, in den von Ost nach West fortrückenden Sonnenflecken die Drehung der Sonne um ihre Achse und damit ein Bild der Rotation der Erde.

Der Ruhm Galilei’s war damit weit über die Erde verbreitet worden, sodaß es sich der Großherzog Cosmo II., der Medicäer, zur Ehrenaufgabe machte, ihn nach Pisa zurückzurufen und ihm bei sicherem, anständigem Gehalte vollständig freie Muße zur Verfolgung seiner Entdeckungen, so wie unbeschränkte Wahl der Wohnung in seinem Staate zu verbürgen.

Galilei folgte 1610 diesem Rufe und lebte zunächst meist auf dem Lustschlosse eines Freundes bei Florenz. Hier entdeckte er in den „Phasen“ (Lichtabwechslungen) des Mondes, der Venus und des Mars die überzeugendsten Beweise für das Copernikanische System, da diese Phasen die Umdrehung dieser Körper um die Sonne (des Mondes um die Erde und mit ihr um die Sonne) zu mathematischer Gewißheit erhoben.

Die Gelehrten, welche auf Aristoteles, die Priester und alle guten Katholiken, welche auf die Bibel schworen und jede davon abweichende Meinung als Ketzerei mit geistlichem und gelegentlich leiblichem Tode bestraften, waren außer sich über diese Revolutionen in den Himmeln und auf der Erde, durch welche ihrem Wissen und Glauben, der Macht und Untrüglichkeit der Kirche aller Boden unter den Füßen schwand. Freunde warnten, Feinde umlauerten den von Herrscherfreundschaft geschützten und in sich selbst siegesgewissen Erlöser der Wissenschaft. Immer lauter wurden die Vorwürfe, daß seine Lehren nicht mit der Bibel übereinstimmten und er ein Ketzer sei.

Galilei versuchte bis an das Ende seines Lebens seine katholische Unbescholtenheit zu retten, ohne der Wissenschaft Abbruch zu thun. In diesem Widerspruche, aus welchem er sich nicht herauswagte, hatte er stets viel zu kämpfen und zu leiden. Ein Versuch, die Umdrehung der Himmelskörper aus der Bibel (Josua, der die Sonne stillstehen hieß) zu beweisen, wurde just zum Vorwande, ihn ernstlich zu verdächtigen. In Rom wurde es bedrohlich für ihn. Zornig in seinem heißen Blute reiste er 1611 selbst mitten in die Hauptstadt des Papstes und des unerschütterlichen Glaubens und bewies durch Lehre und Fernröhre den Cardinälen und Großen des Reichs die Wahrheit und Wirklichkeit seiner Entdeckungen. Binnen drei Monaten ward er auch hier zum Triumphator und reiste, mit Ehren überhäuft, nach Florenz zurück. Nun lehrte, forschte und schrieb er noch rücksichtsloser, so daß es seinen Feinden gelang, ihn bei dem Papste Urban VIII., seinem ehemaligen Freunde Barberini, verdächtig zu machen und das Inquisition-Tribunal gegen ihn zu hetzen. Vor diesem sollte er sich 1615 verantworten. Er reiste unter dem Schutze seines Fürsten wieder nach Rom, wo er in dem großherzoglichen Palast Wohnung nahm und durch sein Ansehen, seine Beredsamkeit, seine Ueberzeugungskraft sofort alle Verdächtigungen niederschlug und geachteter, gerühmter dastand, als je zuvor. In diesem Gefühl seiner Macht glaubte er der Wissenschaft einen neuen Sieg verschaffen zu müssen, er verlangte vom Inquisitionsgericht die Anerkennung der Copernikanischen Lehre, d. h. seines eigenen Standpunktes. Der Papst übertrug die Entscheidung darüber einer Versammlung von Cardinälen, die sich zu dem Erkenntniß einigten, daß die Bewegung der Erde nicht mit der Bibel übereinstimme und Werke, welche diese Uebereinstimmung behaupten, verboten seien.

Galilei äußerte sich darüber schon ungehalten, sodaß ihn Cosmo zurückrief, um wegen dieser Freundschaft nicht in Feindschaft mit der Kirche zu gerathen. Galilei kehrte zurück mit der Weisung des Inquisitions-Tribunals, von Uebereinstimmung des Copernikanischen Systems mit der Bibel nicht weiter zu reden. Im Uebrigen sollten ihm astronomische Forschungen und Lehren frei stehen. Damit scheint er denn auch während der folgenden fünfzehn Jahre ausgekommen zu sein. Aber in Folge von entdeckten Kometen und Urtheilen und Streitschriften darüber wachte die alte Feindschaft der Jesuiten wieder auf, die auf Grund seines berühmtesten Werkes, „Dialog über die beiden größten Weltsysteme, das Copernikanische und das Ptolemäische“, zur wüthenden Verfolgung ausartete. Der Dialog ist zwischen drei Personen vertheilt, von denen die eine den Copernikus, die andere (Simplicio) das Ptolemäische System von der ruhenden Erde als dem Mittelpunkte der Welt, und die dritte den Kritiker zwischen beiden spielt, Um den Streit, nachdem Simplicio sich in ganzer Lächerlichkeit und Unhaltbarkeit ausgesprochen, zuletzt der Form nach unentschieden zu lassen. Namentlich hatte Galilei durch Vorrede und Schluß die in der That glänzendste Vertheidigung der neuen Wissenschaft und Forschung zu verdecken gesucht. Der Papst, der zu dem Werke die Censurerlaubniß befohlen hatte, hielt sich für hintergangen und gerieth in den größten Zorn, als ihn die Jesuiten zu überzeugen suchten, unter Simplicio sei er persönlich lächerlich gemacht und das Copernikanische System auf das Ketzerischste verherrlicht worden. Dennoch war der Papst im Gefühle ehemaliger Freundschaft großmüthig und suchte die Anklagen der Jesuiten durch Vermittelungen, statt durch das Inquisitions-Tribunal, zu beseitigen. Aber das in alle gebildete Sprachen übersetzte, in Italien durch Streitschriften und aufgeregte Parteien in allen Köpfen spukende Meisterwerk Galilei’s und dessen eigene hitzige Leidenschaft für die Wahrheit führten ihn doch endlich im Februar 1633 vor das Inquisitions-Tribunal. Hier wurde er durchweg mit der größten Auszeichnung behandelt und nie eigentlich gefangen gehalten. Man ließ ihn meist im toscanischen Gesandtschafts-Palaste wohnen.

Zum Widerrufe und zur Abschwörung seiner Lehre wurde er freilich gezwungen, aber nicht durch Tortur, wie in so vielen Büchern über ihn gefabelt wird. Auch die Strafen, wozu er verurteilt ward, Gefängniß und Ausübungen, erlitt er einige Tage blos zum Schein. Er durfte zwölf Tage nach der Verurtheilung im Palaste seines Freundes, des Erzbischofs von Siena, wohnen und ungehindert studiren. Hier und später auf seinem eigenen Landgute verlebte er in ungestörten Forschungen seine letzten Jahre [104] und Tage. Diesen Arbeiten seines Greisenalters verdanken die Wissenschaften der Physik und Astronomie noch mehrere der wichtigsten Entdeckungen in den Gesetzen der Bewegung, des Widerstandes, den Flüssigkeiten ausüben, der Grundlehren von Längenmessungen auf dem Meere durch Sterne (Jupiterstrahlen, der Schwankungen (Vibration) in der Mondbahn u. s. w. Mehrere dieser Forschungen sind noch heute Grundwahrheiten in der Physik und Astronomie. Obgleich während der letzten fünf Jahre staarblind und von Gliederschmerzen gepeinigt, arbeitete er ruhe- und schlaflos bis zu den letzten Augenblicken seines 78jährigen Lebens, das am 8. Januar 1642 in den Armen seines dankbarsten Schülers Viviani von ihm wich. Die sterblichen Reste des Heldengeistes ruhen in der Kirche St. Croce zu Florenz, wo ein 1737 neben Michel Angelo gesetztes prächtiges Denkmal jährlich von Männern und Frauen aller Nationen besucht wird.

Auch Rom erklärte sich endlich für besiegt, aber erst 1821, wo das Verbot der Copernikanisch-Galilei’schen Lehre aufgehoben ward. Und am 15. September 1841 traten beinahe neunhundert Männer der Wissenschaft in den Tempel des vergötterten Galilei, das ihm geweihte neue Museum der Physik zu Florenz, wo er wie lebend, Stirn und Hand gen Himmel gerichtet, in Erz gegossen steht, umgeben von den Büsten seiner berühmtesten Schüler, den Gläsern und Instrumenten seiner Erfindung und seinem eigenen Zeigefinger, den ihm Propst Gori bei Verlegung der Leiche in die Kirche von St. Croce im frommen Eifer stahl.

Ueber seiner Statue wölbt sich ein azurner Himmel mit Versinnlichung seiner fünf bedeutendsten astronomischen Entdeckungen: Trabanten des Jupiter, Flecken der Sonne, Mondgebirge, Mond- und Venus-Phasen und die zwei Ringe des Saturn. Die vom Großherzoge von Toscana angeordnete Prachtausgabe seiner sämmtlichen Werke, die von 1842 bis 1856 in 16 Bänden erschienen, gilt als ein anderes Ehrendenkmal.

Die Worte: „Und doch bewegt sie sich!“ hat er vielleicht nicht gesprochen, als ihm die Abschwörungsformel entrungen worden war, aber sie wurden ihm von dem Volksgefühle, von dem Weltgericht der Geschichte als ewiger, unumstößlicher Richterspruch gegen Verbots- und Unterdrückungs-Despotie in den Mund gelegt. Gebietet Stillstand, wohl gar Umkehr, soviel ihr wollt, die Wissenschaft und ihre befreiende That und Wirkung bewegt sich doch!
H. B. 




Aus jüngstvergangenen Tagen.
4. Charakterköpfe aus der deutschen Abgeordneten-Versammlung in Frankfurt.
2.
Schultze-Delitzsch – Ludwig Seeger – August Metz – Karl Brater – Edward Wiggers.
Vom Verfasser des Artikels „die Fürsten des Fürstentags“.

Als ich noch in die Schule ging, wurde mir einmal zur Veranschaulichung des Reichthums eines beliebigen preußischen Freiherrn erzählt, der könne von Marburg bis Berlin reisen und jede Nacht auf einem seiner Güter logiren. Damals gab es noch keine Eisenbahnen, und mit Hülfe meiner geographischen Kenntnisse konnte ich mir wirklich eine hübsche Summe herausrechnen. Schulze-Delitzsch ist aber, denk ich, doch noch reicher: der kann durch ganz Deutschland reisen und wird überall, wo er seinen Namen nennt, ein hochwillkommener Gast sein. Der Mann aber muß wahrlich reich, sehr reich sein, der die Liebe einer ganzen Nation ohne Titel und ohne Mittel blos durch seine geistige und sittliche Kraft sich hat erwerben können. Ist das nicht auch National-Oekonomie und zwar im höchsten und edelsten Styl? Dieses nicht übertriebene Zeugniß einer nationalen Popularität würde es schon allein entbehrlich machen, ein vollständiges Bild von Schulze-Delitzsch hier zu zeichnen, wenn auch nicht noch vor Kurzem diese Blätter eine ausführliche Lebensbeschreibung mit Zeichnung gebracht hätten. Ein paar ergänzende Striche aber werde ich doch wohl noch in sein Bild hineintragen dürfen, zumal wenn sie so wichtige Seiten wie seine parlamentarische Thätigkeit und seine Gabe als Volksredner zu erläutern bestimmt sind. Wir hören ja immer einmal wieder gern etwas von denen, die wir lieb haben, und Schulze-Delitzsch – nun den haben wir eben lieb. Das weiß er ja auch selbst. Man bezeichnet Schulze gewöhnlich schlechthin als den Führer der deutschen Fortschrittspartei im preußischen Abgeordnetenhause. Das ist nicht so ganz unbedingt richtig. Diese Partei hat eigentlich keinen Führer, und nicht ganz auf einen politischen Ton gestimmt, wie sie ist, zählt sie überdies unter ihren Mitgliedern mehrere so bedeutende Persönlichkeiten, daß ihnen gegenüber selbst Schulze-Delitzsch sich nicht als Führer betrachten könnte. Aber nach zwei Seiten hin ist Schulze trotzdem als der Führer der Partei anzusehen: in der Vermittelung des Zusammenhanges mit den Gesinnungsgenossen im übrigen Deutschland und in der Vertretung der Parteibeschlüsse in den öffentlichen Sitzungen des Hauses. Ob Schulze-Delitzsch auch Urheber des glücklich gewählten Namens „deutsche Fortschrittspartei“ gewesen, weiß ich nicht einmal ganz bestimmt, aber als Ausschußmitglied des Nationalvereins und seit Jahren in näheren Beziehungen zu den besten Männern in den kleineren deutschen Staaten hat er jedenfalls ganz besonders bestimmend darauf eingewirkt, daß die Austreibung des „preußischen Großmachtkitzels“ zunächst einmal in den Anschauungen des preußischen Volkes angebahnt und die Betonung des innigen Zusammenhanges mit Deutschland als wesentlicher Theil in das Programm der Partei aufgenommen wurde.

Als parlamentarischer Redner sodann ist Schulze-Delitzsch seiner Partei fast unersetzlich. Wenn vielleicht erst spät in der Nacht nach langen Berathungen die Fortschrittspartei sich auf einen bestimmten Antrag oder die bestimmte Behandlung einer Frage geeinigt hat und es sich nun darum handelt, diese Beschlüsse im Hause selbst zu vertreten, dann ist es Schulze-Delitzsch, der am andern Morgen vor allen Anderen die Sache der Partei mit einer Beredsamkeit führt, die oft genug gerade seine Freunde am meisten in Erstaunen setzt. Als wenn er Wochen lang an nichts Anderes gedacht, so verficht er oft in der gründlichsten, scharfsinnigsten Weise dieselbe Sache, die er vielleicht noch am Abend vorher innerhalb der Fraction bekämpft. So wunderbar rasch weiß er eine einmal erfaßte Idee in sich selbst zu Fleisch und Blut zu verarbeiten, und so wunderbar sicher steht ihm die Gabe des Wortes zu Gebote. Dialektische Gewandtheit, Gedanken- und Wortfülle, Scharfsinn, Witz, vollständige Ruhe bei größter innerer Wärme – mit diesen Waffen führt er als parlamentarischer Redner ersten Ranges die Sache seiner Partei. Um jedoch ein bedeutender Volksredner zu sein, würden freilich diese reichen Mittel zum Theil nicht verwendbar sein, und zum Theil noch nicht ausreichen. Der parlamentarische Redner muß vor Allem von seinen Zuhörern verstanden werden, der Volksredner muß vor Allem seine Zuhörer selbst verstehen.

Schulze-Delitzsch ist aber auch ein gleich bedeutender Volksredner, weil er das Volk wie Wenige kennt und versteht, und weil ihn Mutter Natur zugleich mit Dichteraugen in’s Leben entließ. Er hat nicht blos an seinem eigenen, er hat ebensosehr an seines Volkes Geschick schwer getragen, und dies und seine rastlose Thätigkeit haben ihm, dem Fünfziger, jetzt den Stempel eines vielbewegten Lebens auf das Gesicht gedrückt. Als Schulze-Delitzsch aber noch Hermann Schulze hieß, als er noch nach Norwegen und Italien wanderte, ja selbst dann noch, als er wirkliches actives Mitglied der schlimmen juristischen Secte war, die sich seitdem unter der Firma „preußische Kreisrichter“ einen geschichtlichen Namen gemacht, da lag um Augen und Stirn bei ihm noch ein Zug, den man jetzt nur bei genauerem Zusehen im engeren Freundeskreise entdeckt, ein Zug schalkhafter Laune, um den die freie Göttin Phantasie ihr Spiel trieb. Das ist der Dichterzug an Schulze-Delitzsch, der ihn in manchem hübschen Lied hat aussprechen lassen, was ihm beim Anblick von Berg und Wald, von Thal und See die Seele bewegte, und der freie Lauf, den lange Jahre seine reiche Phantasie hat nehmen können, die Fähigkeit, eine Anschauung und Stimmung sofort dichterisch ausklingen zu lassen – das ist es, was ihn zugleich zu einem so eminenten Volksredner gemacht.

[105] Als er in Frankfurt bei der Gründung des Nationalvereins die immer noch uneinigen Süddeutschen und Norddeutschen durch die prachtvollen Worte zur Einigung zwang: „Ich lasse Sie nicht, bis Sie sich geeinigt haben; der Geist der Nation steht hinter der Thüre und harrt darauf, daß wir uns einigen“; als er in Gotha die versammelten Zunftmeister durch den einen Satz zur Gewerbefreiheit bekehrte: „Ihr seid die Raubritter des neunzehnten Jahrhunderts“ – da sprach eben der Dichter Schulze-Delitzsch, der Dichter, der es vermag, eine ganze Kette von Gedanken zu bewegen und in einem instinktiv gegriffenen Bild zu concentrirter Wirkung zusammenzufassen. Wäre Schulze-Delitzsch um dreißig Jahre früher geboren, er würde uns vermuthlich nur in unserer Literaturgeschichte als lyrischer, vielleicht auch als dramatischer Dichter genannt werden. Damals kannte man eben keine höhere Leistung des Menschengeistes, als seine Gedanken und Gefühle in Verse zu bringen.

Wir wollen darum nicht geringschätzig auf diese Zeit herabsehen, denn wir würden – von allem Anderen abgesehen – heute keine Redner wie Löwe-Calbe, wie Ludwig Häusser und Schulze-Delitzsch haben ohne die poetische Sättigung, mit der diese versemachende Epoche unsere Nation erfüllte. Aber freuen wollen wir uns darum doch, daß wir aus der Zeit der dichterischen Empfindungen in die Zeit der ernsten nationalen Arbeit übergetreten sind, daß eine Kraft wie Schulze-Delitzsch im praktischen Dienste der Nation eine Bürgerkrone, statt im Nachtrab Goethe’s und Schiller’s einen Lorbeerkranz, hat erringen können. Den Dichter Schulze-Delitzsch würden vielleicht nur unsere Gelehrten kennen, den Volkswirth und Staatsmann Schulze-Delitzsch aber, den kennen wir Alle, denn das ist – „unser“ Schulze-Delitzsch. –

Es sprach noch ein Dichter im Saalbau, und zwar einer, dem die Statur diesen Zug noch tiefer eingegraben hat, ein Landsmann von Ludwig Uhland, der ihm als Schüler zu Füßen gesessen, dem aber trotz seiner 53 Jahre das Herz noch viel heißer schlägt, als es Uhland vielleicht je geschlagen. Ich meine Dr. Ludwig Seeger aus Stuttgart. Der hat als Bube im heimathlichen Schwarzwald den Finken und Amseln nicht blos das Singen abgelauscht, er hat ihnen auch den freien Flug und Zug abgesehen, und sein Leben lang nicht wieder vergessen können. Der Mann duldet keine Schranken um sich, wenn er sie nicht selbst als recht und gerecht anerkannt. Wie ihm das Halstuch lose und frei und der Rock weit und bequem am Leibe sitzen muß, so verlangt er in allen Dingen freies Feld für sich, und wer ihn ansieht, fühlt das auch alsbald aus dem energischen Ausdruck seines Gesichtes heraus. Der fest geschlossene Mund, die hellen blauen Augen, die einem fast noch jugendlich trotzig hinter den großen Brillengläsern entgegensehen, die runde hohe Stirn und die kräftigen Bewegungen des stämmigen Körpers – das Alles verräth eine Natur, die leicht dazu kommen mag, die Dinge auf Ja oder Nein zu stellen.

Ludwig Seeger trägt eben sein eigenes Maß in sich. Dem Stand des Pfarrers entsagte er nach dreijähriger Wirksamkeit und entzog sich dem unerträglichen politischen Druck der dreißiger Jahre, um in die freie Schweiz überzusiedeln. Aber als er zwölf Jahre dort als Lehrer der Schweizerjugend an Gymnasium und Hochschule zu Bern gewirkt und der Märzwind des Jahres 1848 von Deutschland her über die Alpen wehte, da zog es ihn doch wieder zurück in das alte liebe Vaterland, um auch dabei sein zu können mit Wort und That. Er führte damals die Feder in der „Ulmer Schnellpost“, und man wußte im Schwabenlande bald, was Ludwig Seeger geschrieben, auch wenn sein Name nicht darunter stand. Das Ministerium Römer wußte es auch, aber es wollte nichts davon wissen und ließ ihn zwei Mal sechs Wochen lang auf den Hohenasperg führen, als es das deutsche Parlament auseinandersprengte und Ludwig Seeger seinen ganzen Zorn darüber ausgoß.

Die schwäbischen Bauern freilich sahen die Sache anders an und schickten den Mann, der so ganz in ihrem Sinn geschrieben und gesprochen, noch in demselben Jahre nach Stuttgart in die Kammer. Sie meinten, wer auch auf der hohen Schule des Asperg sich den Doctortitel erworben, der sei der rechte Doctor für sie. Und das muß er wohl auch gewesen sein, denn die Bauern von der rauhen Alp schicken ihn noch heute in die Kammer. Nun sitzt er still in Stuttgart und schlägt wohl einmal, wenn es ihm gar zu arg wird, ein „Eulenspiegel“ dazwischen, oder es fällt wohl auch manchmal noch ein frisches Lied nebenher ab. Aber seine ganze volle Kraft legt er mit unermüdlichem Fleiß in einem Werke nieder, das er sich als Lebensaufgabe gestellt: er will den freiesten Geist der britischen Nation, er will Shakespeare dem deutschen Volke noch viel lebendiger und wahrer zugänglich machen, als es durch Schlegel und Tieck geschehen. Die mittelgroßen Menschen sind nicht nach Ludwig Seeger’s Art und die kleinen gar nicht, darum hat er immer nach den freiesten und größten gegriffen: so jetzt nach Shakespeare, so früher nach dem großen Griechen Aristophanes, dessen Lustspiele er in unübertroffener Weise in’s Deutsche übertragen hat. Schwierigkeiten schrecken ihn dabei nicht ab, sie reizen ihn nur, und die eigene Dichternatur, das eigene freie, starke Herz und ein tiefes Verständniß des Wesens der Sprache befähigen ihn allerdings wie Wenige zu so hohen Leistungen. Die Schwaben haben früher die Sturmfahne des deutschen Reiches in den Schlachten getragen, und Ludwig Seeger wenigstens ist nicht aus dieser guten schwäbischen Art geschlagen. Der trüge sie auch heute noch, wenn es gelten sollte; denn er ist nicht blos ein Dichter, er ist auch ein Mann des Kampfes, ein treuer kühner Streiter für alle freiheitliche Entwickelung und eine echte, wahre volksthümliche Natur. Beruf und Lebensstellung haben ihn freilich nie so recht ausschließlich in das öffentliche Leben eintreten lassen, auch sagt es seiner Art nicht zu, dem langsamen Fortschreiten einer Bewegung auf Schritt und Tritt zu folgen, aber wo es galt im schwäbischen Land, da hat er nie gefehlt und seine außerordentliche Redegabe der guten Sache bereitwillig zur Verfügung gestellt.

Ludwig Seeger ist eigentlich nur Volksredner, aber einer vom ersten Rang. Sein schneidend scharfer Verstand, die groteske Komik seines Witzes, seine mächtige, donnernde Stimme, seine wuchtige, markige, plastische Sprache, die in hellem Zorn über Lüge und schiefe Winkelzüge wie ein Sturmwind dahinfahren kann, und die tiefe sittliche Ueberzeugung, die stets aus seinen Reden herauslodert, reißen seine Zuhörer mit ihm fort, sie mögen wollen oder nicht. Er tritt als Redner dem Volke noch um eine Stufe näher als selbst Schulze-Delitzsch und spricht ihm noch mund- und sinngerechter als dieser, denn Schulze-Delitzsch bleibt als Volksredner immer noch Lehrer und väterlicher Freund des Volkes, Ludwig Seeger aber spricht mit ihm, ohne im Geringsten platt zu werden, als Seinesgleichen, als guter treuer Camerad. –

An Schulze-Delitzsch und Ludwig Seeger reihe ich einen Dritten, der auch als Volksredner viel genannt wird: Dr. August Metz aus Darmstadt. Die deutschen Feuerwehrmänner haben ihn einmal in einem launigen Toast auf seinen technischen Namensvetter in Heidelberg, im Gegensatz zu diesem, als den Metz bezeichnet, „der den Brand schürt“, und sie haben damit die hervorstechende Eigenthümlichkeit des Mannes viel treffender charakterisirt, als die deutsche Presse, die sich daran gewöhnt hat, ihn besonders als Volksredner hervorzuheben. August Metz ist gewiß ein Redner von Beruf, er hat auch gerade als Volksredner schon manche glänzende Probe davon abgelegt; aber doch ist er, wie ich glaube, nicht in erster Linie ein Volksredner. Metz ist vielmehr seinem innersten Wesen nach Volksagitator, Parteimann im besten Sinne des Wortes und als Redner vor Allem ein geborner Vertheidiger.

Von Ludwig Seeger nicht zu reden, würde Schulze-Delitzsch ungeachtet des Vorurtheils, das in Baiern und Oesterreich gegen ihn bestanden hat, in einer großen Volksversammlung dort, wenn auch vielleicht mit einer politischen Rede nicht alsbald durchdringend, aber doch jedenfalls eine mächtige Wirkung erzielen. Schulze-Delitzsch würde dies vermögen, weil er wirklich zum Volke schlechthin – das ja überall gleichmäßig fühlt und denkt – zu sprechen versteht und das Volk instinktiv in ihm die verwandte Natur herausfühlt. Metz würde hierzu schwerlich im Stande sein, weil er nur für Parteigenossen ein Volksredner ist und bairische und österreichische Zuhörer nicht zehn Minuten lang in die Ansicht würde versetzen können, daß er, auf gleichem Boden mit ihnen stehend, die Wahrheit gemeinschaftlich mit ihnen suche. Er wird sie durch seine glänzende Logik vorübergehend zu der Ansicht zwingen, daß er Recht habe, aber er wird sie kaum überreden und in keinem Falle bekehren. Um dies zu können, müßte er fähig sein, sich selbst ganz auf denselben Ton zu stimmen, auf den die ihm gegenüberstehende, anders gesinnte Menge gestimmt ist. Dazu aber ist er nicht im Stande, weil er immer aus dem Gegensatz, aus der Unrichtigkeit einer andern Ansicht die eigene rednerische Grundstimmung entlehnen muß.

Das eigentliche Feld für das Rednertalent von Metz ist daher die gerichtliche Vertheidigung und die parlamentarische Rede als [106] Parteimann und dann erst die Rede vor großen, im Voraus gleichgesinnten Massen. Dem steht nicht entgegen, daß Metz es war, der auf einer großen würtembergischen Volksversammlung wenigstens einen Theil der schwäbischen Demokratie für die Sache des Nationalvereins gewann; denn er hat die Schwaben damals nicht für das Programm des Nationalvereins, sondern nur für die frische, agitatorische Triebkraft des Vereins gewonnen, von der er selbst das empfehlendste Beispiel war. Metz hat alle Früchte, die dem Parteimann und Agitator blühen, geerntet: die wärmste Anerkennung und das unbedingte Vertrauen seiner Freunde und den bittersten Haß seiner Gegner. Er war es, für den die Letzteren den Namen „Commis voyageur des National-Vereins“ glaubten erfinden zu müssen, weil er unermüdlich rührig und überall, oft an drei, vier Orten in einer Woche, die Sache des Vereins verfochten hat. Er ist es auch gewesen, der gewandt, lebensklug, mit der Umsicht und Vorsicht des Advocaten und dann wieder, sobald er den Zeitpunkt gekommen erachtete, mit dem vollen Muth und der ganzen Rücksichtslosigkeit des Agitators, den schwachen Seiten des Ministeriums Dalwigk nachgespürt und bei den letzten Wahlen, trotz aller ausgeklügelten Hindernisse eines faulen Wahlgesetzes, eine so geschlossene Opposition in die Kammer gebracht hat, wie er es selbst kaum zu hoffen gewagt.

Diese beiden Seiten seines Wesens sprechen sich, glaub’ ich, auch sehr deutlich in seinem Aeußeren aus. Das tief blaue, kluge, beobachtende Auge, die Linien um die spitz auslaufende Nase und die fein geschnittenen, fest geschlossenen Lippen gehören dem scharf berechnenden, vorsichtigen Sachführer der Partei, der, nichts überstürzend, ruhig den Dingen folgt und auf seine Zeit paßt. Wenn er aber auf der Rednerbühne steht, und die hohe, etwas, forcirte Tenorstimme schallt einem entgegen, und man sieht von ferne die dunklen Augen, die unter der hochgewölbten Stirn im Feuer der Erregung hervorsprühen, und das bleiche Gesicht, dessen Blässe bei dem üppigen schwarzen Haar und dem dichten schwarzen Hambacher Bart noch stärker hervortritt, dann könnte man leicht versucht sein, bei diesem leidenschaftlichen Agitator an einen fanatischen Hussitenprediger zu denken. Der ganze Mensch arbeitet bei seinem Vortrage mit, der kräftige Körper hebt und beugt sich, und man meint, er müsse die Gedanken aus seinem ganzen physischen Habitus entwickeln. Und doch arbeitet eigentlich nur der Kopf, und gerade weil nur dieser arbeitet, während sein Gemüth ihn übermannt, statt ihn mit Hülfe der Phantasie zu unterstützen, gerade darum ist eben Metz nicht in erster Linie Volksredner. Die raschen, glücklichen plastischen Griffe und Sprünge, wie sie Ludwig Seeger und Schulze-Delitzsch ihre Dichternatur von freien Stücken und unabsichtlich gestattet, sind ihm versagt. Seine langen, fest gegliederten Sätze kann nur der allein dominirende, geschulte Verstand so sicher zu seinem Ziele leiten, und wie oft auch seine Rede in drastischer Spitze ausläuft und bis auf das Mark der Gegner trifft, es sind nicht momentan gegriffene dichterische Bilder, es sind von Verstand erfaßte und wohl geführte Pointen. –

In der Rotunde hinter dem Präsidententische sitzt unter vielen Andern ein kleiner, schmächtiger Mann in den vierziger Jahren. Der Gestalt entsprechend ist der Kopf klein und würde ohne das volle dunkelblonde Haar noch kleiner erscheinen. Das Gesicht dagegen, von dem dünnen Vollbart in seinen Contouren nicht verhüllt, tritt um so schmäler hervor, sodaß die natürliche Ovalform fast bis zum Dreieck zusammen geschwunden sich ansieht und die feinen, angenehmen Züge etwas spitz hervortreten. Nur ein Theil des Gesichtes ist in normaler Ausdehnung geblieben: das große, blaue, durchdringende Auge, in dem der ganze energische Geist des Mannes zum Ausdruck kommt. Das ist Karl Brater, der Geschäftsführer des ständigen Ausschusses der Abgeordneten-Versammlung, früher Bürgermeister der alten Reichsstadt Nördlingen, eine Stellung, der er aber nach langem Kampf für die deutsche Reichsverfassung und nach nicht enden wollenden Conflicten mit der baierischen Büreaukratie entsagte, der Gründer der Zeitschrift für baierische Verwaltungswissenschaft, der Mitherausgeber des Staatslexikons von Bluntschli, der Gründer und mehrjährige Redacteur der Süddeutschen Zeitung in München. Das ist kein Redner von Beruf und er spricht auch heute nicht, wohl aber eine politische Feder, die vielleicht nicht warm genug ist und zu viel eigene Anstrengung voraussetzt, um so recht durchschlagend auf die Massen zu wirken, die aber in lichtvoller Klarheit und classisch strenger Formschönheit ihres Gleichen sucht. Wie Bennigsen hat auch Brater sich fest in die Hand genommen, wie dieser weist auch er einem Jeden, der sich ihm naht, seine feste Stellung an; wie Bennigsen ist auch er ursprünglich Jurist und hat in trüber, drückender Reactionszeit fast allein, zunächst außerhalb und von 1859 an innerhalb der Kammer, einem freiheitfeindlichen Ministerium die Spitze geboten. Es gehörte eine so begabte, sittlich so unangreifbare und zugleich eine so taktvolle und so furchtlose Persönlichkeit dazu, um im Herbst 1859, unmittelbar nachdem ein unbeschreiblicher Enthusiasmus für die Sache Oesterreichs durch Baiern gegangen, eine Zeitung in München zu gründen, die dem Programm des Nationalvereins in Baiern den Boden bereiten sollte. Was Brater hierbei geleistet, ist wahrhaft bewundernswerth. Mit außerordentlichem Geschick und mit der zähesten Ruhe und Festigkeit überwand er Schritt für Schritt alle Schwierigkeiten – hielt es doch anfangs schwer, nur einen Drucker und nun gar einen Austräger für das vom öffentlichen Urtheil verfehmte Blatt zu gewinnen! – und erzwang sich durch sein unparteiisch Urtheil, seine wirklich liberale Opposition gegen die Regierung und durch die Tüchtigkeit seiner Redaction allmählich Achtung und Interesse.

Man hat ihn in Baiern um seiner politischen Haltung willen schwer gehaßt, so wie nur ein so unausgelebtes Volk wie das baierische hassen kann, aber man hat seinen glänzenden Leistungen als Journalist und seinem Achtung gebietenden öffentlichen Auftreten gegenüber doch auch wieder nicht ohne einen gewissen Stolz sich in dem Gedanken gefallen, daß er – ein geborner Baier sei, und mit aufrichtiger Sorge verfolgten selbst entschiedene Gegner den fernern Verlauf seines Geschickes, als er, der aufreibenden Thätigkeit als Redacteur erliegend, schwer erkrankt München verlassen mußte. Hatte doch selbst sein fanatischster Feind es nie gewagt, auch nur den Schein eines Verdachtes auf die sittliche Makellosigkeit eines Mannes zu werfen, der Amt und Würden um seiner Ueberzeugung willen ausgeschlagen und ohne Vermögen für sich und die Seinen in harter Arbeit sein Brod suchte, während Niemand Zweifel darüber hatte, daß Wissen und Talent ihn für die höchsten Staatsstellen berufen sollten. –

Die Versammlung begann schon ungeduldig zu werden, als Eduard Wiggers, Advocat in Rendsburg, der Sprecher der Holsteiner Abgeordneten, von lautem Beifall begrüßt, auf der Rednerbühne erschien. Er hatte sich, ich weiß nicht ob absichtlich, jedenfalls aber mit richtigem Takt das letzte Wort vorbehalten, denn er wollte und konnte ja nicht in einer Sache mitdebattiren, die von dem übrigen Deutschland allein ausgemacht werden mußte. Aber sprechen wollte er, um Zeugniß abzulegen von den Wünschen, Absichten und Gesinnungen des verlassenen Bruderstammes. Und das hat er redlich gethan. „Die Zeit verrinnt und das Herz ist mir schwer, ich will mich bemühen, so kurz und ruhig zu sein, als es mir die Zeit und die Stunde erlaubt“ – so begann er seine Rede. Ich glaubte es gern, daß dem Manne das Herz schwer war, und ich begriff es auch, daß es ihm nicht gelang, „ruhig“ zu sein. Zu Hause fahndeten die Dänen auf ihn, weil er auch nicht hatte „ruhig“ bleiben können, und nun stand er hier, um Kunde zu bringen von dem, was vom deutschen Volke denn wohl zu hoffen sei für eine Sache, für die er vor 15 Jahren schon sein Leben in der Schlacht gewagt und der er jetzt zum zweiten Mal seine Existenz und, wenn es sein mußte, sein Leben zu opfern entschlossen war. Er wußte, in welcher qualvollen Ungewißheit er sein Land verlassen hatte, er wußte, wie dort die Gemüther Aller taumelten unter den wechselnden Eindrücken von Furcht und Hoffnung, von Jubel und Verzweiflung, von entschlossenem Wagen und bangem Verzagen, und er wußte auch, was Land und Volk gelitten, denn ihm selbst hatte ja zwölf Jahre lang der Grimm über das dänische Joch am Herzen gefressen. Ich habe Eduard Wiggers schon im August auf dem Abgeordnetentage sprechen hören und ich wußte, daß er zwar das Zeug zum Reden hat, daß er aber noch kein fertiger Redner ist. Und doch hat mich am 21. Decbr. kein Redner so erschüttert, als dieser Mann, dem das heftig pochende Herz ein wunderbar treues Spiegelbild von der Lage der Herzogthümer auf die Zunge legte. Aus seinen Worten klagte wirklich der verlassene Bruderstamm im Uebermaß seiner Verzweiflung. Wie in Holstein vor dem Einmarsch der Bundestruppen in aller fürchterlichen Bedrängniß und Ungewißheit nur Eins gewiß war: daß das Land von dem schmachvollen dänischen Joche frei werden und bei Deutschland bleiben wolle, so beherrschte auch Eduard Wiggers in seiner Rede nur dieser eine Gedanke. Was [107] lag daran, ob man auch in aller Welt erfuhr, was in Holstein jedes Kind wußte – hier blieb vorerst nur Eins zu thun: noch einmal feierlich zu erklären, daß Schleswig-Holstein Alles für sein gutes Recht daran zu setzen bereit sei, und dann die Dinge gehen zu lassen, wie sie wollten. Es war ein mit furchtbarer Eindringlichkeit geführter Appel an die Hülfe Deutschlands, als er uns erzählte, was für Schritte unmittelbar nach dem Einrücken der Bundestruppen in Holstein geschehen würden, und mich überlief es eiskalt, wenn ich mir die ganze Fürchterlichkeit einer Lage vorstellte, die sogar ein solches Preisgeben aller Pläne rechtfertigte. Hier sprach wirklich nicht mehr ein einzelner Mann: hier sprach die Sache selbst.

Ich bin zu Ende. Ein paar von unseren Besten habe ich zeichnen wollen; möge das, was ich ohne Gunst und Mißgunst über sie gesagt, im Gedächtniß unseres Volkes haften. Seit wir in Frankfurt versammelt waren, sind die Dinge zu einer weiteren Höhe gestiegen, daß es sich schon nicht mehr um Schleswig-Holstein, daß es sich bereits um Deutschland handelt. In solcher Zeit wird es um so nöthiger sein, daß das Volk in den Männern seine Führer kennen kann, durch deren Thätigkeit mit die Entscheidung so rasch gezeitigt worden ist. Ob auch wir selbst reif genug geworden für diese Entscheidung, davon gilt es vielleicht schon sehr bald die Probe abzulegen. Wir kennen jetzt die Folgen unserer früheren Fehler. Hüten wir uns davor, sie noch einmal zu wiederholen, es möchte sonst ein Bußtag über uns kommen, an dem unsere Kinder und Kindeskinder noch zu trauern hätten! Lange genug haben in Deutschland zwei schlimme Worte ihr Spiel getrieben, die Worte „Großdeutsch“ und „Kleindeutsch“, und selbst in Frankfurt haben sie sich noch einmal in widerwärtiger Weise hervorgedrängt. Vergessen wir diese unheilvolle Worte für alle Zeit und hören wir wenigstens in der letzten Stunde auf, in wahnwitziger Verblendung uns unter einander anzufeinden. Deutschland wird und kann nichts anderes als unser großes Vaterland werden, wenn wir selbst nur in voller Einmüthigkeit ihm jetzt hinweg helfen über die Gefahren, die noch mehr als seiner Ehre, die seinem politischen Fortbestand den Untergang drohen.




Die Schmarotzer des Menschen.
2. Die Trichine.

Krankheiten verhüten ist leichter, als Krankheiten curiren, und dahin muß es unsere Erziehung, zumal in der Schule, durchaus noch bringen, daß der Mensch seinen Körper und Alles, was diesem nützt und schadet, ordentlich kennen lernt. Er würde dadurch freilich weniger abergläubisch, aber noch lange nicht das werden, was sich Viele, weil sie auch nicht die geringste Kenntniß von den göttlichen Naturgesetzen haben, unter einem „Materialisten“ denken: einen Menschen nämlich, der seines Nichtglaubens wegen aller Moral bar und zu allen Schandthaten fähig ist. Im Gegentheil, die Kenntniß unseres Körpers kommt stets auch unserem Geiste (dem Verstande, Gemüthe und Willen) zu gute und lehrt diesen die Wege, auf welchen er in seinem, sowie in seiner Mitmenschen und Nachkommen Interesse, seiner Vollkommenheit immer mehr zugeführt werden kann. Die Naturwissenschaften sind es aber, durch welche wir vorzugsweise dieses Ziel zu erreichen im Stande sind. Also vor allen Dingen verschließe Deine Sinne diesen Wissenschaften nicht und wolle, so lange Du noch keine richtige Einsicht in Gottes schöne Natur hast, Deinen unverständigen Aberglauben nicht dem Wissen entgegensetzen.

Unter den Schädlichkeiten, welche den Menschen von außen bedrohen, haben unter den Laien bis jetzt die pflanzlichen und thierischen Schmarotzer (Parasiten; s. Gartenlaube 1857. Nr. 1) nur wenig Aufmerksamkeit und Angst erregt. Erst neuerlich ist es einem (der Wissenschaft schon seit dem Jahre 1832 bekannten) kleinen Würmchen gelungen, die Aerzte wie die Laien in Aufregung zu versetzen. Der berühmte Zoolog Owen nannte (im Jahre 1835) dieses durchsichtige, 1/2 bis 11/2 Linien große Würmchen, weil es haarfein und spiralförmig aufgerollt zu sein pflegt, Trichina spiralis (spiralförmiger Haarwurm), und von da an bis in die neuere Zeit (1860) betrachtete man dasselbe bei Leicheneröffnungen, – wo man die Trichine von einer weißlichen Kalkkapsel umhüllt, in Gestalt äußerst kleiner, weißer Pünktchen im Muskelgewebe (s. Fig. III) sehr häufig und zwar mit bloßem Auge beobachtete, – als ein unschädliches Thierchen und deshalb mit großer Gleichgültigkeit. Daß dasselbe schon öfter die Ursache von schweren, ja sogar von tödtlichen Krankheitszuständen abgegeben hatte, welche dem Arzte, besonders wenn gleichzeitig mehrere Personen davon befallen wurden, wie Vergiftungen vorgekommen und übrigens ganz unerklärlich geblieben waren, davon hatte man keine Ahnung. Erst als im Jahre 1860 im Dresdener Stadtkrankenhause die Magd eines Fleischers unter sehr auffälligen heftigen Muskelschmerzen starb und in der Leiche das Muskelgewebe unter dem Mikroskope mit Trichinen durchsäet gefunden wurde, die aber von keiner weißlichen Kalkkapsel umgeben und also auch nicht mit unbewaffnetem Auge zu erkennen waren, da erst wurde von verschiedenen Seiten nach dem Lebenslaufe der Trichine geforscht.

Und diese Forschungen ergaben denn zunächst, daß die Trichinen im Schweinefleische (aber nur im wirklichen Fleische oder sogen. Magern, nicht im Specke und in der Leber) in unsern Verdauungsapparat eingeführt werden und zwar entweder eingekapselt oder ohne jene Kalkkapsel, und daß diese Kapsel im Magen oder Darme sehr bald zerstört und so das eingeschlossene Würmchen frei wird. Die im Schweinefleische nun in den Verdauungsapparat des Menschen eingeführten Trichinen wachsen hier zunächst (in etwa 3 Tagen) um das Doppelte ihrer ursprünglichen Länge und ändern auch sehr bald ihr Ansehen, denn während man an ihnen vorher von Geschlechtsorganen keine (oder nur wenig) Spur entdecken konnte, werden sie jetzt (am 4. oder 5. Tage) zu ganz deutlich erkennbaren Weibchen und Männchen (s. Fig. IV. und V.), welche sehr fruchtbare Ehen eingehen, denn ein Weibchen bringt in kurzer Zeit Hunderte von lebendigen Jungen zur Welt. Diese neugeborenen jungen Trichinen gleichen aber nicht etwa ihren Erzeugern, denn abgesehen von ihrer Kleinheit besitzen sie auch keine Geschlechtsorgane, wohl aber sind sie den mit dem Schweinefleische genossenen, noch geschlechtslosen Trichinen ähnlich. Auch bleiben diese jungen, geschlechtslosen Trichinen nicht wie ihre Eltern im häuslichen Darme, sondern begeben sich sofort auf die Reise, indem sie die Darmwand durchbohren und im Fleische, aber nur derjenigen Muskeln, welche wir nach unserer Willkür bewegen können, so lange fortwandern, bis sie in den feinsten Fäserchen des Muskelgewebes eine passende Stelle zu ihrer Einkapselung gefunden haben. Auf der Wanderschaft nach dieser Stelle hin sind diese jungen geschlechtslosen Würmchen nicht mit bloßem Auge, sondern nur durch das Mikroskop zu entdecken; auch wandern sie in Gestalt gestreckter oder nur wenig gekrümmter Fädchen. Erst wenn sie an der Einkapselungsstelle angekommen sind, fangen sie an sich mannigfach zu krümmen, die Fleischfäserchen auseinander zu drängen und sich nun in ihrem spindelförmigen Neste (Wurmröhre) wie eine Uhrfeder spiralförmig aufzurollen. Nach und nach wird die Wand des Nestes, welche anfangs noch weich und durchsichtig ist, durch Ablagerung kleiner Kalkkörnchen zu einer harten, undurchsichtigen, weißlichen, festen Schale, und diese ist nun (wenigstens im frischen Fleische) mit bloßem Auge zu sehen; sie bildet jene feinen weißen Pünktchen im Fleische (s. Fig. III.). Auf diese Weise lebt jetzt die Trichine in einer vollständig geschlossenen, nicht selten mit Fett umgebenen, citronenförmigen Kapsel und ist dem Muskel ganz unschädlich geworden. Sie scheint in diesem festen Kerker viele Jahre fortleben zu können, und will es das Schicksal, daß ein Stück dieses trichinenhaltigen Menschenfleisches zufällig in den Darm eines Thieres gelangt, so lösen sich hier die Kalkkapseln auf, und die freigewordenen, jetzt noch geschlechtslosen Trichinen werden nun zu Männchen und Weibchen, und zeugen Junge, die es gerade wieder so machen, wie ihre Vorfahren. Wie im Menschen, so geht natürlich auch im Schweine, welches trichinenhaltige Nahrung fraß, die Verwandelung, Zeugung, Wanderung und Einkapselung der Trichinen ganz auf dieselbe Weise vor sich.

Hiernach kann man also im menschliches und thierischen (vorzugsweise Schweine-) Körper von der Trichinengesellschaft antreffen:

[108]

I. Junge Muskeltrichinen in der Einwanderung begriffen. (Vergrößert circa 90 Mal.) – II. Eingekapselte Muskeltrichinen; die Kapseln verkalkt, (vergrößert circa 90 Mal.) – III. Eingekapselte Muskeltrichinen; die Kapseln verkalkt. (Natürliche Größe.). – IV. Weibliche Darmtrichine mit Eiern und Jungen. (Vergrößert circa 400 Mal.) a. Kopfende, b. Hinterende, c. Geschlechtsöffnunq. – V. Männliche Darmtrichine. (Vergrößert circa 400 Mal.) a. Kopfende, b. Hinterende. – VI. Muskeltrichinen in ihren Wurmröhren.
NB. Diese Abbildungen, mit Ausnahme der VI., welche dem Leuckart’schen Werke entnommen ist, wurden nach Originalen angefertigt, die Herr Dr. Fiedler in Dresden geliefert hat.


Trichinenweibchen und Trichinenmännchen, und diese, gestreckt oder wenig gekrümmt, nur im Magen und Darme; Trichinen-Neugeborene im Darme, welche aber bald als Muskeltrichinen auf der Wanderschaft im Fleische zu finden sind, und Trichineneinsiedler in ihrer Clause. Jede Trichine besitzt ein vorderes, zugespitztes Ende (a), an welchem sich die Mundöffnung befindet, und ein hinteres abgerundetes Ende (b) mit der Darmöffnung; zwischen beiden Oeffnungen zieht sich die Speiseröhre und der Darm hin. – Das Trichinenweibchen (s. Fig. IV.) ist etwa 11/2 Linien lang und läßt in seinem Hintern Ende (b) einen mit (60–80) rundlichen Ballen erfüllten Schlauch (den Eierstock mit Eiern) wahrnehmen, der sich nach dem Kopfende hin in ein langes Rohr (den Fruchthalter) auszieht und die aus den Eiern gekrochenen jungen Trichinchen enthält, welche aus der Geschlechtsöffnung in der Nähe des Kopfes als lebendige Würmchen heraustreten. Wie lange eine Trichinenmutter leben und gebären kann. läßt sich nicht bestimmt angeben, jedoch dauert dies wenigstens 4 bis 5 Wochen. – Das Trichinenmännchen (s. Fig. V.) ist etwa halb so lang und verhältnißmäßig [109] plumper als das Weibchen, rollt sich auch weniger leicht als dieses zusammen und hat an seinem Hintern ebenfalls abgerundeten Ende (b) zwei klappenartige Hervorragungen. In seinem Innern zeigt sich der Samenapparat. – Die neugebornen geschlechtslosen Trichinen sind nur bei starker Vergrößerung als äußerst feine, fadenartige Würmchen zu erkennen. Sie sind es, welche, nachdem sie die Darmwand durchbohrt und das Zellgewebe der Bauch- und Brusthöhle durchwandert haben, in die Muskeln eindringen, um sich einen Ort zu ihrer Einkapselung zu suchen. – Die wandernden Muskeltrichinen (s. Fig. I.) wachsen während ihrer Wanderschaft im Fleische, von dem sie tüchtig zehren, und nehmen erst dann ihre spiralförmige Haltung an, wenn sie sich einkapseln. Im Laufe weniger Wochen wachsen diese Muskeltrichinen sehr bedeutend, aber da sie keine Geschlechtsorgane haben, so vermehren sie sich natürlich nicht. – Die eingekapselte Trichine soll in ihrer Kapsel mehrere Jahrzehende leben können, während ihre Eltern im Darme schon nach Ablauf einiger (6–8) Wochen untergehen.

Daß die Trichinen dem Menschen Beschwerden und Gefahr bringen, ist nicht wegzuleugnen. Jedoch ist dies nur dann der Fall, wenn sie in sehr großer Anzahl den Darm und die Muskeln heimsuchen. Freilich können schon durch wenige Bissen sehr trichinenreichen Schweinefleisches so viele Trichinen-Väter und -Mütter sich im Darme entwickeln, daß diese bei ihrer großen Fruchtbarkeit schon nach wenigen Tagen Millionen junger Fleischfresser in unsere Muskeln zu schicken im Stande sind. Je mehr also von trichinigem Fleische genossen wird, je mehr Trichinen überhaupt in unsern Verdauungsapparat eingeführt werden, und je länger diese daselbst verweilen und sich vermehren können, um so mehr muß sich natürlich auch das Leiden und die Gefahr steigern. Die durch die Trichinen erzeugten Beschwerden betreffen den Magen, den Darm und die Muskeln und sollen dem Leser, – der gewöhnlich aus einer Krankheitsbeschreibung eine einzige Krankheitserscheinung herausnimmt und sich dann, wenn er diese an seinem Körper zu bemerken glaubt, die ganze Krankheit zu haben einbildet, – nicht ausführlicher mitgetheilt werden, weil’s ihm übrigens auch nichts nützt und Heilmittel gegen die Trichinenkrankheit nicht existiren. Sprechen wir also lieber von den Vorsichtsmaßregeln, durch die man sich vor der Gefahr schützen kann.

Schweinernes schmeckt denn doch zu gut, um als oberste Vorsichtsmaßregel die hinzustellen: man esse überhaupt keine Speise, die vom Schweine kommt. Nein, man esse dieses Fleisch, aber so zubereitet, daß, wenn selbst zahlreiche Trichinen darin verborgen wären, doch kein Nachtheil aus diesem Genusse hervorginge. Die richtige Zubereitung besteht nun darin, daß das Schweinefleisch (Cotelettes, Frankfurter, Röst- und Bratwürste, Wurstfleisch) gehörig durch und durch gekocht, gebraten oder geröstet wird. Denn die länger einwirkende Siedehitze macht die Trichinen ganz sicher todt. Rohes Schweinefleisch genieße man nie und halbrohes Schweinefleisch, wie es sich nicht selten in schnellgeräucherten Schinken, schlechtgeräucherten Knack- und Cervelatwürsten, in schwach gepökeltem und nur halb gahr gekochtem (gewelltem) Wurstfleische vorfindet, genieße man mit der Vorsicht, daß man dieselben mikroskopisch untersucht oder untersuchen läßt, wenn man nämlich den Schinken und das Pökelfleisch nicht tüchtig kochen oder braten will. Und warum soll nicht jeder Mensch, wenn er’s nur halbwegs kann, sich seinen Schinken und seine Wurst mikroskopisch selbst untersuchen? Ich würde es den Trichinen Dank wissen, wenn sie die Veranlassung dazu gegeben hätten, daß die gnädigen Frauen und Fräulein im Hause, wenn auch anfangs nur minutenlang, vor einem Wirthschaftsmikroskope und nicht mehr stundenlang vor der Toilette oder beim Romanlesen anzutreffen wären. Sicherlich würde sich dann sehr bald auch mehr Neigung für reelles, naturwissenschaftliches Wissen, vielleicht auch bei den Herren Hausvätern, einstellen und die Massen widriger Suchten und Aberglauben vertreiben, welche die Menschen an ihrer Veredlung hindern. – Ein sehr empfehlenswerthes, äußerst praktisches und billiges (nur wenige Thaler kostendes) Taschenmikroskop für das Haus mit den nöthigen Instrumenten, Anweisungen und sogar Trichinenpräparaten, verfertigt, nach der Idee des Dr. Pfeiffer in Jena, der Mechanikus Zeiß daselbst. Mit einem solchen Mikroskope brauchte die Hausfrau aber nicht blos auf die Trichinenjagd zu gehen, sie könnte sich auch noch über viele andere Wirthschaftsereignisse Aufklärung verschaffen, z. B. ob ein Stoff wirklich, aus reinem Leinen, Wolle, Baumwolle oder Seide besteht oder mit diesen oder jenen Stoffen untermischt ist u. s. f. Doch davon später ausführlicher (s. Gartenl. 1854 Nr. 33 u. 37).

Daß die ganze unheimliche Trichinerei über kurz oder lang ihr Ende finden wird, ist sehr wahrscheinlich, wenn man nur erst dahintergekommen sein wird, wie die Trichine in das Schwein gelangt, denn hinein muß sie geschafft werden. Zur Zeit ist das aber noch nicht aufgeklärt. Jedenfalls muß sich vorläufig das Schwein weniger schweinisch benehmen dürfen und bei reiner Stallfütterung recht rein gehalten werden. Im Ganzen kommt es übrigens zum Glück nur selten vor, daß man ein trichiniges Schwein ertappt. Doch darf das die Menschen nicht so sicher machen, daß sie die Vorsicht gegen Schweinefleisch und besonders gegen Geräuchertes ganz aus den Augen setzten, zumal da auch bei großer Vorsicht von Seiten der Viehzüchter und Fleischer die Trichinenkrankheit, welche beim Menschen sehr charakteristisch erscheint, beim lebenden Schweine nicht sicher zu erkennen und also die Uebertragung von einem Schweine auf das andere nicht zu verhindern ist. Man müßte denn, wie dies bei trichinenkranken Menschen vorgenommen wurde, dem verdächtigen Schweine ein Stückchen Fleisch ausschneiden und mikroskopisch untersuchen. Das todte Schwein sollte aber einer sorgfältigen Fleischschau niemals entzogen werden. Dabei ist aber stets zu bedenken, daß die nicht eingekapselten Trichinen nur mit Hülfe des Mikroskopen zu entdecken sind und daß nur die Kalkkapseln als weißliche Pünktchen mit bloßem Auge wahrgenommen werden können. Dieses Wahrnehmen ist aber auch nur im frischen Fleische möglich, nicht aber im geräucherten, gepökelten und gekochten. Es ist ferner zu berücksichtigen, daß beim Fleischer in der Regel auf einem und demselben Klotze und mit einem und demselben Beile oder Messer die verschiedenen Fleischarten hintereinander zerlegt werden und daß hierbei sehr leicht auch anderes Fleisch durch Beimischung trichinigen Schweinefleisches schädlich werden könnte. Darum ist’s räthlich, das Schweinefleisch abgesondert von den andern Fleischarten auf eigenen Klötzen mit besonderen Messern und Beilen zu behandeln und diese Utensilien stets sehr rein zu halten.

Neuere Versuche haben noch dargethan, daß durch längeres Einsalzen des Fleisches und durch 24 stündige heiße Räucherung (nicht aber durch dreitägige kalte Räucherung) die Trichinen getödtet werden und daß auch ein längeres Aufbewahren kalt geräucherter Wurst das Leben derselben zu zerstören scheint. – Trotz der beruhigenden Aufklärungen nun, welche uns bis jetzt (durch Leuckart, Virchow, Herbst, Küchenmeister, Zenker, Fiedler u. A.) über die Trichinen geworden sind, ziehe man gegen diese Schmarotzer doch immerfort mit ordentlichem Kochen, Braten und Räuchern des Schweinernen zu Felde und bedenke, daß Krankheiten zu verhüten leichter ist, als sie zu heilen.

Schließlich lasse man sich aber auch noch sagen, daß schon Newton prophezeit hat: das Mikroskop werde einst auf dem Tische jedes gebildeten Menschen stehen; denn Wissen ist Macht. Das Mikroskop ist das gewaltigste Civilisations-Instrument, welches ebenso dem menschlichen Geiste, wie dem praktischen Leben große Vortheile und Genüsse zu schaffen im Stande ist (s. Gartenl. 1854 Nr. 1).
Bock. 




Die unbarmherzigen Barmherzigen.
Von dem ehemaligen Hospital- und Invalidenhaus-Pfarrer Biron in Mainz.

Seit einigen Jahren hat das Mainzer Invalidenhaus durch außergewöhnliche Ereignisse eine fast allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Vieles ist über diese Anstalt und über ihre Geheimnisse in’s Publicum gedrungen, mit besonderer Mühe hat Warburg, ein früherer Insasse dieser Anstalt, sie beschrieben. Allein auch andererseits hat man nicht geschwiegen. Auf jede öffentliche Anklage folgte sofort eine kecke Vertheidigung von Seiten der ultramontanen Partei, und der „Nürnberger Anzeiger“, der sich des Invalidenhauses mit besonderer Vorliebe angenommen hatte, wurde in mehreren Preßprocessen verurtheilt und schließlich im Großherzogthum Hessen [110] verboten. Auch die Mainzer Lokalpresse wurde deshalb gerichtlich verfolgt und, wenn auch wider Willen, zum Schweigen gebracht; Warburg endlich büßte gerade ein Jahr lang in Untersuchungshaft hinter Schloß und Riegel wegen seiner Enthüllungen über die genannte Anstalt. Als er aus dem Gefängniß heraus zu seiner Vertheidigung eine Ansprache an seine Mitbürger veröffentlichte, wurde er, noch bevor sein Hauptproceß verhandelt war, zu vier Monaten Correctionshaus nebst entsprechender Geldstrafe verurtheilt. Am 4. Januar d. J. kam endlich der Proceß wegen der Warburg’schen Broschüre zur Verhandlung. An 130 Zeugen waren geladen. Gerade am Jahrestage seiner Verhaftung hielt Warburg seine Vertheidigungsrede vor den Schranken des Mainzer Bezirksgerichtes, und am 27. Januar wurde das Urtheil publicirt. Es lautete auf 6 Monate Correctionshaus, von denen von seiner 12 Monate dauernden Haft ihm 2 Monate als unverschuldet abgerechnet wurden. Allein durch diese Verurtheilung ist das öffentliche Urtheil über Schwester Adolphe, über das Invalidenhaus und über die ultramontanen Mainzer Jesuitenumtriebe nicht um einen Deut geändert werden. Oeffentlich sammelt man in Mainz und in der Umgegend zu Gunsten Warburgs, damit er nach überstandener Haft eine einigermaßen sichere Existenz finde; denn man weiß in Mainz nur zu gut, daß Manches, was Warburg in seiner Broschüre behauptet, wenn auch nicht durch Zeugenaussage zu erweisen, so doch wahr ist, indem in der langen Zwischenzeit seiner Untersuchungshaft manche seiner Hauptentlastungszeugen gestorben sind, besonders der bekannte Dr. Mertens, Assistenzarzt in jenen Anstalten, der sich unter Verhältnissen erhängte, daß in Folge der deshalb auftauchenden Gerüchte gegen mehrere Zeitungen in und um Mainz mit Untersuchungen wegen Preßvergehen vorangegangen wurde. Man weiß, daß die Mainzer Ultramontanen in den 12 Monaten von Warburgs Untersuchungshaft freie Hand hatten, ihre Angelegenheiten bezüglich jenes Processes in Ordnung zu bringen, währenddem Warburg die nothwendigen Mittel zu seiner Vertheidigung, vor Allem der freie Verkehr mit den von den Ultramontanen umstrickten Invaliden, fehlten. Man weiß endlich nur zu gut, daß auch für den Fall, daß Warburg in dem einen oder andern Punkte sich geirrt, er durch sein Auftreten in dieser Angelegenheit an den armen Invaliden ein gutes Werk gethan und durch seinen Kampf gegen das Mainzer Jesuitenthum sich um die gute Sache verdient gemacht hat.

Tief eingeweiht in die Verhältnisse des Mainzer Invalidenhauses und bekannt mit den Plänen der Mainzer Ultramontanen, werde ich ohne alle Parteilichkeit wie sonder Leidenschaftlichkeit den Lesern der Gartenlaube ein Bild jener Anstalt entwerfen, welches, auf der strengsten Wahrheit beruhend, um so geeigneter sein wird, das Urtheil des deutschen Volkes über jene Vorgänge wirklich aufzuklären. Es bedarf keiner Uebertreibungen, um ein schlechtes System bloßzustellen und es in den Augen der Welt zu kennzeichnen.

Das Mainzer Invalidenhaus ist eine rein bürgerliche Anstalt, die erst im Jahre 1848 eröffnet wurde. Der Mainzer Jesuitismus suchte sich aber dieser mit Millionen dotirten Anstalt zu bemächtigen, um dadurch einen entscheidenden Einfluß auf die socialen Verhältnisse in Mainz zu gewinnen. Diesem Plane stand die Mainzer Bürgerschaft, der Gemeinderath an der Spitze, entgegen. Die Jesuiten waren deshalb bestrebt, einerseits jenem Invalidenhaus einen kirchlichen Charakter aufzudrücken, andererseits durch große Ersparnisse in der Oekonomie der Anstalt selbst es dahin zu bringen, daß der s. g. Hospizienfonds, der zur Zeit der französischen Occupation Anfangs dieses Jahrhunderts aus den damals aufgehobenen Wohlthätigkeitsanstalten gebildet wurde, keines Zuschusses aus der Gemeindecasse bedürfe, um somit dem Gemeinderath jede Gelegenheit zu entziehen, sich mit den Verhältnissen der Anstalt zu befassen. Behält man diese beiden Punkte im Auge, so hat man eine Erklärung der ganzen unbarmherzigen Barmherzigen-Schwester-Wirthschaft im Mainzer Invalidenhaus.

Nachdem im Jahr 1855 die innere Verwaltung und Leitung des Invalidenhauses den barmherzigen Schwestern übertragen war, sorgten diese Nonnen, an deren Spitze Schwester Adolphe steht, dafür, daß beide Punkte realisirt wurden. In Wirklichkeit wurde die Anstalt dem äußern Anschein nach in kürzester Zeit unter den sorgsamen und „zarten“ Händen der Nonnen in ein vollständig klösterliches Institut verwandelt und dabei, d. h. trotz der enormen Mittel, die man zur Herrichtung dieses klösterlichen „Anstriches“ bedurfte, jährlich eine Summe von vielen tausend Gulden gegen früher erspart. Mochten auch die Invaliden darüber in die äußerste Unzufriedenheit versetzt, mochte auch von wohlmeinender Seite entschieden von einem solchem System abgerathen werden, – die Jesuiten fragten nichts darnach; denn schon waren sie näher dem Ziele ihrer Pläne angelangt und bedurfte es nur ihrer fortgesetzten eisernen Zähigkeit, um in kürzester Zeit den entscheidenden Sieg in ihrer Hand zu haben.

Da, in der Zeit der äußersten Noth und der äußersten Unzufriedenheit der Hospitaliten, trat Warburg mit seiner Broschüre auf den Kampfplatz und machte den Ultramontanen zu ihrem größten Zorn und Aerger den Sieg streitig, den sie schon errungen glaubten.

Werfen wir nun unsere Blicke zunächst auf die fromme Schaar dieser barmherzigen Schwestern! Ihre Vorsteherin ist die so weithin berüchtigt gewordene „Schwester Adolphe“. Sie ist geboren im Juni 1815 in Aschaffenburg, wo ihr Bruder Pfarrer an der Stiftskirche ist. Josepha Faust, so heißt Schwester Adolphe, war an 30 Jahre alt, als sie (im September 1844) den Schleier nahm. Mancherlei Gerüchte über ihre früheren Lebensjahre sind in das Publicum gedrungen, ohne daß sich bis jetzt irgend Jemand die Mühe genommen hätte, deren Wahrheit oder Falschheit darzulegen. Ich selbst habe einen mit Namensunterschrift versehenen Brief von der Hand einer Person gelesen, die längere Zeit im Rochusspital in Mainz die barmherzigen Schwestern beobachtet hatte und gegen diese Nonnen die wunderlichsten Dinge aussagte. Schwester Adolphe ist von untersetzter Statur, ziemlich corpulent, festen Blickes, barschen Auftretens, mannhaft in ihrem ganzen Wesen. In ihrem Umgang mit Personen höheren Standes, namentlich mit Geistlichen, benimmt sie sich überaus würdevoll, fein, einschmeichelnd, ja ich möchte sagen liebenswürdig.

Die übrigen Schwestern des Invalidenhauses sind meistens noch junge Mädchen in den zwanziger Jahren, denen man es jedoch auf den ersten Blick ansieht, daß sie als Schönheiten in der Welt keineswegs réussirt hätten. Einem alten Manne, einem Veteranen, der ein Selbstbewußtsein und Gefühl für Ehre hat, muß es empörend sein, sich von einem solchen jungen Dämchen nach Willkür und Laune commandiren lassen zu sollen. Nur zwei der Nonnen, Schwester Sylveria und Schwester Lina, die freundlich und gutherzig, waren bei den Invaliden beliebt, und Warburg hat sie auch in seiner Broschüre gelobt, weshalb sie wohl, kurz nach dem Erscheinen der Flugschrift, nach Frankreich versetzt und erst in Folge des sich an diese Versetzung knüpfenden Aufsehens nach Mainz zurückgeschickt wurden. Beide Schwestern benahmen sich mit einzelnen Hospitalbeamten von Zeit zu Zeit über das Regiment der Schwester Adolphe vertraulicher, als man dies sonst bei einer Nonne gewohnt ist. Manchmal scheint sich diese Vertraulichkeit freilich etwas weite Grenzen gesteckt zu haben. Von der Schwester Lina besonders bezeugte der frühere Invalide Hohl, daß er sie mit dem Hausknecht Fisch, einem hübschen jungen Manne, mit umschlungenen Armen einen verschlossenen Corridor habe auf- und abgehen sehen. Als er davon andern Invaliden Mittheilung gemacht, sei er von diesem Hausknechte blutig geschlagen, von der Schwester Adolphe thatsächlich mißhandelt und in einen schrecklichen Hauskerker, den man in Mainz „Blockkammer“ nennt, bei Wasser und Brod so lange eingesperrt worden, bis er, auf das Aeußerste entkräftet, bei der Schwester Adolphe und dem damaligen Hospitalpfarrer Steindecker nothgedrungen seine Aussage widerrufen habe. Der genannten „Blockkammern“ giebt oder gab es im Mainzer Invalidenhaus mehrere. Die „barmherzigen“ Schwestern schämten sich nicht, bei all’ ihrer Barmherzigkeit, den Invaliden gegenüber diese Zwangszellen in Anwendung zu bringen und davon reichlichen Gebrauch zu machen.

Das Innere des Invalidenhauses ist dem äußern Anschein nach gar gemüthlich, Alles ist für das Auge hübsch und geschmackvoll hergerichtet. Aber das „Kloster“ schaut aus allen Ecken und Enden hervor. Statuen und Bilder von Heiligen gewahrt man allerwärts, nicht nur in der Kapelle, sondern auch im Speisesaale, auf den Gängen, in den einzelnen Zimmern. Was der ganzen Mainzer Klerisei nicht erreichbar gewesen wäre, wurde möglich unter den Händen der Nonnen. Die Zimmer der eingepfründeten Personen sind elegant, oftmals sogar luxuriös eingerichtet; in sie werden denn auch Besucher der Anstalt mit Vorliebe eingeführt. Die Säle der Invaliden aber bieten den Anblick großer Dürftigkeit.

[111] Der Brenn- und Glanzpunkt des Invalidenhauses dagegen ist seine Kapelle, geweiht dem heiligen Joseph, den die barmherzigen Schwestern absonderlich verehren, und zu welchem sie ein sogenanntes „ewiges Gebet“ unterhalten. Diese Kapelle ist zur Zeit eine der schönsten und prächtigsten Kirchen, die man weit und breit finden kann. Wieviel Tausende müssen für sie verschwendet worden sein! Allenthalben ist sie auf das Eleganteste ornamentirt, vergoldet, mit Teppichen, feinen Linnen und Spitzen, mit goldenen, silbernen und seidenen Paramenten, mit Fahnen und Guirlanden, mit Heiligenbildern und prächtigen Altären ausstaffirt. Und doch hat der Hospizienfonds nicht die geringste Pflicht, jene Kapelle zu unterhalten und einen Geistlichen dafür besonders zu besolden, und er giebt dem Wortlaut der Anweise-Register nach auch jährlich nur 75 fl. für den Bedarf der Kapelle her! Betrachtet man indeß den überaus zahlreichen Gottesdienst, der täglich mit Aufwendung einer Menge von Wachskerzen stattfindet, so lehrt ein Blick, daß jene 75 fl. nicht hinreichen, nur das Wachs zu bezahlen, das auf den Altären verschwendet wird. Schwester Adolphe weiß die Unterhaltungskosten dieser Kirche, die jährlich eine enorme Summe erfordern, anderswoher zu beziehen.

Doch nicht allein das blos Aeußerliche der Anstalt zeigt den vollständigen Klosteranstrich, auch in der inneren Organisation des Hauses herrscht ein klösterliches Leben und Treiben. In der alten Hausordnung stand kein Wörtlein von einer Verpflichtung der Insassen zur Theilnahme an gottesdienstlichen Verrichtungen. Die „Schwestern“ aber haben diese Hausordnung entfernt und nach und nach mit der größten Strenge eine rein klösterliche Hausordnung eingeführt. Katholische Gebete wurden öffentlich, wenigstens sechs Mal des Tages, in allen Sälen verrichtet und Protestanten und andere Confessionsangehörige mußten daran Theil nehmen. Zwei Mal mindestens im Tage, Morgens und Abends, mußten die Invaliden in der Kapelle dem Gottesdienste beiwohnen. Wer ihn versäumte, wurde bestraft; alten Männern ward von blutjungen Fanatikerinnen, die sich „barmherzig“ nennen, Hausarrest u. s. w. dictirt, wenn sie beim „Rosenkranz“, bei der „Messe“ fehlten oder zu spät kamen. Schwester Adolphe ließ einen armen, krüppelhaften Invaliden, Namens Damian Müller, sogar in den Schweinestall einsperren, weil er nicht in die Kirche gehen wollte! „In die Kirche wurden wir,“ sagten die Invaliden eidlich, „wie Postpferde getrieben.“ Zum Beichten, zum Empfang der Sacramente wurden jene unglücklichen Menschen moralisch genöthigt. Und das Alles geschah aus „Barmherzigkeit“, d. h. in der den „Barmherzigen“ entweder bekannten oder unbekannten Absicht, das Invalidenhaus der Bürgerschaft gegenüber als eine rein katholisch-kirchliche Anstalt erscheinen zu lassen.

Daß es aber den „Barmherzigen“ überhaupt wenig um „Barmherzigkeit“ zu thun war, zeigt die ganze Behandlung, die sie den Invaliden angedeihen ließen, welche nichts weniger als Barmherzigkeit verräth. Den Statuten nach, wird nur Der in die Anstalt aufgenommen, welcher sich, sei es aus anhaltender Kränklichkeit, aus Altersschwäche oder aus Krüppelhaftigkeit, nicht mehr durch die Arbeit seiner Hände ernähren kann; er sucht also eine Zuflucht in seinem körperlichen Elend und soll, nach der Absicht, welche der Gründung jener Anstalt unterlag, in dieser ein ruhiges Asyl für seine alten Tage finden. Aber wie sieht es mit diesen Veranstaltungen aus? Die „Barmherzigen“ müssen doch sparen, sparen, damit die Unterhaltung des Gottesdienstes und der Invaliden nicht so große Summen verschlingt und der Fonds von dem Einfluß des Gemeinderathes „emancipirt“ werden kann. Und so sieht man im Invalidenhaus Alles arbeiten, was noch die Hand regen kann. Morgens sechs Uhr müssen, Sommer und Winter, die alten Leute aufstehen, selbst ihre Betten machen und Ordnung und Reinlichkeit in ihren Sälen selbst aufrecht halten. Zum Kehren, Reinigen, zum Arbeiten für die Invaliden überhaupt, haben die Nonnen keine Zeit und keine Kraft, indem sie oftmals, sogar in der Nacht, und mit Aufopferung des nothwendigen Schlafes, mit ihren Lieblingsspielereien für die Kirche, d. h. mit Nähen, Stricken, Häkeln, Kränzewinden, Guirlandenbinden, Rosenkranzandachten, St. Josephsgebeten, Besuchungen des heiligen Altarsacramentes, mit Vorbereiten auf Beichte und Communion, mit Ausschmückung der Kirche und der Heiligenbilder, mit Blumenmachen und Blumenzucht (für die Kapelle), mit Theilnahme an dem Gottesdienste etc. etc. endlos beschäftigt sind.

Allein auch die Invaliden, männlichen und weiblichen Geschlechts, sieht man in allen Abtheilungen der Anstalt für die Kapelle in Anspruch genommen, besonders an den Tagen, welche einzelnen großen Nonnenfeierlichkeiten vorausgehen. Wer aber nur irgendwie noch geeignet ist, etwas für den Bedarf der Anstalt selbst zu arbeiten, wird, um zu „sparen“, von den Schwestern ausgedeutet. Alte Weibchen, die kaum noch gehen können, die am ganzen Körper zittern, müssen auf der Nähstube spinnen oder nähen, stricken und flicken, Garn haspeln und Wolle zupfen. Das Geld für die Waschweiber sparen die Nonnen, indem sie – selbst etwa sich an die Bütten stellen? Nein, sondern dadurch, daß sie die Invaliden dazu anhalten, denen sie noch überdies, damit dieselben ihrem Widerwillen keinen Ausdruck geben möchten, während der sauren Arbeit den Rosenkranz vorbeten. Ja sogar der elende Tisch der Invaliden wird, soweit dessen Zubereitung Anstrengung erfordert, von den Invaliden selbst bereitet. Sie müssen die Kartoffeln schälen, die Gemüse putzen, Wasser und Brennmaterialien herbeischaffen, das Holz sägen und kleinmachen. Auch hat die Anstalt ihre eignen Werkstätten, z. B. Schreinerei, Schuhmacherei, Schneiderei, Küferei, Schlosserei etc., worin für die Anstalt und für die Kirche die Hände der Invaliden unablässig schaffen müssen.

Gewiß wird kein vernünftiger Mensch etwas dagegen einwenden, daß man den Hospitaliten die ihnen sonst unerträglich werdende Langeweile durch ihren schwachen Kräften angemessene Beschäftigungen zu kürzen sucht. Das geschieht ja in allen ähnlichen Anstalten, deren Unterhaltungskosten dadurch gleichzeitig vermindert werden. Wenn aber, wie es im Mainzer Invalidenhause der Fall, die den altersschwachen Männern und Weibern angemuthete Arbeit zur härtesten Grausamkeit und wahren Tortur wird, – alsdann verdient das System öffentliche Brandmarkung.

Kein Wunder, wenn mit einer solchen Quälerei die „barmherzigen“ Schwestern, trotz der Verschwendung in der Kapelle, noch verschiedene tausend Gulden gegen früher, wo keine Nonnen in der Anstalt waren, ersparen; kein Wunder, besonders im Hinblick auf die Aermlichkeit und Dürftigkeit des Invalidentisches. Statt acht Loth Fleisch erhielten die armen Alten nur vier oder fünf Loth, wie übereinstimmend viele Zeugen aussagten. Suppe und Gemüse waren so schlecht, daß die Hospitaliten dieselben nicht genießen konnten. Beklagte sich Jemand darüber, so hieß es: „Wenn das Euch nicht schmeckt, so lasset es nur stehen!“ Was Menschen genießen sollten, aber nicht konnten, damit wurde ein ansehnliches Contingent von Schweinen und Federvieh gefüttert, und hierdurch also nicht nur wiederum „gespart“, sondern ein reicher Erwerbsquell für die „Barmherzigen“ eröffnet, welche einen großartigen Federviehhandel auf eigene Rechnung etablirten. Die barmherzigen Schwestern selbst aber führten, ihre Beschäftigungen für die Kapelle ausgenommen, ein überaus behagliches Leben, einen guten Tisch, und wenn ihnen Jemand in ihrer beschaulichen Ruhe lästig entgegentrat, so hatten sie ja die „Blockkammern“, die Irrenabtheilungen, die Absonderungslocale, wo gegen alles Recht und Gesetz einzelne Invaliden, unter dem Vorwand, daß sie dem Trunk ergeben seien, wie in einer staatlichen Strafanstalt hinter Schloß und Riegel gehalten wurden. Kurz, die Insassen der Anstalt wurden ähnlich wie in einer Zwangsstrafanstalt behandelt; denn unter der Barmherzigkeit der Schwester Adolphe ward ihnen sogar der sonst übliche freie Ausgang nach dem Feierabend verwehrt; die frommen „Barmherzigen“ benahmen sich nicht anders, als wie hochmütige Gebieterinnen, die nicht einmal die Grüße der Armen erwiderten, die nicht Zwei oder Drei ungestört zusammen sprechen ließen, den alten Veteranen die unschuldigsten Spiele untersagten, die in ihrer grausamen Barmherzigkeit sogar so weit gingen, daß sie altersschwachen Eheleuten nicht einmal zusammenzusitzen erlaubten.

Der Warburg’sche Proceß hat diese und ähnliche moralische Schändlichkeiten an’s Tageslicht gebracht, und Warburg hat, wie die meisten Invaliden aussagten, wenigstens bewirkt, daß es den armen Leuten jetzt etwas erträglicher geht. Das ist für Warburg, wie er bei seiner Vertheidigung in rührender Weise aussprach, ein großer Trost und eine innere Genugthuung dafür, daß er um der Wahrheit willen im Kerker schmachten muß.

Das also ist die Barmherzigkeit der barmherzigen Schwestern in Mainz! Oder besser gesagt: so hat man zur Schande der Menschheit das heilige Wort „Barmherzigkeit“ als eine Maske gebraucht, hinter welcher man die eigennützigsten und selbstsüchtigsten Zwecke zu verhüllen suchte. Wahre Barmherzigkeit ist ein herrliches [112] Ding; gegen eine After-Barmherzigkeit ist mit Recht die Menschheit mit Entrüstung erfüllt. Mag auch Marburg in seinem Processe verurtheilt worden sein, die Oeffentlichkeit hat doch zugleich ihr Verwerfungsurtheil über jenes System der Heuchelei und der Scheinheiligkeit gesprochen, und kein Hirtenbrief des Mainzer Bischofs wird das schwarze Mal hinwegwaschen können, das der ultramontanen Partei durch Marburg unauslöschlich auf die Stirn gedrückt wurde.[3]




Blätter und Blüthen.

Naturwissenschaftliche Zeitungsschau. Nr. 1. Einen lautsprechenden Beweis, mit welcher unverantwortlichen Leichtfertigkeit die Reclame alle Mittel ergreift, giebt eine sächsische Zeitschrift in der zweiten Nummer des Jahrgangs 1864. In derselben empfiehlt ein Herr Schlossermeister Richter aus Geringswalde die Construction seiner Blitzableiter, und sagt unter Anderem:

„Die bedeutende Anziehungskraft und Leitungsfähigkeit meiner Blitzableiter habe ich durch eigene Erfahrung kennen gelernt. Beim Aufmachen ist es mir mehrfach vorgekommen, daß ein Gewitter in der Nähe aufstieg, nach dessen Entfernung der noch nicht der Erde zugeführte Blitzableiter dermaßen mit Elektricität gefüllt war, daß beim Berühren der Leitstäbe elektrische Schläge erfolgten. Dieses Experiment kann man bei einem Blitzableiter meiner Construction bei Annäherung eines Gewittern dadurch anstellen, daß man den Leitstab über der Erde von dem untern Ende abschraubt und das obere Ende mit einer Glasflasche soweit von der Wand abdrückt, daß es den untern Stab nicht mehr berührt; an dem abgedrückten Stäbe ist dann leicht ein elektrischer Schlag oder wenigstens ein schwaches Knistern zu beobachten.“

In dieser Reclame ist zweierlei zu verwerfen. Erstens beweisen die nach Entfernung eines Gewitters dem Leitstabe des noch nicht in die Erde geleiteten Blitzableiters entlockten elektrischen Schläge durchaus nichts für die „bedeutende Anziehungskraft und Leitungsfähigkeit“ im Einzelnen, und ebenso wenig etwas für eine besondere Vortrefflichkeit der in Frage stehenden Blitzableiter im Ganzen. Dergleichen scheinbar wissenschaftliche Präambeln, mögen sie nun absichtlich oder unabsichtlich sein, bewirken nur einn Täuschung des Publicums. Zweitens aber ist die Anstellung des Prüfungsversuches, zu welchem der Herr Schlossermeister Richter das Publicum auffordert, geradezu mit den höchsten Gefahren verknüpft. Die elektrische Spannung der Atmosphäre läßt sich in ihrer Stärke nie so ohne Weiteres bestimmen, eine in ihrem Aussehen sehr gefährlich erscheinende Wolke braucht gar kein Gewitter hervorzurufen, während bei ganz unverfänglichem Himmel sehr bedeutende Elektricitätsmassen in der Luft vorhanden sein können, welche aus einem Blitzableiter, dessen Verbindung mit der Erde, wie es Herr Richter vorschreibt, unterbrochen ist, schon ganz erhebliche Schläge zu erzeugen im Stande sind. Bei einem entschieden ausgesprochenen, herannahenden Gewitter aber wird vollends die Heftigkeit dieser Blitzschläge eine ganz unberechenbare.

Als vor etwas über hundert Jahren die Fragen nach der atmosphärischen Elektricität und nach der Natur der Gewitter unter den Naturforschern und Physikern aufgeworfen und behandelt wurden, machte de Romas, ein sehr erfahrener Physiker und geschickter Experimentator, verschiedene Versuche, indem er Metallspitzen (Auffangestangen) an Papierdrachen anbrachte und diese in die Luft steigen ließ. Obgleich nun die Leitung zur Erde nur aus einer Schnur mit einem dünnen, eingesponnenen Metalldraht bestand, die in Bezug auf Wirksamkeit lange nicht mit den Leitungen unserer Blitzableiter verglichen werden kann, so waren doch die Schläge, die de Roman erhielt, so heftig, daß er davon zu Boden geworfen wurde.

Noch schlimmer erging es dem Professor Richmann in Petersburg. Derselbe hatte zur Anstellung ähnlicher Versuche die Leitung den von seinem Hause herabgeführten Blitzableitern in derselben Weise, wie es Herr Richter in Geringswalde verlangt, unterbrochen. Trotzdem er nun die Gefahr genau kannte und alle möglichen Vorsichtsmaßregeln angewandt hatte, welche einem Physiker zu Gebote stehen, wurde er doch von einem Funken, der dem Blitzableiter entfuhr, getödtet. Und wenn dies einem im Experimentiren bewanderten und mit den einschlagenden Verhältnissen genau vertrauten Forscher widerfahren konnte, würde dann die Gefahr für das große Publicum nicht mindestens ebenso groß sein, wenn es der Richterlichen Aufforderung gemäß auf diese Weise die Brauchbarkeit seiner Blitzableiter prüfen wollte? – Herr Richter spricht allerdings nur von schwachem Knistern, damit ist aber nichts gesagt. Wenn die Blitzableiter wirklich zweckmäßig eingerichtet sind, so wird sich das schwache Knistern bis zum verderblichsten Blitzschläge steigern können.

Wir sehen es für unsere Pflicht an, eindringlichst davor zu warnen, daß die Leitungsstangen der Blitzableiter, welche die Elektricität in die Erde zu führen bestimmt sind, in der angegebenen Weise von einander geschraubt und die Leitungen dadurch unterbrochen werden. Schließlich dürften die Journale, welche technische und naturwissenschaftliche Kenntniß im Publicum verbreiten wollen, daran zu erinnern sein, daß es ihre erste Pflicht ist, derartige Reklamen, wie die hier in Frage stehende, gründlich zu prüfen, ehe sie sich dafür verantwortlich machen.


Eine neue preußische Bevormundung der deutschen Kleinstaaten.

Wie bekannt, haben mehrere von den zum sogenannten deutsch-österreichischen Postverein gehörigen kleineren Staaten, wie z. B. Anhalt, Waldeck etc., durch Vertrag dem Staate Preußen die Verwaltung ihrer Postanstalten übergeben, offenbar doch nur in der Absicht, die Wohlthaten und Vortheile derselben ihren Staatsangehörigen in möglichster Weise zu sichern, in keinem Fall aber ihre Unterthanen dadurch den Maßregeln der preußischen Polizei und innern Politik zu unterwerfen. Die Regierungen dieser Kleinstaaten mußten dabei unter allen Umständen erwarten, daß die Gesetze ihrer Länder von den preußischen Postbeamten, die hier nichts anderes sind, als die Vermittler des Verkehrs, pflichtgemäß beachtet und befolgt und in keiner Weise umgangen oder gar verletzt würden.

Die preußischen Postbehörden scheinen anderer Meinung zu sein. Im Herzogthum Anhalt sowohl, wie im Fürstenthum Waldeck, ist bekanntlich unsere „Gartenlaube“ nach wie vor erlaubt, die dortigen Buchhandlungen nehmen ungehindert Bestellungen an, und die Postanstalten beider Länder, welche verpflichtet sind auf alle in beiden Staaten erlaubten Zeitungen und Wochenschriften ebenfalls Abonnements anzunehmen, haben also unbedingt kein Recht Bestellungen auf die nur in Preußen verbotene „Gartenlaube“ zurückzuweisen. Trotzdem weigern sich die unter den Gesetzen beider Staaten fungirenden Postbeamten, Abonnements dortiger Landeskinder auszuführen, und üben somit den Bürgern nichtpreußischer Staaten gegenüber eine Polizei aus, zu der sie in keiner Weise verpflichtet oder berechtigt sind.

Da wir ein Mißverständniß oder eine Willkür seitens der Postbeamten nicht voraussetzen wollen, so müssen wir eine bestimmte Anweisung der preußischen Postbehörden annehmen. Das ist aber ein Eingriff in die Rechte fremder Staaten, und wir halten es für unsere Pflicht, diese neue preußische Bevormundung zu veröffentlichen, damit die betreffenden Staaten das gesetzwidrige Gebahren der preußischen Beamten ihrer Postanstalten kennen lernen und ihre Souverainetätsrechte wie die Rechte ihrer Staatsbürger in ihren Staaten ihrer Würde gemäß wahren.
Der Herausgeber der „Gartenlaube“. 

Zur Nachricht!

Die specielle Quittung über die mir mittlerweile wieder sehr reichlich eingesandten, sich auf etwa 800-1000 Thaler belaufenden Beiträge für die braven Schleswig-Holsteiner – worunter abermals einige interessante Opfergaben patriotischer Frauen – wird in der nächsten Nummer erfolgen.

Heute nur noch zwei kleine Berichtigungen: In Nr. 3 bitte ich anstatt 8 Thlr. vom Liederkranz zu Leipzig, vom Liederkranz zu „Ernstthal“ und in Nr. 5 anstatt 20 Thlr. vom landw. Verein zu Plohn bei Lengefeld, bei „Lengenfeld i/V.“ zu lesen.
Ernst Keil. 

  1. Wir glauben den nachfolgenden Aufsatz nicht besser einleiten zu können, als wenn wir das untenstehende schwungvolle Gedicht sowohl als die es illustrirende Randzeichnung aus Nr. 28, Jahrg. 1855 der Gartenlaube noch einmal zum Abdruck bringen, um so mehr, als bei der damals verhältnißmäßig noch kleinen Auflage unseres Blattes mehr als hunderttausend inzwischen erworbenen Abonnenten Bild und Poesie vollkommen neu sein werden.
    D. Red.
  2. Lehre von den physischen Eigenschaften des Wassers in Ruhe und Bewegung.
  3. Als kurzes Nachwort wollen wir dem vorstehenden Artikel nur die Bemerkung anfügen, daß wir von verschiedenen Seiten, namentlich aber aus den Rheingegenden, dringend aufgefordert worden sind, in unserem Blatte eine wahrheitsgetreue, objectiv unparteiische Darstellung der vielbesprochenen Vorkommnisse im Mainzer Invalidenhospitale und des Aufsehen erregenden Warburg’schen Processen zu veröffentlichen. Wir haben uns solchem Ansinnen nicht entziehen zu dürfen und wegen der gewünschten Mittheilungen uns an die zuverlässigste Quelle, den ehemaligen Mainzer Hospital- und Invalidenhauspfarrer, Herrn Biron, als einen Mann wenden zu müssen geglaubt, der, zu den betreffenden Verhältnissen in engster Beziehung stehend, mit der Sachlage gründlich vertraut ist. Indem wir diese Mittheilungen aufnehmen, wie sie uns gegeben worden sind, erklären wir uns jedoch ausdrücklich bereit, auch etwaigen Modifikationen dieser oder jener erzählten Einzelheit von anderer Seite die Spalten der Gartenlaube nicht verschließen zu wollen.
    D. Red.