Die Gartenlaube (1866)/Heft 10

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1866
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[145] No. 10.
1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Goldelse.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Oben in der Halle angekommen, legte Elisabeth Bertha’s Hut, der noch an ihrem Arme hing, auf das Büffet. Sie wollte den Eltern vorläufig noch nichts von der Begegnung sagen, weil sie mit Recht annahm, daß sie sich beunruhigen und es dem Onkel erzählen würden. Der war aber gerade in den letzten Wochen wieder sehr bitter und heftig geworden, wenn er auf diesen Punkt zu reden kam, so daß Elisabeth die Ueberzeugung hatte, er werde nach einer solchen Mittheilung zum Aeußersten schreiten und die Störerin seines Hausfriedens verstoßen. Ernst hatte weder den Hut an Elisabeth’s Arm, noch ihr Bemühen, denselben zu verstecken, bemerkt, er konnte also nichts verrathen.

Nach dem Abendbrod ging Elisabeth hinunter in’s Forsthaus. Sie traf Sabine im Garten und hörte befriedigt, daß der Onkel nach Lindhof gewandert sei. Indem sie der alten Haushälterin den Hut übergab, theilte sie ihr das auffallende Gebahren Bertha’s mit und fragte schließlich, ob dieselbe nach Hause gekommen sei. Sabine war außer sich.

„Na, das können Sie mir glauben, Kindchen,“ sagte sie, „waren Sie allein, die hätte Ihnen die Augen ausgekratzt .… Ich weiß nicht, was noch daraus werden soll, vorzüglich in den letzten Tagen ist es sehr schlimm geworden … Sie schläft keine Nacht mehr, rennt auf und ab und spricht auch wieder, aber nur mit sich selbst … Wenn ich’s nur über mich gewinnen könnte, einmal geradezu die Thür aufzumachen, wenn der Spectakel so groß ist; aber ich kann’s nicht, und wenn Sie mir Berge von Gold hinlegen wollten … Sie lachen mich aus, ich weiß es; aber – nur der ist’s nicht richtig! Sehen Sie ihr nur einmal in die Augen, das funkelt und blitzt, als wenn sie das ganze Feuer vom Blocksberg drin hätte … Na, ich bin still, ich sage nichts, der Herr Oberförster hat einen gesunden Schlaf und die Anderen auch; aber ich bin da, wenn sich ein Mäuschen rührt, und so weiß ich recht gut, daß die Bertha gar oft des Nachts draußen herumflankirt, und allemal ist auch der Hofhund aus seiner Hütte verschwunden. Das ist noch der Einzige im Hause, der sie lieb hat, und so bös er ist – ihr thut er nichts.“

„Weiß das mein Onkel?“ fragte Elisabeth erstaunt.

„Ei, beileibe nicht! … Ich werde mich hüten, etwas zu sagen, das könnte mir schlecht bekommen.“

„Aber, Sabine, bedenken Sie denn nicht, daß Sie mit Ihrem Schweigen dem Onkel großen Schaden zufügen können? Das Haus liegt so allein; wenn kein Hund im Hofe ist –“

„So stehe ich droben am Fenster und wache, bis die endlich wieder über den Berg kommt und das Thier an die Kette legt.“

„Das sind ja übermenschliche Opfer, die Sie Ihrem Aberglauben bringen! … Man sollte doch lieber der Bertha –“

„Still, nicht so laut, dort sitzt sie!“ Sabine deutete durch das Staket auf den Birnbaum im Hofe. Elisabeth ging leise näher. Unter dem Baum, auf der Steinbank, saß Bertha, scheinbar ruhig, und schnitt Bohnen. Die glühende Röthe der Erregung auf Stirn und Wangen war einer fahlen Blässe gewichen. Elisabeth sah jetzt, daß das junge Mädchen in der letzten Zeit bedeutend magerer geworden war. Die schmale Nase trat schärfer aus dem Gesicht und die Wangen hatten die liebliche Rundung verloren. Dunkle Ringe lagerten um die Augen, und zwischen den Brauen gruben sich zwei Falten tief in die feine Haut, die dem Gesicht etwas finster Brütendes, aber auch im Verein mit gewissen Zügen um die Lippen einen unsäglich schmerzlichen Ausdruck gaben … Dieser Anblick schnitt tief in Elisabeth’s Seele. Auf den Schultern jener Einsamen lastete das Elend und mußte sie um so tiefer beugen, weil sie es schweigend trug … Elisabeth vergaß alle Feindseligkeit, die ihr Bertha bisher gezeigt hatte, und ging rasch einige Schritte näher, um jenes schmerzensmüde Haupt an ihre Brust zu lehnen und zu sagen: „Hier ruhe dich aus! Schütte all’ deinen Jammer, mit dem du so allein kämpfst und ringst, in mein Herz, ich will ihn redlich mit dir tragen,“ allein Sabine klammerte sich fest an ihren Arm.

„Sie werden doch nicht hingehen!“ flüsterte sie heftig. „Das leide ich nicht, sie ist im Stande und stößt mit dem Messer nach Ihnen.“

„Aber sie ist grenzenlos unglücklich. Es gelingt mir vielleicht doch, sie zu überzeugen, daß mich nur das innigste Mitgefühl zu ihr führt.“

„Nein, nein! … Nun, Sie sollen gleich sehen, wie weit man mit ihr kommt.“

Sabine schritt die Stufen hinab in den Hof. Bertha ließ sie herankommen, ohne die Augen aufzuschlagen.

„Fräulein Elisabeth hat ihn gefunden,“ sagte Sabine, Bertha den Hut hinhaltend; dann legte sie ihre Hand auf die Schulter des jungen Mädchens und fuhr freundlich fort: „Sie möchte Ihnen gern einige Worte sagen.“

Bertha fuhr auf, als sei ihr eine tödtliche Beleidigung widerfahren. Sie schüttelte wild die Hand von sich, und ihr Auge richtete sich zornig sofort auf die Stelle, wo sich Elisabeth befand, ein Beweis, daß sie die Anwesenheit des jungen Mädchens längst bemerkt hatte. Sie warf das Messer auf den Tisch, stieß mit einer ihrer heftigen Bewegungen den Korb zu ihren Füßen um, [146] so daß die Bohnen nach allen Seiten hin auf das Pflaster flogen, und ging in das Haus. Man hörte durch das offene Fenster, wie sie droben in ihrer Stube die Thür zuschlug und den Riegel vorschob.

Elisabeth war stumm vor Ueberraschung, aber auch vor Schmerz. Sie wäre der Unglücklichen so gern näher getreten, doch jetzt sah sie, daß sie jeden Gedanken daran aufgeben mußte.

Seit einer Woche ging sie täglich hinunter in’s Schloß. Fräulein von Walde hatte sich merkwürdig schnell erholt, seit jenem Nachmittag, wo sie, wie die Baronin zärtlich betonte, Heilung in dem von ihr eigenhändig bereiteten Kaffee gefunden hatte und wo Herr von Hollfeld angekommen war. Sie übte aus allen Kräften einige vierhändige Musikstücke und vertraute Elisabeth endlich an, daß in die letzten Tage des August das Geburtsfest ihres Bruders falle; sie wolle dasselbe diesmal ganz besonders verherrlichen, weil sie mit ihm zugleich die glückliche Rückkehr des Vielgereisten zu feiern gedenke. An diesem Tage sollte er sie zum ersten Male nach langer Zeit wieder spielen hören; sie wußte, daß sie ihn damit freudig überraschen würde.

Elisabeth sah diesen Uebungsstunden stets mit einem Gemisch von Freude, Angst und Widerwillen entgegen … Sie wußte selbst nicht warum, aber Schloß und Park waren ihr plötzlich lieb und vertraut geworden; ja, sie fühlte sogar für jene Bank, auf der sie mit Herrn von Walde gesessen hatte, eine Art zärtlicher Zuneigung wie für einen alten Freund, so daß sie stets, um an derselben vorüberzukommen, einen kleinen Umweg machte … Angst und Widerwillen dagegen flößte ihr Herrn von Hollfeld’s Benehmen ein. Nachdem sie einigemal seine Versuche, ihr in den Weg zu treten, durch schleuniges Ausweichen vereitelt hatte, kam er eines Nachmittags ohne Weiteres auf Fräulein von Walde’s Zimmer und bat um die Erlaubniß, der Stunde beiwohnen zu dürfen. Zu Elisabeth’s Schrecken versicherte ihm Helene mit freudestrahlenden Augen, sie heiße ihn doppelt willkommen als einen Bekehrten, der ja früher der Musik keinen Geschmack habe abgewinnen können … Er erschien nun beharrlich jedesmal, legte stillschweigend bei seinem Kommen einige frischgepflückte Blumen vor Helene auf das Clavier nieder, in Folge dessen sie consequent verschiedene falsche Accorde griff, und setzte sich in eine Fensterecke, von wo aus er den Spielenden gerade in das Gesicht sehen konnte. Er hielt, so lange musicirt wurde, die Hand über die Augen, als wolle er sich gänzlich den Eindrücken der Außenwelt entziehen, um im Reich der Töne zu versinken. Elisabeth bemerkte jedoch sehr bald zu ihrem Verdruß, daß er sein Gesicht nur so weit bedecke, als es von Helene gesehen werden konnte; hinter der vorgehaltenen Hand starrte er unausgesetzt zu ihr selbst hinüber und verfolgte jede ihrer Bewegungen. Sie erbebte unter diesen Augen, die, sonst so nichtssagend und leer, ihr gegenüber stets in einem eigenthümlichen Feuer aufglühten, so daß sie oft die größte Selbstbeherrschung nöthig hatte, um unbeirrt weiter zu spielen.

Helene hatte augenscheinlich keine Ahnung von der Hinterlist, mit welcher Hollfeld seinen Zweck zu erreichen suchte. Sie machte öftere Pausen und unterhielt sich lebhaft mit ihm, d. h. sie sprach dann fast immer allein und meist sehr hübsch. Jede seiner einsilbigen Antworten, so banal und gewöhnlich wie sie waren, nahm sie auf wie eine Gunst, wie einen Orakelspruch, dessen Sinn man stets tiefer zu suchen habe.

Wenige Minuten vor dem Schluß der Stunden entfernte er sich stets. Gleich das erste Mal jedoch hatte ihn Elisabeth beim Nachhausegehen bemerkt, und zwar durch eines der Corridorfenster im ersten Stock, von wo aus man einen bedeutenden Theil des Parkes überblicken konnte, wie er wartend vor dem Waldweg auf und ab ging, den sie passiren mußte. Sie durchkreuzte seinen Plan, nicht ohne heimliches Lachen, indem sie Miß Mertens besuchte und sich über eine Stunde bei ihr aufhielt. Dort wurde sie stets mit offenen Armen aufgenommen und gewann die Gouvernante allmählich so lieb, daß sie zuletzt gar nicht mehr an deren Thür vorbeigehen mochte, ohne auf ein Plauderstündchen einzukehren.

Miß Mertens war meist traurig und niedergeschlagen. Sie fühlte, daß ihr Bleiben in Lindhof immer unmöglicher wurde. Die Baronin, ihrer Herrschermacht und der damit verknüpften Thätigkeit plötzlich enthoben, langweilte sich jetzt öfter bis zum Sterben. Ihren Verwandten gegenüber mußte sie die Maske der Harmlosigkeit und Zufriedenheit vornehmen, was ihr wohl herzlich sauer werden mochte, sie war also gezwungen, ihre üble Laune hinter den verschlossenen Thüren ihres Appartements zu lassen, dort aber wurde sie nachgerade unerträglich; nicht für Bella, denn dem Kind gegenüber, in welchem sie bereits mehr die geborene Baronesse, als ihre Tochter sah, ließ sich die Dame nie zu Ausschreitungen hinreißen; vor ihrer alten Kammerfrau aber hatte sie, man wußte nicht warum, „einen heillosen Respect“, wie der Hausverwalter Lorenz sich ausdrückte, und der niederen Dienerschaft durfte sie nicht zu nahe treten, ohne den Herrn des Hauses herauszufordern; mithin wurde all’ der verbissene Groll gegen die unglückliche, wehrlose Gouvernante geschleudert.

Gar oft sagte diese unter Thränen, nur die Liebe zu ihrer alten, alleinstehenden Mutter bewege sie immer wieder, diesen Martern sich zu unterwerfen. Die alte Frau lebe fast nur von dem, was ihr die Tochter schicke, deshalb sei sie gezwungen, ein öfteres Wechseln der Stellung, der pecuniären Verluste wegen, zu vermeiden… So betrübt sie nun aber auch meist war, ihre sanften Züge hellten sich ganz gewiß auf, wenn Elisabeth den Kopf durch die Thür steckte und mit ihrer fröhlich frischen Stimme hereinrief, ob sie kommen dürfe. Mit dem Eintritt des jungen Mädchens flohen die Bekümmernisse und Sorgen, und wenn sie auf dem kleinen Sopha am Fenster dicht nebeneinander saßen, so fand ein Gedankenaustausch zwischen den Beiden statt, bei dem die Gouvernante sich in die eigene Jugend zurückversetzt fühlte und Elisabeth manchen Schatz hob aus den reichen Kenntnissen und Lebenserfahrungen der älteren Freundin.

Diese kleinen Nachmittagsbesuche hatten aber auch noch einen geheimen Reiz für das junge Mädchen, den sie sich aber um Alles in der Welt nicht eingestand, obgleich sie infolge desselben schon vor der Thür ein starkes Herzklopfen zu bekämpfen hatte und ein unerklärliches Gemisch von Freude und Bangen empfand.

Die Fenster von Miß Mertens’ Wohnung sahen in einen großen Hofraum, den Elisabeth den Klostergarten zu nennen pflegte; denn er lag so still und abgeschieden zwischen den vier hohen Mauern. Einige breitästige Linden warfen eine grüne Dämmerung auf die saftigen Rasenplätze, die nur hie und da ein gepflasterter Weg durchschnitt. Inmitten des Hofes befand sich ein Brunnen, der das Haus mit einem köstlichen Wasser versorgte; auf dem Rande des mächtigen Bassins ruhten die weißen Glieder einiger Sandsteinfiguren, umhaucht von dem grünen Licht der Wipfel droben. Wenn draußen auf den Boskets und Kieswegen die Nachmittagssonne glühend und träge lastete wie flüssiges Blei, dann wehte hier unter den Bäumen eine erfrischende Kühle. Eine Thür im Erdgeschoß, die unmittelbar aus dem Arbeitscabinet des Herrn von Walde in den Hof führte, stand deshalb auch meist offen. Er selbst trat dann und wann heraus und schritt mit gekreuzten Armen auf und ab… Welcher Gedankenstrom mochte dann wohl hinter der schönen, bleichen Stirn fluthen, wenn er, eine Zeitlang gesenkten Hauptes dahinwandelnd, plötzlich sich aufrichtete, wie aus einem lieblichen Traume aufgeschreckt? Miß Mertens sagte öfter, sie finde, daß er sehr verändert zurückgekehrt sei.

Vor seiner Reise, erzählte Miß Mertens, sei ihr Herr von Walde’s Gesicht vorgekommen wie das einer Statue, so ernst und unbewegt, und obgleich sie schon damals erkannt habe, daß er ein durchaus edler Mensch sein müsse, sei sie doch stets in seiner Nähe von einer Eiseskälte überschlichen worden. Jetzt käme es ihr vor, als habe eine lebenerweckende Hand über seine Erscheinung hingestreift; selbst sein Gang sei elastischer und rascher geworden, und sie wolle darauf schwören, daß bei seinen einsamen Wanderungen durch den Hof öfter ein Lächeln über seine Züge gleite, als tauche irgend ein Wesen vor ihm auf, dessen Anschauen ihn glücklich mache. Bei dieser Bemerkung lächelte Miß Mertens selbst und meinte geheimnißvoll, er habe auf alle Fälle sehr angenehme Erinnerungen mit heimgebracht, und sie könne die stille Ahnung nicht unterdrücken, als müsse binnen Kurzem Alles anders werden in Lindhof. Sie sah aber nie, daß ihre junge Freundin bei dieser Schlußfolgerung stets mit der Hand nach dem Herzen griff, und diese selbst bemerkte es noch viel weniger, denn der schmerzliche Stich, der schneidend ihr Inneres durchdrang, ließ sie ganz und gar vergessen, ihre äußeren Bewegungen zu beherrschen.

Heute hatte Elisabeth ihre Wanderung in’s Thal eine halbe Stunde früher angetreten. Der Vater war nämlich Mittags, als er aus dem Forsthause zurückkehrte, Miß Mertens im Walde [147] begegnet. Sie hatte sehr verweint ausgesehen und war augenscheinlich im Moment außer Stande gewesen, zu sprechen, denn sie hatte ihm nur einen Gruß zugenickt und war rasch weiter gegangen. Diese Nachricht ließ Elisabeth keine Ruhe; um keinen Preis hätte sie mit ihrem Besuch bei der Gouvernante bis nach Beendigung der Stunde warten können; denn das arme, einsame Wesen brauchte sicher Trost und ein Herz, an dem es sich ausweinen konnte.

Jenseits der großen Wiese, die an den Saum des Waldes stieß, lag ein allerliebster Pavillon. Ein dunkles Gebüsch umschloß den zierlichen Bau von drei Seiten und ließ die helle Fronte um so leuchtender hervortreten. Das kleine Haus hatte bisher verschlossen gestanden; die Läden waren jedoch meist zurückgeschlagen, und durch den Spalt, den ein verschobenes Rouleau bildete, hatte Elisabeth gesehen, daß der innere Raum sehr elegant eingerichtet war. Als sie heute aus dem Walde trat, sah sie sogleich, daß die Thüren des Pavillons offen standen. Ein Bedienter mit einem leeren Präsentirteller trat heraus und winkte ihr, hinüber zu kommen. Beim Näherschreiten erkannte sie bald Fräulein von Walde, die Baronin und Hollfeld, die den Kaffee tranken in dem einzigen Zimmer, aus welchem der Pavillon bestand.

„Sie kommen heute ein wenig zu früh, liebes Kind!“ sagte Helene, als das junge Mädchen über die Schwelle trat.

Elisabeth sagte ihr, daß sie Miß Mertens zuvor einen Besuch machen wolle.

„Ach, lassen Sie das heute!“ rief Helene lebhaft, aber sehr verlegen, während die Baronin mit einem unbeschreiblich malitiösen Lächeln von ihrer Häkelarbeit aufsah. „Wissen Sie, daß diesen Morgen ein großes Packet neuer Musikalien aus Leipzig angekommen ist?“ fuhr Fräulein von Walde fort. „Ich habe sie schon ein wenig durchgestöbert, meist prächtige Sachen. Vielleicht finden wir noch eine brillante Pièce für unser Concert… Setzen Sie sich; wir gehen dann zusammen in’s Schloß.“

Sie bot Elisabeth ein Körbchen mit Kuchen und legte ihr eine schöne Birne auf den Teller.

Herr von Walde’s Hund sprang in diesem Augenblick über die Schwelle. Sofort richteten sich beide Damen aus ihrer bisherigen Stellung auf. Helene blickte gespannt nach der Thür und gab sich offenbar die größte Mühe, so freundlich und harmlos wie möglich auszusehen. Die Baronin aber warf ihre Arbeit in den Korb; sie untersuchte die silberne Kaffeekanne, ob sie noch heiß sei, stellte eine Tasse nebst Zuckerschale zurecht und zog einen Stuhl aus der Ecke an den Tisch. Das impertinente Lächeln war verschwunden, dafür lagerte sich ein gewisser Ernst auf ihre Stirn, und die ganze Erscheinung präparirte sich, einen würdevollen und imposanten Eindruck zu machen. Hollfeld eilte beim Erblicken des Hundes sogleich hinaus in den Garten und trat nach wenigen Minuten mit Herrn von Walde wieder ein, der, wie es schien, von einem Ausflug zurückkam, denn er trug einen staubgrauen Ueberzieher und einen runden Filzhut.

„Wir haben schon gefürchtet, lieber Rudolph,“ rief Helene ihm entgegen, während sie sich erhob und ihm die Hand hinreichte, „Dich für heute ganz entbehren zu müssen.“

„Ich fand in L. mehr Geschäfte vor, als ich erwartet hatte,“ erwiderte er und setzte sich nicht auf den ihm gebotenen Stuhl, sondern neben seine Schwester auf das Sopha, wodurch Elisabeth gezwungen wurde, sobald sie die Augen erhob, ihm in das Gesicht zu sehen, denn er saß ihr gerade gegenüber. „Uebrigens,“ fuhr er fort, „bin ich schon seit einer halben Stunde wieder zurück; allein Reinhard hatte mir eine Privatangelegenheit mitzutheilen und verlangte eine sofortige Entscheidung von mir … deshalb wäre ich beinahe um das Vergnügen gekommen, den Kaffee bei Dir zu trinken, liebe Helene.“

„Der böse Reinhard,“ schmollte Fräulein von Walde, „er hätte auch ein wenig warten können, die Welt würde ja wohl nicht gleich aus den Fugen gegangen sein.“

„Ach, liebes Kind,“ seufzte die Baronin, „das sind Dinge, die wir nie ändern werden … Wir sind eben für unser ganzes Leben verurtheilt, die Sclaven unserer Untergebenen zu sein.“

Herr von Walde wendete ruhig seinen Kopf nach ihr und ließ seinen Blick langsam über ihre ganze Gestalt gleiten.

„Nun, weshalb fixirst Du mich so angelegentlich, lieber Rudolph?“ fragte die Baronin nicht ohne einen Anflug von Verlegenheit.

„Ich wollte mich nur überzeugen, ob Du in der That geeignet seiest, eine jener traurigen Rollen in Onkel Tom’s Hütte durchzuführen.“

„Stets Spott, wo ich Theilnahme suche,“ entgegnete die Dame, indem sie sich bemühte, ihrer spröden Stimme einen weichen, trauervollen Klang zu geben. „Ich könnte es nun nachgerade wissen; allein …“ sie seufzte abermals. „Nicht Jeder hat übrigens Deinen beneidenswerthen Gleichmuth, der die kleinen Bitterkeiten und nothwendigen Uebel des Lebens an sich vorübergleiten läßt… Wir armen Frauen haben leider unsere unseligen Nerven, die uns jede Gemüthserschütterung doppelt fühlbar machen. … Hättest Du mich heute Morgen gesehen, in welch’ trostlosem Zustand ich war –“

„So?“

„Ich habe einen furchtbaren Aerger gehabt… Nun, diese Miß Mertens wird es dereinst verantworten müssen!“

„Hat sie Dich beleidigt?“

„Welcher Ausdruck, liebster Rudolph! Wie könnte mich diese Person in ihrer Stellung beleidigen! … Erzürnt, auf das Aeußerste erbittert hat sie mich!“

„Nun, ich sehe mit großer Befriedigung, daß Du Dich nicht so leicht unter das Sclavenjoch beugen wirst.“

„Ich habe in der letzten Zeit unsäglich viel mit dieser albernen Person zu ertragen gehabt,“ fuhr die Baronin fort, ohne den Einwurf ihres Cousins zu beachten. „Heute Morgen nun höre ich, wie diese einfältige Mertens dem Kinde sagt, der innere Adel stehe weit über dem Adel der Geburt – als ob das zu trennen sei – sie stelle den Bettler, der ein reines Herz habe, höher als ein gekröntes Haupt, das sündige, und dergleichen mehr… Wenn ich Dir nun sage, daß Bella dereinst – so es im Rathschluß des Herrn liegt – am Hofe leben wird – ich habe eine Hofdamenstelle in B. so gut wie in der Tasche für sie – dann wirst Du begreifen, daß ich die Lehren der allzu freien Gouvernante unterbrach… Das mußt Du mir doch zugeben, lieber Rudolph, daß Bella mit solchen Ansichten bei Hofe eine klägliche Rolle spielen und sich sehr bald unmöglich machen müßte.“

„Dagegen läßt sich nichts einwenden.“

„Nun, Gott sei Dank!“ rief die Baronin aufathmend. „Ich war wirklich ein wenig in Sorge, wie Du die Entlassung der Miß Mertens, die Du wirklich weit über ihr Verdienst geschätzt hast, aufnehmen würdest… Die Person wurde dermaßen impertinent, als ich ihren Vortrag unterbrach, daß mir nichts Anderes übrig blieb, als sie fortzuschicken.“

„Ich habe ganz und gar kein Recht, Dir Vorschriften in Bezug auf Deine Leute zu machen,“ entgegnete Herr von Walde kalt.

„Aber ich suche mich darin so viel wie möglich Deinen Wünschen unterzuordnen, bester Rudolph… Ich kann Dir übrigens nicht sagen, wie froh ich bin, daß ich dies unausstehliche englische Gesicht nicht mehr zu sehen brauche.“

„Es thut mir leid, aber ganz umgehen wirst Du das doch nicht können, da sie mit Dir hier in Lindhof stets unter einem Dache sein wird; denn Reinhard, mein Secretär, hat sich vor einer halben Stunde mit ihr verlobt.“

Die Arbeit entsank den Händen der Baronin. Diesmal erschienen nicht nur die bekannten Flecken in vergrößerter Gestalt, sondern auch die Stirn war in eine dunkle Röthe getaucht.

„Hat denn der Mensch seinen Verstand verloren?“ rief sie endlich, aus ihrer Erstarrung erwachend.

„Ich glaube nicht; denn er hat ihn ja eben bewiesen,“ entgegnete Herr von Walde gelassen.

„Nun, das muß ich sagen, er zeigt sich auch hier als Alterthümler! … Welch’ eine jugendliche, blühend schöne Braut!“ rief die Dame höhnisch und wollte sich todt lachen. Hollfeld stimmte ein in das Gelächter und gab somit das erste Zeichen, daß er Theil nehme an dem Gespräch. Helene warf ihm einen trüben Blick zu, Elisabeth aber schnitt dieses Lachen tief in die Seels, und sie fühlte etwas wie Zorn in sich aufwallen.

„Nun, ich hoffe,“ nahm die Baronin wieder das Wort, „Du wirst mir nicht zumuthen, lieber Cousin –“

„Was denn?“

„Daß ich mit dieser Person noch länger zusammen sein soll.“

„Zwingen kann ich Dich freilich nicht, Amalie, so wenig es in meiner Macht steht, meinem Secretär das Heirathen zu verbieten.“

[148] „Aber entlassen kannst Du ihn, wenn er eine Wahl trifft, die Deinen nächsten Anverwandten den Aufenthalt in Deinem Hause verleidet.“

„Auch das kann ich nicht, denn er ist lebenslänglich bei mir angestellt, und ich habe soeben seiner zukünftigen Frau im Fall seines Todes eine Pension zugesichert… Uebrigens bist Du doch ein klein wenig im Irrthum, beste Cousine, wenn Du glaubst, es könne mich irgend etwas in der Welt bewegen, einen Menschen, den ich einmal als treu und zuverlässig erkannt habe, von mir zu lassen… Ich bin mit Reinhard’s Wahl vollkommen einverstanden und habe ihm die hübsche, große Erdgeschoßwohnung im nördlichen Flügel für alle Zeiten angewiesen … er wird auch seine Schwiegermutter zu sich nehmen.“

„Nun, ich gratulire ihm zu dieser vortrefflichen Acquisition,“ entgegnete die Baronin und ihre scharfe Stimme wankte im verhaltenen Zorn. „Nur Eines erlaube ich mir zu bemerken, ich kann es nicht über mich gewinnen, die Person auch nur einen Tag länger um mich zu dulden, mag sie sehen, wo sie bis zu ihrer Hochzeit unterkommt… Hoffentlich wirst Du einsehen, lieber Rudolph, daß die interessanten Brautleute unter den obwaltenden Umständen nicht unter Einem Dache bleiben dürfen.“

„Wenn Sie mir erlauben wollten,“ wendete sich hier Elisabeth an Helene, „so möchte ich meine Eltern bitten, die Braut aufzunehmen; wir haben Raum genug!“

„Ach ja, thun Sie das; besser könnte die Frage nicht gelöst werden,“ antwortete Fräulein von Walde und reichte Elisabeth die Hand. Die Baronin schoß einen wüthenden Blick auf Elisabeth.

„Nun, da wäre ja jetzt die Sache zur allseitigen Zufriedenheit geordnet,“ sagte sie, mühsam ihre Fassung behauptend. „Ich bescheide mich und will in Demuth abwarten, ob mir die zukünftige Frau Secretärin ein Plätzchen übrig lassen wird, wo ich vor ihrem widerwärtigen Anblick sicher bin… Apropos, Fräulein Ferber,“ fuhr sie nach einer Weile in leichtem Ton fort, „da fällt mir eben ein, daß Ihr Honorar für die Stunden bereits seit einigen Tagen in den Händen meiner Kammerfrau ist … klopfen Sie im Vorübergehen bei ihr an, sie wird Ihnen das Geld geben, sammt Berechnung, die ich aber zu quittiren bitte.“

„Aber, Amalie!“ rief Helene, sich erschrocken aufrichtend.

„Ich werde Ihrem Befehl nachkommen, gnädige Frau,“ entgegnete Elisabeth ruhig. Sie hatte bemerkt, wie bei den Worten der Baronin in Herrn von Walde’s Auge ein zorniger Blitz jäh aufgeflammt war, es hatte ausgesehen, als ob eine dunkle Wetterwolke über seine Stirn hinziehe; aber schon im nächsten Augenblick waren diese Zeugen innerer Bewegung einem unbeschreiblich sarkastischen Ausdruck gewichen.

„Wenn ich Ihnen rathen soll, Fräulein,“ wandte er sich an das junge Mädchen, „so wagen Sie sich nicht so ohne Weiteres in die Appartements der Frau Baronin – es geht um dort – ja, lächeln Sie nur, ich weiß das ganz genau. Böse Geister zeigen sich am hellen Tage, und ihr Thun und Treiben hat schon manches Unheil gestiftet… Kümmern Sie sich nicht weiter um die berührte Sache, mein Hausverwalter soll sie in Ordnung bringen; er ist zuverlässig und behandelt dergleichen Angelegenheiten mit so viel Tact, daß er darin selbst Damen beschämen könnte.“

Die Baronin rollte ihre Arbeit hastig zusammen und stand auf.

„Es wird gut sein, wenn ich für den Rest des Tages mein einsames Zimmer aufsuche,“ wendete sie sich mit zuckenden Lippen an Helene. „Es giebt Augenblicke, wo man mit den harmlosesten Absichten und Worten verstößt und sich zu seinem Schmerz mißverstanden sieht … Ich bitte also, mein Nichterscheinen beim Thee zu entschuldigen.“

Sie machte eine unceremonielle Verbeugung vor den Geschwistern, ergriff den Arm ihres Sohnes, der sehr verlegen aussah, und rauschte zur Thür hinaus.

Helene erhob sich mit Thränen in den Augen und wollte ihr nachgehen, aber ihr Bruder faßte mit sanftem Ernst ihre Hand und zog sie wieder neben sich auf das Sopha.

„Willst Du mir nicht wenigstens so lange Gesellschaft leisten, bis ich meinen Kaffee getrunken habe?“ fragte er freundlich und so unbefangen, als sei nicht das Mindeste vorgefallen.

„O ja, wenn Du es wünschest,“ antwortete sie zögernd und die Augen von ihm abwendend, „aber so leid es mir auch thut, muß ich Dich doch bitten, ein klein wenig zu eilen, denn Fräulein Ferber ist zur Stunde gekommen und hat schon ungebührlich lange warten müssen.“

„Nun, dann wollen wir gleich gehen, aber ich mache eine Bedingung, Helene.“

„Und die ist?“

„Daß ich zuhören darf.“

„Nein, nein, das geht wirklich nicht … Ich bin noch zu weit zurück, Deine Ohren würden die mangelhafte Stümperei nicht ertragen!“

„Armer Emil!… Er ahnt sicher nicht, daß er die Gunst, zuhören zu dürfen, seinen ungebildeten Ohren verdankt!“

Helene wurde dunkelroth. Sie hatte ihrem Bruder bisher nichts von Hollfeld’s Besuchen gesagt, aus leicht erklärlichen Gründen. Uebrigens war sie auch der Meinung gewesen, daß er darüber sehr gleichgültig denken würde, und nun legte er, wie es schien, Gewicht darauf. Sie kam sich vor wie eine ertappte Lügnerin und war im ersten Augenblick sprachlos. Elisabeth ahnte, was in ihr vorging; sie wurde mit ihr verlegen und fühlte, wie ihr plötzlich eine Purpurgluth in das Gesicht stieg. In diesem Moment wandte Herr von Walde den Kopf nach ihr; ein forschender, scharfer Blick flog über ihr Gesicht, und zugleich erschien eine finstere Falte zwischen seinen Augenbrauen.

„Spielt Fräulein Ferber auch ihre Phantasien in diesen sogenannten Uebungsstunden?“ fragte er, rascher als gewöhnlich, seine Schwester.

„O nein,“ entgegnete diese, froh ihre Fassung wieder gewonnen zu haben, „dann würde ich doch wahrhaftig nicht von Stümperei sprechen … Ich habe Emil auch nur den Zutritt gestattet, weil ich denke, man müsse die erwachende Liebe zur Musik pflegen, wo man sie finde.“

Ein leises Lächeln glitt über Herrn von Walde’s Gesicht, aber es war nicht jenes Lächeln, das neulich einen so eigenthümlichen Reiz für Elisabeth gehabt hatte. Die finstere Falte verschwand nicht, und auch sein Auge hatte etwas Düsteres, als er das junge Mädchen abermals durchdringend ansah.

„Du hast Recht, Helene,“ sagte er endlich kalt und nicht ohne einen Anflug von Spott. „Aber welcher Magnet muß in diesen musikalischen Uebungen liegen, daß solche Wunder geschehen! … Noch vor ganz kurzer Zeit hörte Emil das Gebell seiner Diana lieber, als die Beethoven’schen Sonaten.“

Helene schwieg und senkte die Augen.

„Da fällt mir eben die arme Miß Mertens ein,“ nahm ihr Bruder plötzlich in gänzlich verändertem Ton wieder das Wort. „Wäre es nicht zweckmäßig, wenn Fräulein Ferber vor Allem diese Angelegenheit in Ordnung brächte?“

„Ei freilich,“ entgegnete Helene, den Gedanken mit Hast ergreifend, denn er gab ja dem peinlichen Gespräch eine andere Wendung. „Wir wollen lieber die Stunde für heute streichen, damit Sie, liebes Kind,“ wendete sie sich an Elisabeth, „die nöthigen Schritte thun können … Gehen Sie also jetzt zu Ihren Eltern und bitten Sie auch in meinem Namen um Aufnahme der armen Miß.“

Elisabeth erhob sich. Zu gleicher Zeit stand auch Helene auf. Als ihr Bruder bemerkte, daß sie den Pavillon verlassen wollte, schlang er rasch seine Arme um die kleine Gestalt, hob sie wie eine Feder vom Boden auf und trug sie hinaus auf den Wagen, der vor der Thür stand. Nachdem er die Kissen stützend hinter ihrem Rücken geordnet und ihre kleinen Füße sorgsam mit einem Shawl bedeckt hatte, lüftete er den Hut leicht vor Elisabeth, wobei sie bemerken mußte, daß sich die Wolke zwischen den Brauen noch nicht verzogen hatte, und schob den Wagen auf den nächsten Weg, der nach dem Schlosse führte. –


10.

Die Eltern erklärten sich sofort mit Elisabeth’s Bitte und Vorschlag einverstanden, und diese eilte unverweilt wieder hinunter in’s Schloß, Miß Mertens im Namen der Eltern einzuladen, Als sie in das Zimmer der Erzieherin trat, lehnte diese mit gefalteten Händen an der Wand. Zu ihren Füßen stand ein halb gepackter Koffer, Schränke und Kommoden standen offen und die Stühle lagen voll Bücher, Kleidungsstücke und Wäsche. Das junge Mädchen eilte auf die Gouvernante zu, schloß sie in ihre Arme und hob das von Thränen überströmte Gesicht in die Höhe, aber unter den hellen Tropfen strahlte das Glück.

[149]

Abbe Liszt mit Pius dem Neunten und Cardinal Antonelli im Kreuzgang der Laterankirche zu Rom.
Originalzeichnung von Paul Thumann.

[150] „Ich bin durch die plötzliche Wendung meines Geschickes so überrascht,“ sagte Miß Mertens, nachdem Elisabeth ihren Glückwunsch ausgesprochen hatte, „daß ich für Momente meine Augen schließen muß, um mich zu sammeln … Heute Morgen war es dunkel über mir, und ich wußte buchstäblich nicht, wohin ich meine Schritte lenken sollte … der Boden wankte unter meinen Füßen … Und nun mitten in dieser Bedrängniß thut sich plötzlich eine Heimath vor mir auf. Ein Herz, das ich hochachte, dessen Neigung für die arme Gouvernante mir aber bis dahin völlig unbekannt geblieben war, will mir treu zur Seite stehen, und der heißeste Wunsch meines Lebens erfüllt sich, denn ich darf nun das gute, alte Mütterchen selbst hegen und pflegen … Was wird sie nur sagen, wenn sie die Nachricht erhält, sie, die mit der schmerzlichsten Mutterangst mich draußen wußte in Sturm und Wetter und mich doch nicht zurückrufen durfte an ihr Herz!“

Sie erzählte Elisabeth, daß Reinhard in einigen Wochen selbst nach England gehen und die Mutter holen werde. Sein Gebieter habe es so bestimmt und trage die Reisekosten. So oft Miß Mertens Herrn von Walde erwähnte, flossen ihre Augen über, und sie versicherte wiederholt, Alles, was die Baronin an ihr verschuldet, sei tausendfach ausgeglichen durch ihn, der es nicht ertragen könne, daß in seinem Hause irgend eine Ungerechtigkeit ungesühnt bleibe. Mit ihrer Einladung machte Elisabeth das Maß der Freude voll. Miß Mertens hatte für den ersten Augenblick in das kleine Lindhofer Gasthaus gehen wollen, bis sich ein Unterkommen im Dorfe selbst für sie finden würde.

„Nun wollen wir aber auch so bald wie möglich auf den Berg,“ rief sie freudestrahlend. „Die Baronin hat mir vorhin meinen Gehalt herübergeschickt und sich jegliche Annäherung meinerseits verbitten lassen … Bella ist durch mein Zimmer gegangen, ohne mich eines Blickes zu würdigen; das that wehe, schmerzlich wehe, denn ich habe sie gepflegt und behütet, wie meinen Augapfel. Sie war früher sehr kränklich, und während die Mutter die Hoffeste besuchte, saß ich daheim viele Nächte hindurch und bewachte die Fieberträume des Kindes … Nun, das soll Alles vergessen sein … Ich wollte eigentlich auch nur sagen, daß ich des Abschiedes von Beiden überhoben bin.“

Während Miß Mertens, um sich zu verabschieden, zu Fräulein von Walde und einigen Leuten im Hause ging, die sie lieb gewonnen hatte, packte Elisabeth ein. Die neue Bewohnerin von Gnadeck nahm nur das Nöthigste mit, alles Uebrige wurde hinab in die Wohnung des zukünftigen Ehepaares geschafft.

Es amüsirte Elisabeth, unten in einem Glasschrank – denn Herr von Walde hatte auch die ganze Einrichtung den künftigen Bewohnern zur Benützung überlassen – sämmtliche Bücher der Gouvernante aufzustellen. Das waren aber lauter Werke, die ihr Interesse lebhaft weckten; es blieb nicht beim Aufschlagen des Titels, sondern ganze Capitel wurden stehenden Fußes, bei offenen Thüren und Fenstern, in aller Eile durchflogen. Miß Mertens und ihr Umzug versanken, als ob sie nie dagewesen, da fiel über ihre Schulter herab eine frische Rose auf das Buch, in dem sie eben las. Elisabeth erschrak, aber gleich darauf lächelte sie und las um so eifriger weiter, mit einer leichten Wendung die Rose abschüttelnd. Miß Mertens, die ohne Zweifel hinter ihr stand, sollte den Triumph ihrer Neckerei nicht genießen … Plötzlich aber stieß sie einen leisen Schrei aus – eine schöngeformte, weiße Männerhand kam neben ihr zum Vorschein und legte sich sanft auf die ihre. Sie drehte sich um, nicht Miß Mertens, sondern Hollfeld stand hinter ihr und breitete lächelnd seine Arme aus, als wolle er die Erschrockene auffangen.

Sofort verwandelte sich ihr Schrecken in Zorn und Entrüstung, aber ehe sie noch ein Wort hervorbringen konnte, rief eine befehlende, rauhklingende Stimme in ihrer Nähe: „Emil, Du wirst im ganzen Hause gesucht. Dein Verwalter aus Odenberg hat Dir Dringendes mitzutheilen. Gehe hinüber!“

Neben Elisabeth befand sich das Fenster – es war offen. Draußen stand Herr von Walde und sah, beide Arme auf die Brüstung gestemmt, in das Zimmer herein. Er hatte die Worte gerufen, die den tödtlich erschrockenen Hollfeld wie eine Handvoll Spreu hinauswehten. Welcher Ausdruck voll Grimm lag in diesem Augenblick auf der unbedeckten Stirn, in den zusammengepreßten Lippen und dem funkelnden Auge, das noch eine Weile nach der Thür starrte, durch welche Hollfeld verschwunden war!

Endlich fiel sein Blick wieder auf Elisabeth, die bis dahin regungslos gestanden hatte, jetzt aber, von ihrem zwiefachen Schrecken sich erholend, eine Bewegung machte, als wolle sie in den Hintergrund des Zimmers zurücktreten.

„Was thun sie hier?“ fragte er barsch; seine Stimme hatte genau den rauhen Klang wie zuvor. Das junge Mädchen fühlte sich tief verletzt durch die Art und Weise der Anrede, und war im Begriff, trotzig zu antworten, als sie bedachte, daß sie ja auf seinem Grund und Boden stehe; deshalb erwiderte sie ruhig:

„Ich ordne Miß Mertens’ Bücher.“

„Sie hatten eine andere Antwort auf den Lippen – ich sah es und will sie wissen.“

„Nun denn – ich wollte sagen, daß ich auf eine so ungewöhnliche Art zu fragen keine Antwort habe.“

„Und warum unterdrückten Sie diese – Zurechtweisung?“

„Weil mir einfiel, daß Sie hier das Recht haben, zu befehlen.“

„Es ist lobenswerth, daß Sie dies einsehen; denn ich bin gesonnen, dieses mein gutes Recht gerade in diesem Augenblick voll zur Geltung zu bringen – zertreten Sie die Rose, die da so schmachtend zu Ihren Füßen liegt.“

„Das werde ich nicht thun – denn sie hat nichts verschuldet.“

Sie hob die Rose, eine schöne, halbgeöffnete Centifolie, vom Boden auf und legte sie auf den Fenstersims. Herr von Walde ergriff die Blume und warf sie ohne Weiteres hinüber auf den Rasenplatz.

„Dort stirbt sie einen poetischen Tod,“ sagte er ironisch, „die Grashalme decken sie zu, und Abends kömmt ein mitleidiger Thau und weint seine Thränen auf die arme Geopferte.“

Die Spannung in seinen Zügen hatte nachgelassen, aber sein Auge hatte noch denselben Inquisitorenblick wie zuvor, und auch sein Ton klang nicht viel milder, als er fragte:

„Was lasen Sie eben, als ich das Unglück hatte, zu stören?“

Goethe’s ‚Wahrheit und Dichtung‘.“

„Kennen Sie das Buch?“

„Nur einzelne Auszüge.“

„Nun, wie gefällt Ihnen die rührende Geschichte vom Gretchen?“

„Ich kenne sie nicht.“

„Sie halten Sie ja gerade aufgeschlagen in den Händen.“

„Nein, ich las die Krönung Joseph’s des Zweiten in Frankfurt.“

„Zeigen Sie her.“

Sie gab ihm das aufgeschlagene Buch.

„Wahrhaftig! … Aber sehen Sie doch, wie abscheulich das ist! gerade hier, wo Goethe den Kaiser die Römerstiege hinaufschreiten läßt, ist ein häßlicher, saftgrüner Fleck… Sie haben ohne Zweifel die Rosenblätter zu innig darauf gedrückt, das werden der Kaiser, Goethe und Miß Mertens Ihnen sicher nicht verzeihen.“

„Der Fleck ist alt, ich habe die Rose gar nicht berührt.“

„Aber Sie haben gelächelt bei ihrem Anblick.“

„Weil ich glaubte, sie sei von Miß Mertens.“

„Ach, diese Freundschaft hat etwas Rührendes! … es war jedenfalls eine Enttäuschung für Sie, als Sie statt der Freundin das schöne Gesicht meines Vetters hinter sich sahen?“

„Ja.“

„‚Ja‘ – wie das nun klingt! … Ich liebe die lakonische Kürze; aber sie darf mich nicht in Zweifel lassen … Was soll ich nun mit diesem ‚Ja‘ anfangen? Es klingt weder süß, noch bitter, und dazu Ihr Gesicht! … Warum haben Sie plötzlich eine trotzige Falte zwischen den Augen?“

„Weil ich denke, jedes Recht habe seine Grenzen.“

„Ich wüßte nicht, daß ich in diesem Augenblick von meinem Recht Gebrauch gemacht hätte.“

„Das wird Ihnen gewiß klar werden, wenn Sie sich die Frage stellen, ob Sie mir in meines Vaters Hause in so rauher Weise begegnen würden.“

Eine tiefe Blässe flog über Herrn von Walde’s Gesicht. Er preßte die Lippen aufeinander und trat einen Schritt zurück. Elisabeth nahm das Buch, das er auf den Fenstersims gelegt hatte und ging nach dem Bücherschrank, um ihn zu schließen.

„Ich würde unter den gleichen Verhältnissen in Ihres Vaters Hause ganz ebenso gesprochen haben, sagte er nach einer Weile etwas ruhiger und wieder näher an das Fenster herantretend. „Sie haben mich ungeduldig gemacht, warum antworten Sie so [151] unbestimmt … Wie soll ich nach der einzigen Silbe wissen, ob jene Enttäuschung eine unangenehme war, oder eine willkommene? … Nun? …“

Er bog sich weit in das Fenster herein und sah starr in ihr Gesicht, als wolle er eine Antwort von ihren Lippen ablesen; aber sie wendete sich entrüstet ab … Abscheulich! wie war es nur möglich zu denken, daß Hollfeld ihr je willkommen sein könne! Mußte nicht ihr Gesicht, ihr ganzes Wesen dem verhaßten Menschen gegenüber stets und immer ihre tiefste Abneigung beweisen?

(Fortsetzung folgt.)




Diätetisches Recept für Fettleibige.


Um die Fünfzig herum, oder wohl auch schon einige Jahre früher, nimmt bei den meisten Menschen, zumal wenn sie ein ruhiges, behagliches Leben führen, das Fett (besonders unter der Haut) allmählich mehr und mehr zu und sie werden wohlbeleibt, bekommen Embonpoint. Diese dem zweiten Mannes- (Frauen-) Alter zukommende und mit Liebe zur Ruhe und Bequemlichkeit einhergehende Wohlbeleibtheit ist, wenn sie nicht in sehr kurzer Zeit, sondern allmählich zu Stande kommt und wenn sie den Körper nicht unförmlich dick macht, eine ganz naturgemäße und ohne alle Gefahr.

Ganz anders verhält es sich mit der die Wohlbeleibtheit überschreitenden Fettleibigkeit, die aber wohl von derjenigen Corpulenz zu unterscheiden ist, welche sehr fleischigen Personen zukommt. Die Fettleibigkeit findet sich entweder schon in jüngern Jahren oder ziemlich rasch ein und sie schafft dem Körper nicht nur eine unschöne Form von Dickheit, sondern auch Beschwerden und sogar Lebensgefahr (Schlagfluß). Und darum muß der Fettleibige, wenn er schön und gesund bleiben und lange leben will, nicht nur sein überflüssiges Fett wegschaffen, sondern auch nach dessen Wegschaffung den Ansatz von neuen ungehörigen Fettmassen verhindern. Aber, und das nehme sich der Fette wohl zu Herzen, dieses Wegschaffen des Fettes darf ja nicht übereilt geschehen, in kurzer Zeit erzwungen werden, weil sonst der Gesundheit und dem Leben nachtheilige Ereignisse (sogar Schlagfluß) eintreten können; es muß behutsam und allmählich geschehen. Ebenso dürfen auch in der Nahrung durchaus nicht alle, unten näher bezeichnete, fette oder fettmachende Stoffe fehlen, denn unserm Körper sind dieselben zum Aufbaue seiner Organe und zur lebenswichtigen Wärmeentwickelung ganz unentbehrlich. Auch könnte der alsdann zu reichliche Genuß von fettlosen eiweißstoffigen Nahrungsmitteln (Fleischspeisen) Krankheiten (z. B. Gicht) erzeugen.

Gegen diese angeführten beiden Vorsichtsregeln verstoßen nun sehr häufig die der Banting’schen Entfettungscur Huldigenden und ziehen sich dadurch Beschwerden mancher, ja sogar gefährlicher Art zu, abgesehen davon, daß sie in Folge des raschen Fettverlustes gewöhnlich garstig zusammenrunzeln. Wer also sein überflüssiges Fett wegschaffen will, beachte die folgenden diätetischen Regeln:

I. Verminderung von Fettablagerungen durch passende Nahrung:

1. durch sparsamen Genuß ebenso von fetten Stoffen,
2. wie von fettähnlichen Substanzen, sogen. Fettbildnern.

II. Erschwerung des Fettabsatzes aus dem Blute:

3. durch hinreichende Bewegung (körperliche Arbeit);
4. durch Anregung des Blutlaufes und des Athmungsprocesses.

III. Wegschaffung des überflüssigen Fettes:

5. theils durch regere Verbrennung desselben, mit Hülfe einer durch zweckmäßiges Athmen gesteigerten Sauerstoffzufuhr;
6. theils durch flotteren Fluß des fettreichen Blutes, mit Hülfe zweckmäßiger Bewegung, tiefen Athmens und hinreichenden Wassergenusses.

Ad I. Eine passende Nahrung für den Fettleibigen ist diejenige, welche arm an fetten und fettähnlichen (sogen. stickstofflosen, kohlenwasserstoffigen) Substanzen, dagegen reich an eiweißstoffigen (sogen. stickstoffhaltigen) Materien ist. Zu den letzteren Stoffen, die sich vorzugsweise in den thierischen Nahrungsmitteln vorfinden, gehören: das Weiße des Eies, Käse, Fleisch, Gallerte; Kleber (in den Getreidesamen) und Legumin (Pflanzenkäsestoff in den Hülsenfrüchten).

Ad 1. Zu den fetten Stoffen gehören: das Fleischfett (Schmalz und Talg), die Butter, das Eidotter, das Knochenmark, Fisch- und Leberthran, die fetten Oele.

Ad 2. Die fettähnlichen Stoffe, welche wir mit unserer Nahrung genießen und welche innerhalb unseres Körpers (des Verdauungsapparates und Blutes) zu wirklichem Fette umgewandelt werden können, sind: alle Zuckerarten (ebenso der Rohr- und Trauben-, wie der Milchzucker in der Milch), sowie auch der Spiritus (Alcohol) und das Stärkemehl (in den Kartoffeln, Getreidesamen, Hülsenfrüchten, Sago).

Hiernach würde also der Fettleibige sich vorzugsweise des reichlichen Genusses von allen fetten Speisen, von Butter, Zucker (zuckerreichen Speisen und Getränken, auch zuckerhaltigen Wurzelgemüsen), Mehlspeisen, Gebäck, Kartoffeln und starken spirituösen Getränken zu enthalten haben; nicht aber braucht er diese Nahrungsstoffe und Genußmittel ganz und gar zu meiden. – Die Diät könnte etwa so eingerichtet werden: zum Frühstück Thee oder Kaffee ohne oder mit abgerahmter Milch und ohne oder mit nur wenig Zucker; Weißbrod mit magerem Fleische oder Schinken (Zunge) und ohne Butter; fettlose Bouillon. Zum Mittagessen: Suppe aus Fleischbrühe, aber mit nur wenig Fett und ohne Mehlstoffe (Gräupchen, Nudeln, Sago, Reis); Fleisch jeder Art, nur nicht fettreich oder in viel Butter gebraten; Austern; von grünen Gemüsen hauptsächlich Blättergemüse (nicht zuckerreiche Rüben); als Getränk leichtes Bier oder Wasser mit etwas leichtem Weine; Kartoffeln und Brod sind sehr mäßig zu genießen. Nachmittags: Kaffee oder Thee mit abgerahmter Milch und ohne Zucker. Zum Abendessen: mageres Fleisch (Schinken, Zunge), magerer Käse, Eier, Weißbrod (aber ohne Butter); Obst; leichtes Bier.

NB. Es ist merkwürdig, wie die meisten Menschen dem Biere durchaus eine ganz absonderlich schnell fettmachende Eigenschaft aufzwingen wollen, obschon im Bier (mit Ausnahme des sehr malzreichen) in Folge der Gährung nur äußerst geringe Quantitäten von fettähnlichen Stoffen vorhanden sind. Wenn Biertrinker fett werden, so ist nicht das Bier, wohl aber fettmachendes Essen und ruhiges, faules Leben daran schuld.

Ad 3. Große körperliche Ruhe (besonders neben geistiger und gemüthlicher Ruhe) unterstützt das Fettwerden ganz außerordentlich (wie das Mästen der Thiere beweist), und deshalb muß der Fettleibige einer solchen Ruhe zum Theil entsagen. Er muß sich hinreichende Bewegung machen, nicht blos ein Viertelstündchen spazierenschleichen, sondern weitere Fußtouren machen und Berge steigen, turnen, Schlittschuh fahren, reiten, schwimmen, kegeln, Billard spielen, Holz sägen, im Garten arbeiten u. s. w. Der Schlaf darf gerade nur zur Stärkung hinreichen und nicht über sechs bis sieben Stunden dauern, vorausgesetzt nämlich, daß das Gehirn durch geistige Arbeit nicht zu sehr angestrengt wird. Das Nachmittagsschläfchen darf nur sehr kurz sein.

Ad 4–6. Durch Anregung des Blutlaufes und des Athmungsprocesses wird ebenso die unnütze Anhäufung von Fett (unter der Haut und in oder an innern Organen) erschwert, wie auch das überschüssige Fett allmählich durch Verbrennung (mit Hülfe des eingeathmeten Sauerstoffes zu Kohlensäure und Wasser) aus dem Körper weggeschafft. Es läßt sich aber diese günstige Einwirkung auf das Fett durch den Blutlauf und das Athmen dadurch erreichen, daß man sich gewöhnt, des Tages öfters in reiner Luft recht langsam und tief ein- und auszuathmen (zumal beim Spazierengehen im Freien, besonders in frischer, sauerstoffreicher, sonniger Waldluft), daß man die oben angegebene Körperbewegung nicht unterläßt, und daß man seinem fetten, dickflüssigen Blute die gehörige Menge Wassers zur Verdünnung zuführt. Wer einen guten Magen hat, kann kaltes Wasser reichlich trinken, einem schwachen Magen bekommt dagegen heißes Wasser weit besser. Letzteres (etwa zwei bis drei Biergläser voll) würde am Besten früh vor dem Kaffee und bei oder vor dem Spazierengehen (mit Tiefathmung) getrunken werden.

[152] Gegen seinen Hauptfeind, den Schlagfluß, kann sich der Fettleibige, wenn ihm nämlich das Leben lieb ist, dadurch schützen, daß er, natürlich außer Vermeidung von Verletzungen des Schädels und von Einwirkung großer Kälte und Hitze aus denselben, Alles vermeidet, was den Abfluß des Blutes vom Kopfe erschwert und was den Zufluß des Blutes zum Gehirne verstärkt. Hindernd wirken auf den Rückfluß des Blutes vom Kopfe: enge Hals- und Brustbekleidung, längeres Bücken und Heben schwerer Gegenstände, Schlafen mit tiefliegendem Kopfe, anstrengendes Singen, Schreien und Instrumenteblasen, Pressen bei hartem Stuhlgange und beim Brechen, starke Blähungen, Husten, bedeutendere Körperanstrengungen mit beschleunigtem Athmen. Blutandrang zum Gehirne erzeugt Alles, was das Herzklopfen verstärkt, wie: zu reichlicher Genuß spirituöser Getränke (Berauschung), starken Kaffees und Thees, heftige Gemüthsbewegungen, Ueberladungen des Magens, anstrengende körperliche und geistige Arbeiten (besonders des Nachts), heftig wirkende Sinneseindrücke.

Will ein Fettleibiger nun einen reellen Nutzen von der angedeuteten Entfettungscur haben, so muß er eine solche nicht blos manchmal (jährlich einmal) und dann leidenschaftlich auf nur kurze Zeit vornehmen, sondern diese Cur zur bleibenden Lebensweise machen und sich deshalb nicht allen Genuß an den lieben fetten und fettmachenden Speisen und Getränken versagen; er muß sie nur recht mäßig genießen.
Bock.




Künstler-Wandelungen.


„Ein Münich stand in seiner Zell’
Am Fenstergitter grau,
Viel Rittersleut’ in Waffen hell,
Die reiten durch die Au.

Sie singen Lieder frommer Art
In schönem, ernstem Chor,
Inmitten fliegt von Seide zart
Die Kreuzesfahn’ empor.

Der Münich steht am Fenster noch,
Schaut ihnen nach hinaus:
‚Ich bin wie ihr ein Pilger doch
Und bleib’ ich gleich zu Haus.‘

Des Lebens Fahrt durch Wellentrug
Und heißen Wüstensand,
Sie ist ja auch ein Kreuzeszug
In das gelobte Land.“

Altes Lied (componirt von Franz Schubert).


Es war im landständischen Saal in Wien, an einem Novemberabend des Jahres 1822, als eine dichtgedrängte Menschenmenge erwartungsvoll auf einen zarten, blonden Knaben schaute, der sich eben dem Flügel näherte. Adam Liszt, der Freund Joseph Haydn’s und Hummel’s, der ausgezeichnete Clavierspieler und Geiger, führte seinen elfjährigen Sohn Franz zum ersten Male vor den Richterstuhl eines Publicums, das einen Mozart gekannt. Die Reihen der Männer schienen weniger dicht gedrängt, doch waren alle Musiker von Bedeutung versammelt und in der Nähe des Flügels bemerkte man den interessanten Kopf Salieri’s, und den ernsten Czerny, die Lehrer des Knaben. Der versammelte Frauenflor war desto reicher; das leuchtete, glühte, lächelte und schmachtete wie ein Blumenbeet nach einer thauigen Sommernacht, und gar Viele gab es, die es als eine günstige Vorbedeutung bezeichneten, daß der junge Debutant wie von Rosen umgeben erschien.

Ganz im entferntesten Winkel des Saales folgten zwei wunderschöne, sanfte Frauenaugen jeder Bewegung der schlanken Kindergestalt und auf einem zarten Antlitz lag die rührende Blässe tiefster, mächtigster Bewegung. Die Brust der lieblichen Frau hob und senkte sich voll Unruhe und die kleinen Hände, die gefaltet ineinander lagen, zuckten. Ein schwarzer Spitzenschleier verhüllte die Fülle des goldigen Haares und fiel auf die feine Büste nieder; ein schlichtes, schwarzes Gewand umschloß die schlanke Gestalt. Um die Lippen lag ein Zug von Trauer, und doch versuchten sie zu lächeln, als jetzt eine plötzliche Stille eintrat und die ersten Töne vom Flügel her den Saal durchzogen. Der kleine Franz spielte ein Concertstück von Hummel wunderbar feurig und kraftvoll. Das zahlreiche Publicum beirrte ihn nicht, er schien so ruhig und sicher wie ein erfahrener Steuermann an seinem Steuerruder auf bewegter See.

Warum zagte sie denn noch immer und athmete so angstvoll, jene blonde Frau? Sie hörte ja, wie man dem Knaben Beifall spendete; sie sah, wie ein freudiges Leuchten über sein Gesicht flog, als er sich zu kurzer Rast an der Seite seines Vaters niederließ. Der hübschen kleinen Sängerin mit dem tief ausgeschnittenen weißen Atlaskleide und der Rose hinter dem linken Ohr, die nun eine trillerreiche Arie sang, ward kein Blick aus jenen großen Augen mit den dunkeln Wimpern – unverwandt hingen sie nur an dem Antlitz des Knaben. Wie blaß erschien sein fein geschnittenes Gesicht mit dem vornehmen Munde! Mit einer lebhaften Handbewegung strich er zuweilen das reiche, blonde Haar zurück. Die Sängerin zog sich eben, begleitet von dem lebhaftesten Applaus, zurück und streifte an ihm vorüber, nicht ohne ihre Hand liebkosend über eben dies Haar gleiten zu lassen. Jene Frau im Spitzenschleier bemerkte es seufzend. Dann trat der Knabe wieder an den Flügel, eine kurze, kindliche Verbeugung und die schlanken Finger glitten im H moll-Concert Hummel’s über die Tasten. Die Zuhörer waren entzückt. Auch das sanfte Frauenantlitz im fernen Winkel des Saales überflog eine leichte Röthe der Freude.

Und wieder flötete die niedliche Signora und wirbelte in kecken Coloraturen auf und nieder und zog die vollen Schultern in die Höhe und warf zündende Blicke nach allen Seiten und verbeugte sich endlich mit reizender Koketterie wieder und wieder, als man „Bravo!“ rief. Dann aber nahm der Knabe zum letzten Mal seinen Platz ein zur freien Phantasie. Und still wurde es rings umher, wie in einer Kirche während des Gebets; man wagte kaum zu athmen. Es waren Mozart’sche und Beethoven’sche Themen, die seine Finger ineinander webten und variirten in zauberhafter Weise.

Ueber Salieri’s gefurchtes Antlitz glitt ein stolzes Lächeln; die blonde Frau aber hatte den Kopf auf die Brust sinken lassen und heiße Thränentropfen rollten über ihre Wangen und die sollte Niemand sehen. Fest und fester falteten sich die Hände und ein brünstiges Gebet stieg auf zum Himmel aus einer frommen, reinen Seele für den Knaben, der dort spielte. So tief war das Flehen dieses Herzens, daß selbst der Jubelruf der Menschen, die jetzt nach dem letzten Accord ihrem Entzücken freien Lauf ließen, es nicht störte. Wohl aber ließ der Klang einer Stimme die junge Frau erschreckt auffahren. Diese Stimme, die sie kannte, sagte eben zu ihr: „Madame, Ihr Sohn hat brav gespielt, ich bin mit ihm zufrieden. Sie werden Freude an ihm erleben und dürfen stolz sein auf Ihren Knaben. Wir wollen zu ihm gehen!“

Die Mutter Franz Liszt’s erhob sich, um ihre Hand auf den Arm eines großen, düster blickenden Mannes zu legen, der vor ihr stand. Sein volles Haar war in genialster Unordnung, seine Kleidung nachlässig. Die Menge wirbelte längst bunt und erregt durcheinander, aber wie vor dem Kaiser selbst wich sie ehrerbietig zurück, um jenem Paare Platz zu machen, das jetzt den Weg zum Flügel antrat. Sie redeten kein Wort miteinander, nur dann und wann schlug die Mutter die sanften Augen auf, um ihren Begleiter voll Bewunderung und Zagen anzuschauen, und er nickte ihr dann voll fast väterlicher Freundlichkeit zu. Und endlich sah der Knabe die Beiden.

„Mama, Du wirklich hier und – Beethoven!“ rief er aufglühend und leidenschaftlich erregt.

Und einen Augenblick später hing der „Stern des Abends“ am Halse seiner Mutter und das freundliche Lächeln Ludwig van Beethoven’s war der erste echte Lorbeer, der sich um die Stirn des jungen Künstlers legte. –

Seit jenem Tage war die Laufbahn Franz Liszt’s entschieden, und das Mutterherz gab, trotz tausend banger Sorgen, nach. Muthig drängte es die Schreckbilder von Gefahren, Entbehrungen und Täuschungen, die es Tag und Nacht beunruhigten, zurück. „Geh’ hin, und alle Heiligen mögen Dich behüten und zum wahren Frieden geleiten!“ sagte die sanfteste Stimme der Welt, und das heißgeliebte Kind betrat den dornenvollen Pfad der Künstlerschaft, der zu jenen Höhen der Menschheit führt, allwo sich’s gar „einsam“ stehen soll. Ohne Klage begrub die fromme Frau den Lieblingswunsch ihrer Seele, den Sohn auf jenem Pfade zu sehen, der, wie sie einfältiglich meinte, ohne Umwege sicher in den Himmel führt, nämlich als geweihten Priester. Fortan war sie nur die Mutter des Künstlers.

[153] Die gesegneten Mütter aller unserer bedeutenden Männer zerfallen in zwei große Gruppen. Die eine sammelt sich um die rührende und verklärte Gestalt Monica’s, der Mutter St. Augustin’s, die andere um jene lebensvolle Erscheinung der Frankfurter Patricierin – der Frau Rath Goethe.

In der ersten Gruppe finden wir jene ätherischen Wesen mit gen Himmel gerichteten Blicken, die wie Fleisch gewordene Schutzgeister mit leisen Tritten dem Schritt des Kindes folgen, die das Ideal des schwärmenden Jünglings werden und der Trostengel des Mannes in seiner Todesstunde. In der zweiten begegnen uns kluge, lachende Augen und frische Wangen, die Frauen, die ihre Söhne zu lehren verstehen, „hineinzugreifen in’s volle Menschenleben“, von denen eben diese Söhne die „Frohnatur“ erben und „die Lust zum Fabuliren“. Es müßte eine interessante Aufgabe sein, die Mütter unserer Märtyrer, Helden, Dichter und Künstler nach dieser Eintheilung zu classificiren. –

Der erste Ausflug Liszt’s galt der Weltstadt Paris, jener wunderschönen, grausamen Sphinx mit dem sinnverwirrenden Lächeln und den „Löwentatzen“. Das Conservatorium unter Cherubini’s Leitung war der Stern, dessen Licht die junge Künstlerseele mit unwiderstehlicher Gewalt anzog. Beide Eltern begleiteten den Sohn in das moderne Babylon. Der Componist des „matrimonio segretto“[WS 1] und des „Wasserträgers“ lauschte dem Spiel jener schlanken Finger. Und er staunte über diesen flügelschlagenden jungen Aar, aber – Franz Liszt wurde dennoch nicht, wie er es so heiß ersehnt, Schüler der berühmten Musikschule, ihre Gesetze verweigerten dem Fremden den Eintritt. Dagegen wurde der Knabe etwas Anderes in kürzester Frist, nämlich der Liebling von ganz Paris. In allen Salons der hohen Aristokratie begegnete man fortan der schlanken Knabengestalt; schöne Augen schauten bewundernd auf ihn, sammetweiche Händchen liebkosten seine Wangen. Die Erfolge, die Franz Liszt feierte, die Güte und Liebenswürdigkeit seiner Lehrer, Paër und Reiche, die Zärtlichkeit seiner Eltern, die sich zu verdoppeln schien, als sie den Knaben unter jener fehlgeschlagenen Hoffnung leiden sahen, tröstete allmählich die junge Seele über den Schmerz, Cherubini’s Unterweisung nicht genießen zu dürfen. Der Herzog von Orleans, der nachmalige König der Franzosen, war es, der den Knaben zuerst einen neuen Mozart nannte, und dies Wort schwebte bald auf Aller Lippen. Die Pariser Blätter, ohne Ausnahme, ergingen sich in Lobpreisungen dieses seltenen und bezaubernden Talents und prophezeiten eine große Zukunft. Die Concerte, in denen Adam Liszt seinen Sohn zuweilen dem größeren Publicum vorführte, waren gedrängt voll und die Franzosen in ihrer Lebhaftigkeit und Begeisterungsfähigkeit brachten dem jungen Virtuosen alle erdenklichen Ovationen. Aber der süße Wein aller dieser Huldigungen berauschte diesen klaren Kopf und diese nach den höchsten Zielen strebende Seele keinen Augenblick. Wer den Knaben hätte belauschen dürfen, wer ihn in all’ seiner Formensicherheit und in der heitern geistvollen Grazie seines Wesens unter seinen vornehmen Freunden sich bewegen gesehen, wie er im einfachen Musikzimmer daheim mit dem strengsten Ernst stundenlang Bach’sche Fugen und Präludien spielte und diese Fugen in andere Tonarten zu übertragen versuchte, den würde dieser Feuereifer entzückt haben. Immer höher erglühten dann die Wangen, immer heller leuchteten die Augen, der Lernende und der Spielende vergaß Zeit und Stunde, bis sich endlich zwei weiße, feine Hände sanft auf seine Finger legten, zwei weiche Arme ihn umschlangen und die heiße Stirn an die Schulter der Mutter sank. Aber dieser milde Schutzgeist in so anmuthiger Gestalt blieb damals nicht lange in Paris an seiner Seite; die schwere Erkrankung ihrer einzigen Schwester rief sie nach Graz.

Erst nach der Trennung von der Mutter und sorgenden Hausfrau unternahmen Vater und Sohn kleine Reisen in die Departements, um überall Ruhm und Gold zu ernten. Und weiter und weiter trugen ihn die Schwingen, endlich selbst über die Wasserwoge in das nebelvolle England. Auch dort erregte er Staunen und Bewunderung.

Im Jahre 1825 fand in Paris die Aufführung einer kleinen Oper statt: „Don Sancho ou le château de l’amour“. Das Theater der Academie Royale war überfüllt, die Darstellung meisterhaft, jede Nummer wurde mit dem lebhaftesten Beifall aufgenommen. Man ruft jubelnd den Namen des Componisten: Franz Liszt. Tücher wehen, schöne Hände winken und der Darsteller des Don Sancho trug den kaum fünfzehnjährigen Knaben auf seinen Armen der jauchzenden Menge entgegen. Aber das Zauberschloß hatte auch eine gefährliche Thürhüterin: Mademoiselle Rose, die reizende Sängerin. Sie war es, die den jungen Sieger hinter den Coulissen empfing. Im Nu war sein Kopf zwischen ihren kleinen Händen, ein rosiges, lachendes Antlitz schmiegte sich an das seine, zwei süße, brennende Lippen berührten den Mund, den bis zur Stunde nur eine Mutter geküßt.

War es vielleicht die Erinnerung an jenen berauschenden Lohn, welcher ihm nach der ersten Aufführung des Don Sancho geworden, was ihm allen anderen Beifall kalt und arm erscheinen ließ; war es der ernste Briefwechsel mit seiner Mutter, oder war es endlich jener ermattende Ueberdruß, der so oft hochfliegende Seelen überschleicht, jenes alle Freude vergiftende Bewußtsein von der Ohnmacht jedes menschlichen Strebens und der Vergänglichkeit alles Erdenruhms: genug, der junge Franz verlor plötzlich seine neckische Heiterkeit, seinen genialen Uebermuth. In düsteres Grübeln versenkt, vertiefte er sich in religiöse Bücher; die Väter der Wüste, das Leben der Märtyrer und die Bekenntnisse des heiligen Augustin wurden seine liebste Lectüre. In seinen Briefen an die ferne, treueste Freundin seiner Seele legte er alle Scrupel, Zweifel und Träumereien nieder, und sie dankte den Heiligen für solche frühe Wandelung; sie sah den geliebten Sohn schon geborgen, entrückt allen heißen Kämpfen ruhend im tiefen Schatten eines Klosters.

Anders war der Eindruck, den diese plötzliche Veränderung des Sohnes auf den Vater machte. Er ängstigte sich um die große Zukunft des Künstlers, an die seine Seele so fest glaubte wie an den Himmel selber. Auf den Rath eines ärztlichen Freundes unternahm er eine Reise in die Schweiz mit seinem Liebling und führte ihn dann in das Seebad Boulogne. Die Freude, die Wangen des Sohnes in neuer Frische erblühen, dessen Heiterkeit wiederkehren zu sehen, sollte seine letzte auf Erden sein. Adam Liszt schied am Augustustage von dem Stolz und Glück seines Herzens und ließ sein Kind allein in dem ersten Morgenroth seines jungen Ruhms. Die treue Mutter eilte voll tiefstem Schmerz, als die Schreckenskunde sie erreicht, nach Paris zurück, um bei dem nun Verlassenen zu bleiben. Sie gewahrte bald die Rückkehr des Sohnes zu seiner geliebten Kunst, ihre Hoffnungen verflogen, aber kein Laut, kein Zeichen verrieth, daß sie darüber trauere, sie begnügte sich damit in seiner Nähe zu bleiben, ihm eine Heimath zu bereiten, ihm zuzulächeln, wenn er müde, ihn zu pflegen, wenn er ermattet, und seinen Triumphen in der Welt von ferne zuzuschauen mit dem entsagenden Blick einer Heiligen.

In jenen Tagen war es, wo eine Frauenerscheinung den Weg des jungen Künstlers kreuzte. Ein Köpfchen taucht auf, halb verhüllt von niederwallenden goldgesäumten Schleiern, wie aus Wolken schauend, wie auf Goldgrund von dem Pinsel eines Tintoretto gemalt, und rings um dies Bild zieht sich ein Kranz von rothen Rosen und Passionsblumen. Es war eine glühende, junge Liebe und ein verzweifeltes unabwendbares Entsagen, und Niemand als die Augen der Mutter sahen Beides und Niemand als die Lippen der Mutter durften versuchen zu trösten.

Lieb und Leid waren so groß, daß Franz Liszt aus den glänzenden Gesellschaften verschwand, daß sein Fuß die glatten Parkets nicht mehr betrat, auf denen er sonst so sicher einhergeschritten, daß ihn auch die engeren Freundeskreise schmerzlich vermißten, daß man ihn nirgend mehr hörte. In dem stillen Zimmer der Mutter saß er, auf einem niedern Tabouret, den Kopf an ihre Kniee gelehnt.

Ihre weiße Hand lag auf seinem dunkelblonden Haar, ein Haar, das die französischen Frauen so lebhaft bewunderten. Heißer denn je betete die Mutter in dieser Lebenskrise für den Frieden des Sohnes, aber sie selbst war es auch, die ihn unablässig an den Trost seiner Kunst mahnte, die ihn an den verlassenen Flügel führte und seine widerstrebenden Hände auf die Tasten legte. Wild und zerrissen klangen die Phantasien, denen sich der Jüngling jetzt überließ. Stundenlang irrten nun die Finger wieder auf und nieder, aber Niemand durfte zuhören, als die Mutter. Da drang in das melancholische Stillleben der Beiden plötzlich die Nachricht von der Ankunft eines jener wunderbaren Phänomene, wie sie vielleicht eben nur von Jahrhundert zu Jahrhundert über die Erde ziehen: Paganini traf in Paris ein und zeigte sein erstes Concert an. Die Weltstadt hatte seit jener Stunde kein anderes Interesse mehr. Alles redete einzig und allein von dem märchenhaften Geigenkönig, aus dessen Amati die ruhelose Seele eines gemordeten Weibes klagte.

[154] Und unter den vielen Hunderten, die an jenem Abend den Concertsaal füllten, saß auch, in den entferntesten Winkel einer Loge gedrückt, Franz Liszt und lauschte wie verzaubert dem Gesange jenes Dämons, der da in Gestalt eines finstern, unheimlichen Mannes in schwarzer Kleidung vor ihm erschien. Es ergriff ihn mit unwiderstehlicher Gewalt, eine übermächtige Erregung erfüllte ihn, die Wolken der Schwermuth zertheilten sich und wie die Sonne strahlte die Ueberzeugung auf, daß auch – der Genius verpflichtet („le génie oblige“). Er fühlte, er war der Welt die ihm von einer höhern Macht verliehenen Gaben schuldig, er war sich selbst schuldig, weiter und weiter zu eilen, den lichten Höhen künstlerischer Vollendung entgegen, sich empor zu raffen. Mit diesen Gedanken und Ueberzeugungen kehrte Liszt aus dem Concert Paganini’s zurück.

Wie tief und mächtig seine Seele von jener eminenten Künstlererscheinung ergriffen worden war, zeigt sich in einem Nachruf für Paganini nach dessen Tode. Mit feiner und zugleich glühender Feder schilderte er diese seltenste aller künstlerischen Persönlichkeiten und erklärte sie für den unbestrittenen Künstler-König.

Ein anderer Kreis war es aber jetzt, der den in die Welt zurückkehrenden jungen Künstler in seine Mitte nahm, ein Kreis von jenen früheren gar sehr verschieden. Die Scenerie verwandelte sich: statt der hocharistokratischen Salons erschien plötzlich ein schlichtes Zimmer. Franz Liszt saß an dem Kamin der zauberischen Frau Aurora Dudevant, George Sand, um ihre reizenden Plaudereien und ihre kleinen orientalischen Pantoffeln zu bewundern und die noch kleineren Füße, die darin steckten. Zu gleicher Zeit lag Alfred de Musset auf einem Polster am Boden und schaute träumend in die Gluth des Feuers oder in die Gluth jener Augen, die ihm noch viel verderblicher werden sollten, als alles Feuer der Welt. Vielleicht plauderten auch Jules Sandeau, Alfred de Vigny und der geistvolle Maler Delacroix eben in der Fensternische, oder Victor Hugo trat mit einem heitern Gruß in die Thür. Ein Piano stand im Winkel, und da geschah es denn zuweilen, daß Franz Liszt plötzlich aufsprang, mitten in einem geplauderten Satz, um ihn in Tönen zu vollenden. Dann verstummten sie allmählich Alle und wandten sich langsam um, jenem Spiel zu lauschen, das auf die verschiedensten Naturen gleichen Zauber übte durch jene unwiderstehliche Kraft und Gluth des wahren, echten Genius. Und leise erhob sich George Sand, die junge Frau, deren Indiana einen Feuerbrand in so viele Herzen geworfen; die türkischen Pantöffelchen blieben vergessen stehen, sie schlich näher, um sich mit übereinandergeschlagenen Armen an den Flügel zu lehnen. Nur eine venetianische Lampe brannte und in dem Doppelschein ihres schwachen Lichts und des flackernden Kaminfeuers erschienen die Köpfe der Beiden in zauberhaftem Contrast. Aurora, die köstliche, üppige Gestalt mit dem kühn geschnittenen Profil, mit dem nachtschwarzen Haar, das tief im Nacken in einem Knoten lag, im schwarzen, losen Kleide, einen purpurnen Shawl um die Taille geschlungen, in dessen Falten ein kleiner Dolch steckte. Und diese Augen! Groß, flammend, dunkel, voll Geist und Leidenschaft, im Schmuck tadelloser Wimpern und Brauen, Spanierin und Hindu zugleich im Blick. Und diese schwellenden Lippen von thauiger Frische und diese kleine, volle Hand, die sich eben ausstreckte, um den tief niedergehenden Scheitel zurückzustreichen! Zuckende Lichter flogen über dies Antlitz, fremd und seltsam erschien es, eine Tropenpflanze neben – der blauen Märchenblume. Franz Liszt’s Gesichtsausdruck war damals so zart, so vergeistigt, sein träumerisches Lächeln, das Funkeln seines Blicks, der schwermüthige Zug seines Wesens so fesselnd, daß nach dem Urtheil aller Zeitgenossen keine Frau gleichgültig an ihm vorüberstreifte. Auch Aurora’s Blick hing bewundernd an dieser Stirn, an diesem feinen, vornehmen Munde, vielleicht mit denselben Empfindungen, mit denen sie viele Jahre später den melancholischen, leidenschaftlichen Träumer Chopin anschaute, während er seine todestraurigen Tanzweisen vor ihr spielte.

Vorbei, vorbei!

Man hat oft Vergleiche gezogen zwischen George Sand und Franz Liszt; die schillernde Farbenpracht, die glühenden Tinten in der Darstellung Beider hatten in der That viel Verwandtes. Die Geister nahmen gleichen kühnen Flug und fühlten sich unwiderstehlich von einander angezogen. Von welchem hohen poetischen Reiz mag jene Reise in die Schweiz gewesen sein, die Liszt später in Begleitung der George Sand und des liebenswürdigen Schriftstellers Pictet unternahm! Die berühmte Frau beschreibt ihren Zauber in den „Briefen eines Reisenden“, und Pictet’s Reise nach Chamounix ist fast nur eine Apotheose des jungen Künstlers. Liszt selber erzählte von diesen köstlichen Stunden in seinen „Pilgerjahren“, jenen tönenden Blättern von der „Chapelle de Guillaume Tell“, „au bord d’une source“, und läßt zum Abschied „les cloches de Genève“ läuten.

Unter den Schriftstellern fing der junge Virtuose auch an zu schriftstellern, und die im elegantesten Französisch geschriebenen reizenden Betrachtungen „Ueber die Lage der Künstler“ las man in Paris mit Bewunderung. Vielleicht war diese Lebensperiode des großen Künstlers die schönste, ungetrübteste. Ohne Plan und Ziel schwärmte sie umher an den Ufern des Genfer, des Vierwaldstätter Sees und im Berner Oberlande, jene bunt zusammengewürfelte Gesellschaft genialer Menschen, ohne den hemmenden Ballast irgend welcher Sorge an den Flügeln. Schöne und bedeutende Frauen, geistvolle Männer lauschten im Freiburger Dom den Klängen der weltberühmten Orgel unter den Händen Liszt’s. Es war eben ein Leben voll Glück und Glanz, ein Athmen in balsamischer Luft, über den Häuptern wie über den Herzen ewig blauer Himmel, ein ungestraftes Wandeln unter Palmen.

Die Strahlen der Ruhmessonne Thalberg’s waren es, die jenem entzückenden „dolce far niente“ jenem „Mittsommernachtstraum“ ein Ende machten. Wie Rinaldo aus den Armen Armida’s, so fuhr der Träumer auf. Die Feuerseele verlangte, sich mit dem plötzlich aufgetauchten Gegner zu messen. Bald schlugen, statt der murmelnden Wellen des blauen Sees, die brausenden Wogen der Weltstadt wieder an sein Ohr. Paris empfing den Zurückkehrenden mit Jubel und hielt ihn fest, wie es eben Jeden festzuhalten weiß, dem es seine Schönheit schleierlos zeigt, es hielt ihn auch, als längst der Kampf der beiden Nebenbuhler beendet und der Sieg Liszt’s entschieden war. Das Urtheil der Frauenwelt über den eleganten, glatten Thalberg, den meisterhaften Virtuosen, und den genialen Himmelstürmer trat wohl zu Tage in jenem Ausspruch einer geistvollen Frau, die damals bemerkte: „Thalberg ist der Erste, aber Liszt der – Einzige.“

Es ist seltsam, daß in dem Leben Liszt’s immer von Zeit zu Zeit Momente tiefster Zurückgezogenheit ihre verhüllenden Schleier über seine Gestalt werfen, daß Wochen und Monate in ununterbrochener Einsamkeit verlebt mit berauschenden Triumphzügen und einem glänzenden Leben in der großen Welt wechseln. Er liebte es, zuweilen vom Schauplatz seines Ruhmes spurlos zu verschwinden, und überließ es seinen Freunden, sich in Muthmaßungen über sein Verbleiben zu erschöpfen.

So zog sich Franz Liszt nach einem langen, sonnenhellen Aufenthalt in Venedig, Florenz, Rom und Neapel in die kühlen Schatten des Parks der Villa Maximiliana bei Lucca zurück. Pinien rauschten über der gedankenvollen, bleichen Stirn, Orangenblüthen tropften auf die lässig ruhenden Hände, aber zwischen den Lorbeergebüschen, neben dem blühenden Rhododendron lauschte vielleicht ein reizender Frauenkopf hervor, in dessen lachenden Augen deutlich zu lesen stand: „Vive la joie!“ – Und wo war die Mutter?

Fern von dem heißgeliebten Sohne und doch ihm unablässig nah mit ihrem Gebet und ihren Wünschen für seine Seele, und der Gedanke an sie begleitete auch ihn überall hin. Wie oft faltete er wohl in heißer Sehnsucht die Hände nach ihrer Liebe und ihrem Troste – denn wann käme je die Zeit für ein Menschenherz, wo es sich stark genug fühlte, Mutterliebe und Menschentrost zu entbehren? Der Zug tiefer Zärtlichkeit für seine Mutter geht wie ein Strom durch das Leben Liszt’s, das unzerreißbarste Band schlang sich um diese Mutter und diesen Sohn. An all’ seinem Thun und Schaffen nahm sie den regsten Antheil. Und war er müde und traurig, so flüchtete er sich in seinen Briefen zu ihr, wie er es damals gethan in seinem ersten Liebesschmerz, und wieder wie damals fühlte er ihre zarte Hand auf seinem Haupte und hörte ihre süße Stimme ihn trösten und aufrichten.

War es nicht das Andenken an sie und den heißesten Wunsch ihrer frommen Seele, was ihn endlich nach einem Leben voll Glanz, nach Jahren unermüdlichen Schaffens, Ringens und Kämpfens für sich und Andere, nach seinem Capelldirectorium in Weimar und seinem Aufenthalt am Hofe des Fürsten von Hohenzollern-Hechingen zu Löwenberg in Schlesien, die Hand nach dem Priesterkleide ausstrecken ließ? Die Welt sieht ihn nicht, den Faden, der hier in [155] diesem wunderbaren Künstlerleben Anfang und Ende verknüpft. Zwischen jenem im Anfang dieser Blätter geschilderten Concert im landständischen Saal zu Wien und dem Heute liegen vier und vierzig Jahre. Wieder ist es ein Concert, gegeben von Franz Liszt, wieder sehen wir ihn am Flügel. Aber statt einer dichtgedrängten Menge ist es diesmal nur ein einziger Zuhörer, der den Tönen lauscht, ein Greisenantlitz, Pio Nono, der Papst von Rom. In einem Gemach des Vaticans spielt der Abbé Liszt vor dem Papst und die schwermüthigen Augen des Greises leuchten auf bei den Weisen, die jener ernste Mann im dunklen Priestergewande den Saiten entlockt. Ein ander Mal aber sehen wir die Beiden, wie auf unserm vortrefflichen Bilde, und hinter ihnen eine Schaar hoher Würdenträger der Kirche, darunter das kluge Gesicht des Cardinals Antonelli, durch die prachtvollen Kreuzgänge wandeln, welche sich an Roms Hauptkirche, die Kirche auf dem Laterane, schließen, jene Kirche, von deren Balcon der Papst dem versammelten Volk den Segen zu spenden pflegt. –

Nur einmal in meinem Leben ist es mir vergönnt gewesen, Franz Liszt zu sehen und zu hören; schon vor langer, langer Zeit, im Jahre 1842 zu Leipzig. Es war im Gewandhause, in jenem weltbekannten Concertsaale. Er spielte eine Beethoven’sche Sonate, seinen galop cromatique und seine Transcription des Schubert’schen Erlkönigs. Da lösten sich endlich „alle Bande frommer Scheu“, die sonst so besonnenen Leipziger wurden fast so erregt, wie das Publicum eines italienischen Theaters. Die begeisterte Jugend stand auf den Stühlen fast athemlos, mit glühenden Wangen, ungestüm klopfendem Herzen und leuchtenden Augen. Keine Bewegung, kein Ton ging uns verloren. Kein Blick seiner Augen streifte uns, er hatte zu viel zu thun mit jenen enthusiastischen, älteren, erwachsenen Damen, die muthiger als Andere zu ihm auf das Orchester kletterten und von dem Lorbeerkranz, den man ihm um das Notenpult gewunden, Blatt um Blatt abrissen. Ich glaube, man theilte sich auch in einen seiner Handschuhe, der vergessen auf dem Flügel lag. Friedlich war aber diese „Theilung der Erde“ nicht, und Mancher kam zu spät, nicht nur „der Poet“.

Als ich später Liszt’s wunderschönes Gedenkbuch Chopin’s las und mir die Thränen auf gar manches Blatt niederfielen, hörte ich dazwischen immer wie aus weiter Ferne die Prestissimo gespielten Octaven der Begleitung des Erlkönigs und das Sturmsausen der Melodie und sah den schlanken, bleichen Mann, wie er mit einer unnachahmlich stolzen Bewegung das Haar von der Stirn zurückwarf.

Und, so sehe ich ihn noch oft – nicht Franz Liszt, den ernsten Priester, nur Franz Liszt, den unvergleichlichen Künstler.





Eine unheimliche Schönheit.
Von Hermann Dorner.


Auch wenn unter den Schlangen keine wäre, die, mit dem todbringenden Gifte versehen, uns ein ernstliches Leid zufügen könnte, wir würden dennoch stets mit einem natürlichen Widerwillen an sie herantreten. Die Schlangen sind häßliche Thiere! Mögen sie noch so lebhafte Farben aufweisen, mag ihr Leib in noch so eleganten Windungen sich schlingen: der pyhsiognomische Ausdruck oder das Gesicht der Schlangen ist unheimlich, widrig und boshaft. Man denke sich diesen Gesichtsausdruck bei einem Menschen – wie würde man zurückbeben vor dem Blick voll Arglist und Falschheit, vor der platten, kraftlosen Stirn, dem breiten, lippenlosen Maule! Und nicht blos die Häßlichkeit des Thieres, sondern auch das Widerspruchsvolle in seinem Bau, die auffällige Lebensweise, das fremdartig Eigenthümliche desselben gegenüber anderen Thieren ist es, was jede Annäherung, jedes Vertrautsein mit ihnen erst als eine Frucht vernunftstarker Ueberlegung oder forscherlichen Strebens bei uns aufkommen läßt. Das natürliche Gefühl entfernt uns von ihnen; der Naturmensch flieht oder tödtet alle Schlangen, wo er sie findet.

Sind doch selbst unter den Forschern die Meinungen über Schonung oder Vertilgung giftloser Schlangen sehr getheilt; während z. B. der vortreffliche Lenz es den Regierungen an’s Herz legt, Preise für die Tödtung derselben auszusetzen, während Brehm Jedem den Rath giebt, nur immer todtzuschlagen, wird von anderer Seite hervorgehoben, daß die Unkenntniß der Schlangen ein trauriges Zeichen für die naturwissenschaftliche Bildung des Volkes sei; daß man energisch dahin zu wirken habe, daß diese Unkenntniß aufhöre, und daß alle giftlosen Schlangen wegen ihrer in Fröschen, Mäusen etc. bestehenden Nahrung der größten Schonung anzuempfehlen seien.

Lenz begründet seinen Wunsch, sämmtliche Schlangen von unserm heimathlichen Boden entfernt zu sehen, mit der Behauptung, daß „auch sie schädlich sind, denn bei dem allgemeinen Abscheu, den man vor allen Schlangen hat, verbittern auch sie vielen Menschen das Leben, indem sie sich uneingeladen in seiner Nähe ansiedeln oder ihn, wenn er irgendwo unversehens auf sie stößt, heftig erschrecken“. Wollte man aber diesem Grunde nachgeben, so müßte man folgerichtiger Weise auch gegen Eulen, Käuze und noch manche andere entschieden nützliche Thiere zum Vertilgungskampf aufrufen, was Lenz selber als argen Mißgriff kennzeichnet. Eher können wir uns Brehm’s Wunsche anschließen, daß Jeder alle Schlangen, welche er nicht kennt, todtschlagen möge, weil auf diese Weise auch manche Kreuzotter ihren wohlverdienten Lohn findet; dann aber wollen wir auch nach Kräften dafür sorgen, daß der Zweifel über giftig und nicht giftig so viel wie möglich schwinde. Und dieser Zweifel ist mit der Kenntniß eines deutlichen Merkmals, welches die einzige deutsche Giftschlange kennzeichnet, gehoben: die Kreuzotter trägt über den ganzen Rücken einen breiten Zickzackstreifen und ist nie größer als zwei und einen halben Fuß.

Wir behaupteten, daß Bau und Wesen der Schlangen voller Widersprüche sei. Zum Beleg brauchen wir nur äußere und innere Organisation derselben vergleichend zu betrachten. Außen ein Wurm, innen ein hoch entwickeltes Wirbelthier mit allen Eigenthümlichkeiten des letzteren. Es fehlen der Schlange alle äußeren Bewegungswerkzeuge, sie ist ein unbeholfenes Thier, dem träge Ruhe der einzige Genuß ist, das nur unmittelbar erregt von der Außenwelt sich zu heftigen, zuckenden Bewegungen aufrafft. Das kaum bewegliche, durch den Mangel der Augenlider zum steten Starren verdammte Auge blickt uns mit fremdartigem, mannigfach wechselndem Ausdruck an; es liegt besonders im Blick der Kreuzotter etwas unwiderstehlich Fesselndes, etwas Räthselhaftes, das nicht im Einklang mit der ganzen äußern Erscheinung des Thieres zu stehen scheint. Dieser Blick ist es, was ihr seit alter Zeit in der Meinung des Volkes zu der sprüchwörtlichen Klugheit verholfen hat, denn die geistigen Eigenschaften der Schlangen deuten auf das directe Gegentheil, auf die größte Stumpfheit. Es ist das Widerspruchsvolle ihres ganzen Daseins, was ihr einen so hervorragenden Platz in der Symbolik, den Märchen und Sagen, dem Aberglauben, dem mystisch Religiösen gegeben hat. Unser nüchtern gescholtenes Zeitalter aber will, frei von Vorurtheilen, die Wahrheit an Stelle des wenn auch schönen Scheins setzen und die Schlange im Lichte realistischer Forschung betrachten.

Auch dann noch bietet sie des Interessanten und Abenteuerlichen genug. Kein anderes Wirbelthier bereitet in besonderen Organen tödtliches Gift. Nur in entsetzlicher Krankheit werden die Säfte einiger Säugethiere vom schrecklichen Wuthgift durchdrungen, aber die Schlange trägt den unheimlichen Krankheitsstoff ihr ganzes Leben hindurch, ist selbst eine permanent gewordene Krankheit in der Entwicklungsreihe der Thierwelt. Bei der Kreuzotter liegen zu beiden Seiten des Hinterkopfes, kurz hinter den Augen und theilweis von den Schläfenmuskeln bedeckt, die Giftdrüsen, deren Ausführungsgang an die Giftzähne tritt. Nicht eine schlauchförmige Blase, sondern eine aus kleinen Canälen bestehende Drüse, ähnlich den Speicheldrüsen, ist es, welche das Gift abscheidet und bewahrt. Ein feiner Canal leitet die unheilvolle Flüssigkeit unter den Augen hin zum Oberkiefer, wo derselbe nahe der Oeffnung des sichelförmigen Zahns ausmündet. Der Giftzahn selbst ist am vordersten Theile des beweglichen Oberkiefers festgewachsen, ist an seiner untern Hälfte etwas nach hinten gebogen und hat bei erwachsenen Schlangen die Größe von einem Neuntel [156] Zoll. An seinem vordern, gewölbten Rande befindet sich der Giftcanal, dessen vordere Wandung eine Naht erkennen läßt, in der die beiden Hälften mit einander verwachsen; an seinem obern und untern Ende ist er offen, oben zur Aufnahme, unten zum Abfluß des Giftes. Der Giftcanal geht somit nicht etwa durch die Mitte des Zahns; hier ist freilich auch eine Höhlung, diese endet aber blind und ist zur Aufnahme der Nerven und Gefäße des Zahns bestimmt. Durch die Bewegung des Oberkiefers wird nun der Zahn in verschiedene Stellungen gebracht: während der Ruhe oder zur Zeit des Verschlingens liegt er, die Spitze nach hinten gewendet, in einer derben,


Die Kreuzotter.

wulstigen Scheide, erst bei beabsichtigtem Bisse zuckt er blitzschnell hervor und steht nun senkrecht aufgerichtet. Packt man eine Kreuzotter mit fester Hand oben hinter dem Kopfe, so sieht man deutlich das ganze Spiel der Giftzähne. Man bemerkt dann, wie jede Oberkieferhälfte für sich beweglich ist, wie jetzt der eine, dann der andere Zahn in vergeblichem Bemühen sich anstrengt, die Finger zu erreichen, wie der Zahn sogar seitliche Wendungen zu vollführen vermag. Außerdem erblickt man im sperrweit geöffneten Rachen noch vier sich vorn nicht verbindende Reihen kleinerer Zähne, zwei im Gaumen, nahe bei einander, zwei auf den beiden Unterkieferhälften. (Giftlose Schlangen haben sechs solcher Zahnreihen, indem hier auch die beiden Oberkieferhälften deren tragen.) Auffällig erscheint ferner die nahe dem Vorderrande der Unterkinnlade befindliche deutliche Mündung der Luftröhre, eine nothwendige Einrichtung für die stundenlang mit dem Verschlingen eines Bissens beschäftigten Thiere, und noch weiter nach vorn gerückt sieht man eine kleinere Oeffnung als Eingang zu einem Canale, der die schwarze, zweispitzige Zunge beherbergt. Von den Giftzähnen stehen mitunter an einer Kieferhälfte zwei neben- (nicht hinter-) einander, die zu gleicher Zeit thätig sein können, und hinter ihnen, als Reservezähne, zwei bis sechs kleinere, noch nicht völlig ausgebildete Zähne, welche im Fall des Abbrechens oder auch beim jährlichen Zahnwechsel an Stelle der vorderen rücken.

Belauschen wir nun das Thier, wie es sich seiner Beute bemächtigt und dieselbe verschlingt. Wir müssen sie dazu im Freien aufsuchen, denn nie nimmt die Kreuzotter Nahrung in der Gefangenschaft zu sich, sondern weiht sich hier freiwillig dem langsamen Hungertode, scheint sogar so versessen darauf zu sein, daß sie schon kurze Zeit nach oder selbst im Augenblick der Gefangennahme die kurz vorher verschlungene Nahrung ausspeit. Die Kreuzotter wird in ganz Europa bis zum sechszigsten Grad der Breite, wo ihr Jagdwild, die Feldmaus, vorkommt, an Stellen gefunden, die ihr gute Schlupfwinkel darbieten und ihr erlauben, recht oft im warmen Sonnenschein ungenirt zu ruhen. Nasse oder dumpfige Orte, moderige, von der Sonne gemiedene Klüfte scheut sie; ihre Schlupfwinkel bestehen in verlassenen Maulwurfsgängen, Mauslöchern, Klüften zwischen Steinen und Baumwurzeln etc. Meist liegt sie unbeweglich, nur von Zeit zu Zeit die tastende, aber weder schmeckende noch stechende Zunge vorstreckend. Eine eigentliche Jagd unternimmt sie nicht, sondern wartet gemächlich, bis die Beute so gefällig ist, zu ihr zu kommen. Freilich muß sie deshalb oft lange auf einen guten Bissen warten, aber sie versteht sich auf’s Hungern und macht sich nichts daraus, wenn auch ein halbes Jahr vergeht, ohne daß es etwas zu beißen giebt. Die harmlos-kecke Maus, welche ihr als gewöhnliches Opfer anheimfällt, hat gar keine Scheu vor dem bösartigen Thiere, bemerkt es kaum oder wenn auch, beachtet es nicht weiter und ist wohl gar so frech, der unbeweglich daliegenden Schlange unter den Leib zu laufen. Ein rasches Aufschnellen, ein hastiger Biß und die Beute ist zum Tod verwundet.

Eifrig folgt die Schlange dem schnell, meist schon vor Ablauf der nächsten Minute verendeten Thiere und nun beginnt das schwere Geschäft des Verschlingens. Wer sich diesen Anblick verschaffen will, braucht nur die noch häufiger vorkommende Ringelnatter zu fangen, sie in einen passenden Kasten zu thun und ihr nach Verlauf von etwa acht Tagen einen Frosch vorzusetzen, den sie bald, ungenirt vom zuschauenden Publicum, hinunterwürgt. Auch bei dieser Verrichtung offenbart die Schlange ihre im Widerspruch mit den übrigen Thieren stehende Eigenthümlichkeit. Von einer fröhlichen Mahlzeit, einer behaglichen Verdauung ist hier nicht die Rede. Das Verspeisen ist die anstrengendste Arbeit, welche sie überhaupt zu verrichten hat. Die Zähne, nicht zum Kauen, sondern nur zum Festhalten eingerichtet, lauter kleine, nach hinten gerichtete Häkchenreihen, nesteln sich abwechselnd in den kolossalen Bissen ein und schieben denselben langsam weiter und weiter in den Körper. Dabei erweitert sich der Rachen unförmlich und man bemerkt deutlich, wie jede Unterkieferhälfte für sich arbeitet. Beide Hälften sind auch nicht, wie bei andern Wirbelthieren, in knöcherner Verbindung, sondern haben zwischen sich nur ein sehniges Band, welches durch seine Biegsamkeit die Einzelbewegung der Unterkieferhälften ermöglicht. Während die eine Hälfte noch haftet, schiebt sich die andere weiter nach vorn und ergreift hier wieder ein Stück des Raubes, bis derselbe verschwunden ist. Nach dem stundenlangen Würgen zeigen sich in der gänzlichen Erschöpfung der Schlange alle Merkmale fürchterlicher Ueberladung. Sie ist stumpfer und gleichgültiger gegen ihre Umgebung als je. Ihre Sinneskräfte, die nie groß waren, sind auf ein Minimum herabgesunken. Den [157] unbeweglich vor ihr stehenden Menschen bemerkt sie nicht, nur der Wechsel in ihrer Umgebung fällt ihr auf.

Wie schützt sich der Mensch vor ihrem Biß? Sehr einfach dadurch, daß er sie nicht reizt. Die gebildeten und wohlhabenden Leser der „Gartenlaube“ dürfen ohne Sorge sein, auch wenn sie bei etwaigen Streifereien der Schlange unwissentlich zu nahe kommen und diese durch Tritte reizen, sie sind geschützt, denn der

Das Gebiß der Kreuzotter.

feine und spröde Giftzahn bricht eher ab, als daß er durch den Stiefel dringt, und höher als dieser vermag die Otter sich nicht zu erheben. Und wer sich, um auszuruhen, niedersetzt oder legt, pflegt ohnehin schon den Platz zu durchmustern. Aber die Kinder der Armen, die barfüßigen Holzleser und Beerensucher, sie müssen alljährlich ihren Tribut dem Unthier zollen. Und das ist um so mehr zu bedauern, als diese in den seltensten Fällen der Wirkung des Bisses zuvorzukommen verstehen. Es ist oft genug geschehen, daß dieselben den Biß gar nicht weiter beachten und erst auf dem Krankenbette von ihrer Verletzung sprechen. Glücklicherweise führt der Biß nicht immer zum Tode. Von fünfundfünfzig Fällen, die Lenz berichtet, endeten elf tödtlich, bei vierzigen erfolgte eine mehr oder weniger schnell vorübergehende, aber schmerzliche Krankheit, bei den letzten vier dauerte die Krankheit über ein Jahr oder brachte unheilbare Lähmung, Epilepsie etc. Diesem Unheil gegenüber ist es Pflicht eines Jeden, zur Ausrottung des Gezüchts nach Kräften beizutragen; sobald man eine Otter erblickt, ohne langes Besinnen auf dieselbe loszuspringen, sie unter die Füße zu bringen und der uralten Mahnung zu gehorchen, nämlich ihr den Kopf zu zertreten, das Stechen in die Ferse wird sie schon bleiben lassen.

Auf welche Weise das Gift wirkt, ist genauer nicht anzugeben, man kann nur sagen, daß es das Blut zersetzt und daß die Wirkung desselben um so schneller und gefährlicher erfolgt, je blutreicher der gebissene Theil ist. In den Magen gebracht, verliert es durch die Verdauungssäfte seine zerstörenden Eigenschaften, es schadet somit das Aussaugen der Wunde nicht; doch hat man sich vor diesem Mittel zu hüten, falls im Munde selbst zufällig kleine Verletzungen vorhanden sind. Das Beste bleibt immer ein rascher Kreuzschnitt und reichliches Blutenlassen, aber ohne viel Besinnen. Als ein ausgezeichnetes Mittel hat sich bei Lenz’ Versuchen das Auswaschen der Wunde mit Chlorwasser, sowie das Einnehmen des letztern erprobt.

Räthselhaft und auffällig wie so Vieles im Wesen der Schlange ist auch die so verschiedene Art der Giftwirkung bei verschiedenen Menschen und Thieren. Manche sind nach vierundzwanzig Stunden wieder völlig hergestellt, manche siechen ihr ganzes Leben lang an den Folgen eines Bisses; einige Thiere, wie der Igel und der Iltis, ertragen wiederholte Bisse ohne jegliche Beschwerde, andere, wie Hunde, Störche, Pferde etc., werden gefährlich krank; kleine Vögel, Mäuse, selbst die kaltblütigen Eidechsen und Molche sterben nach längerer oder kürzerer Frist an den Folgen der Verletzung.




„Es giebt noch Richter in Berlin.“


Als der bekannte Berliner Professor Eduard Gans dem berühmten englischen Rechtsphilosophen Bentham einen Besuch abstattete, brachte dieser das Gespräch auf Preußen und die daselbst früher herrschende Toleranz und Aufklärung.

„Was wollen,“ sagte der englische Gelehrte, „alle unsere Kirchenverbesserer, unsere Zehntenaufheber gegen die Energie eueres Mannes mit dem Zopfe bedeuten!“

„Unseres Mannes mit dem Zopfe?“ erwiderte Gans verwundert. „Verstehen Sie etwa Friedrich den Großen darunter?“

„Nein, ich verstehe darunter jenen hartnäckigen, beständigen und tapferen Prediger des göttlichen Wortes, der seine Tracht des gewöhnlichen Lebens auch auf der Kanzel nicht verlassen wollte und vor Gott erschien, wie er vor Menschen zu erscheinen pflegte. Mit solcher Größe können weder Brougham, ich muß sagen, wie er heute ist, noch Stanley, noch Grey, noch Althorp in die Schranken treten.“

Dieser Mann, den der berühmte Bentham bewunderte, war der einfache Prediger Schulz auf Gielsdorf in der Mark, welcher unter dem Namen „Zopfschulz“ wegen seines Processes eine historische Berühmtheit erlangt hat.

An einem Sonntag des Jahres 1782 stand der „Zopfschulz“ auf der Kanzel und lehrte seiner Gemeinde das Wort Gottes, wie er es auffaßte, rein, lauter im Geiste des wahren Christenthums, frei von allen dogmatischen Spitzfindigkeiten und von allen Entstellungen, die im Laufe der Jahrhunderte die erhabene Lehre verunstaltet haben. Andächtig lauschten seine Zuhörer, meist schlichte Landleute, seiner Rede, mit der sie vollkommen einverstanden waren. Als er geendet und die Kanzel verließ, drängten sie sich um den geliebten Seelsorger, der ihr volles Vertrauen besaß. Er war zugleich ihr bester Freund und Berather in allen geistlichen und auch weltlichen Angelegenheiten, vor dem sie das bekümmerte Herz ausschütteten. Heute klagten sie ihm ihre Noth und wie sie von dem Pächter des Gutsherrn die gewaltsamsten Mißhandlungen leiden müßten; deshalb baten sie ihn um Gotteswillen, sich ihrer anzunehmen. Der Zopfschulz suchte sie zu beruhigen und versprach ihnen, mit dem Dorftyrannen Rücksprache zu nehmen.

Noch an demselben Sonntag begab er sich zu diesem Zwecke in die Wohnung des Pächters, um ihn zur Rede zu stellen. Als dieser aber seinen gütlichen Ermahnungen kein Gehör schenkte, setzte der Prediger für die bedrückte Gemeinde eine Klageschrift auf und bewirkte auch damit die Verurtheilung des tyrannischen Pächters.

Dieser beschwerte sich jedoch bei seinem Gutsherrn, der merkwürdiger Weise Herr von Bismarck hieß und ebenfalls damals preußischer Staatsminister war.

Herr von Bismarck denuncirte bei dem Consistorium wörtlich: „daß der Prediger Schulz seine Lehren auf den ‚Fatalismum‘ gründe und selbige im Zopfe und nicht in einer Perüque oder gekräuselten Haaren der Gemeinde vortrüge“.

Der Zopfschulze verantwortete sich folgendermaßen: „Ich halte mich als Lehrer verpflichtet, nicht umsonst mein Brod zu essen, sondern mit allem Ernste und Fleiße dafür zu sorgen, daß meine Gemeinde wirklich unterrichtet, zu immer besseren Menschen und für den Staat zu so guten und nützlichen Bürgern gebildet werde, als durch mich nur geschehen kann. Und dazu treibt mich auch selbst mein deterministisches System an, nach welchem ich behaupte, daß alle sogenannten freien Handlungen der Menschen nothwendige Folgen ihrer deutlichen Vorstellungen und Erkenntnisse sind. (Luc. 23, 34. Joh. 16, 2. 3.)“

Den Haarzopf suchte er aus Gesundheitsrücksichten zu rechtfertigen, indem er sich zugleich auf das Zeugniß seiner Gemeinde und des andern Kirchenpatrons berief, der, ebenfalls merkwürdiger Weise, ein freisinniger Ritterschafts-Director von Pfuel war. Da derselbe erklärte, daß er an dieser Tracht keinen Anstoß nehme, beschloß das Consistorium, die Sache auf sich beruhen zu lassen.

Indeß hatte diese Anklage auf den Zopfschulz aufmerksam gemacht. Schon im nächsten Jahre wurde er von Neuem und zwar diesmal von einem Mitgliede des Consistoriums wegen einer von ihm veröffentlichten „Anleitung zur Sittenlehre für alle Menschen“ angezeigt, weil er in der Vorrede des dritten Theiles die Behauptung aufgestellt, daß die Vernunft von Gott nichts wissen könne.

Diesmal war die Sache ernsthaft und Schulz wurde zur Verantwortung gezogen. Er suchte sich damit zu rechtfertigen, „daß er seine Lehren mit mehreren Schriftstellern gemein habe, von denen auch einige sich schon besonders dahin geäußert hätten: wenn die Theologen vorgeben, Gott verlange von den Menschen, daß sie ihn erkennen sollten, so ist dies Vorgeben noch nicht einmal so vernünftig, als wenn ein Eigenthümer von der Ameise seines Gartens [158] verlangen wollte, daß sie ihn kennen und in Ansehung seiner richtige Begriffe von ihm haben sollte.“

Das geistliche Gericht, erklärte trotz dieser Vertheidigung in seinem Berichte an das Ministerium: „daß der Angeklagte Lehrer der Religion nicht heißen, sein und bleiben könne.“

Damals regierte noch Friedrich der Große, und unter ihm der freisinnige Minister von Zedlitz, ein Mann von hellem Verstande und vorurtheilsfreiem Blick. Derselbe beschied das Consistorium: „Es hat der Prediger Schulz sein Buch ohne alle Rücksicht auf irgend eine Religion, wie dessen Inhalt und schon der Titel besagt, geschrieben und als Schriftsteller die wider ihn deshalb angestellte Rüge nicht verdient, welche Wir auch daher gänzlich niederzuschlagen befehlen. Gegen das Publicum, für welches das Buch sein soll, mag der Verfasser die darin enthaltenen philosophisch-speculativen Sätze vertheidigen, zu deren Prüfung und Beurtheilung aber Leute, die seine Gemeinde ausmachen, nicht aufgelegt sind und keinen Beruf haben. Diese aber im Guten fest zu erhalten und nicht wankend zu machen, auch ob des Endes ihr Seelsorger, als Lehrer der Religion, seine Gemeinde zu guten Menschen zu bilden, ihren Willen auf’s Gute zu lenken, ihre Neigungen und Empfindungen zu veredeln sich angelegen sein lasse und ob sein Wandel diesem Zwecke entspreche, sind die eigentlichen Dinge, worauf Ihr, als ein den Predigern und Gemeinden vorgesetztes geistliches Collegium, zu achten habt.

Dieser Ausgang mußte natürlich die Feinde und Gegner des ehrlichen Schulz nur noch mehr erbittern. Einstweilen entsagten sie jedoch, so lange Friedrich der Große noch lebte, jeder weiteren Verfolgung, von deren Nutzlosigkeit sie sich überzeugt hatten.

Als jedoch Friedrich Wilhelm der Zweite zur Regierung gelangte und durch den pietistischen Minister von Wöllner das berüchtigte Religionsedict erlassen wurde, häuften sich die Denunciationen und Angriffe gegen den freisinnigen Prediger. Zwei Lehrer, Michaelis jun. und Ahrend, übernahmen die gehässige Rolle der Ankläger in einem Briefe, welchen der Minister Wöllner dem betreffenden Inquirenten selbst übergab.

Zu dem Vorwurf des religiösen Unglaubens gesellte sich noch die politische Beschuldigung, daß der Zopfschulz in einer Predigt sich dahin geäußert: „Da sieht man, wie die Wahrheit Beifall findet; das Volk sieht’s gleich ein, und ist dies nur erst erleuchtet, so wird Alles nach dem Volke gehen, denn die Macht ist ja in den Händen des Volkes.“

Auf den Vortrag des Cultusministers von Wöllner befahl der König die Einleitung der Untersuchung in einer besonderen Cabinetsordre. „Ich höre,“ lautet dieselbe, „von dem längst berüchtigten Prediger Schulz zu Gielsdorf, desgleichen von dem Prediger Stark zu Berlin so viele böse Dinge, daß ich unmöglich dazu stille schweigen kann, sondern Euch hierdurch ernstlich anbefehlen muß, die Sache gründlich und nach aller Strenge untersuchen zu lassen.“

Zunächst wurde der Angeklagte wegen seiner Lehren und Ansichten vernommen. Offen und freimüthig bekannte er sich zu dem reinen Glauben, wie ihn Christus selbst gelehrt, indem er den Grundsatz festhielt: „Nicht die Andachtsübungen und Gottesdienste, sondern die rechtschaffene, moralische Denkungs- und Handlungsart, die sich der Mensch hier zu eigen macht, und insonderheit die treue und geflissentliche Ausübung der Menschenliebe in allen ihren Pflichten, die sie in sich faßt, machen den Menschen für diese und die künftige Welt glücklich und selig.“

Zugleich berief er sich wie Luther auf die Bibel, auf die Freiheit des Gewissens und vor Allem auf die Unsträflichkeit seines Lebenswandels und die Zustimmung seiner Gemeinde, welche ihm das beste Zeugniß und wiederholte Zeichen der treuesten Anhänglichkeit gab.

Da sich im Publicum das Gerücht verbreitet hatte, der König würde die Acten an die Oberlandesregierung zu Breslau zur Aburtelung senden, oder gar eine Immediat-Commission ernennen, so protestirte der Vertheidiger des Angeklagten gegen eine derartige Maßregel, worauf die Sache dem Kammergericht in Berlin überwiesen wurde.

Damals gab es noch Richter in Berlin. Noch war das Kammergericht das heilige Palladium der Gesetze, ein Bollwerk gegen die Gewalt und die Willkür der Cabinetsjustiz. Mit Stolz und Ehrfurcht blickte das preußische Volk, mit Neid das übrige Deutschland auf dies herrliche Institut. Das Kammergericht leitete die Untersuchung ein und hörte den Beklagten, der wiederholt versicherte, von den Grundwahrheiten der Lehre Jesu in seinen Predigten nie abgewichen zu sein. In Folge dieser Behauptung forderte das Gericht das Ober-Consistorium auf, die folgenden fünf Fragen zu beantworten: 1) Ob die Lehre Jesu sämmtliche Grundwahrheiten der christlichen Religion enthalte und worin diese bestehen? 2) Ob außer der Lehre Jesu noch andere Grundwahrheiten der christlichen Religion vorhanden und worin diese bestehen? 3) Ob die Grundwahrheiten der lutherischen Confession mit den Grundwahrheiten der christlichen Religion übereinstimmen und worauf ihre Nichtübereinstimmung sich gründe? 4) Was es mit den sogenannten Glaubenslehren für ein Bewandniß habe und ob dieselben die Grundwahrheiten der Religion und der lutherischen Confession insbesondere ausmachen? 5) Ob der Prediger Schulz bei seinen Lehren von der christlichen Religion überhaupt oder von der lutherischen Confession abgewichen sei?

Der König, der an den Verhandlungen den lebhaftesten Antheil nahm, fand die Fragen des Kammergerichts „sehr wunderlich“ und bedeutete den Präsidenten des Consistoriums nur darüber eine Meinung abgeben zu lassen: „ob der Prediger Schulz dem Religions-Edict conform gelehrt habe und also ein lutherischer Prediger sei oder nicht?“ Dagegen remonstirte das Kammergericht, daß ein solches Verfahren die Sicherheit eines Angeschuldigten und die Festigkeit der richterlichen Entscheidung in Gefahr setzte. „Ein solches Verfahren,“ hieß es in der Beschwerde desselben, „ist ein offenbarer Eingriff und eine Verhinderung der reinen und lauteren Rechtspflege.“ Hierauf erfolgte das Gutachten der Ober-Consistorialräthe, unter denen sich der berühmte Propst Teller am entschiedensten zu Gunsten des Angeklagten aussprach. Nach seinem besten Wissen und Gewissen erklärte dieser: „Nach der Theorie des Protestantismus und des Lutherthums giebt es nur zwei Grundwahrheiten: Die erste: Ein Jeder ist in Glaubenssachen sein eigener Richter. Die zweite: Die heilige Schrift ist die alleinige Quelle der daraus herzuleitenden Lehren, wobei aber unbestimmt gelassen, wie viel Bücher dazu gerechnet werden müssen, und dies nach dem ersten Grundsatze nicht für jede und auf alle Zeiten bestimmt werden könnte. Hiernach kann der Schulz überhaupt ein lutherischer Prediger sein.“ Auch die meisten der übrigen Consistorialräthe wagten nicht, dem Angeklagten unbedingt das Prädicat eines christlichen Lehrers abzusprechen.

Nach Anhörung der Sachkundigen fällte das Kammergericht sein Urtheil: daß der Prediger Schulz zwar für keinen lutherischen Prediger zu achten, dennoch aber als ein christlicher Prediger mit seiner christlichen Gemeinde zu dulden und bei seiner Lehre zu schützen sei.“

Als das Urtheil dem Könige zur Bestätigung vorgelegt wurde, änderte er dasselbe willkürlich dahin ab, daß der Angeklagte für einen protestantisch-lutherischen Prediger nicht zu achten, solchem nach derselbe dieses Amtes bei den lutherischen Kirchen zu Gielsdorf, Wilkendorf und Hirsche zu entsetzen, auch in die Kosten der Untersuchung zu verurtheilen.

Zugleich entlud sich der Zorn des Monarchen über die kühnen Räthe des Kammergerichts und über das Haupt des freisinnigen Propstes Teller. „Da das Kammergericht,“ lautet die Cabinetsordre an den Minister von Wöllner, „sich unterstanden hat, den Schulz, ohngeachtet seiner abscheulichen Behauptungen gegen die Grundlehren der christlichen Religion, dennoch als Volkslehrer beizubehalten, so habe ich dem Großkanzler meine Meinung gesagt und die pflichtvergessenen Räthe in Strafe genommen. Es erhellet aber aus den in der Sentenz enthaltenen Gründen, wodurch dies Verfahren gerechtfertigt werden will, daß der Propst Teller durch sein Votum dazu Gelegenheit gegeben und das Kammergericht verführt hat. Dafür muß er bestraft werden, und Ihr sollt ihn daher drei Monate von seinem Amt suspendiren, das Gehalt auf diese Zeit einziehen und an das Armendirectorium auszahlen lassen, welches angewiesen ist, dies Geld zum Besten des Irrenhauses zu verwenden.“

Den Räthen des Kammergerichts wurde ebenfalls der dreimonatliche Betrag ihrer Besoldung als Strafe entzogen und ihnen außerdem in einem besondern Handschreiben der Vorwurf der Unfähigkeit und Unredlichkeit gemacht, wogegen sie jedoch in einer [159] Eingabe an den König feierlich Protest erhoben. „Ob uns,“ sagten sie, „jener Vorwurf der Unfähigkeit mit Recht treffen könne?“ „Darüber etwas anzuführen, geziemet sich nicht für uns. Daß wir aber den Vorwurf geflissentlicher Unredlichkeit nie auf uns laden und verdienen werden, dafür sichert uns das innere Gefühl dessen, was wir Gott, unserem Landesherrn, der Welt und uns selbst schuldig sind.“

Zu gleicher Zeit gab das Kammergericht noch in einem andern Falle einen Beweis seiner Unabhängigkeit und Furchtlosigkeit. Auf Veranlassung des pietistischen Ministers von Wöllner wurde eine besondere „Glaubenslehre“ im orthodoxen Sinne ausgearbeitet und in die Landesschulen eingeführt. Das elende Machwerk wurde von verschiedenen Seiten und auch von dem reformirten Prediger Gebhard in Berlin nach Gebühr in einer besonderen Schrift gewürdigt. Der Verleger derselben, Buchdrucker Unger, hatte das Manuscript nach Vorschrift bei dem Ober-Consistorium eingereicht und der Ober-Consistorialrath Zöllner ohne Anstand die Erlaubniß zum Druck ertheilt. Nichtsdestoweniger wurde das Buch nachträglich auf Befehl des Ministers confiscirt. Der Buchdrucker verklagte hierauf den Ober-Consistorialrath Zöllner auf Schadenersatz, in keiner andern Absicht, als die Maßregeln des Ministeriums der verdienten Lächerlichkeit preiszugeben. Das Kammergericht entschied jedoch zu Gunsten des beklagten Censors, welcher mit Fug und Recht der von dem Minister hinterher verbotenen Schrift die Druckerlaubniß ertheilt hatte, und verurtheilte somit indirect die Regierung, indem das Urtheil wörtlich ausführte: „Beklagter Censor würde sogar die der Regierung schuldige Ehrfurcht verletzt haben, wenn er angenommen hätte, sie wolle lieber den einmal angenommenen Vorsatz blindlings verfolgen, als besseren Gründen Gehör geben.“

Ein Jahr darauf wohnte der damalige Kronprinz, der spätere König Friedrich Wilhelm der Dritte, einer Sitzung des Kammergerichts in Berlin bei. An den künftigen Herrscher richtete bei dieser Gelegenheit der damalige Kammergerichts-Director Kircheisen die denkwürdigen Worte: „Mein gnädigster Herr! auch Sie dürfen in Zukunft Gehorsam und Liebe von Millionen erwarten. Auch in Ihnen wird der Unterthan seinen Gesetzgeber verehren und sich in eben dem Grade unter die Gesetze willig beugen, in welchem er die Güte derselben erkennt. Auch Sie werden den zu ihrer Ausübung berufenen Richter wählen, durch Ihren Befehl seinen Ausspruch vollziehen lassen, aber auch Verurtheilte begnadigen und damit ein Recht ausüben, welches – mag es auch mit Mißbilligung der Unvollständigkeit des Gesetzes, worauf der Urtheilsspruch beruhet, verknüpft sein! – zu den köstlichsten Vorzügen des Thrones gehört und nur, wie ein Schatz, eine sparsame Verwaltung erfordert.

Aber unmittelbare Schärfung einer durch das Gesetz gelinder bestimmten Strafe oder unmittelbare Entscheidung des kleinsten Rechtsstreites würde Ihnen mit Recht das Vertrauen des Volkes auf Ihre Gerechtigkeit entziehen, aus welchem Vertrauen doch ein so großer Theil der Glückseligkeit eines Königs beruht. Die gesittete Welt, dies mächtige Tribunal, ist dahin übereingekommen, sich mit dem Worte Machtspruch Ungerechtigkeit als verschwisterte Idee zu denken.

Gesetzt die unmittelbare Entscheidung wäre zufällig recht, würde sie nun deshalb regelmäßig, gesetzmäßig sein? und wäre sie ungerecht, was kann ein König von einem durch Gesetze im Zaum gehaltenen Volke erwarten, wenn er selbst das Beispiel ihrer willkürlichen Verletzung giebt? Der scharfsinnige Montesquieu sagt in seinem Buche über den Geist der Gesetze:

‚in den despotischen Staaten darf der Fürst richten, nicht so in den monarchischen; sonst würde die Verfassung zerstört, die Form der gerichtlichen Entscheidung aufgehoben, die Gemüther aber mit bleichender Furcht erfüllt werden. Vertrauen, Ehre, Liebe und Sicherheit würden zugleich mit der Monarchie selbst fallen und verschwinden.‘“
So urtheilte, sprach und handelte das Kammergericht zu Berlin vor mehr als fünfzig Jahren unter dem Absolutismus, ohne Menschenscheu und Furcht vor der Ungnade der Könige und der Willkür der Minister. Damals galt noch in Preußen der alte, schöne, ehrenvolle Spruch: „Es giebt noch Richter in Berlin.“
Max Ring.




Blätter und Blüthen.


Verdienstvolle Deutsche in Amerika. Unter diesem Titel gedenken wir von Zeit zu Zeit kurze Mittheilungen über einzelne ausgezeichnete Männer zu geben, welche Deutschland der neuen Welt geliefert hat und deren Namen und Verdienste im alten Vaterlande viel zu wenig bekannt sind. Die Thaten eines Sigel, Schurz, Willich u. A. erscheinen in den Zeitungen und sprechen für sich selbst; die nicht minder bewunderungswerthen Leistungen Anderer in den verschiedensten Berufsgebieten laufen Gefahr, in Amerika vergessen zu werden, weil sie von Deutschen vollbracht wurden, und in Deutschland – weil sie von deutschen Amerikanern vollbracht wurden. Wahrlich, die Welt ist oft ungerecht gegen wahres Verdienst!

Welcher Deutsche drüben – und welcher Amerikaner hüben, außer ganz Wenigen, denkt wohl im Traume daran, daß seit Jahren die große Mehrzahl aller Leuchtthürme und Baken, welche die Schifffahrt in den Gewässern der Union erleichtern, die Schiffbrüche vermindern, zahlreiche Verluste an Menschenleben verhüten und das Gefühl der Sicherheit in der Brust Tausender erwecken, welche diesen gefährlichen Küsten entlang schwimmen, daß diese zahlreichen Leuchtthürme von zwei Deutschen erbaut sind und neue von ihnen immer noch erbaut werden? Es gehört keine gewöhnliche Sachkenntniß zu solchen Bauten, sondern in vielen Fällen ein Ingenieurtalent, ein Reichthum an geistigen Hülfsmitteln und eine Hartnäckigkeit in der Ueberwindung von Schwierigkeiten, wie alles dieses nur großen Erfindern eigen ist. Es gehören außerdem, wenn der Betreffende ein amerikanischer Deutscher ist, noch, ganz besondere Stärke des sittlichen Charakters und geschäftliche Gewandtheit dazu, um eingeborne Mitbewerber um solche Aufgaben auszustechen, die Verleumdungen Brodneidischer zu entwaffnen, die oft wunderlichen Vorurtheile der Aufsichtsbehörden gegen „europäische Neuerungen“ zu besiegen und bei alledem von dem Schandfleck der Corruption unberührt zu bleiben, der fast allen amtlichen Verhältnissen hier zu Lande anhängt. Solche Männer sind die Brüder Anton und Hugo Lederle, welche im Dienste der Vereinigten Staaten und unter specieller Aufsicht der dem Flotten-Departement untergeordneten „Leuchthaus-Behörde“ zu Washington den Neu- und Umbau, Verbesserung und Unterhaltung aller Leuchtthürme und Signalfeuer – der Erstere an den fünf großen Seen des Nordwestens, der Letztere am Hudsonflusse und an der atlantischen Küste von Maine bis Florida hinab besorgen.

Geborene Badenser und durch die Revolution von 1848 nach der Union verschlagen, haben sie ihre jetzige verantwortliche und bedeutende Stellung lediglich sich selbst zu verdanken, haben sich durch ruhige Beharrlichkeit und unübertroffene Tüchtigkeit und Biederkeit die Bahn zu Posten gebrochen, welche Fremdgebornen sonst fast unzugänglich sind, und vereinigen ein Jeder in seinen Händen mehr Verwaltungsgeschäfte, als man anderweit drei oder vier Fachgenossen anvertraut. Unablässig eilen sie auf den ihnen zu Gebote gestellten Dampfern Tausende von Meilen hin und her, die Verwaltung überwachend, die Einkäufe für so viele Stationen besorgend und vertheilend, Neubaupläne entwerfend und der Behörde unterbreitend und schließlich sie sammt allen neuen Verbesserungen im Leuchthauswesen prüfend und einführend. Und doch erscheint ihr Name in keinem amtlichen Berichte!!

Bekannter schon, wenn auch lange nicht nach Verdienst, ist der Name Röbling’s, eines Preußen, des Erbauers der Niagara-Hängebrücke, welche die New-Yorker Centralbahn mit der canadischen Great-Western-Bahn verbindet, eine der Hauptverkehrsadern zwischen dem großen Osten und dem großen Westen Amerika’s. Dieses Wunderwerk der Welt ist in Abbildungen und Beschreibungen auch in Europa längst sattsam bekannt, so daß wir einer ausführlicheren Schilderung überhoben sind. Allein wer, der es nicht mit eigenen Augen gesehen und immer wieder gesehen, ohne sich daran satt sehen zu können, ahnt das Großartige des hier in’s Werk gerichteten Unternehmens? Wenn man zuerst von oben die riesigen vier Taue, an welchen der ganze Bau aufgehängt und ausgespannt ist, die gewaltigen massiven Thürme, welche die Taue tragen, und die große Länge der Brücke sammt deren Tragfähigkeit angestaunt hat – wir haben sie schon in ihrer ganzen Länge von 1280 Fuß mit schweren Eisenbahnfrachtwagen und außerdem mit Tausenden von Menschen und Fuhrwerk aller Art (im unteren Stockwerke) bedeckt gesehen, ohne daß sie merklich nachgab – dann gönne man sich das Anschauen derselben von Weitem, von unten an der Wasserfläche, von allen Seiten, wo er wie ein feines Spinnengewebe erscheint, das hoch über einem schaurigen Abgrunde und einem schäumenden, meeresgleich bewegten Strudel in die Luft hingehängt ist! Welche Leichtigkeit, Zierlichkeit, Schönheit, welches Ebenmaß in allen Verhältnissen! Man wird zweifelhaft, ob man dem großen Naturwunder zwei Meilen oberhalb, das man mit demselben Blicke ganz überschauen kann, dem riesigen Wassersturze, oder dem kühnen Wunderbau von Menschenhand mehr Staunen schuldet. Und nun lasse man sich von einem deutschen an der Brücke Angestellten, der die ganze Geschichte des Baues mitgemacht hat, dieselbe erzählen, um das hier Geleistete ganz zu würdigen.

Es war hier von Anfang bis zu Ende Alles, aus einem Menschengehirne heraus zu schaffen; nichts als der rohe Kupferdraht war gegeben, der aus England bezogen werden mußte. Die sinnreichen Maschinen, um [160] ihn erst in dünne Strähne, dann diese vorsichtig und ohne Ueberspannung oder Ungleichmäßigkeit in dickere und immer dickere Taue zu drehen, die neu zu erfindenden mechanische Mittel, um diese Taue unter der schwersten erforderlichen Belastung nachgiebig und doch zugleich so dauerhaft zu befestigen, daß eine fünfundzwanzigjährige Dauer garantirt werden konnte, und um sie in ihre Lage zu bringen, endlich um in dieser schwindelnden Höhe an den Tauen alles Uebrige aufzuhängen und zu befestigen – dieses Alles zu beschreiben, hieße die Geschichte des Feldzuges eines Einzigen gegen tausend Hindernisse der abschreckendsten Art beschreiben. Die Brücke hängt nun fünfzehn Jahre da; keine Spur einer Abnützung ihrer Tragkraft und Haltbarkeit! Es hat seitdem der Baumeister manch anderes großes Werk derselben Art in Amerika geschaffen. Ein solcher Mann würde in Europa auf seinen Lorbeeren ausruhen, reich und bewundert in hervorragender Stellung dastehen können; in den Vereinigten Staaten zieht er sich mit seinen im Verhältniß mäßigen Ersparnissen in’s Privatleben zurück und wird – Fabrikant. Herr Röbling hat in Trenton, der Hauptstadt von New-Jersey, eine Fabrik von Kupferdraht begründet und beschäftigt einige Hundert Arbeiter.

Heute nur noch einen deutschen Namen von ebenso großer Bedeutung. Am 12. Januar d. J. verstarb in Washington, der Bundeshauptstadt, Reinhold Solger, einer der geistreichsten und verdienstvollsten Landsleute, mit welchen die achtundvierziger Zeit dem neuen Welttheile ein Geschenk gemacht hat, unter den traurigsten Umständen. Auch er war nur hin und wieder in beiden Hemisphären genannt, und Wenige begriffen die ganze Größe seiner Leistungen. Der Sohn eines hochgestellten preußischen Beamten und der Neffe des bekannten philosophischen Schriftstellers desselben Namens, hatte er eine sehr gute Erziehung genossen, mußte aber bei der engherzigen Natur deutscher Verhältnisse, welche für so hervorragende Begabung keinen entsprechenden Wirkungskreis wissen, schon früh den Grund zu einem vorzeitigen Untergange legen. Schon als Student mißliebig geworden durch zwei sarkastische Heldengedichte, welche das Junkerthum und die Staatsdienerschaft mit unübertroffenem Witze geißelten, war schon vor 1848 Verbannung in Frankreich und England und später in der Schweiz und Amerika sein Loos. Frühzeitig und vor vollendeter Charakterbildung in ein abenteuerliches Leben hineingeworfen, untergrub er schon als Jüngling seine Gesundheit durch raschen Wechsel zwischen unbedachtsamem Lebensgenusse und den anstrengendsten Studien. Mit auserlesenen Gaben ebensowohl zum großen Staatsmanne, wie zum großen Dichter und zum gelehrten und scharfsinnigen Alterthumsforscher ausgerüstet, fand er dennoch durch die Ungunst der Verhältnisse seinem rastlosen Ehrgeize die Bahn zu einer Stellung in der Geschichte verschlossen, blieb sein Leben ein verfehltes, sein Ende wahrhaft entsetzlich. In Amerika unternahm er vom ersten Augenblicke seines Auftretens an das schwere Werk, bei den Eingebornen den damals noch so verachteten deutschen Namen zu Ehren zu bringen. Er wurde Lecturer, d. h. er hielt in englischer Sprache vor dem besseren Publicum Vorträge, in welchen er die Standpunkte und Leistungen der deutschen Philosophie, Sprach- und Geschichtsforschung in’s rechte Licht setzte, zahllose eingefleischte Vorurtheile der Angloamerikaner bekämpfte und entwurzelte und die Nothwendigkeit einer Ergänzung der angloamerikanischen Cultur- und Charakter-Einseitigkeiten durch die Vorzüge der Deutschen einleuchtend machte. In der Beherrschung der englischen Sprache unübertroffen, voll Witz und Geist im Vortrage und im Besitz selbstständig errungener Ergebnisse fleißiger und vielseitiger Forschungen originell, wurde er bald über das halbe Land hin bekannt und anerkannt, in Boston, wo er lange wohnte, sogar entschieden einer der „Löwen des Tages“, und seine Zukunft schien gesichert. So hat er viel, sehr viel dazu betragen, den Deutschen in Amerika eine geachtete und einflußreiche Stellung zu verschaffen und die „Germanisirung Amerikas“ einzuleiten, welche jetzt in endlicher Aussicht steht. Oft ward er gerade unter seinen hiesigen Landsleuten verkannt und angefeindet, weil er stark ausgeprägte Sonderbarkeiten an sich trug; unter den Eingebornen stieg er in Achtung und verdankte es dieser Achtung, daß er 1862 unter dem Finanzsecretär Chase das bedeutende und verantwortliche Amt einer Hauptbureau-Direction in Washington überkam, in welchem Staatsschuldscheine im Betrag von Hunderten von Millionen Dollars durch seine Hände gingen und mit seiner Unterschrift versehen wurden.

Als er im Sommer 1864 einen Ritt nach einem vier Meilen von der Hauptstadt entfernten Landsitze machte, welchen er miethen wollte, stürzte er, schon jahrelang unter furchtbarem Kopfweh leidend, vom Sonnenstich getroffen, vom Pferde, blieb stundenlang einsam in der glühenden Sonne ohne Hülfe liegen, wurde endlich von einem ärztlichen Pfuscher verkehrt behandelt und, fast vollständig gelähmt und der Sprache beraubt, auf ein anderthalbjähriges Schmerzenslager hingestreckt, gepeinigt bei völligem Bewußtsein von dem Hinblick auf eine in Armuth zurückbleibende, unversorgte Familie, bis der Tod ihn wohlthätig heimsuchte. Angloamerikaner haben bisher an derselben so viel gethan, wie für die nächste Zeit genügte, seine deutschen Landsleute noch nichts. Man hat unter diesen nur erst davon gesprochen, daß etwas geschehen müsse. Wehe dem verdienstvollen Deutschen hier zu Lande, welcher kein finanzielles Talent hat, um seine Familie rechtzeitig sicher zu stellen!

Solger hat kein schriftstellerisches Werk hinterlassen, das ihn lange überleben konnte. Seine angestrengten Studien, seine Reisen, sein Amt ließen ihn nicht zu der dazu nöthigen Sammlung kommen. Sein Roman „Anton in Amerika“, eine Art von Fortsetzung des berühmten Freytag’schen Romanes „Soll und Haben“, mißfiel sogar entschieden, trotzdem daß er die reiche Begabung des Verfassers überall glänzend zeigt. In seinen hinterlassenen Papieren muß sich vieles höchst Werthvolle finden; aber welcher Deutsche in Amerika hätte die Muße dazu, sich ihrer Herausgabe zu unterziehen?

Ein Märtyrer mehr für die Zukunft der Deutschen! Wie viele werden ihm noch in dasselbe Loos folgen müssen, ohne die Frucht ihrer Anstrengungen zu erleben?

New-York.
A. D.




Schlauheit der Elster. Nach einer mühseligen entomologischen Excursion kam ich vor einigen Jahren an einem heißen Junitage, ziemlich erschöpft und nach Speise und Trank verlangend, auf einem Schulzenhofe an, dessen Besitzer mir seit vielen Jahren befreundet waren. Während die gastlich sorgliche Hausfrau in der Küche Kaffee für mich braute und der Schulze dem Großknecht noch einige dringliche Anweisungen zu geben hatte, stellte ich mich an das offene Stubenfenster, um mich an dem bunten Treiben der Thierwelt auf dem Hofe zu weiden. Der Schulze war offenbar ein Liebhaber von Federvieh, denn außer den gewöhnlichen Thieren dieses Schlages – zahlreichen gemeinen Hühnern, Tauben, Gänsen und Enten – bevölkerten kollernde Truthähne mit ihren Weibern, radschlagende Pfauen, Cochin- und andere Fremdhühner den Hof, und Perlhühner erhoben ihr ohrenzerreißendes Zetergeschrei, als der muthwillige Spitz hinter ihnen zu jagen begann. Schwäne, Schwangänse und türkische Enten zogen Linien und Kreise auf dem anstoßenden Teiche.

Fast verwirrt von dem Gewimmel und Getön, fiel mein Blick über die Umzäunung des Hofes auf einen freien Platz am Rande eines prächtigen Eichenwaldes. Hier erging sich eine große Hauskatze in auffallendem Spiel und merkwürdigen Sprüngen. Ich entdeckte bald, daß sie es mit einer unglücklichen Gefangenen, mit einem armen Mäuschen, zu thun hatte, welches sie in der bekannten grausamen Weise ein wenig frei laufen ließ, um es, wenn das geplagte Thier eben in ein Loch zu schlüpfen vermeinte, rechtzeitig immer wieder in den mörderischen Krallen zu haben. Plötzlich ertönte über der Mordscene hoch vom höchsten Eichbaume hernieder das laute Gekacker einer Elster, die sich sofort auf einen der niedrigsten nach außen herabhängenden Zweige des Baumes setzte und lüsternen Blicks auf das Treiben der Katze mit der Maus herabsah. Ihr Erscheinen war von der argwöhnischen Katze nicht unbemerkt geblieben, doch warf diese der unwillkommenen Gesellschafterin mit halbgewandtem Kopfe blos einen tückischen Blick zu und ließ sich übrigens in ihrem Spiel nicht stören. Jetzt ließ sich aber die Elster unter beständigem, lebhaftem Gekacker auf die Erde nieder und näherte sich der Mörderin von hinten. Diese wandte sich behende und machte, ihr Opfer kaum aus den Augen lassend, einen Sprung nach der Elster, die indeß schon wieder auf ihrem Zweige saß. Die Katze wandte sich wieder zur Maus, die ihrem Ende nahe schien, immer aber noch die Kraft besaß, einen Schritt oder zwei sich fortzuschleppen. Wie sich die Katze über sie hermachte, war auch die Elster schon wieder da und diesmal der Katze näher auf den Fersen, als das erste Mal, so daß diese sich zornig wandte und abermals einen vergeblichen Sprung nach der Elster that, die alsbald wieder auf ihrem sichern Zweige thronte. Als die Katze zur Maus zurückkam, lag diese in den letzten Zügen. Im Nu war die Elster wieder da und diesmal der Katze so nahe, daß sie fast ihre Schwanzspitze berührte. In größter Wuth fuhr nun die Katze auf, und da ihr die Elster wieder ebenso gewandt entschlüpfte wie die vorigen Male, rannte sie nach dem Eichbaume und kletterte in blindem Eifer an demselben einige Fuß hoch empor, wohl, um die Feindin weiter zu verfolgen. Darauf hatte diese aber offenbar nur gewartet, flog zu dem todten Mäuschen, entführte es in die Lüfte und ließ der beschämten Katze das leere Nachsehen.

So erzählte ein glaubwürdiger Freund und Naturkundiger.
C–s.




Desinfections-Pulver. Der Kaufmann und volkswirthschaftliche Schriftsteller Herr D. Born aus London, jetzt in Berlin, legt in letzterem Orte eine Desinfectionspulver-Fabrik an. Das betreffende Pulver besteht aus einer feingemahlenen Mischung von Kalk und Kohle, zwei Substanzen, deren jede ein kräftiges Mittel gegen Fäulniß- und Verwesungsgase ist, da sie dieselben sofort im Entstehen binden und für die atmosphärische Luft unschädlich machen. Namentlich besitzt die Kohle eine fabelhafte Aufsaugungsfähigkeit für schädliche und giftige Luftarten. In Verbindung mit Kalk wirkt diese Eigenschaft so schnell und kräftig, daß das Desinfectionspulver, auf und in übelriechende Gegenstände gestreut, sofort diesen Geruch beseitigt. Bei dem Mangel an öffentlicher und Privatgesundheitspflege, namentlich in Bezug auf Luft, erwarten der Fabrikant und alle bis jetzt zu Rathe gezogenen Aerzte, Chemiker etc. einen großen, wohlthätigen Erfolg von dem Gebrauch dieses Pulvers im Privatleben, namentlich in Schlafzimmern und in Excrementen-Gefäßen, von welchen in deutschen Wohnungen unendlich viel zerstörendes Gift, besonders Ansteckungen aller Art und eine Menge Lungen-, Hals- und sonstige Krankheiten entwickelt, erzeugt oder begünstigt werden. Das Pulver soll sehr billig auf den Markt kommen und Jedem leicht zugänglich gemacht werden. Ein Pfund für fünf Silbergroschen soll, wie versichert wird, für einen gewöhnlichen Hausstand vollkommen auf einen Monat ausreichen.




Ein neuer Dichter in der Werkstatt. Neben Carl Weise, dem wackern Drechslermeister von Freienwalde, ist vor Kurzem ein anderer tüchtiger Arbeiter mit einer kleinen Sammlung meist lyrischer Poesien in die Oeffentlichkeit getreten. Es ist der Porcellandreher Fr. Jacob Müller in Nauendorf bei Ohrdruff in Thüringen, dessen „Poetische Bilder aus dem Leben“ wohl eine Empfehlung auf ihren Weg verdienen, obschon seine Muse weder stofflich noch formell die Weise’s erreicht und hier und da sich etwas phrasenreich ausspricht. Der Verfasser ist der Sohn braver Landleute in Mettlach an der Saar und hat sich lediglich aus sich selbst herausgebildet, da er schon im dreizehnten Jahre in der Fabrik sein Brod verdienen mußte.




Berichtigung. In der kleinen Mittheilung über die „Oefen“ im Salzburger Gebirge in Nr. 7 d. Bl. S. 112 Zeile 25 v. o. muß es heißen „nicht an jene passen“, anstatt: meist an jene passen. Durch diese Verwechselung ist gerade das Entgegengesetzte von dem ausgedrückt, was der Verfasser wollte.
D. Red.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Tatsächlich war Domenico Cimarosa der Komponist des „Matrimonio segretto“ (vergleiche: Kleiner Briefkasten, Heft 12, Seite 192).