Die Gartenlaube (1866)/Heft 16

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1866
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[241] No. 16.
1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Goldelse.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Draußen, nur durch die Thür von der armen getäuschten Helene geschieden, schlug Hollfeld verschmitzt lächelnd ein Schnippchen; wie gemein und bubenhaft sah er in diesem Augenblick aus! Er war über die Maßen zufrieden mit sich selbst… Noch vor einer Stunde war sein Herz von Grimm erfüllt gewesen. Seine Leidenschaft für Elisabeth, durch den Widerstand des jungen Mädchens zu einer rasenden angefacht, war in hellen Flammen über seinem eigenen Haupte zusammengeschlagen und hatte ihn seit gestern um alle seine gerühmte Selbstbeherrschung gebracht. Inmitten dieser Liebesraserei war ihm aber trotzdem nicht ein einziges Mal der Gedanke gekommen, dem heißbegehrten Mädchen seine Hand zu bieten, um in ihren Besitz zu gelangen; er würde sich selbst für wahnsinnig gehalten haben, wenn eine solche Idee durch seinen Kopf geflogen wäre. Dafür aber zermarterte er sein Gehirn in niederträchtigen Plänen und Anschlägen, wie er den Widerstand der Forstschreiberstochter besiegen könne… Das Ereigniß auf Gnadeck lenkte plötzlich seine Gedanken in eine ganz andere Bahn. Das junge Mädchen war jetzt eine begehrenswerthe Partie, von altem Adel und reich. Kein Wunder, daß er innerlich aufjubelte bei der Nachricht und sofort den großmüthigen Entschluß faßte, die liebreizende Blume auf Gnadeck mit einem Heirathsantrag zu beglücken… Daß sie ohne Zögern die Ehre annehmen würde, lag natürlich außer allem Zweifel; denn wenn sie auch aus Koketterie seinen Liebesanträgen auf eine Zeit zu widerstehen vermocht hatte, so war das doch nicht denkbar der Aussicht gegenüber, vielbeneidete Frau von Hollfeld zu werden. Ueber diesen Punkt war er so vollkommen klar und sicher, daß auch nicht ein Wölkchen der Befürchtung ihm die lockende Aussicht verdunkelte… Es war indeß nicht der glühende Wunsch allein, Elisabeth zu besitzen, der ihn antrieb, so rasch wie möglich zu handeln; er mußte sich sagen, daß, wenn der Fund in den Ruinen bekannt wurde, auch noch andere Freier bei der ihrer Schönheit wegen bereits vielgenannten Goldelse anklopfen würden – schon der Gedanke machte ihm das Blut sieden.

Der Ausführung seines Entschlusses stand indeß noch ein Hinderniß entgegen, und das war Helene. Nicht etwa, weil ihm eine mitleidige Regung gekommen wäre darüber, daß das heißliebende Mädchen namenlos leiden müsse in Folge dieses Schrittes – was das betraf, so kannte er kein Erbarmen – wohl aber hatte er zu bedenken, daß er möglicherweise durch die plötzliche Heirath um die Erbschaft kommen könne, die er von Helene erwartete. Es galt also, vorsichtig und schlau zu sein. Wir haben gesehen, wie er kalten Blutes die tiefe, blinde Liebe der Unglücklichen ausbeutete und sie dadurch, daß er sich in seiner höchsten Lebensfrage ihr scheinbar unterwarf, unauflöslich an sich kettete.

Sobald er das Zimmer verlassen hatte, schwankte Helene nach der Thür und schob den Riegel vor. Jetzt erst überließ sie sich völlig ihrer Verzweiflung.

Wer sie nicht kennt, jene qualvollen Stunden, die auf eine ungeahnte, plötzlich wie aus der Luft herniederstürzende, zermalmende Nachricht folgen, jene Stunden, in denen der Mensch seinen Schmerz in die Welt hinausschreien möchte und wo er, der Stütze und des Trostes Anderer so bedürftig, doch scheu und wie gehetzt Dunkel und Einsamkeit aufsucht, als seien Licht und Klang tödtliches Gift für seine brennende Wunde; wem sie erspart wurden, jene Qualen, die plötzlich ein harmonisch geordnetes Gemüths- und Gedankenleben völlig aus den Fugen zu reißen vermögen: der wird freilich nicht begreifen, daß Helene auf dem Fußteppich zusammensank und verzweiflungsvoll in ihren Locken wühlte, während ihre kleine, gebrechliche Gestalt wie im Fieber hin und her geschüttelt wurde… Sie lebte und athmete ja nur in dieser glühenden Neigung! Hatten doch schon einige finstere Blicke, eine mehrtägige düstere Zurückhaltung des geliebten Mannes hingereicht, sie in den tiefsten Kummer zu versenken und sie sogar theilnahmlos zu machen für ein Ereigniß, das in früherer Zeit ihr schwesterliches Herz tief erschüttert haben würde; um wie viel mehr mußte sie jetzt leiden in der Ueberzeugung, daß sie ihn verlieren werde.

Obwohl ein wildes Chaos von Gedanken in ihrem Kopfe kreiste, so war sie doch unfähig, einen einzigen klaren, sichtenden zu erfassen. Das demüthigende Bewußtsein ihrer körperlichen Gebrechen, um deren willen sie aus ihrem geträumten Paradies gestoßen wurde, Hollfeld’s heutiges Bekenntniß seiner Liebe, das ihr zugleich Himmel und Hölle erschlossen hatte, eine wahnsinnige Eifersucht auf Diejenige, die sie noch gar nicht einmal kannte, welche aber dereinst an seiner Seite mit allen Rechten der Gattin stehen sollte, das Alles wogte und stürmte in ihr und drohte den schwachen Faden zu zerstören, der ihre Seele an den hinfälligen Körper fesselte.

Erst spät, nachdem die Nacht bereits hereingebrochen war, öffnete sie der besorgten Kammerfrau die Thür und ließ sich auf vieles Bitten derselben zu Bett bringen. Sie verbat sich streng den Besuch des Arztes, den die Zofe vorschlug, ließ der Baronin, die ihr persönlich gute Nacht wünschen wollte, hinaussagen, daß sie der größten Ruhe bedürfe und nicht gestört sein wolle, und verbrachte dann einsam die schrecklichste Nacht ihres Lebens.

Sie wurde erst ein wenig ruhiger, das heißt die furchtbare Spannung ihrer Nerven ließ nach, als das Morgenlicht durch [242] eine Spalte des Vorhanges in das Zimmer huschte. Es war, als glitte der dünne, goldene Strahl auch in ihre umnachtete Seele und werfe ein Streiflicht auf das, was ihre Gedanken im tollen Kreislauf unberührt gelassen hatten. Sie fing an zu überlegen, daß Hollfeld ja völlig selbstlos handele. Wenn auch die Nothwendigkeit, daß er sich vermählen müsse, stets wie ein Schreckbild vor ihr aufgestiegen war, so hatte sie dieselbe doch nie wegzuleugnen vermocht; und mußte sie es nicht anerkennen, daß ihr Gedanke, er werde warten, bis sie aus dieser Welt geschieden sei, in ihm keinen Raum gefunden hatte? Brachte er nicht auch ein schweres Opfer? denn er liebte ja sie, nur sie allein, und mußte sich entschließen, einer Anderen anzugehören; durfte sie ihm die Erfüllung einer heiligen Pflicht noch schwerer machen durch ihren Jammer? … Er forderte sie auf, einen mühevollen Weg mit ihm zu gehen; sollte sie sich da feig und muthlos zeigen, wo er eine große Willensstärke bei ihr vorausgesetzt hatte? … Und fand er ein Weib, das sich mit der Freundschaft begnügte, da, wo es mit vollstem Recht Liebe heischen konnte, wie hätte sie sich von ihr an Selbstverleugnung übertreffen lassen mögen?

In fieberhafter Hast griff sie nach der silbernen Glocke auf dem Nachttisch und berief die Kammerfrau, um sich ankleiden zu lassen. Ja, sie wollte entsagen, wollte stark sein; aber sie meinte auch, nur der ganzen, vollen Gewißheit gegenüber werde sie Muth und Stärke finden, und deshalb mußte sie vor Allem den Namen Derjenigen wissen, welche Hollfeld für geeignet hielt, die schwere Mission zu übernehmen. Sie hatte freilich bereits alle unverheiratheten weiblichen Wesen ihrer Bekanntschaft prüfend an sich vorübergehen lassen, doch da war auch nicht eine Einzige, die sie nicht sofort ungeduldig und heftig verworfen hätte.

Es war zwar noch nicht die Stunde, in welcher sie jeden Morgen mit der Baronin und Hollfeld zu frühstücken pflegte – ihr Bruder blieb diesen frühen Zusammenkünften stets fern – aber sie hielt es nicht länger aus in ihrem einsamen Zimmer und ließ sich, da sie sich sehr schwach fühlte, im Rollstuhl nach dem Eßsalon fahren. Zu ihrer Verwunderung hörte sie von dem Bedienten, der Alles zum Frühstück vorbereitete, daß die Baronin schon vor einer halben Stunde spazieren gegangen sei; das war ein seltener Fall, aber er kam der jungen Dame sehr erwünscht, denn in dem Augenblick, als sie sich in eine der Fenstervertiefungen rollen ließ, erblickte sie Hollfeld, der draußen auf dem großen Kiesplatze vor dem Schlosse auf und ab promenirte. Er schien keine Ahnung zu haben, daß er beobachtet wurde. Den breiten, schöngebauten Oberkörper elastisch auf den Hüften hin und her wiegend, schritt er rasch und leicht dahin. Dann und wann führte er mit sichtlichem Wohlbehagen die Cigarre an den Mund, deren feiner Duft durch das geöffnete Fenster bis zu Helene drang. Die junge Dame war zuerst schmerzlich betroffen und wollte es sich durchaus nicht eingestehen, daß das Aussehen des Geliebten ein auffallend frisches war und von heiterster Laune zeugte, aber es war ihr unmöglich, in seiner Haltung, in jeder Bewegung, ja, selbst in dem halb unbewußten Lächeln, das seine Lippen öffnete und die wunderschönen Zähne sehen ließ, einen anderen Ausdruck zu finden, als den eines kecken, jugendlichen Uebermuthes, der Lebenslust und eines unendlichen Behagens… Da war auch nicht eine Spur jener Kämpfe zu entdecken, in denen sie die Nacht verbracht hatte; wie ein Opfer grausam gebieterischer Verhältnisse sah er ganz gewiß nicht aus … Oder wirkte hier eine große, geistige Kraft, der starke, männliche Wille? Dann mußten beide einen Höhepunkt erreicht haben, der an das Uebermenschliche streifte.

Die junge Dame zog finster die Augenbrauen zusammen.

„Emil!“ rief sie heftig, mit fast rauher Stimme hinab.

Hollfeld erschrak sichtlich, aber mit einem Satz stand er unter dem Fenster und schwenkte grüßend den Hut.

„Wie?“ rief er, „Du bist schon hier? … Darf ich hinaufkommen?“

„Ja!“ klang es in bereits milderem Ton herab.

Nach wenig Augenblicken trat er in den Salon. Helene hatte jetzt eher Grund, mit seinem Aussehen zufrieden zu sein; denn es lag ein tiefer Ernst auf seiner Stirn. Er warf seinen Hut auf den Tisch und rückte einen Stuhl neben die junge Dame. Ihre beiden Hände zärtlich an sich ziehend, sah er ihr in’s Gesicht; er schien selbst betroffen zu sein über ihre aschbleichen Wangen und den erloschenen Blick, der dem seinen begegnete.

„Du siehst sehr übel aus, Helene,“ bemerkte er theilnehmend.

„Und nimmt Dich das Wunder?“ fragte sie, unfähig, ihre Bitterkeit zu unterdrücken. „Mir ist leider jene glückliche Gabe des Gleichmuths versagt, mittels der man schon wenige Stunden nach einer herben Prüfung wieder heiter und lebensfroh in die Welt blicken kann… Ich beneide Dich.“

Ihr Auge streifte vorwurfsvoll sein blühendes Gesicht. Er verwünschte innerlich seine Morgenpromenade, oder vielmehr die Unvorsichtigkeit, mit der er seine Gedanken an Elisabeth und den Sieg, welchen er über das spröde Mädchen feiern werde, zur Schau getragen hatte.

„Du bist ungerecht, Helene,“ entgegnete er lebhaft, „wenn Du mich nach meiner äußeren Haltung beurtheilst… Soll denn der Mann, wenn er sich in das Unvermeidliche fügen muß, weinen und wehklagen?“

„Nun, davon schienst Du vorhin auch sehr weit entfernt zu sein.“

Ein unaussprechlicher Aerger bemächtigte sich seiner. Das armselige Wesen da vor ihm, das bei seinem mißgestalteten Körper Gott danken mußte, wenn ein Mann ihm gegenüber sich überwand, nicht gerade unfreundlich und abstoßend zu sein, und das auch wirklich früher jede kleine Aufmerksamkeit mit unsäglicher Dankbarkeit aufgenommen hatte – es wurde plötzlich so anmaßend, ihm Vorwürfe zu machen. Obgleich er Alles daran gesetzt hatte, sie an seine feurige Liebe glauben zu machen, meinte er doch innerlich, es sei eine grenzenlose Eitelkeit von der kleinen Buckligen, sich einzubilden, sie könne in der That eine solche Neigung einflößen; auch erkannte er voll Ingrimm, daß er es hier mit dem „hartnäckigsten Eigensinn und einer widerwärtigen Sentimentalität“ zu thun habe. Es kostete ihm unsägliche Mühe, sich zu beherrschen, aber er that es, und es glückte ihm sogar ein Lächeln mit einem Anstrich von Melancholie, was ihn in diesem Augenblick sehr interessant erscheinen ließ.

„Wenn Du hörst, weshalb ich vorhin heiter ausgesehen habe, so wirst Du Deinen Vorwurf gewiß bereuen,“ sagte er. „Ich vergegenwärtigte mir nämlich den Moment, wo ich vor Deinen Bruder hintreten und sagen darf: ‚Helene hat sich entschlossen, künftig in meiner Familie zu leben,‘ und ich leugne nicht, daß ich das mit einer Art von Genugthuung dachte; denn er hat ja von jeher meine Liebe zu Dir mit scheelen Augen angesehen.“

Helene bemühte sich, das, was er vorgab, mit seinem Aussehen von vorhin in Einklang zu bringen, und es harmonirte denn auch vortrefflich. Sie reichte ihm aufathmend die Hand.

„Ich glaube Dir,“ sagte sie innig, „der Verlust dieses Glaubens wäre ja auch mein Todesurtheil … Ach, Emil, Du darfst mich nie, niemals hintergehen; auch nicht, wenn Du denkst, daß es zu meinem Heile sei – ich will lieber eine schlimme Wahrheit hören, als den qualvollen Verdacht mit mir schleppen, daß Du nicht wahr gegen mich seiest … Ich habe eine schreckliche Nacht gehabt, aber jetzt bin ich gefaßter und bitte Dich, mir die Idee mitzutheilen, von der Du gestern sprachst. Das fühle ich klar, ich werde nicht eher mein inneres Gleichgewicht wieder erlangen, als bis ich das Gesicht kenne, das für die Zukunft zwischen uns stehen soll. Bis jetzt ist dieses Wesen nur noch ein Phantom für mich, und ich glaube, eben in dieser Unsicherheit liegt die quälende Unruhe, die mich verzehrt … also den Namen, Emil, ich bitte Dich inständig!“

Hollfeld’s Augen irrten wieder am Boden. Die Sache schien ihm sehr mißlich in diesem Augenblick.

„Weißt Du auch, Helene“ begann er endlich, „daß ich großes Bedenken trage, heute die Angelegenheit mit Dir zu besprechen? … Du bist sehr angegriffen; ich fürchte, ein eingehendes Gespräch macht Dich krank. Und dann muß ich sagen daß mir mein gestriger Gedanke, je öfter ich ihn beleuchte, immer praktischer erscheint; es sollte mir deshalb sehr leid thun, wenn Du in der Aufregung seine vortheilhaften Seiten übersähest.“

„Das werde ich ganz gewiß nicht!“ rief Helene, sich lebhaft emporrichtend, ihr Auge hatte einen fieberhaften Glanz. „Ich habe mich überwunden und bin bereit, mich in das Unvermeidliche zu fügen … Ich verspreche Dir, so völlig unparteiisch zu sein, als ob – ich nicht liebte.“ Sie erröthete, denn zum ersten Mal sprach sie das Wort aus.

„Nun denn,“ sagte Hollfeld zögernd – er vermochte nicht ganz seine innere Erregung zu beherrschen – „was meinst Du zu dem jungen Mädchen auf Gnadeck?“

[243] „Elisabeth Ferber?“ rief Helene auf’s Höchste überrascht.

„Elisabeth von Gnadewitz,“ verbesserte Hollfeld rasch. „Gerade die plötzliche Veränderung ihrer Stellung hat mich auf die Kleine aufmerksam gemacht. Bis dahin habe ich sie wenig beachtet und ist mir nur ihr bescheidenes Wesen und die große Ruhe in ihren Gesichtszügen aufgefallen.“

„Wie, an der reizenden, wunderbar beseelten Erscheinung wäre Dir nichts bemerkenswerth vorgekommen, als die Ruhe und Bescheidenheit?“

„Nun ja,“ entgegnete er gleichgültig. „Ich erinnere mich, daß Du manchmal über Deine eigenen Finger ärgerlich wurdest, während sie nie eine Miene verzog und geduldig immer wieder von vorn anfing, bis Du ihr folgen konntest. Das gefiel mir schon damals. Ich halte sie für einen sehr ruhigen Charakter, und den muß vor Allem meine künftige Frau haben. Auch ist es nicht zu verkennen, daß sie Dich verehrt; damit wäre die Hauptbedingung erfüllt. Ferner ist sie in engen, beschränkten Verhältnissen aufgewachsen; sie wird keine Ansprüche machen und sich leicht in die Stellung Dir und mir gegenüber finden. Ich glaube, sie hat Tact, ist sehr häuslich erzogen, ein großer Vorzug, und –“

Helene war in das Kissen zurückgesunken und legte die Hand über die Augen.

„Nein, nein!“ rief sie, sich rasch wieder aufrichtend und seinen eifrigen Redefluß unterbrechend. „Nicht das arme, liebliche Kind! Elisabeth verdient, geliebt zu werden.“

Ein plötzliches Hundegeheul unterbrach sie und ließ sie selbst einen Schrei des Schreckens ausstoßen. Hollfeld hatte seiner Diana, die mit hereingekommen war und zu den Füßen ihres Herrn hingestreckt lag, auf die Pfote getreten. Dieser Zwischenfall kam ihm sehr gelegen, denn Helenens letzte Worte klangen, seinen eigenen glühenden Wünschen gegenüber, so komisch, daß er lachen mußte. Er öffnete die Thür und jagte das hinkende Thier hinaus. Als er zu dem jungen Mädchen zurückkehrte, waren seine Züge wieder völlig ruhig und beherrscht.

„Lieben wollen wir ja die Kleine auch, Helene,“ sagte er anscheinend gleichmüthig, während er seinen Platz wieder einnahm – Helene war zu sehr erregt und wohl auch zu reinen Sinnes, um die leichte Beimischung von Frivolität in seinem Ton herauszuhören – „sie soll Dir nur den Vorrang lassen in meinem Herzen, und das wird sie auch gewiß … Sie besitzt sehr viel ruhige Ueberlegung und Kaltblütigkeit, das hat sie vorgestern vollständig bewiesen, als sie Rudolph rettete.“

„Wie so?“ rief Helene, die Augen voll unsäglichen Erstaunens weit öffnend.

Der Diener, welchem gestern wider Willen das Ereigniß im Walde entschlüpft war, hatte, erschrocken über sein Versehen, alle näheren Umstände des Attentates unerörtert gelassen und war einfach dabei stehen geblieben, daß der beabsichtigte Schuß Herrn von Walde glücklicherweise nicht getroffen habe. Auch Hollfeld hatte den Sachverhalt erst vor einer Stunde ausführlicher vom Gärtner erfahren. Das unerschrockene Benehmen Elisabeth’s verlieh ihr, wie man denken kann, in seinen Augen einen neuen Reiz und stachelte seine Sehnsucht, sie so rasch wie möglich zu gewinnen, auf’s Höchste. Er theilte Helene jetzt Alles mit, was er über die Begebenheit erfahren hatte, und schloß mit den Worten: „Du hast jetzt einen Grund mehr, das Mädchen zu lieben, und mich bestärkt ihre Handlungsweise in dem Glauben, daß sie die Einzige ist, die in die Verhältnisse paßt.“

Hiermit hatte er sein letztes Pulver verschossen. Er strich mit seiner weißen, schlanken Hand langsam das Haar von der Stirn zurück und beobachtete dabei hinter dem vorgehaltenen Arm gespannt die junge Dame, die den Kopf so in das Kissen gedrückt hatte, daß er nur ihr Profil sehen konnte. Aus ihren geschlossenen Lidern quollen Thränen; sie sprach kein Wort mehr, vielleicht rang sie zum letzten Male mit sich selbst.

Warum sie aber nicht ein einziges Mal die Frage aufwarf, ob auch Elisabeth in der That Hollfeld ihre Neigung zuwenden werde? Das wird sich vielleicht manche Leserin selbst beantworten können, sobald sie bedenkt, daß das liebende Herz gewöhnlich den Gegenstand seiner Leidenschaft für unwiderstehlich hält und es schwer begreift, wenn er nicht allen andern Menschenkindern ebenso begehrenswerth erscheint.

„Das Schweigen, das peinlich zu werden anfing, wurde durch das Eintreten der vom Spaziergang zurückkehrenden Baronin unterbrochen. Helene fuhr in die Höhe und trocknete rasch ihre Thränen. Mit sichtlicher Ungeduld ließ sie sich die Liebkosungen gefallen, mit denen sie von der augenscheinlich sehr echauffirten Dame förmlich überschüttet wurde, und antwortete sehr einsilbig auf die Fragen nach ihrem Befinden.

„Nun,“ sagte die Baronin, nachdem sie schwerfällig in einen Fauteuil gesunken war, „da hat uns der einfältige Reinhard gestern schön blau anlaufen lassen … Ich begegnete auf meiner Promenade zufälliger Weise dem Forstschreiber Ferber droben bei den Ruinen … ich gratulirte ihm auch wegen der gefundenen Kostbarkeiten, und da sagte er mir, aus was sie beständen, und erzählte mir auf mein Befragen ohne Umstände, daß sie ungefähr achttausend Thaler werth seien; und das nennt der Mensch, der Reinhard, einen unermeßlichen Werth … Einstweilen aber Gott befohlen. Ich muß mich umkleiden, bin jedoch in wenigen Augenblicken wieder hier.“

Aus Hollfeld’s Gesicht war das spöttische Lächeln verschwunden, mit dem er die Erzählung seiner Mutter angehört, und hatte einem unverkennbaren Ausdruck der Enttäuschung Platz gemacht; es war ihm plötzlich zu Muthe, als ob ein kaltes Sturzbad sich über ihn ergossen habe.

Kaum hatte sich die Thür hinter der Baronin geschlossen, als Helene aus ihrer bisherigen scheinbaren Apathie erwachte und Hollfeld beide Hände entgegenstreckte.

„Emil,“ sagte sie rasch, wenn auch mit etwas verschleierter Stimme und bebenden Lippen, „wenn es Dir gelingt, Elisabeth’s Herz zu gewinnen, was ich nicht bezweifle, dann gehe ich auf Deinen Plan ein; aber es bleibt dabei, daß ich bei Euch in Odenberg wohne.“

„Das versteht sich,“ entgegnete er, wenn auch etwas zögernd; sein Ton hatte bei Weitem nicht mehr die Festigkeit von vorhin, „aber ich mache Dich vorher darauf aufmerksam, daß Du eine etwas schmale Küche finden wirst … Meine Einkünfte sind nicht besonders glänzend, und daß Elisabeth so gut wie gar nichts besitzt, hast Du eben gehört.“

„Sie soll nicht arm in Dein Haus kommen, Emil, darauf verlasse Dich,“ antwortete das junge Mädchen mit weichem Ton und unnatürlich glänzenden Augen. „Von dem Augenblick an, wo sie erklärt, die Deine sein zu wollen, ist sie meine Schwester… Ich will redlich mit ihr theilen … ich weise ihr vorläufig die Einkünfte von meinem Gut Neuborn in Sachsen zu und werde über diesen Punkt mit Rudolph sprechen, sobald er zurückkehrt… Und wenn ich die Augen schließe, so gehört Euch Beiden dann Alles, was ich besitze … Bist Du zufrieden mit mir?“

„Du bist ein Engel, Helene!“ rief er. „Niemals sollst Du Deine Großmuth und aufopfernde Liebe bereuen!“

Diesmal war sein Feuer, seine Ekstase nicht erheuchelt, denn die Einkünfte von Neuborn machten Elisabeth zu einer sehr reichen Braut.


15.

Zwei Tage waren vergangen seit dem Morgen, an welchem Helene, wie sie wähnte, den vollständigen Sieg über sich selbst errungen hatte, wo sie fest überzeugt war, der unumstößlichen Gewißheit gegenüber werde das Stürmen und Wogen ihrer aufgeregten Gefühle sich beruhigen … Wie wenig war sie im Stande gewesen, die Tiefe ihrer Leidenschaft zu bemessen! Sie hatte nach einem Strohhalm in der empörten Fluth gegriffen und er war treulos mit ihr gesunken … Nur zwei Tage! … aber sie wogen ihr ganzes bisheriges Leben an Seelenschmerzen auf. Sie sagte sich unaufhörlich, daß das Ziel ihrer Tage, die heißersehnte Ruhe, nicht fern sei, und doch schauderte sie vor dem kurzen Stück irdischen Daseins, das noch vor ihr lag, wie die nichtgläubige Seele angesichts des Grabes. Sie fühlte immer deutlicher, daß ihr Versprechen, in Odenberg leben zu wollen, ihr Opfer erst recht zu einem übermenschlichen mache; aber um keinen Preis hätte sie auch nur ein Jota an dem ändern mögen, was sie Hollfeld gelobt hatte, sie wollte seiner Liebe würdig sein, wollte seine Achtung verdienen durch die ungeheuerste Selbstüberwindung – Arme Verblendete!

Ihr schwaches Nervenleben litt unbeschreiblich unter den fortgesetzten innern Kämpfen. Sie fieberte beständig und wurde von einer quälenden Unruhe fast aufgerieben. Fort und fort drängte sich das, womit sich ihr ganzes Denken und Empfinden ausschließlich [244] beschäftigt, auf ihre Lippen, aber sie schwieg pflichtschuldigst, weil Hollfeld es wünschte. Ebensowenig hatte er erlaubt, daß sie Elisabeth in den ersten Tagen zu sich berufen durfte, denn er fürchtete, vielleicht nicht mit Unrecht, sie möchte ihm in ihrer Aufregung das Spiel bei dem jungen Mädchen verderben. Er selbst hatte bereits die ersten Schritte gethan, um sich Elisabeth wieder zu nähern. Er war schon zweimal vor dem Mauerpförtchen erschienen, um „der Familie von Gnadewitz“ seine Aufwartung zu machen, aber, ob er auch den Klingelgriff fast abgerissen hatte, es war ihm doch nicht aufgethan worden. Das erste Mal war in der That Niemand zu Hause gewesen; gestern jedoch hatte Elisabeth ihn kommen sehen. Die Eltern waren mit Ernst im Forsthause, und Miß Mertens erklärte sich mit der Absicht des jungen Mädchens, den Besuch nicht einzulassen, völlig einverstanden. Die Beiden saßen lachend oben in der Wohnstube, während die kleine Mauerglocke sich fast heiser läutete. Von diesem Complot hatte der Untenstehende freilich keine Ahnung. –

Es war sieben Uhr Morgens. Helene lag bereits angekleidet auf ihrem Ruhebett; sie hatte sich die ganze Nacht schlummerlos auf ihrem Lager umhergeworfen. Die Baronin schlief noch, Hollfeld war ebensowenig sichtbar, allein sein konnte und wollte die junge Dame um keinen Preis, deshalb hatte die Kammerfrau eine Handarbeit nehmen und sich zu ihr setzen müssen. Was das Mädchen plauderte, es flog unverstanden an ihren Ohren vorüber, aber nichtsdestoweniger hatte der Klang einer menschlichen Stimme nach der einsamen, fieberhaften Nacht etwas Beschwichtigendes für sie.

Das Geräusch eines näherkommenden Wagens ließ plötzlich die Erzählerin verstummen. Helene öffnete das Fenster und bog sich hinaus. Eben verließ die zurückkehrende Equipage ihres Bruders die Chaussee und ihre Räder sanken tief ein in den hochaufgeschichteten, knirschenden Kies des breiten Parkfahrweges. Der Wagen war leer.

„Wo ist Dein Herr?“ rief Helene dem Kutscher zu, als er ziemlich nahe vorüberfuhr.

„Der gnädige Herr sind auf der Chaussee ausgestiegen,“ antwortete der alte Mann, seinen Hut abnehmend, „und kommen zu Fuße über den Berg, bei dem Gnadecker Schloß vorüber.“

Die junge Dame schlug das Fenster zu und schauerte zusammen, als fröstele sie; das einzige Wort „Gnadeck“ hatte ihre Nerven berührt, wie ein elektrischer Schlag. Sie konnte nichts mehr hören, was sie an Elisabeth erinnerte, ohne jenen jähen Schrecken zu empfinden, den z. B. eine plötzlich erscheinende Spukgestalt unserer Einbildungskraft verursacht.

Sie erhob sich und ging, gestützt auf die Kammerfrau, hinunter in die Zimmer ihres Bruders. In dem Salon, dessen Glasthüren auf die Freitreppe mündeten, ließ sie ein Frühstück serviren und setzte sich, den Zurückkehrenden erwartend, in einen Lehnstuhl. Sie nahm eines der prachtvoll gebundenen Albums, die auf den Tischen umherlagen, auf den Schooß; mechanisch wendete ihre Hand die Blätter um, ihre Augen ruhten wohl auf den feinen Stahlstichen, aber sie hätte um Alles nicht zu sagen gewußt, ob sie ein Portrait oder eine Landschaft ansehe.

Nach halbstündigem Warten erschien endlich die hohe Gestalt ihres Bruders in der Glasthür. Sie ließ das Buch von ihrem Schooß heruntergleiten und streckte dem Eintretenden die Hand entgegen. Er schien überrascht von dem Empfang, aber es berührte ihn offenbar sehr wohlthuend, die Schwester nach so langer Zeit wieder einmal allein und für seine Bequemlichkeit zärtlich besorgt zu sehen. Rasch eilte er zu ihr hin, allein ein zweiter Blick, den er auf ihr Gesicht warf, machte ihn stutzen.

„Fühlst Du Dich kränker, Helene?“ fragte er besorgt, indem er sich neben sie setzte. Er schob seinen Arm unter ihren Rücken und hob sie sanft ein wenig höher, um besser in ihr Gesicht sehen zu können. Es lag so viel Bekümmerniß und zärtliche Theilnahme in seinem Blick und Ton, daß es ihr war, als zöge plötzlich eine milde Frühlingsluft schmelzend durch ihr schmerzerstarrtes Innere. Zwei schwere Thränen rollten über ihre Wangen und sie drückte ihr Gesicht fest an die Schulter ihres Bruders.

„Hat Fels in diesen Tagen nicht nach Dir gesehen?“ fragte er beklommen. Das Aussehen des jungen Mädchens versetzte ihn offenbar in heftige Sorge.

„Nein – und ich habe auch ausdrücklich befohlen, daß man ihn nicht rufen solle. Ich nehme die Tropfen, die er mir für meine Nervenanfälle verschrieben hat; mehr können er und ich nicht thun… Aengstige Dich nicht, Rudolph, es wird wohl auch einmal wieder besser mit mir … Du hast eine schwere Zeit in Thalleben durchmachen müssen?“

„Ja,“ entgegnete er, während sein Auge noch immer ängstlich auf den merkwürdig veränderten Zügen der Schwester ruhte. „Ich fand den armen Hartwig nicht mehr am Leben; ein Schlagfluß hatte seinen unaussprechlichen Qualen rasch ein Ende gemacht … Gestern Abend wurde er beigesetzt. Seine unglückliche Frau würdest Du nicht wiedererkennen, Helene, sie ist über Nacht zur Matrone geworden.“

Er theilte ihr noch Näheres mit über den Unglücksfall, dann strich er mit der Hand über die Augen, als wolle er damit all’ den Jammer, den er in den letzten Tagen mit angesehen, wegwischen.

„Nun, und finde ich hier Alles beim Alten wieder?“ frug er nach einem kurzen Schweigen.

„Nicht ganz,“ antwortete Helene zögernd, „Möhring hat gestern unser Haus verlassen … und auf dem Berge, bei den Ferbers, ist das Glück eingekehrt,“ fuhr sie mit gepreßter Stimme und abgewendetem Gesicht in ihrem Bericht fort.

Der Fauteuil, auf welchem sie saß, erhielt plötzlich einen Ruck an der Seite, wo ihr Bruder seinen Arm aufgestützt hatte. Sie sah nicht auf, und deshalb bemerkte sie nicht, wie das Gesicht neben ihr für einen Augenblick mit einer fahlen Blässe überzogen wurde und wie die bebenden Lippen zweimal vergebens sich mühten, um endlich das einzige Wörtchen „nun?“ hervorzubringen.

Helene erzählte die Begebenheit in den Ruinen, während ihr Bruder aufathmend zuhörte. Mit jedem Wort weiter schien ihm ein Stein vom Herzen zu fallen; er ahnte freilich nicht, daß jedes dieser Worte wie ein zweischneidiges Schwert in dem Herzen der Erzählerin wühlte und daß diese Mittheilung bereits der Anfang eines furchtbaren Opfers war, das sie bringen sollte.

„Das ist in der That eine wunderbare Lösung alter Räthsel,“ sagte er, nachdem Helene geendet hatte. „Ob aber die Familie es für ein Glück hält, dem Geschlecht der Gnadewitz anzugehören, bezweifle ich.“

„Ah, Du meinst,“ unterbrach ihn Helene rasch, „weil das junge Mädchen einst sehr viel an dem Namen auszusetzen hatte? … Ich kann mir nicht helfen, aber ich denke bei dergleichen Dingen manchmal unwillkürlich an die Trauben, die dem Fuchs zu sauer sind.“ Sie sprach die letzten Worte mit einer schneidenden Schärfe. Soweit ging ihre leidenschaftliche Aufregung und Bitterkeit, daß sie ihre bessere Einsicht verleugnete und die Gesinnungen eines Wesens verdächtigte, das sie nie beleidigt und welches sie früher bei unparteiischer Anschauung als eines der reinsten bezeichnet hatte.

Ein Ausdruck des höchsten Erstaunens erschien in Herrn von Walde’s Zügen. Er bog sich nieder und sah forschend in das gesenkte Gesicht der Schwester, als wolle er sich überzeugen, ob es wirklich ihr Mund gewesen sei, der diese herben Worte gesprochen hatte.

In diesem Augenblick sprang Hollfeld’s Jagdhund die Stufen herauf, machte einige täppische Sprünge durch das Zimmer und verschwand sofort wieder auf einen grellen Pfiff, der über den breiten Kiesplatz herüberscholl. Sein Herr ging drüben vorüber. Er schien nicht zu wissen, daß Herr von Walde zurückgekehrt war, sonst würde er doch gewiß gekommen sein, ihn zu begrüßen. Er schritt eilig vorwärts und bog in den Weg ein, der hinauf nach Gnadeck führte. Helenens Blicke folgten der Gestalt, bis sie verschwunden war, dann sank sie mit krampfhaft gefalteten Händen in den Stuhl zurück; es sah aus, als versagten ihr momentan die Kräfte.

Herr von Walde schenkte ein wenig Rothwein in ein Glas und hielt es an ihre Lippen. Sie sah dankbar auf und versuchte zu lächeln.

„Ich bin noch nicht zu Ende mit meinem Bericht,“ begann sie wieder und richtete sich auf aus ihrer halbliegenden Stellung. „Ich mache es, wie der Romandichter, der den Haupteffect bis zuletzt aufhebt;“ es war nicht zu verkennen, daß sie während dieser Vorrede, die scherzhaft klingen sollte, nach Kraft und Festigkeit rang, um das, was sie sagen mußte, ruhig vorzubringen. Ihr Auge haftete angestrengt auf einem der gegenüberliegenden Bosquets, während sie fortfuhr: „Unserem Hause steht ein glückliches Ereigniß bevor, Emil – wird sich verloben.“

Sie hatte sicher erwartet, ihr Zuhörer werde sofort seine

[245]

Die Zahlhalle der Londoner Bank.
Nach der Natur gezeichnet von Dammann in London.

[246] höchste Ueberraschung aussprechen, denn nach einem augenblicklichen, tiefen Schweigen drehte sie sich erstaunt nach ihm um. Er hatte die Hand auf Stirn und Augen gepreßt und der Theil des Gesichts, den sie nicht bedeckte, war aschbleich. Bei Helenens Bewegung, jedoch ließ er die Hand sinken, erhob sich rasch und trat an das offene Fenster, um frische Luft einzuathmen.

„Bist Du unwohl, Rudolph?“ rief sie ängstlich hinüber.

„Ein vorübergehender Schwindel, weiter nichts,“ antwortete er und näherte sich ihr wieder. Seine Züge sahen entstellt aus. Er ging einigemal im Zimmer auf und ab und nahm dann seinen Platz wieder ein.

„Ich habe Dir gesagt, daß Emil sich verloben will, Rudolph,“ begann Helene wieder, jedes Wort markirend.

„Das hast Du gesagt,“ wiederholte er tonlos und mechanisch.

„Du billigst diesen Schritt“

„Der geht mich nichts an. Hollfeld ist sein eigener Herr; er kann thun, was ihm beliebt.“

„Ich glaube, er hat gut gewählt. Dürfte ich, so wollte ich Dir den Namen des jungen Mädchens nennen.“

„Ist nicht vonnöthen … Ich werde ihn früh genug hören, wenn er von der Kanzel herab verkündigt wird.“

Sein Gesichtsausdruck war eisig, die Stimme klang rauh und abweisend und aus den Wangen schien auch der letzte Blutstropfen entwichen zu sein.

„Rudolph, ich bitte Dich, sei nicht so entsetzlich schroff!“ bat Helene flehentlich. „Ich weiß ja, daß Du die vielen Worte nicht liebst, und bin an Deine lakonischen Antworten gewöhnt; aber in diesem Augenblick bist Du geradezu abstoßend, und gerade jetzt, wo ich eine Bitte an Dich richten möchte.“

„Sprich nur; soll ich vielleicht die Ehre haben, Brautführer des Herrn von Hollfeld zu sein?“

Helene zuckte zusammen vor dem schneidenden Hohn, mit welchem diese Worte gesprochen wurden.

„Du bist dem armen Emil abgeneigt, und das macht sich heute wieder einmal recht geltend,“ sagte sie vorwurfsvoll nach einer kleinen Pause, während welcher Herr von Walde aufgestanden war und mit raschen Schritten einigemal das Zimmer durchmessen hatte. „Ich bitte Dich inständigst, lieber Rudolph, höre mich ruhig an; ich muß heute mit Dir über die Angelegenheit sprechen!“

Er lehnte sich mit verschränkten Armen an einen Fensterpfeiler in der Nähe und sagte kurz: „Du siehst, ich bin bereit, zu hören.“

„Das junge Mädchen,“ hob sie stockend an, diesmal weniger infolge eigener Gemüthsbewegung, als weil sie der eiskalte Blick ihres Bruders einschüchterte, „das junge Mädchen, das Emil gewählt hat, ist arm.“

„Sehr uneigennützig in der That; weiter!“

„Emil’s Einkünfte sind nicht sehr bedeutend –“

„Der arme Mann hat nur sechstausend Thaler Revenüen; er muß nothwendig dabei verhungern.“

Sie schwieg, sichtlich betroffen. Ihr Bruder übertrieb nie; die Summe, die er aufstellte, war sicher bis auf den Groschen richtig angegeben.

„Nun, er mag schon reicher sein, als ich glaubte,“ hob sie nach einer kurzen Pause wieder an; „das kommt übrigens hier ganz und gar nicht in Betracht … Ich habe die Erwählte sehr, sehr gern“ – mit welcher Anstrengung sie sprach! – „sie hat etwas gethan, wofür ihr mein schwesterliches Herz ewig dankbar sein wird.“ Herrn von Walde’s verschränkte Arme lösten sich; er trommelte mit den Fingern der Linken so heftig gegen die Fensterscheibe, daß Helene meinte, das Glas müsse zerspringen.

„Sie soll mir eine Schwester sein,“ fuhr sie fort; „ich will nicht, daß sie Emil’s Haus arm betrete, und möchte ihr sehr gern die Einkünfte von Neuborn zuweisen … darf ich?“

„Das Gut gehört Dir, Du bist majorenn, ich habe hier durchaus nicht das Recht, zu verweigern, oder zu erlauben.“

„O ja, Rudolph, insofern, als Du die nächsten Ansprüche an mich und mein Erbe hast… Also bin ich Deiner Zustimmung gewiß?“

„Vollkommen; wenn Du denn durchaus der Ansicht bist, daß sie dazu gehöre –“

„Dank, vielen Dank!“ unterbrach sie ihn und bot ihm die Hand; aber er schien es nicht zu bemerken, obgleich sein Blick auf sie gerichtet war… „Verdenkst Du mich darum?“ fragte sie nach einer Weile beklommen.

„Darum nicht, daß Du den Wunsch hast, Menschen glücklich zu machen, Du wirst Dich erinnern, daß ich Dir stets bei dergleichen Gelegenheiten rückhaltslos die Hand geboten habe. Wohl aber mache ich Dir den Vorwurf der Uebereilung; Du bist sehr schnell bereit, jenes junge Wesen in’s Unglück zu stoßen.“

Sie fuhr wie von einer Viper gestochen in die Höhe. „Das ist ein harter Ausspruch!“ rief sie heftig, „Dein Vorurtheil gegen den beklagenswerthen Emil, Gott mag wissen, auf was es sich begründet, geht denn doch zu weit… Du kennst den armen Menschen viel zu wenig –“

„Ich kenne ihn viel zu gut, als daß ich ihn noch näher kennen lernen möchte… Er ist ein ehrloser Schmarotzer, ein erbärmlicher Bursche ohne allen Charakter, an dessen Seite ein Weib, selbst wenn es nur geringe Anforderungen an männliche Ehrenhaftigkeit stellt, elend werden muß … wehe der Armen, wenn sie zur Erkenntniß kommt!“ … Seine Stimme wankte im verhaltenen Schmerz. Helene hörte jedoch nur Groll und Ingrimm heraus.

„Gott, wie ungerecht!“ rief sie, ihre weinenden Augen nach der Zimmerdecke richtend. „Rudolph, Du versündigst Dich schwer. … Was hat Dir nur Emil gethan, daß Du ihn so unversöhnlich verfolgst?“

„Muß man erst persönlich beleidigt werden, um zu wissen, was man von dem Charakter eines Anderen halten soll?“ frug er zürnend zurück. „Kind, Du bist die Schwerbeleidigte, aber Du bist verblendet… Es wird eine Zeit kommen, wo Du das, tief gedemüthigt, erkennst. Wenn ich Dir auch diesen Schmerzenskelch von den Lippen nehmen wollte, es würde, zu Nichts fuhren; Du wehrst Dich verzweifelt und siehst in mir einen Barbaren, der Dich in Deinen heiligsten Gefühlen kränkt… Du zwingst mich selbst, Dich Deinen Weg allein gehen zu lassen bis zu dem Augenblick, wo Du trostbedürftig an mein Herz zurückflüchten wirst… Dir ist dann die Umkehr möglich; was aber bleibt jener Anderen übrig, die unauflöslich gebunden ist?“

Er ging in das Nebenzimmer und ließ die Thür hinter sich in’s Schloß fallen. Helene saß eine Zeitlang wie betäubt; dann erhob sie sich mühsam und verließ, sich an Wänden und Möbeln festhaltend, so schnell es ihr möglich war, den Salon.

Eine unsägliche Bitterkeit, ja, beinahe ein Gefühl von Haß erfüllte sie gegen den Bruder, der heute zum ersten Mal das, was jede Faser ihres Herzens liebend umschloß, so rücksichtslos und rauh antastete. Ihr Herz brach fast vor Leid, indem sie sich alle vermeintliche Aufopferung des Geliebten lebendig zurückrief; ja, es war ihr, als habe sie sich ihm gegenüber schon dadurch der größten Sünde schuldig gemacht, daß jene abscheulichen Schmähungen ihr Ohr berührt hatten. Er sollte nie, niemals erfahren, zu welchen Beschuldigungen ihr Bruder sich hatte hinreißen lassen. Keines, auch nicht das größte Opfer sollte ihr jetzt zu schwer werden, um das Unrecht zu sühnen, das er, wenn auch unbewußt, erdulden mußte. Freilich nun, nachdem ihr Bruder so unumwunden seine schlimme Meinung über Hollfeld ausgesprochen hatte, durfte sie nicht mehr leiden, daß Letzterer die Gastfreundschaft in Lindhof genieße. Sie wollte – natürlich ohne Angabe der Gründe – ihn selbst veranlassen, nach Odenberg zurückzukehren; vorher aber sollte er sein Verhältniß zu Elisabeth feststellen.

Mit diesen Gedanken betrat sie das Eßzimmer, und als Hollfeld sich kurze Zeit darauf auch einfand, empfing sie ihn mit einem ruhig freundlichen Lächeln und verkündete ihm, daß ihr Bruder, ohne den Namen der Erwählten erfahren zu haben, ihren Entschluß bezüglich der Mitgabe für die Braut billige. Sie verlangte nun aber auch, Elisabeth heute bei sich sehen zu dürfen, und Hollfeld, sehr erfreut über die ruhige Art und Weise, mit welcher sie sprach, ging darauf ein. Nachmittag um vier Uhr sollte die Zusammenkunft im Pavillon stattfinden. Hollfeld verließ sofort das Zimmer, um einem Bedienten in Helenens Namen den Auftrag zu geben. Wie würde die junge Dame erstaunt gewesen sein, hätte sie hören können, daß dem Diener ganz ausdrücklich die Weisung gegeben wurde, Fräulein Ferber auf drei Uhr einzuladen, während der Haushofmeister den Befehl erhielt, bis zu der genannten Stunde alles Erforderliche im Pavillon zu arrangiren, ja nicht später!

(Fortsetzung folgt.)



[247]
Das Herz der Handelswelt.
Von Friedrich Althaus in London.


Schon einmal, vor sechs Jahren, haben unsere Leser an der kundigen Hand Heinrich Beta’s eine Reise durch das imposante Institut der Bank von England gemacht; eine Anstalt aber, welche, wie die genannte, recht eigentlich als der Mittelpunkt des englischen, ja in gewisser Weise als das Herz des Geschäftslebens der gesammten Welt zu begreifen ist, verdient schon, daß wir ihr auch einen zweiten Besuch schenken, zumal, wenn dieser sich nach Seiten und Räumlichkeiten wendet, welche damals, wo es uns zunächst um das Totalbild des gewaltigen Etablissements zu thun war, unsere Aufmerksamkeit minder in Anspruch nahmen.

Der allgemeine Eindruck des Bankgebändes erinnert an die Beschreibungen orientalischer Reisenden von den Palästen indischer Nabobs. Ein kolossales Quadrat aus gelbbraunem Gestein, von etwa sechzig Fuß Höhe und dreihundertundfünfzig Fuß Länge und Breite; mit Ausnahme mehrerer an den Ecken und in gleichmäßigen Zwischenräumen an den Fronten angebrachter Säulenstellungen, ohne jeden äußern Schmuck und, die Façade des Haupteingangs abgerechnet, wie wir wissen, ganz ohne Fenster; statt des Daches von einer festungsartigen Crenellirung gekrönt und rings von hohen Eisengittern umgeben, wirkt dieser Bankpalast, wie jene indischen Königspaläste, mehr als durch irgend etwas Anderes durch seine monumentale Masse und die Vorstellung von den fabelhaften Schätzen, von der bunten, geheimnißvollen Welt, die er im Innern verschließt. Sicherheit und Dauerhaftigkeit scheinen die Ziele gewesen zu sein, welche den Architekten bei seinem Baue leiteten. Und der blos oberflächliche Anblick befestigt sofort die Ueberzeugung, daß dies Bemühen ihm im vollsten Maße gelungen. Eine Batterie schwerer Geschütze möchte diese Mauern niederschmettern, eine feindliche Sturmcolonne mit gewaffneter Hand in das Innere eindringen können, aber den Unternehmungen der Brüderschaft der professionellen Feinde fremden Eigenthums setzen (das lehrt der erste Blick) diese Gitter, Festungswälle und Eisenthüren geradezu unüberwindliche Bollwerke entgegen. Den äußern Vorsichtsmaßregeln entspricht aber die innere Disciplin, und so überwiegend ist die durch beide gewährleistete Empfindung der Sicherheit, daß auch die große Bank von England von der charakteristischen Verkehrsfreiheit des Londoner Lebens keine Ausnahme bildet. Während der Geschäftsstunden zwischen zehn und vier Uhr stehen sämmtliche Eingänge des gewaltigen Gebäudes ohne Nachfrage irgend welcher Art jedem Besucher offen, und wer sich mit einem einfachen Durchwandern der Säle und Corridore begnügen will, bedarf keinerlei Einführung oder Empfehlung, sondern braucht nur durch eine der Thüren einzutreten, welche unter dem Porticus des Haupteingangs den Weg in das Innere öffnen.

Wie jene andere Londoner Kaufmannsgesellschaft, deren Geschichte ihrer eigenen an grandiosem Erfolge gleichkommt, die Ostindische Compagnie, verdankt die Bank von England ihre Entstehung lediglich dem Unternehmungsgeist von Privaten, und wie zur Zeit ihrer Gründung im Jahre 1694, so befindet sich noch jetzt ihre Administration in den Händen eines Ausschusses der Actionäre, unter dem officiellen Titel: The Governor and Company of the Bank of England. Das Parlament ertheilte der Gesellschaft außer ihren corporativen Rechten das Privileg der Ausgabe von Banknoten und benützte diese Gelegenheit zu einer Reform der öffentlichen Finanzverwaltung, welche für England als epochemachend zu bezeichnen ist. Bis dahin hatte die Regierung, wenn sie außerordentliche Gelder brauchte, von dem guten Willen der Wucherer und Geldmäkler abgehangen. Die Concession der Bank von England dagegen wurde an die Bedingung geknüpft, daß in Zukunft etwaige Staatsanleihen durch die Bankverwaltung besorgt werden sollten, und während die Gründung eines so wichtigen öffentlichen Instituts den Operationen der gesammten handeltreibenden Welt einen frischen Aufschwung gab, gewann die Finanzverwaltung des Staats zugleich an Würde und Sicherheit. Abgesehen davon erstreckte die der Bank ertheilte Concession sich anfangs nur auf einen Zeitraum von elf Jahren. Später wurde sie wiederholt von elf zu elf Jahren erneuert, bei welcher Gelegenheit die Regierung nie versäumte, von dem ausbedungenen Anleiherecht Gebrauch zu machen.

Das waren die Anfänge der Bank von England, und wie das indische Kaiserreich aus den Factoreien der Ostindischen Compagnie, so wuchs aus dieser Uebereinkunft einer Gesellschaft von Londoner Kaufleuten mit der englischen Regierung die mächtige Anstalt hervor, welche heutiges Tages dem Weltreich der Geld- und Creditverhältnisse Englands als präsidirende Behörde vorsteht.

Der Haupteingang des Bankgebäudes, das, wie es gegenwärtig dasteht, erst 1788 durch den Architekten Sir John Scane vollendet, führt zunächst in einen geräumigen innern Hof, in den links, rechts und geradeaus hohe Thüren münden. Links sieht man einen Garten, ehemals Kirchhof, und etwas rückwärts eine Thür, deren Messingschild die Inschrift trägt: „Banking Department“. Rechts führen mehrere Stufen nach einem Eingang, woran zu lesen, daß die letzten Dividenden fällig sind. Die geradeaus befindliche Thür trägt die Ueberschrift: „Pay-Hall“. Ich will hier sofort bemerken, daß diese drei Eingänge und Inschriften dem Eintretenden mit einem Male die drei Hauptbranchen der Thätigkeit andeuten, welche sich in der Bank von England concentriren. Die Pay-Hall ist das Organ der Vertheilung und Auszahlung der Banknoten; das Dividendenbureau hat die Verwaltung und Liquidirung der Zinsen der Staatsschulden in Händen; in dem Banking Department endlich agirt die Compagnie als Cassirer des Staats, als Banquier anderer Banken, Kaufleute und Privatleute und als Hauptdiscontirer kaufmännischer Wechsel und Werthpapiere. Man denke jedoch nicht, daß ein einziger Saal für jedes dieser Departements ausreicht. Die zu erfolgreicher Geschäftsführung so unerläßliche Theilung der Arbeit ist vielmehr nirgends mit größerer Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit zur Durchführung gekommen, als in der Bank von England. Ehe die Noten in die Zahlhalle gelangen, haben sie (von einer ausschließlich mit Anfertigung des Banknotenpapiers beschäftigten Papiermühle zu schweigen) zwei verschiedene, im Bankgebäude befindliche Druckereisäle durchwandert; aus dem zweiten dieser Säle sind sie weiter spaziert in ein Specialbureau, dessen Beamte die Güte der Arbeit einer schließlichen Prüfung unterwerfen; aus dem Prüfungsbureau in die Schatzkammer entlassen, werden sie ferner eine Zeit lang in den dort befindlichen Eisenkisten aufbewahrt, bis zuletzt der Befehl des ersten Cassirers ihren Transport in die Zahlhalle und damit die Vertheilung an das Publicum verfügt. Womöglich noch großartiger ist die Organisation des zur Verwaltung der Staatsschuld bestimmten Departements. Es umfaßt dasselbe nicht weniger als zehn selbstständige Bureaus, mit einer Gesammtzahl von eintausend siebenhundert Geschäftsbüchern und vierhundert Beamten und Commis aller Grade. Außerdem enthält dies Departement die sogenannte Stock Office Library, ein Archiv von nahezu hunderttausend Bänden, die in historischer Reihenfolge ausführliche Auskunft geben über sämmtliche seit 1694 stattgehabte Anlehen. Mit gleicher Sorgfalt ist das Banking Department eingerichtet, und, um es kurz zu sagen, die Summe der in der Bank von England enthaltenen Geschäftslocale aller Branchen beläuft sich auf zweiunddreißig, die Gesammtzahl der in denselben beschäftigten Beamten und Commis auf siebenhundert und siebenzig,[1] die diesen Letzteren gezahlten Jahrgehalte auf zweimalhundert und vierzigtausend Pfund Sterling und die an ausgediente Beamte gezahlten Pensionen auf zwanzigtausend Pfund Sterling. Diese Thatsachen mögen genügen, um vorläufig eine annähernde Vorstellung zu geben von den großartigen Verhältnissen des Instituts, in dessen Hauptvorhof wir uns umgeschaut haben.

Treten wir nun in die Zahlhalle ein, deren innere Einrichtung die beigefügte Illustration treffend veranschaulicht. Sie ist dasjenige Local der Bank, welches vielleicht am meisten von der großen Masse des Publicums besucht wird, und hat in ihrer inneren Einrichtung manche Eigenthümlichkeit, welche den Zahlhallen gewöhnlicher Banken fehlt. Schon die Statue in der Nische im Hintergrunde des länglichen Saales deutet darauf hin, daß man es mit keiner privaten, sondern mit einer öffentlichen Anstalt zu [248] thun hat. Es ist das Marmorbild König Wilhelm’s des Dritten, unter dessen Regierung die Bank in’s Leben trat, und schirmend breitet der König noch jetzt seine vom Alter etwas verwitterte Hand über die Halle aus. Das unmittelbar darunter befindliche Bureau ist der Sitz zweier Herren, die bestellt sind, über das geschäftliche Treiben der Zahlhalle eine allgemeine Aufsicht zu führen. Aufsicht dieser Art ist, wie keiner Erklärung bedarf, unerläßlich, und ein solches Aufsichtsbureau, bestehend aus einem Ober- und Untersuperintendenten, fehlt in keinem der vielen Geschäftssäle der Bank. Die beiden kleinen Vorrichtungen in der Mitte des Saales, mit dem Aufsichtsbureau in einer Linie, sind wärmeausstrahlende, dampfverzehrende Oefen. Der Weg zwischen ihnen führt durch die dem Eingang gerade gegenüberliegende Thür in die weiter im Innern befindlichen Räumlichkeiten der Bank und theilt die Zahlhalle in zwei genau geschiedene Departements ab. Rechts, zu beiden Seiten des Aufsichtsbureaus, ist man mit dem Sortiren, Wägen und Auszahlen aller Arten von Silbermünzen beschäftigt; links befinden sich die Bureaus zum Wechseln und Auszahlen der Banknoten.

Wir wollen uns nun nach dieser allgemeinen Umschau zunächst an den Ofen zur Rechten stellen und die Operationen der Silberseite genauer betrachten. Auch hier ist die so wichtige Theilung der Arbeit bis in’s Einzelnste durchgeführt. An dem Ladentisch zur Linken des Aufsichtsbureaus zählt, sichtet und wägt man die Silbermünzen, an dem zur Rechten wechselt man sie gegen Gold aus. Von diesem letzteren Geschäft genügt es, zu sagen, daß die Auszahlung, der Größe des Geschäfts entsprechend, nicht durch das langsame Hinzählen der Münzen, sondern durch die Ueberlieferung von Säcken und Säckchen stattfindet, deren Inhalt vorher berechnet ist und die, je nach Bedürfniß, in kleineren und größeren Münzen fünfundzwanzig, fünfzig, hundert, fünfhundert Pfund Sterling Werth enthalten. Interessanter sind die Operationen zur Linken des Aufsichtsbureaus. Säcke und Säckchen aller Arten von Silbermünzen werden hierher geschafft, sowie sie aus dem Banking Department einlaufen, und es ist die Aufgabe der Commis, sie zu sichten, zu zählen, zu wägen und die verschiedenen Münzarten den Säcken und Säckchen einzuverleiben, welche an dem gegenüberliegenden Bureau ausgezahlt werden. Die ganze Oberfläche des langen Tisches glänzt und klirrt daher ohne Unterlaß von Silber. Zu der Sichtung der Münzarten bedient man sich einer sehr ingeniös eingerichteten Siebemaschine, dergleichen ich in keiner andern englischen Bank gesehen habe. Sie besteht aus drei übereinander geordneten Eisenplatten, deren oberste mit einer Menge Löcher durchbohrt ist, welche groß genug sind, um Zweischillingsstücke durchfallen zu lassen; die zweite enthält kleinere Löcher zum Durchfallen von Schillingen, die dritte endlich noch kleinere zum Durchfallen von Sechs-, Vier- und Dreipencestücken. Oben auf diese Maschine nun schüttet der zum Sieben angestellte Commis einen Sack voll Silber, mit Münzen aller Art. Er ergreift dann die Maschine und schüttelt sie hin und her, und durch die Bewegung des Schüttelns fällt jede Münzart an die ihr bestimmte Stelle: die Sechs-, Vier- und Dreipencestücke auf den Tisch, die Schillinge auf die unterste, die Zweischillingsstücke auf die mittlere Platte, während die größeren Münzen (ganze und halbe Kronen) ihren Platz auf der obersten Platte behaupten. Mittels des Ausziehens jeder einzelnen Platte ist es dann leicht, die verschiedenen Münzarten zu ordnen, und in kurzer Zeit wird auf diese Weise die Sichtung großer Haufen bunt vermischter Münzen vollendet. Andere Commis haben das Geschäft, die so gesichteten Münzen zu zählen, die abgenützten auszusondern und die Gesammtsumme in größere und kleinere Säcke zu vertheilen. Auch diese Arbeit wird ausnehmend erleichtert durch eine einfache Methode: die des Wägens.

Bis zum Jahre 1832 wurden alle in Münzen gezahlten Summen einzeln auf die Zahltische der Bank hingezählt. Man fand jedoch, daß sämmtliche Commis auf diese Weise bei dem größten Fleiße innerhalb der sechs Arbeitsstunden von zehn bis vier nicht mehr als fünfzigtausend Pfund Sterling täglich auszuzahlen vermochten, und kam daher, um das Geschäft zu beschleunigen, auf den Gedanken, die zu zahlenden Summen einfach durch ihr Gewicht zu bestimmen. Man bedient sich zu diesem Zwecke auf dem Zahltisch befestigter kleinerer und größerer Wagen, legt in die eine Wagschale Gewichte, welche genau dem Metallgewicht einer bestimmten Geldsumme entsprechen, schüttet oder schaufelt in die andere eine entsprechende Anzahl von Geldstücken und zahlt dann den Gesammtbetrag, indem man ihn mit kupfernen Schaufeln aus der Wagschale entweder auf den Tisch, oder in Säckchen und Sacte hinschüttet. Statt fünfzigtausend Pfund kann man so an einem Tage auf’s Bequemste fünfmalhunderttausend Pfund auszahlen, und diese Methode ist seitdem in sämmtlichen englischen Bauten adoptirt worden.

Noch eine andere charakteristische Vorkehrung muß erwähnt werden: das Herbeischaffen der Geldsäcke aus der Schatzkammer in die Zahlhalle. Es geschieht dieselbe mittels der kleinen, auf der Illustration angegebenen, neben den Oefen stehenden Wagen. Besonders dazu angestellte Diener besorgen das Herfahren der kostbaren Last, die außerdem von einem Commis escortirt und innerhalb der Bureaus aufgeschlossen und ausgepackt wird. Die mit dem Diener redende schwarzgekleidete Dame ist die sogenannte „Dame in Schwarz,“ eine halbmythische Figur, welche auf den besondern Wunsch der Zahlhallen-Commis von dem Zeichner in das Bild aufgenommen wurde. Der Bruder dieser „schwarzen Dame“ war, so heißt es, während der ersten Decennien unseres Jahrhunderts in der Bank angestellt und wurde wegen Wechselfälschung nach dem damals noch gültigen drakonischen Criminalgesetz zum Tode am Galgen verurtheilt. Er hatte obendrein das Geld seiner Schwester entwendet, und die Arme verlor in Folge dieses doppelten Unglücks ihren Verstand. Täglich erschien sie seitdem in Trauerkleidung in der Bank, um ihren verlorenen Bruder und ihr verlorenes Geld zu suchen. Viele Jahre vergingen, eine neue Generation von Commis wuchs heran, aber noch immer durchwandelte die schwarze Dame melancholisch die Säle und Corridore der Bank von England. Sie war schon den Achtzigen nahe, als man eines Tages ihre wohlbekannte Gestalt vermißte. Sie war gestorben. Doch durch ihre seltsame Beharrlichkeit hat sie sich eine Tradition geschaffen, welche sie überlebt hat, und so lange die Bank von England dauert, wird man sich von der „Dame in Schwarz“ erzählen.

Wenden wir uns nun nach dem gegenüberliegenden Departement der Zahlhalle, wo es sich nicht um das Sichten, Wechseln und Auszahlen von Silber, sondern von Banknoten und Gold handelt. Dies Departement ist in drei Zweige abgetheilt: einen, wo Gold gegen Noten, einen anderen, wo Noten gegen Gold, und einen dritten, wo Noten gegen Noten eingewechselt werden. Den beiden letzten Acten hat jedoch ein anderer vorherzugehen: das Aufschreiben des Namens und der Adresse des Notenbesitzers auf die zum Wechseln bestimmte Note. Zwei mit Tinte, Feder und Löschpapier versehene Schreibpulte sind zu diesem Zwecke an den Außenwänden des Silber- und des Noten- und Golddepartements angebracht. Ist jene Vorbedingung erfüllt, so gelangt die Note in die Hände eines Commis, der ihre Echtheit zu prüfen hat und an dessen Pult eine Tafel mit den Nummern der verloren gegangenen oder gestohlenen Noten aufgehängt ist. Erst nachdem die dargereichte Note für echt befunden und mit keiner in der Tafel bemerkten Note identificirt ist, findet der Austausch statt. Der Geldwerth der Noten, welche auf diesem Wege täglich in die Bank zurückgelangen, ist erstaunlich groß. Man schätzt ihn auf nahezu zwei Millionen Pfund. Dabei geht aber das Geschäft der Zahlhalle so ebenmäßig und still vor sich, als ob es sich um die einfachste Sache in der Welt handelte, als ob die ausgetauschten Summen etwas ganz Gewöhnliches und Alltägliches wären. Uebrigens erleichtern auch hier, wie in dem Silberdepartement, Goldwagen, Goldsäckchen und Säcke den Gang des Geschäfts.

Diese Schilderung der Zahlhalle mag als Muster für Einrichtung und Geschäftsgang der andern Localitäten der Bank von England dienen. Es sei nur noch bemerkt, daß das Wägen des in die Bank fließenden gemünzten Goldes in einem besonderen Bureau, dem Gold weighing Office geschieht, wo auch die für fehlerhaft befundenen Stücke der Circulation entzogen werden. Die in die Bank zurückgekehrten Noten werden in einem speciellen Bureau untersucht, registrirt, durchgestrichen und dann, um für alle erdenklichen Nachfragen zur Hand zu sein, in der Bankbibliothek zehn Jahre lang aufbewahrt. Es heißt, daß sie gegenwärtig fünfzehn- bis sechszehntausend Kasten füllen und einen Geldwerth von achtzig bis neunzig Millionen Pfund repräsentiren. Nach Ablauf jener zehn Jahre werden sie verbrannt. Um nun aber auch einen Begriff von der mercantilischen Bedeutung der Bank und der Höhe ihrer geschäftlichen Thätigkeit zu geben – so weit dies durch riesige Ziffern möglich wird, die man in der [249] Regel mehr anstaunt, als sich nach ihrem Werthe klar machen kann – wollen wir in allgemeinen Umrissen die Bilanz zusammenstellen, wie sie die Bank jetzt zieht. Die Activen derselben betragen an Pfandrechten auf Staatseigenthum 25 Millionen Pfund Sterling, an Pfandrecht auf Privateigenthum 20 Millionen Pfund Sterling, an geprägtem Gelde 15 Millionen Pfund Sterling, zusammen also an 60 Millionen Pfund Sterling. Dagegen belaufen sich ihre Passiven an Notencirculation auf 21 Millionen Pfund Sterling, an staatlichen und privatlichen Depositen auf 20 Millionen Pfund Sterling, zusammen auf 41 Millionen Pfund Sterling, so daß ihr Vermögen ein halb Mal ihre Verbindlichkeiten übersteigt. In dem durch seine große Geschäftskrise noch in leidiger Erinnerung stehenden Jahre 1825 hatte die Notencirculation ihre bis jetzt höchste Ziffer erreicht, indem damals fast für 26 Millionen Pfund Sterling Bankzettel im Umlaufe waren. Blos für das Wechseln ihrer kleineren Noten endlich braucht die Bank jährlich die artige Kleinigkeit von 750,000 Sovereigns!

Was die Notenzahl angeht, zu deren Ausgabe die Bank autorisirt ist, so wurde dieselbe definitiv geregelt durch die von Sir Robert Peel im Jahre 1844 eingeführte Acte, welche festsetzte, daß die Bank Noten zum Werthe von elf Millionen Pfund Sterling ausgeben dürfe auf den Credit der gleichnamigen ihr von der Regierung geschuldeten Summe, Noten zu drei Millionen Pfund Sterling Werth auf den Credit von Schatzobligationen zu demselben Werth und darüber hinaus nie mehr als nach Maß des an Gold und Silber in den Koffern ihrer Schatzkammer befindlichen realen Geldwerthes. In wie hohem Grade diese Verordnung den Credit der Bank befestigt und erweitert hat, bedarf keiner Auseinandersetzung. In der That scheint damit die letzte Gefahr beseitigt, die Bank von England durch einen jener panischen Schrecken bedroht zu sehen, welche die Handelswelt von Zeit zu Zeit erschüttern, und im Strudel der Zeit, in der wir leben, mag es nicht leicht ein anderes Institut geben, das auf so breiten, unerschütterlichen Fundamenten ruht wie die Bank von England. Indeß beginnt sich neuerdings in der englischen Geschäftswelt eine Agitation eben gegen diese Peel’sche Bankacte zu regen, welche die geschäftliche Bewegung des Instituts gewissermaßen paralysire und damit der mercantilen Entwickelung Englands ungerechtfertigt Schranken setze. Es ist hier natürlich nicht der Ort, über diese schwierige finanzielle und volkswirthschaftliche Frage zu entscheiden; wir haben sie der Vollständigkeit halber einfach constatiren wollen.




Erinnerungen an meinen Bruder Heinrich Heine.

Von Maximilian Heine.
II.

Allen, die in den zwanziger Jahren in Göttingen studirt haben, dürfte es wohl noch in Erinnerung sein, daß die ein Stündchen von Göttingen belegene anständige Kneipe, „die Landwehr“ genannt, von vielen Studenten besucht wurde.

Ganz besonders mag den ehemaligen Burschen das schöne Schenkmädchen, „Lottchen von der Landwehr“ geheißen, in Erinnerung geblieben sein. Dieses Mädchen war eine reizende Erscheinung. Höchst anständig, gleich freundlich gegen alle Gäste, bediente sie Alle mit wunderbarer Schnelligkeit und graciöser Behendigkeit. Sehr oft besuchte Heinrich Heine in Begleitung seiner Freunde aus der Landsmannschaft der Westphalia diese Schenke, um daselbst zu Abend zu essen, gewöhnlich „eine Taube“ oder eine „Viertel Ente mit Apfelcompot“. Das Mädchen gefiel auch Heinrich sehr; er liebte mit ihr zu scherzen, wozu sie übrigens weder Veranlassung noch Erlaubniß gab, ja einstens umfaßte er sie, um sie zu küssen.

Da hätte man das beleidigte Mädchen sehen müssen; vor Zorn ganz roth stellte sie sich vor Heine hin und hielt eine so würdevolle Ansprache, kanzelte ihn dermaßen moralisch herunter, daß nicht blos er, sondern auch alle übrigen Studenten, die anfangs dieser Scene recht fidel mit zugesehen hatten, ganz verlegen und kleinlaut davonschlichen.

Heine blieb längere Zeit von der Landwehr weg und erzählte allenthalben, wie ein junges, seiner weiblichen Würde bewußtes Mädchen allezeit den kräftigsten Schutz gegen jede Frivolität in sich selbst berge. Nach einem Monat zog es ihn jedoch wieder nach der Landwehr mit der eitlen Absicht, das hübsche Mädchen völlig zu ignoriren. Wie war er aber erstaunt, als er in die Schenke trat! das Mädchen kam heiter lächelnd ihm entgegen, gab ihm die Hand und sagte ganz unbefangen: „Mit Ihnen ist etwas ganz Anderes als mit den übrigen Herren Studiosen, Sie sind ja schon so berühmt wie unsere Professoren; ich habe Ihre Gedichte gelesen, ach, wie herzlich schön! Und das Gedicht vom ‚Kirchhof‘ weiß ich fast auswendig; und jetzt, Herr Heine, können Sie mich küssen in Gegenwart von allen diesen Herren. Seien Sie aber auch recht fleißig und schreiben Sie noch mehr so schöne Gedichte.“

Als mein Bruder mir später, fast gegen Ende seines Lebens, diese Geschichte erzählte, sagte er wehmüthig: „Dies kleine Honorar hat mir mehr reine Freude verursacht, als späterhin alle die blinkenden Goldstücke von Herren Hoffmann und Campe.“

Lottchen wurde später recht glücklich verheirathet und bekam viele Söhne, deren ältester zur Erinnerung an den berühmten Dichter Heinrich genannt wurde.




Es ist leicht denkbar, daß die Mutter oft ihre Noth hatte mit der Sturm- und Drangperiode ihrer drei Söhne. Sie hatte viel zu schlichten, aber noch mehr zu bezahlen. Der Geldbeutel Heinrich Heine’s war von jeher ein Danaidenfaß. Ueber das Maß freigebig, für Freunde sich aufopfernd, und echt philanthropisch gesinnt, hatte er es bei sehr großen Einkünften nie zu ordentlicher Finanzwirthschaft gebracht; wohl verstand er sehr gut zu berechnen, was er einnahm, – was er aber ausgab, vergaß er vollständig.

Die Mutter, eben so praktisch wie klug, rechnete auch ganz vortrefflich, kam aber einmal bei ihrem genialen Sohn sehr zu kurz.

Während Heinrich die Universität Göttingen besuchte, war die Einrichtung getroffen, daß ihm alle drei Monate eine Geldanweisung zugeschickt wurde, die er bei einem dortigen Kaufmann in Baarem einlösen konnte. Nun verstand es Heinrich durch allmähliche Vorausnahme und sonstige Confusion erregende Correspondenzen dahin zu bringen, daß er einmal in einem Jahre fünf Quartal-Geldanweisungen erhielt, was die Mutter erst nach mehr als einem Jahre bemerkt hatte. Sie war nicht wenig piquirt, daß sie, die gute Rechnerin, von ihrem Sohne, dem schlechten Finanzmanne, so sehr übervortheilt worden war. Sie ließ es still hingehen, doch jedesmal später, wenn der geniale Sohn ihr etwas Problematisches für positiv ausgeben wollte, sagte sie ganz ruhig: „Lieber Sohn, nicht jedes Jahr hat fünf Vierteljahre,“ und damit wurde der Gegenstand abgebrochen.




Folgende sehr heitere Scene mit meinem Bruder bleibt mir unvergeßlich. An einem schönen Tage machten wir in einer leichten offenen Kalesche einen Ausflug von Göttingen nach dem einige Meilen entfernten preußischen Städtchen Heiligenstadt. Ein anmuthiger Chausseeweg führt dahin. Wir plauderten viel; Heinrich hatte eben erst seine Promotion als Doctor beider Rechte überstanden. Wir moquirten uns über die lächerliche Titelsucht und Heinrich rief: „Wer mich Doctor Juris schimpft, dem mache ich einen Injurienproceß, in welchem ich mit Hülfe der zehn römischen Tafeln selbst plaidiren werde, oder prügele ihn so lange durch, bis er auch den Doctor der Medicin ruft.“

Mittlerweile waren wir an die Grenze des preußischen Staates gelangt, wo an dem schwarz-weißen Schlagbaume ein martialisches „Halt!“ gerufen wurde und ein Originalstück von Gamaschenfeldwebel mit purpurrother Nase zu uns herantrat. Er richtete an meinen Bruder folgende Fragen:

„Vorname?“

Antwort: „Heinrich.“

„Zuname?“

Antwort: „Heine.“

[250] „Titel?“

Antwort: „Liegt schon im Namen.“

Nachdem der Feldwebel dies in Hieroglyphen auf einer Schiefertafel protokollirt hatte, begann er abermals zu fragen:

„Und der andere Herr? Vorname?“

Antwort: „Maximilian.“

„Zuname?“

Antwort: „Bruder.“

„Titel?“

Antwort: „Haupthahn zu Mariahüpp.“

Da ich gerade am letzten Sonntage zu Mariaspring (einem lieblichen Tanzort in der Nähe von Göttingen und von den Studenten Mariahüpp genannt) sehr viel herumgetanzt hatte, so sollte der Haupthahn so viel als ein Haupttänzer heißen. Auch Obiges wurde von dem Grenzfeldwebel gewissenhaft notirt, dann kam die Frage:

„Nichts Zollbares?“

Antwort: „Nichts, außer Gedanken und Schulden.“

Wieder eine Frage:

„Absicht der Reise nach Heiligenstadt?“

Antwort; „Um katholisch zu werden.“

Bekanntlich ist das in diesem Winkel gelegene Heiligenstadt eine strengkatholische Stadt.

Der Preuße machte ein gar ernstes Gesicht, schüttelte mit dem Kopfe und schloß mit der Frage:

„Kehren die Herren zurück?“

Antwort: „Ja, in der Nacht als Bischöfe.“

So wurde damals bei den Studenten nach den bekannten Getränken Jeder benannt, der vom „Bischof“ schon zu viel und von dem „Cardinal“ noch zu wenig hatte.


Auf einer Reise von Berlin nach Hamburg begleitete ich meinen Bruder. Wir fuhren mit einem Lohnkutscher und konnten demnach unsere Reisestationen nach Willkür eintheilen. Am zweiten Reisetage gegen Mittag fühlte sich mein Bruder sehr unwohl; wir beschlossen sofort in der nächsten kleinen Stadt Halt zu machen und zu nächtigen. „Lieber Max,“ sagte mein Bruder zu nur, „ich fühle mich sehr aufgeregt, verschreibe mir etwas.“

Ich erfüllte sofort seinen Wunsch und verschrieb eine beruhigende Arznei, die ich mit Mandelsyrup versetzen ließ. Die Medicin sah demnach ganz weiß aus.

Als Heinrich den ersten Löffel eingoß, sagte er: „Zu Dir habe ich volles Vertrauen; ich sehe, Du bist kein Brownianer“.

Zur näheren Erklärung diene, daß mein Bruder oft braun aussehende Mixturen eingenommen hatte, die ihm sehr zuwider waren.

Bekanntlich war John Brown der Gründer des nach seinem Namen benannten Brownianismus, eines Systems, das, auf falsche Grundsätzen basirt, viel Unheil in der Arzneiwissenschaft angerichtet und leider vielen Menschen das Leben gekostet hat.


Zu den Bekannten Heinrich Heine’s in Hamburg gehörte auch ein junger Kaufmann, der vielerlei Geschäfte angefangen hatte und doch nie auf einen grünen Zweig kommen konnte. Endlich gerieth dieser Kaufmann auf die Idee einen „Oelhandel“ zu beginnen, nachdem so viele seiner commerciellen Unternehmungen bereits mißglückt waren.

Als Heinrich Heine dies gehört hatte, rief er seufzend aus: „Armer N., das ist Deine letzte Oelung!“ und richtig, die Prophezeiung ging alsbald in Erfüllung; der junge Kaufmann wurde auch in diesem seinem letzten Geschäfte banquerott, verließ den Handelsstand und schlug einen ihm mehr zusagenden Lebensweg ein. Derselbe ist jetzt angesehen und reich, hat aber von seinem letzten Geschäftszweige her einen solchen Widerwillen gegen das Oel behalten, daß er bis jetzt, wie man sagt, selbst den Salat ohne Oel ißt.


Heinrich Heine schrieb manches seiner herrlichen kleinen Gedichte in Lüneburg, in welcher Salinen-Stadt die Eltern zur Herstellung der Gesundheit des Vaters einen zeitweiligen ruhigen Aufenthalt genommen hatten. Zu diesen Gedichten gehören z. B. „Nacht lag auf meinen Augen“, „Ein Jüngling liebt ein Mädchen“, „Mein Herz, mein Herz ist traurig“, und die Stelle in dem Gedichte:

„Am alten grauen Thurme
Ein Schilderhäuschen steht,
Ein rothgeröckter Bursche
Dort auf und nieder geht.“

bezieht sich auf die damals noch rothuniformirten hannoverischen Soldaten. Die ganze Beschreibung in diesem Gedichte paßt genau auf die damalige Localität des Lüneburger Walles. Der junge Ruhm des nur erst einige zwanzig Jahre zählenden Dichters drang schon bis in die Schichten der höheren intelligenten Gesellschaft und man suchte seine Bekanntschaft. Der dortige Generalsuperintendent Christiani hatte einen Sohn Namens Rudolph Christiani, Doctor Juris, welcher beim Stadtmagistrate angestellt war. Dieser noch junge Mann war sehr schön, von großer Eleganz, liebenswürdigen Manieren, kenntnißreicher Aesthetiker und, was man damals so zu nennen beliebte, ein geschätzter Stadtpoet. Er suchte Heinrich gleich auf, schloß mit ihm innige Freundschaft und blieb immer sein poetischer Leibknappe. Beide verlebten täglich viele Stunden bei einander. Das mit den Worten beginnende Gedicht: „Diesen liebenswürdigen Jüngling“ bezieht sich ganz auf Doctor Christiani; es ist eine gereimte Photographie des Mannes, unvergleichlich wahr in den Worten:

„Zierlich sitzt ihm Rock und Höschen,
Doch noch zierlicher die Binde,
Und so kommt er jeden Morgen,
Fragt, ob ich mich wohl befinde?“

Dieser Christiani ist derselbe, der, zum Deputirten in der hannoverschen Kammer gewählt, als gewandter Redner der Opposition den Ministern zu seiner Zeit schweren Verdruß gemacht hat. Deshalb nannte ihn auch Heine in einem anderen launigen Gedichte „den Mirabeau der Lüneburger Haide“.

Auf diese Weise wurde nun Doctor Christiani mit uns Allen bekannt und besuchte auch immer, so oft er nach Hamburg kam, unsere dort verheirathete Schwester Charlotte. Ich will hier beiläufig erwähnen, daß diese von uns innig geliebte, höchst liebenswürdige, seelen- und geistvolle Schwester, die Jugendgespielin Heinrich’s, großen Einfluß auf das poetische Gemüth des Knaben gehabt hat, was auch an vielen Stellen im „Buche der Lieder“ seinen entschiedenen Reflex gefunden. Ebenso wörtlich wahr wie plastisch schön ist das ganze Gedicht, das mit den Worten anfängt:

Mein Kind, wir waren Kinder,
Zwei Kindlein, klein und froh;
Wir krochen in’s Hühnerhäuschen,
Versteckten uns unter das Stroh.“

Wer das „Buch der Lieder“ gerade zur Hand hat, möge das Ganze nachlesen, und es wird ihm das volle, treue Bild zweier so interessanter Kinder, wie Heinrich und sein Schwesterchen, recht lebendig vor sein geistiges Auge treten. Unsere Schwester, so begabt und intelligent sie auch war, theilte das Loos aller Töchter Eva’s, die Lust Heirathen zu stiften, und so sprach sie denn von einer unserer Cousinen, die sich zum Besuche im Hause des reichen Onkels befand, so lange, bis der Doctor Christiani warm wurde, das niedliche junge Mädchen, das auch Charlotte hieß, in unserer Familie kennen lernte und seine entschiedene Neigung zur Heirath aussprach. Meine Schwester beeilte sich, bei dem alten Onkel, von dem sie eine reiche Mitgift für die Nichte voraussetzte, ein dahinzielendes Wort fallen zu lassen, das aber für den ersten Augenblick ignorirt wurde. Schon glaubte meine Schwester die Sache für immer beseitigt, im Herzen selbst darüber nicht unzufrieden, weil sie fürchtete, indiscret und nicht diplomatisch genug verfahren zu sein. Da trat nach einiger Zeit, an einem Sonntag Morgen (dieser geschäftsfreie Morgen wurde vom Onkel immer den angenehmen und unangenehmen Familienangelegenheiten besonders gewidmet) der alte Onkel plötzlich und unangemeldet in das Boudoir meiner Schwester: „Guten Morgen, Lottchen! gieb mir einmal einen Bogen Papier, einen Bleistift und wiederhole mir ganz wörtlich, was Du mir über Doctor Christiani gesagt hast.“ Meine Schwester, die des alten Onkels lakonisches Verfahren zu gut kannte, war nicht wenig erschrocken, da sie wohl wußte, daß man hier nicht zu wenig sagen und in dem, was man sagte, auch nicht ein Haar breit von der absolutesten Wahrheit abweichen durfte. Welch’ eine schwere Aufgabe für eine Hochzeitsstifterin, die pflichtgemäß ihren Candidaten auf das Vortheilhafteste herausstreichen soll!

Nun gingen die Fragen los über Alles, Lebensweise, Tugenden, [251] Vermögensverhältnisse und sonstige Fähigkeiten des designirten Bräutigams, was Alles vom Onkel, wie von einem Instructionsrichter, zu Papier genommen wurde. Meine Schwester hielt das Kreuzfeuer der Fragen mit großer Vorsicht aus; die Partie kam zu Stande, der Onkel gab achtzigtausend Mark Banco der Nichte als Mitgift, der glänzende Polterabend, zu dem ich ein Festspiel mit Tanz geschrieben hatte, wurde von ihm arrangirt, die Hochzeit selbst (die Trauung wurde vom Vater Christiani’s, dem alten General-Superintendenten, vollzogen) in Ottensen (der schönen Villa des Onkels) gefeiert, und wir hatten eine Frau Doctor Christiani in unserer Familie.

Mein Bruder Heinrich, der damals schon in Paris wohnte, schrieb in Folge dieser neuen Verwandtschaft an Doctor Christiani einen ungemein heiteren Brief, der so anfing: „Wir können uns jetzt wie die Könige mon Cousin anreden,“ etc. Da, wo Heinrich von Christiani’s künftigem Onkel, dem Löwen der Familie, spricht, schreibt er ihm: „Fürchte Dich nur nicht gleich, wenn er brüllt, ist er doch sonst gut und edel, am umgänglichsten aber in der Fütterungsstunde.“

Dieser so höchst originelle Brief hatte Abschriften gefunden und sollte den Feinden und Widersachern des Dichters – und zu diesen gehörten ganz besonders Dr. Riesser in Hamburg, die Schwiegersöhne des Onkels, Halle und Oppenheimer – zur Angriffswaffe dienen, als Onkel und Neffe einstmals wieder in momentanen Conflict gerathen waren. Aber der gute Onkel nahm die Sache von der heitersten Seite und unterschrieb einst einen in bester Laune abgefaßten Brief an mich mit den Worten: „Dein Dich liebender Onkel vor der Fütterungsstunde.“




Alpenbilder.
3. Die Wildheuer.


Welch’ ein Unterschied zwischen flachem Land und Gebirge, welch’ ein so ganz anderes Leben in der Ebene, als auf den Rücken der Berge! Der Bewohner des platten Landes, sei der Boden auch noch so kümmerlich, hat eine feste Grundlage unter sich, auf die er sich verlassen kann, die Geschlechter und Jahrhunderte hindurch dasselbe beständige Antlitz trägt; wer auf den Höhen haust, dem wandelt sich so zu sagen der Grund unter den Füßen; er ist keinen Abend sicher, ob sein erwachendes Auge nicht ganz andere Bilder zu schauen bekommt, als von denen das entschlafende Abschied genommen. Die Beständigkeit ist eintönig; was man Schönheit nennt, kühne Abwechselung, immer neuer Reiz, ist daher in der Ebene nicht heimisch, in den Bergen hat sie ihren Thron aufgeschlagen, aber diese Farbenpracht und dieser Bilderreichthum sind um den Preis der Sicherheit erkauft. Ist es doch eine alte Regel, Abwechselung brütet Abenteuer, und was wäre ein Abenteuer ohne Gefahr? Glücklicherweise ist dem Menschen ein Geselle beigegeben, der in all’ die Wohnplätze, in die er sich zerstreut, ihm unzertrennlich folgt, ihn überall heimisch macht und nicht abläßt, bis ihm sogar der abgelegenste Winkel schön vorkommt, wenn dieser nur seine Hütte trägt, bis er in seinen Armen sorglos schläft und sähe die furchtbarste Gefahr auch zu allen Fenstern herein.

Der gute Geselle ist die Gewohnheit.

Wenn die Gewohnheit nicht wäre, würde der Bauer oder Hirt wohl in den rauhen und wilden Thälern Tirols, in Patznaun oder Galtür aushalten und hausen, oder gar im schaurigen Oetzthal, in dem winterlichen Gurgl oder dem noch einsameren Rofen, wo kein Baum mehr wächst und die Gletscher die angenehm kühle Nachbarschaft bilden? Wenn die Gewohnheit nicht wäre, würde der Bauer sein Haus in die Thalsohle stellen neben den kleinen Bergbach, der sich in dem ausgetrockneten Rinnsal fast verliert, der aber nach einem Gewitter wie ein wüthender Strom daherkommt, Haus und Garten mitnimmt und den Platz, wo sie gestanden, unter Geröll und Gestein vergräbt? Die Gewohnheit macht damit vertraut, daß im Winter, gelockert durch einen Schrei, einen Schuß oder den Fall eines kleinen Steines, die Schneelahn abgeht, Alles, was ihr im Wege steht, Wald und Fels, Haus und Dorf vor sich hinfegt, zermalmt und verschüttet, oder daß im Sommer, durch Quellen unterspült oder von einem leichten Erdstoß gerüttelt, ein Stück Berg mit Allem, was auf der seit Jahrhunderten angehäuften Erdschicht steht, zu rutschen beginnt, oder daß eine Murre (Moräne) niedergeht und das schönste angebaute Land, Gärten, Straßen und Weinberg in wenigen Augenblicken so vollends zerstört, daß man ihre Stelle wiederzufinden Mühe hat. Der Bewohner steht wohl in den ersten Augenblicken vernichtet da, er geht in den ersten Tagen herum wie ein Verzweifelter, dann aber legt er Hand an, er räumt die Steine weg, sondert Schlamm und Erde sorglich davon ab und wenn der Boden wieder frei gemacht ist, füllt er die Löcher mit den Steinen aus, breitet den herbeigeschwemmten Schlamm darüber und die Gewohnheit stärkt ihm die Hand bei dieser mühseligen Arbeit, die „Umwenden“ genannt wird; Warum soll er nicht einmal im Großen thun, was er im Kleinen oft thun muß, wenn der Regen von den Rebenterrassen oder den kleinen Felsäckern das gute Erdreich niederschwemmt, das dann unten zusammen gelesen und in „Kraxen“ auf dem Rücken wieder hinauf getragen wird! Das Bild von den Wildheuern gemahnt auch an ein Stück solcher Gewohnheit, und darum will ich davon berichten.

Ich war als Student nach Tirol gewandert, ich wollte auch diese großartige Natur schauen, das Maß meiner naturwissenschaftlichen Kenntnisse daran erproben und Stoffe sammeln zu Arbeiten, die mir noch unklar vorschwebten, um sich erst später zu Geschichten und Lebensbildern zu krystallisiren. Die Ferner lockten mich vor Allem und so war ich dem Oetzthal zugewandert, das gleichsam den Kern und Mittelpunkt der ganzen Tiroler Eiswelt bildet. Ich war Morgens von Sölden aufgebrochen und hatte gehofft, vor Abend noch das einsame Gurgl zu erreichen, aber die Wanderung durch die nach Zwieselstein führende Enge, die wildeste des ganzen Thales, ging nur langsam von statten, denn jeder Schritt bot so viel des Ueberraschenden und Wunderbaren, daß man immer wieder und wieder gezwungen ward, stehen zu bleiben und sich die furchtbare Herrlichkeit zu übersehen. Es giebt vielleicht in Europa keinen Bergweg, der mit diesem verglichen werden kann. Die tobende Ach schäumt in einem thurmtiefen Abgrunde dahin, darüber steigt die Wand ebenso hoch hinauf und es ist manchmal geradezu unbegreiflich, wie man nur noch Raum gefunden hat, den schmalen Steig anzubringen. Stellenweise hört er auch völlig auf und wird durch Brücken ersetzt, einzelne Bäume, denen irgend ein Felsenspalt oder wohl gar der schwankende Wipfel eines Lärchbaums zur Stütze dient. Der Weg wurde um so bedenklicher, als es schon zu dunkeln begann, und als endlich die Tiefe des Tobels, in dem man wieder hinab muß, erreicht war, begrüßte ich die erste der zerstreut liegenden Hütten von Zwieselstein mit einem Vergnügen, wie kaum das beste Hotel einer großen Stadt.

Es war unnöthig, anzupochen, denn die Thür des Hauses stand offen; es ging lebhaft darinnen her und Jung und Alt schien hin- und hergehend mit allerlei Vorbereitungen beschäftigt, hinter dem Hause aber sprangen und wälzten sich jubelnde Kinder, zum Beweise, daß es etwas Fröhliches war, wozu man rüstete. Dennoch stand die Art, wie man mich empfing, damit im Widerspruch, und der Mann, den ich um ein Obdach für die Nacht ansprach, nahm den kurzen Pfeifenstummel aus dem Munde und betrachtete mich bedenklich von oben bis unten wie einen unwillkommenen Störenfried. Er hieß mich noch ein halbes Stündchen weitergehen, dort würde ich ein größeres Haus treffen, das sei besser für Gäste eingerichtet, und als ich meine Müdigkeit erwähnte, versicherte er, daß ich bei ihm sehr schlecht angekommen sei, er könne mir nur eine ganz schlechte Liegerstatt bieten und diese nur auf ein paar Stunden. „Und zu essen giebt’s gar nichts mehr,“ sagte er, „als ein Stückl Brod … wir sind schon völlig zusamm’gericht’ und haben ein’packt, denn wie nur ein Fleckl grau wird am Firmament, so ziehn wir fort und geh’n in’s Wildheu.“ Ich war auch mit der wenigen Rast zufrieden, zumal da ich erfuhr, daß der Zug in der Richtung gehe, die ich einzuschlagen vorhatte und wobei der Bauer also mir zum Führer dienen konnte. So blieb ich denn und ließ mir erzählen, was es mit dem Wildheuen für eine Bewandtniß habe. Die Unternehmung galt einem jener großen und besonders grasreichen Wiesenplätze, welche auf den höchsten Bergkuppen vorkommen und wohin das Vieh wegen der Steile des Weges oder wegen seiner besondern Gefährlichkeit nicht gebracht

[252]

Tiroler Wildheuerinnen.

werden kann. Wenn nun die Zeit kommt, wo die eigentliche Thalarbeit zu Ende ist und die Hafer- oder Flachsernte, wo eine solche reift, noch nicht beginnen kann, – meist nach Himmelfahrt – da wandert der Bauer, der eine solche „Bergmahd“ besitzt, mit Hab und Gut, mit Kind und Kegel aus, schließt das Haus ganz und gar oder läßt einen Alten als Hüter zurück, der nicht mehr „kraxeln“ kann; Alles zieht auf die Bergmahd, und das ist im Leben dieser Bergbewohner dasselbe, was andere Leute ihre Sommerfrische, ihren Landaufenthalt, ihre Badreise oder ihren Urlaub nennen: es ist die lustige, die schönste Zeit des ganzen Jahres, ein Stück freien, ungebundenen Nomadenlebens, das mich schon in der kurzen Andeutung meines wortkargen Gastfreundes anzog. Ich blieb also, schlief einige Stunden, trotz des harten Moossackes, recht erquicklich und stieg im ersten Morgenschein mit der ganzen fröhlichen Hausgenossenschaft in’s „Wildheu“ hinan. Ich habe den Namen des Bergriesen vergessen, den wir erklommen, und war nicht wenig über den üppigen Reichthum an duftenden Alpenkräutern und Gräsern erstaunt, als die Bergmahd endlich erreicht war, ein zwischen himmelstürmenden, glatten Wänden wie in einem Kessel eingeschlossener, sehr großer Anger, zu welchem der Zugang sogar für die Ziege beschwerlich war, die bei dem Zuge nicht fehlen durfte. Sie mußte für die Dauer des Aufenthalts [253] die Milch liefern. Alles Andere, dessen man bedurfte, war in Rucksäcken verpackt und Jedes hatte sich ein Stück Hausrath aufgeladen, von Dreifuß, Beil und Pfanne bis zu Schwegel und Cither.

Eine aus übereinandergelegten Steinplatten gefügte Hütte ohne jegliche Unterabtheilung war zu Aufnahme des Heus und zur Familienwohnung bestimmt; den Tag über war Alles, was dazu Kraft besaß, eifrig überm Mähen, Wenden und „Schochern“ des Heus; Abends wurde dasselbe zu großen Bürden in Tücher zusammengebunden in die Hütte gebracht und diente nun als das allgemeine Lager. Zuvor oder zur Bereitung des Mittagsmahls wurde Feuer auf dem Boden angemacht; eine davor aufgestellte Felsplatte diente als Pfannenstütze und so kam das Schmalzmus zu Stande oder eine Art Kuchen, der immer kurze Zeit auf einer Seite gebacken, dann aber gewendet wird; dies Wenden ist ein Kunst- und Probestück der Köchin, denn es geschieht blos durch Schütteln, indem der Kuchen in der Pfanne in die Höhe geschnellt, auf diese Weise gedreht und kunstgerecht mit der Pfanne wieder aufgefangen wird. Der Abend bildet ein kleines häusliches Fest, dem zwar aller Comfort fehlt, das aber die Hauptsache in Ueberfluß hat, das Gepräge wahrer Heiterkeit. Alles lagert und kauert um das Feuer, so gut es geht; man plaudert, erzählt, singt und spielt Cither und ist vollends guter Dinge, wenn die Bergmahd so gelegen ist, daß von einer andern die Besucher nachbarlich in „Heimgart“ kommen können. So währt es ein paar Wochen, bis die Mahd abgeerntet ist; dann geht es wieder heim und die Höhe bleibt einsam bis zum Winter, wo der Schnee, der anderwärts die Bahn verdirbt, den Berg so wegsam gemacht hat, daß man mit Schneereifen und Schlitten hinauf kann, um den in der Hütte aufgespeicherten Futtervorrath zu holen und „abzufahren“, eine Schlittenfahrt, bei der dem nicht Gewöhnten wohl Hören und Sehen vergehen würde.

Ich hatte gedacht, meine neuen Freunde nur bis an ihr Ziel zu begleiten, dann wollte ich weiter und einen der nächsten Ferner besteigen, ich blieb aber volle drei Tage und der Bauer führte mich, so oft er abkommen konnte, auf irgend eine Platte, wo sich eine besondere Fernsicht auf die Häupter der umliegenden Berge bot, auf den Wildspitz, den Ramol oder Similaun, oder wo der Ueberblick eines Gletschers sich aufthat oder das Aneinanderstoßen des Fender-, Gurgler- und Timbler-Thals, die wie Strahlen in einen Heerd zusammenlaufen. Bei einer solchen Wanderung blieb mein Auge an einer Bergwand hangen, die in einiger Entfernung noch in furchtbarer Schroffheit anscheinend senkrecht über unserem Standpunkt emporstieg. Einzelne dunkle Flecken daran waren nicht genau zu unterscheiden und … irrte ich denn oder täuschte mich mein sonst jagdgeschärftes Auge? Nein, wahrhaftig, an der Wand regte sich etwas, es mochte ein Adler sein, der dort seinen Horst hatte. Ich fragte meinen Führer und deutete dahin.

„Nein,“ sagte er lachend, „das sind keine Adler, Herr, das sind erst die rechten Wildheuer, arme Leut’, die, weil sie keine Weidenschaft und keine Mahden haben, überall hinauf kraxeln, wo noch ein Grasfleckl ist, und es abmähen. Dort an der Wand sind woltern viel Vorsprüng’ in den Steinfelsen, da kann höchstens eine Gams hin; drum setzen sich die Wildheuer auf einen Prügel und lassen sich dann an einem Seil hinunter, bis so ein Fleckl abgemäht ist!“

Mich schauderte und die Verse aus Schiller’s Tell kamen mir zu Sinn, wo Armgard den Landvogt Geßler um die Befreiung ihres Mannes bestürmt und auf seine Frage nach ihm antwortet:

     … Ein armer
Wildheuer, guter Herr, vom Rigiberge,
Der über’m Abgrund weg das freie Gras
Abmähet von den schroffen Felsenwänden,
Wohin das Vieh sich nicht getraut zu steigen.

Der Harras aber sagt darauf:

Bei Gott, ein elend und erbärmlich Leben!
Ich bitt’ Euch, gebt ihn los, den armen Mann!
Was er auch Schweres mag verschuldet haben,
Strafe genug ist sein entsetzlich Handwerk!

Ich scheute mich nicht, dem Schauder und Staunen über solch’ ein Geschäft Ausdruck zu geben. Der Bauer fand darin nichts so sehr Befremdliches. „Es ist halt, wie man’s g’wohnt ischt,“ sagte er lächelnd, „kommoder ischt’s wohl, wenn man’s nitte nothwendig hat, aber wenn sie Obacht geben, daß das Seil nitte reißt und daß sie sich nitte an ein’ Steinl’ anschlagen, so ischt’s nitte so viel g’fährlich. Freilich“, schloß er achselzuckend und dampfte stärker, „diemalen kommt Eins nimmer heim von die Wildheuer und derstürzt und derschippt sich wohl … dem wird’s wohl so aufg’setzt sein und unser Herrgott ischt ja überall!“

Tags darauf gab er mir, weil er, um daheim nachzusehen, zu Thal ging, das Geleit bis an eine Stelle, wo ich hoffen konnte, den Saumpfad über das Timblerjoch zu finden, der in wenig Stunden sicher in’s Passeier hinüberführt. Der Weg, der mir als völlig gefahrlos geschildert worden, war immer noch abenteuerlich genug; er zog sich zwischen den Spitzen und Zacken einer Bergwand hin, die tief abfiel; als ich um eine Ecke vorbog, war er überdies durch eine eigenthümliche Gruppe versperrt.

Eine sonderbare Gestalt saß auf einem Stein an der Seite, eine schwere Heubürde in mächtigem Bündel auf dem Kopf; eine andere ähnliche stand vor ihr, die starken Füße in den schweren Schuhen mit den Steigeisen, die unförmlichen Beinkleider ließen auf Männer schließen, während Mieder und Kopfputz sie als Weiber kennzeichneten. Es war kein Zweifel, ich hatte ein paar Wildheuerinnen vor mir, ein paar starke Dirnen mit männlichen Zügen, zu denen die kurze Tabakspfeife vollkommen paßte, aus der sie unablässig dampften. Das Gras in den Bürden, der Rechen und die kurzstieligen Sensen, Hacken genannt, womit das Gras an den Hängen abgeheimst wird, vollendeten das Bild.

Es ist begreiflich, wenn ich die Begegnung benützen wollte, einen Blick in ein so romantisches Leben und Treiben zu thun, dem doch nach der äußern Erscheinung alle Romantik so vollständig zu fehlen schien; ich wollte mindestens wissen, was die Mädels zu einem so schweren, gefährlichen Gewerbe trieb. Ich hatte Knaster bei mir und bot ihnen für ihre Pfeifen, das machte sie zutraulich und sie mieden es nicht, sich in ein Gespräch mit mir einzulassen. Es war nicht viel heraus zu holen aus den einfachen Gemüthern und ich wußte bald, wonach mich lüstete. Sie waren Schwestern und im Kaunserthal daheim, wo ihr Vater eine kleine Hütte hatte; der Vater aber war blind geworden und so war es „so viel hart“, daß der „Koaser“ den Bruder zum Militär genommen und nach Mantua geschickt hatte. Da hatten die Mädels sich vorgenommen, so viel zusammenzubringen, daß sie ihn die letzten Jahre seiner Dienstzeit loskaufen könnten, und waren „Wildheuerinnen“ geworden. Sie waren dabei gutes Muths und hofften gewiß, wenn das Heuen sich noch ein Jahr so günstig anlasse, „wie heuer und ferten“ (im vorigen Jahr), so werde das Jockele frei, die Arbeit aber scheuten und fürchteten sie nicht, denn, sagten sie: „Es ischt gar so viel schien (schön) auf den Bergnen.“

Wir schieden als die besten Freunde.

Ein paar Jahre später führte mich ein neuer Ausflug in’s Kaunserthal und erinnerte mich an meine Begegnung mit den Wildheuerinnen. Es reizte mich zu erfahren, ob sie das Ziel ihrer Beharrlichkeit erreicht hatten oder etwa auch „nimmer heim’ kommen waren“, wie der Zwieselsteiner sich ausgedrückt hatte. Das war nun zwar nicht der Fall, aber die schwere Mühe war doch umsonst gewesen; ehe die nöthige Summe beisammen war, war das Jockele zu Mantua gestorben, an der dortigen Sumpfluft oder am Heimweh, der süßesten aller Gewohnheiten.
N. D.




Bismarck an Uhden.
Kleine Skizze aus großer Zeit.
Von E. Dohm.
III.


Da, wie unser Gewährsmann versichert, die im letzten Abschnitte unserer Skizze mitgetheilten Briefe noch gegenwärtig im königlichen Cabinetsarchive zu Berlin aufbewahrt werden, so ist fast mit Sicherheit anzunehmen, daß sie niemals an ihre Adresse gelangt sind. Eine kaum geringere Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß das „betrübte Frauentzimmer“ das Ausbleiben [254] aller Nachrichten über ihren ‚Infortuné‘ „mit der Ruhe der Philosophie und der Ergebung der Christin zu ertragen wußte.“ Wenigstens wurde „my dearest Babby“ durch den Gram über den verlorenen Geliebten in keiner Weise gehindert, vor dem entzückten Berlin alle Reize ihrer Kunst siegreich zu entfalten, von Triumph zu Triumph zu eilen und den König immer fester mit dem Zauber ihrer Schönheit zu umstricken.

Da sie namentlich den dritten und wichtigsten jener Briefe niemals erhalten, so ist sie einigermaßen zu entschuldigen, wenn sie den in demselben ihr ertheilten Verhaltungsregeln nicht gerade allzupünktlich nachgekommen ist. Ob die „liebe kleine Pitti“ den über die Behandlung ihr etwa zugehender Liebesbriefe ihr ertheilten Rath genau befolgt hat, ist uns nicht bekannt. Was wir aber bestimmt wissen, ist, daß „my lovely sweet Molly“ die „feste Regel, mit Niemandem, er sei, wer er wolle, außer dem Hause zu speisen“, sowie die, „nie auch nur einen Augenblick mit einem Mann allein zu bleiben“, auf das Allergewissenhafteste – gebrochen hat. Es ist unwiderleglich bekundet, daß der König nicht nur wiederholentlich sie zu kleinen Diners und Soupers unter vier Augen zu sich kommen ließ, sondern auch, wenn er bei diesem oder jenem seiner Generale speiste, ausdrücklich befahl, die Barbarina mit dazu einzuladen.

Auch scheint „ma charmante Babbily“ den Versuchen, sie in Berlin festzuhalten, nicht mit allzu festem Entschluß entgegengetreten zu sein. Wenigstens ist es urkundlich festgestellt, daß sie nach Ablauf ihres ersten Contracts, zu dessen Erfüllung man sich sogar dem Senate der Republik Venedig verpflichtet hatte, am 1. März 1745 freiwillig einen neuen Vertrag auf drei Jahre abschloß, durch welchen ihr unter der Bedingung, daß sie während der Dauer desselben sich nicht verheirathen dürfe, ein Jahresgehalt von siebentausend Thalern und ein jährlicher Urlaub von fünf Monaten zugesichert wurde, Bedingungen, welche, mit dem Maßstabe jener Zeit gemessen, noch großartiger als gegenüber unseren heutigen Verhältnissen erscheinen müssen und deren Bewilligung mindestens ebenso sehr der schönen und geistreichen Frau wie der ausgezeichneten Künstlerin gegolten haben dürfte.

Während der Dauer dieses ihres dreijährigen Vertrages blieb die Barbarina unbeschränkte Beherrscherin des Ballets. Von nicht ganz so langer Dauer war die Herrschaft, die sie über das Herz des Königs auszuüben verstand. Die höchste Blüthe derselben fällt in das Jahr 1746, in welchem sie, wie einige allerdings nicht ganz verbürgte Angaben bekunden, den Monarchen auf einer Badereise nach Pyrmont begleiten durfte.

Wodurch sie von dem Gipfel der königlichen Gunst allmählich wieder hinabglitt; ob der König an ihren Reizen gesättigt, ob ihr Betragen geeignet war, seine Zuneigung zu vermindern, wissen wir nicht. Nur soviel steht fest, daß es sich nicht um einen jähen Sturz, sondern, wie angedeutet, nur um ein allmähliches Herabsteigen auf der Leiter der königlichen Gnade handelt, deren unterste Staffel sie klugerweise erst nach Ablauf ihres Contracts betreten zu haben scheint. Wenigstens ist das erste authentische Document, welches uns den Verlust dieser Gnade bekundet, erst vom 8. Juni 1748, also etwa drei Monate nach dem Ende ihres Engagements datirt. Dieses Document ist ein von dem Directeur des Spectacles, Baron Suerts, an den König in französischer Sprache erstatteter Bericht, in welchem es heißt: „Ew. Majestät haben unter dem 22. v. M. (Mai) befohlen, daß von dem Gehalt der Barbarina diejenige Summe zurückbehalten werden solle, welche sie den Schwestern Vincent schuldet. Ich habe nach diesem Befehle gehandelt und denselben der Cassenverwaltung mitgetheilt; da sie aber bereits ihren Abschied, also auch nichts mehr zu fordern, da sie ferner erklärt hat, bald abreisen zu wollen, so bitten die Geschwister Vincent dringend darum, daß man sie vor Erledigung ihrer Schuld nicht abreisen lasse. Unter diesen Umständen habe ich mich an Herrn von Kircheysen (den Polizeipräsidenten) mit dem Ersuchen gewandt, Ew. Majestät Befehl auszuführen und sie vor ihrem Austritt aus Ew. Majestät Landen zur Bezahlung dieser sowie noch einiger anderer Schulden zu veranlassen. Ich halte mich verpflichtet, Ew. Majestät darüber zu berichten und Ihre weiteren Befehle abzuwarten“ etc. etc.

Der König decretirte am Rande dieses Berichts: „Muß dafür sorgen, daß die Leuthe bezahlet werden, seine Sache – oder muß sie arretiren lassen.“

An diesen Bericht schließt sich folgender vom 11. Juni datirter Rapport des Polizeipräsidenten von Kircheysen an den König:

          „Allerdurchlauchtigster etc.

Der Baron v. Swerts hat gestern Abend mit Vorzeigung Ew. Maj. Allergnädigster Ordre von mir verlanget, die Barbarina, falls sie Mongoubert’s Forderung nicht bezahle, zu arretiren. Ich habe dieses befolget, und einen Polizey-Beamten ihr im Hause gelassen, auch ihr gesaget, daß mein Verfahren lediglich auf des B. v. Swerts requisition und auf das Ansuchen Mongoubert’s geschehe. Sie hat hierauf geantwortet, daß sie Niemanden allhier etwas schuldig sey. Wegen der Mongoubertschen Post wäre die Sache vor dem Cammergericht anhängig, das Geld alle baar deponirt, und nachdem sie den ihr deferirten Eyd abgeleget, hoffe sie täglich, von dieser Schuld durch eine Sentenz absolvirt zu werden, mithin habe der Mongoubert etwas an ihr nicht zu fordern. Ew. K. M. allerhöchste Befehle zu meinem Verhalten erbittend, erwarte ich in Submission“ etc. etc.

Noch an demselben Tage erstattete auch der Baron von Suerts einen Bericht an den König, in welchem er das von dem Polizeipräsidenten Gesagte bestätigt, von einem auch in Sachen der Geschwister Vincent „leichtfertig abgelegten“ Eide der Barbarina spricht und schließlich erklärt: „Da sie aber doch möglicher Weise (vom Kammergericht) freigesprochen werden könnte, Ew. Majestät hingegen befohlen haben, sie zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen anzuhalten: so scheint es mir am gerathensten, den Augenblick abzuwarten, wo ihre Ungeduld sie bestimmen wird, lieber zu bezahlen als ihren Hausarrest noch länger aufrecht erhalten zu sehen.“

Diese Documente sind sprechende Beweise für die entschiedene Ungnade, in welche der ehemalige Liebling des Königs gefallen war.

Der auf den Rath des Barons von Suerts zu erharrende „Augenblick der Ungeduld“ ließ übrigens ziemlich lange auf sich warten. Fast einen ganzen Monat hindurch setzte die kleine Italienerin der Energie des großen Preußenkönigs einen Muth des passiven Widerstandes entgegen, der späterer aufgeklärterer Zeiten und einer besseren Sache würdig gewesen wäre. Vom 8. Juni bis zum 3. Juli duldete sie standhaft ihre häusliche Haft und die Gesellschaft eines Polizeibeamten, der aller Wahrscheinlichkeit nach das ihm von Vielen beneidete Glück, in ihrer entzückenden Nähe weilen zu dürfen, nicht seinem ganzen Umfange nach zu würdigen wußte. Endlich riß der Faden ihrer Geduld, und nachdem sie am 3. Juli allen ihren pecuniären Verpflichtungen nachgekommen war, verließ sie zwei Tage später den Schauplatz vierjähriger großer Triumphe und kleiner Leiden, um sich in Begleitung ihrer Schwester zunächst nach England zu begeben. –

War es Sehnsucht nach ihrem Lord, war es das Bewußtsein ihrer Verpflichtungen gegen den treuen Verehrer ihrer Reize, was sie nach England trieb? Haben die beiden Liebenden sich dort gefunden, und wie haben sie einander gefunden? Das sind Fragen, zu deren Erledigung wir, wie unsere heutigen Diplomaten jeder brennenden Frage gegenüber zu sagen pflegen, nicht genügend instruirt sind.

Wie aber eine spätere Geschichtsschreibung auf Grund bis jetzt noch unentdeckter Quellen diese Fragen auch beantworten mag: so viel ist sicher, die unauflöslichen „Bande der Liebe, der Freundschaft und der Ehre“, welche das leidenschaftliche junge Paar „viel zu fest aneinander ketteten“, als daß sie jemals getrennt werden konnten, wurden, ob in Wohlgefallen, ob in Haß, jedenfalls in Bälde gelöst. Denn schon nach wenigen Monaten, nämlich im Januar 1749, verließ die Barbarina den Boden des freien Albion und kehrte nach dem despotisch regierten Preußen zurück, um sich in das Joch weit bindenderer Verpflichtungen zu begeben, als die eines Engagements-Contracts mit dem königlichen Theater zu Berlin gewesen waren. Es war das Joch des heiligen Ehestandes, welches sie dem jungen Lord Stuart de Mackenzie gegenüber mit ziemlicher Leichtigkeit abgeschüttelt zu haben scheint, um es mit einem Anderen, welchen ein allgemein verbreitetes Gerücht in der Person des Geheimen Rathes von Cocceji gefunden haben wollte gemeinsam zu tragen.

Der Geheime Rath von Cocceji, der Sohn des Großkanzlers Samuel Freiherrn von Cocceji, des berühmten Verfassers des Allgemeinen Preußischen Landrechts, war ein Mann von großen körperlichen und geistigen Vorzügen, aber von einer ungezügelten Leidenschaft und in die Barbarina sterblich verliebt. Er hatte Gnade vor ihren Augen gefunden, und der Entschluß, sich mit einander zu vermählen, stand bei Beiden fest. War es zu verwundern, wenn die Eltern des geheimen Rathes, Beide Sprossen aus alten calvinistischen Patricierfamilien, Alles aufboten, um die Verbindung ihres Sohnes mit einer katholischen Theaterprinzessin zu verhindern?

Das erste Document, welches wir über diese Phase des reichbewegten Lebens der Barbarina besitzen, ist ein kurzes Schreiben [255] des Großkanzlers an den König. Dasselbe ist aus Cleve vom 4. Mai 1749 datirt. Es heißt in demselben:

„Ich bedaure von Herzen, daß mein Sohn durch eine unglückliche Passion sich zu neuen Ausschweifungen hat verleiten lassen. Ich werde alle Mühe anwenden, denselben durch vernünftige Vorstellungen aus dem Precipice, worinnen er sich zu werfen scheinet, zu retten. Wenn aber dieser Mensch zu weit gehen sollte, werde ich die Freiheit nehmen, bei Ew. K. Maj. Hülfe zu suchen.“

Die „neuen Ausschweifungen“ deren der Vater Erwähnung thut, gestatten einen Schluß auf „ältere Ausschweifungen“ des Herrn Sohnes. Ob der Gegenstand derselben auch schon die Barbarina gewesen, darüber weitere Untersuchungen anzustellen, fühlen wir uns hier nicht veranlaßt. Vielleicht beziehen sich jene Worte auf einen kleinen Exceß, dessen Gedächtniß, unserem Gewährsmann zufolge, durch mündliche Ueberlieferung in der Familie des ehemaligen Decorationsmalers Verona aufbewahrt worden ist. Nach diesen allerdings anderweitig nicht verbürgten Mittheilungen soll der Herr Geheime Rath von Cocceji sich so weit vergessen haben, bei einer Vorstellung, in welcher die Barbarina getanzt, auf die Bühne zu springen und ihr eine öffentliche Liebeserklärung zu machen.

Daß und in welcher Weise der König schon vorher sich m diese Angelegenheit gemischt haben oder in dieselbe hineingezogen sein muß, geht aus einem unter dem 12. April 1749 an den Geheimen Rath von Cocceji gerichteten, französisch geschriebenen Briefe hervor, in welchem es heißt:

„Ich will gern glauben, daß Ihr, wie Ihr durch Euer Schreiben vom 12. d. M. Mich überzeugen wollt, nicht beabsichtigt, Meinen Dienst und Meine Staaten zu verlassen. Auch betrifft Meine Verstimmung gegen Euch nicht sowohl diesen Punkt, als vielmehr das zügellose Benehmen, dessen Ihr Euch bisher schuldig gemacht, indem Ihr Euch an eine Landstreicherin und Abenteurerin hängt, die, wenn Ihr sie nicht bei Zeiten aufgebt, Euch nur Schande bringen wird. Der tödtliche Kummer, welchen Ihr Eurer von Mir bisher so besonders ausgezeichneten Familie bereitet, muß Mich höchst empfindlich berühren und wird Euch, wenn Ihr Euer Leben nicht ändert, Meine volle Ungnade zuziehen. Ihr solltet doch bedenken, wie viel Flüche Ihr von Eurem Vater auf Euch ladet, dessen Tage ein Leben wie das Eure verkürzen muß, was, wenn es geschehen und Ihr dann später einmal in Euch geht, Euch nur vergebliche Reue und Gewissensbisse bereiten kann. Wollet alles dieses wohl bedenken; ändert Euer Leben und betraget Euch wie ein anständiger und vernünftiger Mann, dann möget Ihr Euch Meiner Gnade und völligen Protection versichert halten.

Friedrich.“

Wie weit die verliebte Leidenschaft des Sohnes den königlichen Ermahnungen zugänglich gewesen, erhellt aus folgendem, in sehr schlechtem und orthographisch fehlerhaftem Französisch geschriebenen Briefe der Mutter an den König:

     „Sire!

Wenn irgend etwas in der Welt im Stande wäre, mich zu trösten, so ist es das gnädige Schreiben, mit welchem Ew. M. mich beehrt. Ich würde nicht verfehlt haben, Ihnen schon viel eher meinen Dank auszudrücken, hätte nicht die Scham über die Antwort meines Sohnes an den Staatsminister, Grafen von Podewils, über welche derselbe, wie er mir sagt, bereits an Ew. M. berichtet, alle meine Gedanken geradezu verwirrt und in eine schreckliche Unsicherheit versetzt.

Indessen habe ich gestern erfahren, daß Ew. M. uns einer neuen Gunstbezeigung gewürdigt, indem Sie durch den Kämmerer Fredersdorf der Barbarina eröffnen ließen, daß Sie niemals eine Verbindung meines Sohnes mit ihr zugeben würden; daß dieselbe sich nicht mit der Hoffnung auf Ew. M. königlichen Schutz schmeicheln, daß sie vielmehr ein Land verlassen sollte, wo sie nur Unheil stiftete. Diese Nachricht hat mich zu solchem Dank verpflichtet, daß, so lange ich lebe, mein Herz dessen voll sein wird; hätte ich tausend Leben und gehörte ich einem andern Geschlecht an, ich würde dieselben nur im Dienst eines Monarchen verwenden wollen, der so gütig, der so im wahren Sinne der Vater seiner Unterthanen ist. Indem Ew. M. sich herablassen, sich mit den Angelegenheiten unserer Familie zu befassen, wolle Ihre Güte nur nicht ermüden, meinen unglücklichen Sohn, wenn es noch ein Mittel zu seiner Rettung gibt, trotz seiner Unwürdigkeit zu retten! Wenn Ew. M. ihm vielleicht durch einen Ihrer Secretäre schreiben ließe, daß die Barbarina die königliche Genehmigung zu einer Verbindung mit ihm nachgesucht habe, daß aber, da Sie ihn unmöglich eines so niedrigen Gedankens fähig hielten, noch ihm zutrauten, er würde durch eine so unwürdige Handlung seinen Vater unter die Erde bringen wollen, Ew. M. ihr befohlen habe, die preußischen Lande zu verlassen, ihn aber vor dem wahnsinnigen Einfall, ihr etwa zu folgen, warne; daß, sollte er sich ja so weit vergessen, Ew. M. ihn, in welchem Winkel Europas er sich auch verborgen hielte, als Ihren Unterthan reclamiren würden; daß aber, falls dies nicht seine Absicht wäre und er zu seiner Pflicht zurückkehrte, Ew. M. ihm, in Rücksicht auf seine Talente, die Gnade erweisen wollten, das Geschehene zu vergessen und ihn mit seinem Vater zu versöhnen! Indessen, Sire, meine Hand zittert, indem ich diese Bitte niederschreibe. Meine mütterliche Zärtlichkeit macht mich blind; wie hätte ich sonst die Kühnheit, meinem Könige dergleichen Vorschläge zu machen? Allein, Sire, Alles was ich besitze, verdanke ich der Großmuth Ihres erlauchten Hauses. Der hochselige König hat das Glück meines Vaters, Ew. M. haben das meines Gatten begründet und uns mit Gnaden überhäuft. Die Gnade, meinen Sohn von seiner wahnsinnigen Leidenschaft zu heilen, wird größer als all’ die anderen sein.

Schon zwei Posttage warte ich vergeblich auf Briefe von meinem Gatten, der sonst keine Gelegenheit, mir zu schreiben, vorübergehen läßt. Wenn er nicht etwa krank ist, so erhalten Ew. M. sicherlich ein von seinem Zorn ihm eingegebenes Schreiben. Sire, vergeben Sie ihm die Aufwallungen des Augenblicks; trotz alledem bleibt er doch immer Vater.

Ich bin etc. etc.

Berlin, 1. August 1749.
von Cocceji, geb. von Bescheser.“

Welchen Eindruck dieser Schmerzensschrei der zärtlichsten Mutterliebe auf den König gemacht, ein wie lebhaftes und werkthätiges Interesse überhaupt die ganze Angelegenheit ihm eingeflößt haben muß, zeigt die Schnelligkeit und Energie, mit welcher er bereits am zweiten Tage nach der Abfassung des mitgetheilten Briefes folgende, aus Potsdam vom 3. August datirte Cabinetsordre an den General-Lieutenant von Haacke erließ:

„Mein lieber G.-L. Graf v. Haacke!

Euch wird nicht unbekannt sein, daß, nachdem die bekannte Barbarina, sich unvermuthet wiederumb in Berlin eingefunden, der älteste Sohn des Groß-Cantzlers v. Cocceji sich von neuen wiederumb dergestalt vergessen hat, daß derselbe mit gedachter Barbarina nicht nur den genausten Umgang hat, sondern auch die Absicht haben soll, sich mit derselben verheirathen zu wollen. Nun habe Ich ihr zwar bereits darüber durch den Etats Minister Gr. v. Podewils sehr serieuse Remonstrationen thun, auch ihn so wohl als die Barbarina besonders bedeuten lassen, daß Ich nimmermehr zugeben würde, daß diese Heirath geschähe, wobei der letzteren insonders insinuiret worden, daß, da sie sich Meiner Protection durch ihre Conduite ganz unwürdig gemacht, sie wohl thun würde, sowohl Berlin als Meine Lande gäntzlich zu quittiren. Derweile Ich aber besorgt bin, daß diese verführerische Creatur den jungen Cocceji dergestalt einnehmen und den Kopf verdrehen möchte, daß derselbe heimlich von Berlin weg gehe, um der Barbarina anders wohin außerhalb Landes zu folgen, wo er vermeynet, sich mit ihr trauen lassen zu können, Ich aber seinen würdigen Eltern dergleichen Chagrin und seiner Familie sothane Prostitution sehr gerne ersparen möchte, so ist Mein Wille, daß Ihr gedachten jungen v. Cocceji, und zwar unter guter Aufsicht, zu Euch oder auch nach seiner Mutter Hause kommen lasset und demselben alsdann zuförderst sein ohnvernünftiges und unbesonnenes Betragen, auch wie sehr er seine Eltern dadurch molestire, vorstellig machen, demnächst aber denselben ohne daß es einiges Aufsehen gebe arretiren, und solchen sodann, es sei in ein anderes Haus zu Berlin oder auch an einem andern Orthe außerhalb Berlins, bringen zu lassen, wo derselbe nicht echappiren oder einigen Connex mit der Barbarina haben kann. Auch soll niemand so viel es möglich ist seinen Aufenthalt erfahren, noch daß er überhaupt arretirt sei, woselbst er alsdann so lange bleiben, auch wohl verwahrt gehalten werden muß, bis die Barbarina von Berlin weg sei und Meine Lande quittirt hat, der pp. Cocceji aber sein ohnvernünftiges Betragen erkennen und der ihm so sehr unanständigen Passion entschlagen haben wird. Ihr habt Euch also hienach zu achten, und nach Erforderniß mit dem v. Cocceji deshalb zu concertiren, jedoch auch Eure Mesures dergestalt zu nehmen, daß der junge Cocceji derer Execution nicht etwa heimlich ausweichen kann, und übrigens aber alles was Ihr darunter thun werdet, dergestalt einzurichten, daß kein Mensch, er sei wer er wolle, weiter etwas davon erfahren noch wissen kann, wohin eigentlich derselbe gebracht und wo er geblieben sei. Ihr sollet übrigens der Mutter die Versicherung geben, daß Ich lediglich aus Égard vor Sie und ihres Eheherrn zu gedachter Resolution geschritten sei, inzwischen solches ihrem Sohn im geringsten nicht präjudiciren, sondern demselben seine Bedienung völlig conservirt bleiben, er auch sobald er wieder zu sich selbst gekommen und sich der Passion gegen obgedachte verführerische Creatur entschlagen haben würde, wiederumb auf freien Fuß gestellt werde und seine functiones nach als vor continuiren solle. Ich bin etc. etc.“

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.


So muß es kommen! Zu dem Unkraut, welches in der Neuzeit außerordentlich überhand nimmt, gehört der Uebermuth und die Habgier so mancher Sänger und Sängerinnen, deren unbescheidene Unersättlichkeit sich an den Hohenpriestern der schönen, göttlichen Musik sehr unästhetisch ausnimmt.

Eins der eclatantesten Beispiele dieser Art ist die Sängerin Adeline Patti, jetzt Primadonna in Paris, indessen ist hierbei die Schuld vielleicht weniger ihr selbst, als ihrem Schwager, Lehrer und Begleiter Moritz Strakosch beizumessen. Man erzählt sich einige amüsante Geschichten, wie die Speculationen dieser Nachtigall, die goldgieriger ist als irgend eine Elster, doch zuweilen fehlschlagen und mit einer Demüthigung endigen.

Kürzlich wurde sie eingeladen, in dem Salon eines vornehmen Hauses bei Gelegenheit einer Abendgesellschaft einige Arien vorzutragen, und erntete an jenem Abend einen ungeheuren Beifall. Am folgenden [256] Morgen erhielt die Sängerin von Seiten des Gastgeber ein Etui mit einem Paar geschmackvoller Brillantringe zugeschickt, deren Werth sich auf mindestens sechs- bis achttausend Franken belief. Dies Geschenk gefiel ihr wohl recht gut, allein sie beging die große Ungeschicklichkeit, dem splendiden Geber ein Danksagungsbillet zu schreiben, welches sie mit einem kleinen Postscriptum endigte, worin sie erwähnte, der geehrte Herr habe vergessen, ihr die Summe von so und so viel tausend Franken zu übersenden, den gewöhnlichen Preis, wenn sie in einer Gesellschaft singe.

Man kann sich denken, was für ein Gesicht der Mann machte, als er diesen Brief empfing, während er der Meinung war, die Patti müsse vor Freude und Dankbarkeit außer sich sein. Er wußte jedoch die Unbescheidenheit der Sängerin in der klügsten Weise zu bestrafen; er ging zu seinem Juwelier und kaufte ein Paar andere Ohrringe zum Preise von etwa fünfundsiebenzig bis einhundert Thalern, fügte die von der Sängerin beanspruchte Geldsumme hinzu und übergab Alles zusammen seinem Secretair, der sich zu der Dame verfügte und folgende Ansprache an sie richtete:

„Mein Herr erhielt heute früh Ihr geehrtes Schreiben, fand Ihre Reclamation vollständig gerecht und sendet mich nun, sein Vergessen wieder gut zu machen und Sie um Entschuldigung deshalb zu bitten. Hier übergebe ich Ihnen das Geld und ein kleines Geschenk, welches er Sie ersucht, als ein Zeichen seiner Dankbarkeit für das uns gewährte Vergnügen zu betrachten. Aber ich habe gestern leider ein bedauerliches Versehen begangen! Die Diamantohrringe, welche ich Ihnen übergab, waren nicht für Sie bestimmt; es war ein Irrthum von mir, ich sollte sie zu einer anderen Dame tragen. Wollten Sie die Güte haben, mir dieselben zurückzugeben und mir das Mißverständniß zu verzeihen?“

Die Sängerin begriff zu spät ihren Fehler. Sehr verlegen übergab sie dem Secretair die schönen Brillanten, denen sie seufzend nachblickte.

Ein anderes Mal wurde sie zugleich in ihrer Eigenliebe schwer verletzt. Eine russische Fürstin gab eine glänzende Soirée, wobei die Patti singen sollte. Diese sagte zu, bedang sich jedoch den Preis von fünftausend Franken dafür, was die Fürstin auch einging. Dann meinte Meister Strakosch, dies sei am Ende zu wenig verlangt, und auf sein Anrathen schrieb Adeline am Tage vor der Soirée ein Billet an die Fürstin, worin sie ihr meldete, sie sei leider etwas unwohl geworden und werde wohl nicht singen können. Sie war nun fest überzeugt, die Fürstin werde sofort zu ihr eilen und ihr mit inständigen Bitten sechstausend Franken bieten, damit sie nur singe, worauf sie nachgeben wollte. Aber die Sache kam ganz anders. Die Fürstin fuhr nicht zur Patti, sondern zu einer anderen Sängerin, Madame Carvalho, der sie ihr Leid klagte und die sie bat, die Stelle Adeline’s auszufüllen. Madame Carvalho erklärte sich denn auch freundlich hierzu bereit, obgleich die Zeit zur Vorbereitung sehr kurz sei. Sie bat jedoch, ihr nun auch den gleichen Preis zu bewilligen, und fügte mit feinem Lächeln hinzu: „Wären Sie zuerst zu mir gekommen, so hätten Sie es viel wohlfeiler gehabt.“

Als die Patti sah, daß die Fürstin nicht kam, wurde ihr bange; sie schrieb schnell, sie habe sich wieder erholt und wolle am Abend singen. Darauf bekam sie indessen die Antwort, die Fürstin habe nun bereits Madame Carvalho engagirt; wolle sie aber kommen, so werde sie sehr willkommen sein, indes; nur als Gast.

Jetzt weinte die Sängerin vor Zorn und gekränkter Eitelkeit, sie war außer sich; Madame Carvalho sang aber so schön, daß Niemand in der Gesellschaft die Patti vermißte.




Sakit latar. Auf Java existirt eine wunderliche Krankheit, oder vielmehr eine krankhafte Eigenschaft einzelner Eingeborener, die sich besonders unter den Frauen zeigt und Sakit latar oder Latarkrankheit (vielleicht von dem Wort loetar werfen, also Werfkrankheit) genannt wird.

Sie tritt allerdings nicht häufig, und hauptsächlich nur im Innern auf, ist aber deshalb gefährlich, weil man es den davon betroffenen Personen nie ansehen kann, indem das Leiden auf den körperlichen Gesundheitszustand derselben gar keinen Einfluß ausübt.

Die Krankheit selber besteht in einer unwiderstehlichen Neigung der damit Behafteten, irgend eine ihnen vorgemachte rasche Bewegung unverweilt nachzuahmen. Hat z. B. eine Frau diese Krankheit und man wirft in ihrer Nähe einen Stein in’s Wasser, so kann sie sich nicht helfen und muß das Nämliche thun. Steckt man etwas rasch in den Mund, so folgt sie dem Beispiel mit irgend einem Gegenstande, den sie gerade in der Hand hält. Trägt sie irgend etwas, sei es in einem Haus Porcellan, eine Lampe oder sonst etwas, ja sei es selbst ein Kind, und kommt Jemand auf sie zu, der rasch die Bewegung macht, als ob er etwas hinwirft oder aus den Händen fallen läßt, so schleudert auch sie sicher Alles von sich, was sie eben noch so sorgfältig getragen hat. Die eigene Mutter verschont dabei ihr Kind nicht, jede sonst noch so knechtische Ehrfurcht vor Häuptlingen oder Beamten hört auf, und hat der Kranke nicht selber gerade etwas in der Hand, so erfaßt er das erste Beste und wirft es zu Boden.

Es läßt sich denken, daß es schon nicht angenehm sein kann, nur ein mit dieser Krankheit behaftetes Hausmädchen zu haben, denn wenn sie gerade einen Stoß Teller in’s Zimmer bringt und irgend ein Muthwilliger die Bewegung macht, oder selbst der Zufall irgend Jemanden zu einer ähnlichen veranlaßt, so kann man sich auch fest darauf verlassen, daß sie das Porcellan klirrend zu Boden wirft. Gefährlich wird es aber, wenn man ein solches unglückliches Wesen als Kindermädchen in Dienst nimmt, da der Ausbruch der Krankheit eben nur von zufälligen Umständen abhängt.

Manches Unglück ist auch schon dadurch geschehen, aber die Javanischen Gerichte nehmen dabei große Rücksicht auf diese Kranken, und eine Frau, von der es sich herausstellt, daß sie wirklich die Sakit latar hat, wird nie eines angerichteten Unheils wegen bestraft werden.

Ob die Krankheit heilbar ist oder wodurch sie entsteht, weiß man noch nicht einmal; derartige Kranke sind noch zu wenig beobachtet worden, jedenfalls wäre es aber interessant, der Erscheinung weiter nachzuforschen.

Fr. Gerstäcker.




Ein kleines Mißverständniß. Während des letzten Aufenthalts von Abd-el-Kader in Paris im verflossenen Herbst gab Emil von Girardin dem Emir zu Ehren ein Diner, wozu er seine sämmtlichen schriftstellerischen Freunde eingeladen hatte. Im Laufe der Unterhaltung sagte Girardin zu Abd-el-Kader: „Es würde mir Vergnügen machen, wenn Sie meine ‚Zwei Schwestern‘ als Geschenk zum Andenken an den heutigen Tag annehmen wollten!“

Mit den „Zwei Schwestern“ meinte Girardin sein neuestes Drama, welches damals gerade ungemeines Furore machte. Bei der Verdolmetschung des Satzes vergaß man jedoch, dem Emir diese Erklärung dazu zu geben, und so stand Abd-el-Kader auf, kreuzte die Arme über der Brust, verbeugte sich vor seinem Wirth und entgegnete: „Ich werde mich außerordentlich glücklich schätzen, die Damen bei nur aufzunehmen, obgleich mein Harem bereits vollständig gefüllt ist; lassen Sie mich nur erst für eine passende Wohnung Sorge tragen!“

Dieses Quiproquo machte allen Anwesenden ungemein viel Spaß und man erinnerte sich dabei auch gelegentlich einer anderen ergötzlichen Geschichte, welche sich einige Zeit nach des Emirs Gefangennahme während seines Aufenthalts in der französischen Festung zugetragen, die man ihm zum Wohnort angewiesen. Er ließ dort seinen Kindern durch einen französischen Schreiblehrer Unterricht ertheilen, und da er mit dem Lehrer sehr zufrieden war, schenkte er ihm eines Tages zur Belohnung eine seiner Frauen. Der arme Schreiblehrer, der bereits mit einer noch dazu ziemlich xanthippenhaften Gattin versehen war, fühlte sich nicht sehr freudig überrascht von des Emirs Großmuth und hatte unendliche Mühe, ihm begreiflich zu machen, daß er das ihm zugedachte Geschenk nicht annehmen könne, da seine Frau ihn bei der bloßen Erwähnung desselben mit Augenauskratzen und dergleichen bedroht habe.




Berichtigung. Die in Nr. 5 der Gartenlaube Seite 70 vorkommende Bemerkung, daß der bekannte Bischof Dräseke aus einem Schauspieler ein frommer Theologe geworden sei, beruht auf einem Irrthum. Der Bischof Dräseke hat weder jemals die Bühne betreten, noch auch nur die Absicht gehabt, sich der Laufbahn eines ausübenden dramatischen Künstlers zu widmen. Bei aller auch durch Schriften bezeugten Achtung vor diesem Stande gehörte seine Neigung doch von frühester Jugend an dem Berufe, in welchem er so erfolgreich gewirkt hat.

Rodach bei Coburg.
Theodor Dräseke.




Kleiner Briefkasten.


An W. S. Das chinesische Geheimmittel gegen Epilepsie – „Ying-Kuei-tsun“ – ist nichts als eitel Charlatanerie. Wenn dasselbe wie viele andere solche Antiepileptica geholfen haben soll, so ist dies nur scheinbar, weil der Naturheilungsproceß im menschlichen Körper gar nicht selten ganz unvermuthet die Krämpfe verschwinden läßt.
Bock.

J. Z. in Br. Leider Prosa und Poesie unbrauchbar. Der gute Zweck darf die Kritik nicht bestechen.




Supplement-Band
zu allen Ausgaben
von
Bock’s Buch vom gesunden und kranken Menschen.
Zweite, neu durchgesehene und vermehrte Auflage. Eleg. br. Preis 22½ Ngr.
Derselbe enthält in geordneter und zum Theil erweiterter Gestalt die große Anzahl von Gartenlauben-Aufsätzen aus Bock’s Feder, welche in sein „Buch vom gesunden und kranken Menschen“ entweder gar nicht oder nur in sehr kurzem Auszuge aufgenommen sind. Bei der Beliebtheit, welcher sich das letztere, nun schon in 60,000 Exemplaren verbreitete Werk beim Publicum zu erfreuen hat, wird auch dieser Supplement-Band als ergänzender Theil desselben in seiner 2. Auflage sich wieder einer günstigen Aufnahme versehen dürfen. Er erscheint in drei, in monatlichen Zwischenräumen auf einander folgenden Lieferungen von je 5–6 Bogen. Der Subscriptionspreis jeder Lieferung ist nur Ngr. Die erste Lieferung ist bereits erschienen und in allen Buchhandlungen zu haben.
Die Verlagshandlung von Ernst Keil.

Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Die elf Zweiggeschäfte der Bank abgerechnet, in denen zusammen noch einhundert und fünfzig andere Angestellte beschäftigt sind.