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Die Gartenlaube (1866)/Heft 17

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1866
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[257] No. 17.
1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Goldelse.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


16.

Als der Diener aus Lindhof am Mauerpförtchen läutete, saß Elisabeth in der großen Halle. Sie wand aus Immergrün und Epheu eine lange Guirlande, während Miß Mertens, ihr zur Seite sitzend, einen halbfertigen bunten Asternkranz in den Händen hielt. Das Grab auf dem Lindhofer Gottesacker war vollendet. Heute Nachmittag, zwischen fünf und sechs Uhr, sollte der Zinnsarg mit den sterblichen Ueberresten der schönen Lila der Erde feierlich übergeben werden. Hätten Jost’s gefürchtete Augen neben den Kranzwinderinnen auftauchen können, sie würden gewiß mild und versöhnt geruht haben auf seinem lieblichen Urenkelkind,[WS 1] welches die frisch vom Waldboden abgeschnittenen, grünen Ranken als letzten Schmuck auf den Todtenschrein legen wollte.

Nach Rücksprache mit der Mutter nahm Elisabeth die Einladung an, um so mehr, da sie nur „auf ein Plauderstündchen“ lautete. Bald nachdem der Diener sich entfernt hatte, kam auch Reinhard. Er sah sehr ernst aus und erzählte auf Miß Mertens’ Befragen, daß sein Herr in einer nicht zu beschreibenden Gemüthsstimmung aus Thalleben zurückgekehrt sei.

„Die Eindrücke im Trauerhause müssen schrecklicher Art gewesen sein,“ bemerkte er, „denn ich erkenne Herrn von Walde nicht wieder. Ich hatte ihm nothwendig verschiedene Meldungen zu machen, allein im Lauf meines Vortrags merkte ich wohl, daß ich umsonst sprach … Er saß vor mir wie gebrochen, wie völlig verloren in qualvolle Gedanken. Merkwürdigerweise fuhr er heftig auf, als ich ihm zum Schluß die Entdeckung hier oben in den Ruinen mittheilen wollte; ‚ich habe die Sache bereits zur Genüge gehört,‘ unterbrach er mich zornig und ungeduldig, ‚bitte, lassen Sie mich allein!‘“

Es entging Miß Mertens nicht, daß Reinhard sich verletzt fühlte durch die Art und Weise, wie sein Gebieter ihn angelassen hatte.

„Lieber Freund,“ sagte sie beschwichtigend, „in einem Augenblick, wo ein großer Seelenschmerz uns beherrscht, berührt uns die Außenwelt entweder gar nicht, oder sie wird uns peinlich; wir fühlen uns abgestoßen dadurch, daß in ihr sich Alles nach wie vor unbeirrt abwickelt, während unsere innere Welt schwankt und aus dem Geleise getrieben ist. Herr von Walde mag den Verunglückten wohl sehr geliebt haben … Aber mein Gott, Elisabeth, was thun Sie denn?“ unterbrach sie sich selbst. „Meinen Sie wirklich, daß das hübsch aussieht?“

Sie deutete aus die Guirlande. Elisabeth hatte nämlich, während Reinhard sprach, mit zitternden Händen einige dickköpfige Dahlien ergriffen und dieselben dem schlanken, bis dahin einförmig grünen Gewinde einverleibt. Es war in der That ein arger Mißgriff, auf den sie selbst mit erstaunten Augen und hochgerötheten Wangen niedersah. Die armen Dinger wurden sofort wieder von dem weichen, grünen Pfühl entfernt, an den sie sich behaglich geschmiegt hatten, und mit einer Strenge behandelt, als hätten sie sich eigenmächtig vorgedrängt.

Es hatte schon längst auf dem Lindhofer Kirchthurm drei geschlagen, als Elisabeth den Berg hinabeilte. Der Onkel hatte sie im Gespräch festgehalten; er war unwirrsch geworden darüber, daß sie der Einladung folgen wollte. „Denn,“ meinte er, und zwar nicht mit Unrecht, „das arme Wesen, welches heute eingesenkt werden soll, verdiene es schon, daß man wenigstens einen Tag seinem Andenken allein weihe.“ Er hatte freilich keine Ahnung von dem, was in dem Herzen des jungen Mädchens vorging. Er wußte nicht, daß sein kleiner Liebling in den letzten Tagen sehnsüchtig Stunde auf Stunde gezählt hatte, deren jede den Augenblick ja näher rücken mußte, da es heißen würde: „Er ist wieder da!“ und mußte es erleben, daß sein sonst so gehorsames Herzblatt unter seinen Händen wegschlüpfte und wie ein Sturmwind durch das Mauerpförtchen flog.

Ihre Füße berührten kaum die Erde. Sie hoffte, durch rasches Laufen den Zeitverlust einigermaßen zu ersetzen, aber beinahe hätte sie Thränen der Ungeduld vergossen, als zum Ueberfluß auch noch ihr leichtes Kleid an einer wilden Rosenhecke hängen blieb und mit sehr vorsichtiger Hand und vieler Langmuth losgemacht werden mußte. Fast athemlos erreichte sie den Pavillon. Beide Flügel der Thür standen offen, der Salon war noch leer. Auf dem Tische war eine Auswahl von Erfrischungen und die eine Ecke im Sopha für Helene bequem hergerichtet.

Mit erleichtertem Herzen trat Elisabeth ein und lehnte sich an eines der hinteren Fenster, vor welchem sich die dichte Buschwand hinzog, als sie ein leises Geräusch hinter sich hörte .... Hollfeld hatte hinter einem der vorstehenden Thürflügel gestanden und näherte sich ihr. Sie wollte sofort den Salon wieder verlassen, ohne den Verhaßten eines Blickes zu würdigen; er trat ihr jedoch in den Weg, wenn auch durchaus nicht in unbescheidener Weise, es lag vielmehr etwas Unterwürfiges und Ehrerbietiges in seiner Haltung, und versicherte, die Damen würden gleich erscheinen. Elisabeth sah erstaunt auf, da war auch nicht der leiseste Rest jenes frechen Tons in seiner Stimme zu bemerken, der ihr neulich jeden Blutstropfen empört hatte.

„Ich gebe Ihnen mein Wort, daß Fräulein von Walde jeden [258] Augenblick kommen mußt“ betheuerte er, als sie abermals den Versuch machte, in die Thür zu treten. „Ist Ihnen denn meine Gegenwart hier gar so schrecklich?“ fügte er leiser mit einem Anflug von Trauer hinzu.

„Allerdings,“ entgegnete Elisabeth kalt und rückhaltlos. „Wenn Sie sich Ihres neulichen Benehmens gegen mich erinnern, so werden Sie wissen, daß es mir unerträglich sein muß, auch nur einen Augenblick mit Ihnen allein zu sein.“

„Wie hart und unversöhnlich klingt das! … Soll ich den kleinen, unbedachten Scherz wirklich so grausam büßen?“

„Ich rathe Ihnen, künftig vorsichtiger zu sein in der Wahl der Leute, mit denen Sie scherzen wollen.“

„Mein Gott, ich sehe ja ein, daß es ein Mißgriff war, ich schäme mich dieser Uebereilung … wie hätte ich aber auch ahnen können –“

„Daß man mir Achtung schuldig sei?“ unterbrach ihn Elisabeth mit flammenden Augen.

„Nein, nein … das habe ich ja gar nicht bezweifelt. Gott, wie Sie heftig werden können! Aber ich konnte doch wahrhaftig nicht wissen, daß Ihnen das Recht zusteht, weit, weit mehr zu beanspruchen.“

Elisabeth sah ihn fragend an; sie verstand ihn offenbar nicht.

„Kann ich mehr thun, als Sie kniefällig um Verzeihung zu bitten?“ fuhr er fort.

„Die soll Ihnen werden unter der Bedingung, daß Sie mich sofort allein lassen.“

„Hartnäckiger Trotzkopf, der Sie sind! … Ich wäre ein Thor, wenn ich den kostbaren Augenblick vorübergehen lassen wollte … Elisabeth, ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich Sie glühend liebe, liebe bis zum Sterben!“

„Und ich bin mir bewußt, Ihnen sehr deutlich erklärt zu haben, daß mir dies sehr gleichgültig ist.“ Sie fing an zu zittern; nichtsdestoweniger blieb ihr Blick fest und ruhig.

„Elisabeth, treiben Sie mich nicht zum Aeußersten!“ rief er aufgeregt.

„Vor Allem muß ich Sie ersuchen, die einfachste Höflichkeitsform festzuhalten, die uns gebietet, Fremde nicht mit dem Eigennamen anzureden.“

„Sie sind ein Satan an Kälte und Bosheit!“ rief er bebend vor Zorn. „Nun, ich gebe zu, daß Sie einen Schein von Berechtigung haben, mich zu quälen,“ fügte er, sich mühsam bezwingend, hinzu, „ich habe mich gegen Sie vergangen, aber ich will ja Alles wieder gut machen … Hören Sie mich nur einen Augenblick ruhig an, und Sie werden mir Ihre Härte sicher abbitten. … Ich biete Ihnen hiermit meine Hand. Sie werden wissen, daß ich im Stande bin, meiner künftigen Frau, was Rang und Vermögen betrifft, eine glänzende Existenz zu bereiten.“

Mit einem triumphirenden Lächeln sah er auf sie nieder. Es war ja so natürlich, daß seine schöne Widersacherin diese beglückende Wendung nicht vermuthet hatte, sie mußte wohl starr sein vor freudiger Ueberraschung; aber das geschah unerhörterweise nicht, Elisabeth richtete sich vielmehr stolz auf und trat einen Schritt zurück.

„Ich bedaure, Herr von Hollfeld,“ sagte sie mit ruhiger Würde; „Sie hätten sich selbst einen unangenehmen Moment ersparen können. Nach Allem, was ich Ihnen bis jetzt gesagt habe, fasse ich kaum, daß Sie noch ein solches Wort aussprechen mögen. … Da Sie mich denn durchaus zwingen, so erkläre ich Ihnen hiermit, daß unsere Wege weit auseinander gehen –“

„Wie!“

„Und daß ich mich nie entschließen könnte, an Ihrer Seite zu leben.“

Er starrte sie einen Moment an, wie geistesabwesend, oder wie gänzlich unfähig, ihre Worte aufzufassen. Seine Gesichtsfarbe wurde grünlich, und seine weißen Zähne gruben sich in die Unterlippe.

„Und Sie treiben wirklich die Komödie so weit, mir eine solche Antwort zu geben?“ frug er endlich mit ungewisser, fast heiserer Stimme.

Elisabeth lächelte verächtlich und wandte sich ab. Diese Bewegung brachte ihn fast zur Wuth.

„Die Gründe, die Gründe will ich wissen!“ stammelte er und trat abermals zwischen Elisabeth und die Thür, nach der sie zustrebte. Er haschte mit der Hand nach ihrem Kleid, um sie fest zuhalten. Sie erschrak heftig vor dieser Bewegung und wich einige Schritte tiefer in’s Zimmer zurück.

„Lassen Sie mich!“ rief sie mit fliegendem Athem; die Angst erstickte ihr fast die Stimme, trotzdem raffte sie ihren ganzen Muth noch einmal zusammen und hob den Kopf stolz und gebieterisch. „Wenn denn nicht ein Funke von Ehre in Ihnen ist, an den ich appelliren kann, so sehe ich mich gezwungen, auch meine Waffen zu gebrauchen, indem ich Ihnen sage, daß ich Sie tief, tief verachte, daß ich Ihren Anblick hasse; nicht das Zischen einer Schlange könnte mir mehr Abscheu und Schrecken einflößen, als Ihre Worte, mit denen Sie meine Zuneigung zu erringen hoffen … Niemals hat auch nur die leiseste Regung in mir zu Ihren Gunsten gesprochen; aber selbst, wenn es der Fall gewesen wäre, sie hätte sofort erstickt werden müssen durch Ihr verachtungswürdiges Betragen gegen mich … Lassen Sie mich jetzt ruhig gehen und –“

Er ließ sie den Satz nicht vollenden. „Das werde ich wohl bleiben lassen,“ knirschte er wüthend. Sein vorher so bleiches Gesicht glühte, die Augen rollten, er war außer sich vor Leidenschaft und stürzte auf sie zu wie ein Raubthier. Sie floh zu dem Fenster, weil sie die Thür nicht zu erreichen vermochte, und versuchte den Flügel aufzureißen, um über die sehr niedrige Brüstung hinauszuspringen, aber wie angefesselt vor Schrecken haftete plötzlich ihr Fuß am Boden. Draußen aus dem Buschwerk, dicht an den Scheiben, starrte ein schreckliches Gesicht. Die todtbleichen Züge verzerrten sich in einem höhnischen Grinsen, und aus dem Auge, das sich stier in das Gesicht des jungen Mädchens bohrte, glühte der Wahnsinn … Elisabeth erkannte mit Mühe die stumme Bertha; sie schüttelte sich vor Entsetzen und wich zurück, Hollfeld’s Arme fingen sie auf und umklammerten sie mit eiserner Gewalt; blind vor Aufregung, bemerkte er die Erscheinung vor dem Fenster nicht. Elisabeth drückte die eiskalten Hände auf ihre Augen, um das entsetzliche Gesicht draußen nicht zu sehen; sie fühlte den heißen Athem ihres Peinigers über ihre Finger hinstreifen, sein Haar berührte ihre Wange, sie schauderte, aber alle physischen Kräfte versagten ihr buchstäblich; das zwiefache Entsetzen hatte sie momentan gelähmt, nicht einmal ein Laut entrang sich ihrer Kehle … Bei Hollfeld’s Anblick erhob Bertha drohend die festgeballten Hände und richtete sie gegen die Scheiben, um das Glas zu zerschmettern; doch plötzlich wandte sie den Kopf seitwärts, als lausche sie auf ein Geräusch; sie ließ die Hände sinken, stieß ein grelles Lachen aus und entfloh in das Gebüsch.

Das Alles war das Werk weniger Augenblicke gewesen. Infolge des häßlichen Geschreis sah Hollfeld erschreckt auf. Einen Moment versuchte sein Auge in das Gebüsch zu dringen, wo Bertha verschwunden war, aber gleich darauf kehrte es wieder zurück auf die Gestalt, die er in seinen Armen hielt und die er nur um so fester an seine Brust drückte. Seine ängstliche Vorsicht, sein heuchlerisches Bestreben, seine niedrigen Neigungen vor dem Auge der Welt zu verbergen, waren in diesem Augenblick völlig von ihm gewichen. Er dachte nicht daran, daß die Zeit da war, wo Helene kommen sollte; durch die weit offene Thür konnten jeden Moment der Gärtner oder Einer von der Dienerschaft hereinsehen, er lag völlig im Bann seiner Leidenschaft und bemerkte deshalb nicht, daß Fräulein von Walde in der That am Arme ihres Bruders auf der Thürschwelle stand; hinter ihnen erschien die Baronin mit langem Halse und einem nicht zu verkennenden Ausdruck heftigen Unwillens.

„Emil!“ rief sie mit zornbebender Stimme. Er fuhr empor und sah mit wirren Blicken um sich; unwillkürlich öffneten sich seine Arme, Elisabeth ließ die Hände von den Augen fallen und faßte taumelnd nach der nächsten Stuhllehne. Diesmal klang ihr die harte, abscheuliche Stimme der Baronin süß wie Musik, denn von ihr kam ja die Hülfe .... Und dort stand die hohe, männliche Gestalt, deren Anblick sofort ihre stockenden Pulse lebendig klopfen machte. Sie hätte sich ihm zu Füßen werfen und bitten mögen: „Schütze mich vor Jenem dort, den ich fliehe und verabscheue wie die Sünde!“ Aber welch’ ein Blick fiel auf sie! … Kam dieser niederschmetternde Strahl in der That aus jenem Auge, das erst vor wenig Tagen mit so wunderbar süßinnigem Ausdruck das ihre gesucht hatte? War jene Erscheinung mit dem streng zurückgeworfenen Kopfe und der todtbleichen, eisernen Stirn jener Mann, der sich damals über sie geneigt und in unsäglich weichem Klang die Worte gesprochen hatte: „Ihnen möge unterdeß mein guter Engel den Namen jenes Wunderreiches zuflüstern!“ [259] … Er selbst stand dort wie ein böser Engel, der gekommen ist, zu rächen, zu vernichten und ein armes, zuckendes Menschenherz zu zertreten.

Helene, die wie angemauert oder leblos auf die Scene in der Tiefe des Zimmers geblickt hatte, zog plötzlich hastig ihren Arm aus dem ihres Bruders und wankte auf Elisabeth zu; sie war keinen Augenblick im Zweifel, daß Hollfeld’s Werbung geglückt und der Bund geschlossen sei.

„Seien Sie mir tausendmal willkommen, liebe Elisabeth!“ rief sie in heftiger Bewegung, während Thränenströme aus ihren Augen stürzten; sie nahm die zitternden Hände des jungen Mädchens zwischen die ihren. „Emil führt mir in Ihnen eine liebe Schwester zu; haben Sie mich lieb wie eine solche, ich werde Ihnen lebenslänglich dafür dankbar sein … Sei nicht so finster, Amalie,“ wandte sie sich bittend zurück nach der Baronin, die noch immer wie eine Bildsäule außerhalb des Pavillons stand, „es gilt ja Emil’s ganzes Lebensglück … Sieh Dir Elisabeth an. Kann sie nicht alle Ansprüche erfüllen, die Du mit Recht an Diejenige stellst, welche Dir in Zukunft so nahe stehen soll? Jung, von der Natur reich ausgestattet, aus alter Familie mit berühmtem Namen.“

Sie hielt erschrocken inne. Es war, als kehre erst jetzt das Leben in Elisabeth’s erstarrte Glieder zurück, als sei sie erst in diesem Moment fähig, das, was gesprochen wurde, aufzufassen. Mittels einer raschen Bewegung hatte sie Helenen beide Hände entzogen und stand plötzlich hoch ausgerichtet neben ihr.

„Sie irren, gnädiges Fräulein,“ sagte sie in eigenthümlich vibrirendem Ton, „ich bin eine Bürgerliche.“

„Wie, haben Sie nicht das festbegründete Recht, den Namen von Gnadewitz zu führen?“

„Ja, unzweifelhaft, aber wir lassen dieses Recht fallen.“

„Sie würden in Wirklichkeit ein solches Glück mit dem Fuße fortstoßen?“

„Ich kann nicht einsehen, wie das wahre Glück sich an einen Klang, einen Schall knüpfen sollte.“ Man hörte deutlich, wie sie rang, um ihrer treulosen Stimme Festigkeit zu geben.

Die Baronin war indessen näher getreten. Sie fing an, zu begreifen, was hier vorging. Innerlich war sie wüthend, daß ihr Sohn eine Wahl getroffen hatte, ohne auch nur im Entferntesten um ihren mütterlichen Rath, ihre Einwilligung zu fragen; ferner war und blieb der Gegenstand dieser Wahl für sie ein verhaßtes Wesen. Allein sie wußte recht gut, daß ihr Einspruch höchstens ein mitleidiges Achselzucken, eine spöttische Miene ihres Sohnes hervorrufen und ihn erst recht in seinem Vorhaben bestärken würde; auch fiel es für sie und ihre eigenen Interessen schwer in’s Gewicht, daß Helene die Sache in die Hand genommen hatte und dieselbe mit einer Art von enthusiastischem Opfermuth durchführen zu wollen schien. Wenn auch völlig im Unklaren über die Motive dieser höchst merkwürdigen Thatsache, fühlte sie doch instinctmäßig, daß hier kein Nachtheil zu befürchten sei, und deshalb entschloß sie sich rasch, obschon mit grollendem Herzen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und die Rolle der verzeihenden und segnenden Mutter zu spielen. Elisabeth’s Antworten verschlossen ihr jedoch plötzlich wieder den Mund. Die Hoffnung tauchte in ihr auf, daß das Mädchen durch seinen Eigensinn die Sache selbst verderben würde, und dann galt es, Oel in’s Feuer zu gießen.

„Da stoßen wir auf einen spießbürgerlichen Begriff, meine Liebe,“ sagte sie spitz zu Helene, die Elisabeth’s Erwiderung ganz bestürzt gemacht hatte. „Sie mögen indeß jedenfalls Ihre triftigen Gründe haben, das Licht der höheren Regionen zu scheuen,“ fuhr die Dame in beißendem Ton zu Elisabeth gewendet fort.

„Ich habe durchaus keine Ursache, dies Licht zu fliehen,“ entgegnete diese, bei Weitem ruhiger und beherrschter sprechend, als zuvor, „es müßte mir denn plötzlich unvermuthete häßliche Fehler meines Charakters zeigen, wie es die Flecken auf jenem Wappenschild grell beleuchtet… Aber wir lieben unseren Namen, weil er rein und ehrlich ist, und wollen dies fleckenlose Erbtheil nicht vertauschen gegen ein Gut, das sich aus den Thränen und dem Schweiß Anderer groß genährt hat!“

„Gott, wie erhaben!“ rief die Baronin höhnisch lachend.

„Das kann Ihr Ernst nicht sein, Elisabeth,“ sagte Helene. „Vergessen Sie nicht, daß an diesem Ausspruch das Lebensglück zweier Menschen hängt.“ Sie warf dem jungen Mädchen einen vielsagenden Blick zu, der aber begreiflicher Weise nicht verstanden wurde. „Sie müssen nun einmal in die Sphäre, der Sie von nun angehören sollen, einen adeligen Namen mitbringen; das wissen Sie so gut wie ich und werden um einer Grille willen nicht Ihre eigenen Hoffnungen und die Anderer zerstören wollen.“

„Aber ich bin völlig unfähig, Sie zu verstehen!“ rief Elisabeth aufgeregt. „Es fällt mir gar nicht ein, irgend eine Hoffnung mit jenem Namen in Verbindung zu bringen; am allerwenigsten aber begreife ich, wie die Wünsche oder das Geschick Anderer abhängen sollten von dem Entschluß eines so unbedeutenden, armen Mädchens, wie ich bin.“

„Sie sind nicht arm, liebes Kind,“ erwiderte Helene. „Kommen Sie,“ fuhr sie tief bewegt fort, „wir sind von heute an treue Schwestern! … Nicht wahr, lieber Rudolph,“ wandte sie sich nicht ohne Verlegenheit an ihren Bruder, „auch Du heißest Emil’s Braut willkommen in unserer Familie und erlaubst, daß ich schwesterlich mit ihr theile?“

„Ja,“ klang es dumpf, aber fest herüber.

Elisabeth fuhr mit der Hand nach der Stirn, es klang so unglaublich, was sie eben gehört hatte… „Emil’s Braut“ hatte Fräulein von Walde gesagt, und das sollte sie, sie sein – es war unmöglich. Hatten sich diese Menschen verschworen, ihr einen fürchterlichen Schrecken einzujagen? … Und er, der wußte, daß sie Hollfeld verabscheue, er hielt zu Jenen; er stand dort drüben mit untergeschlagenen Armen, ein Bild unerbittlicher Strenge und Zurückweisung. Er hatte die ganze Zeit unbeweglich gestanden und jetzt nur die Lippen geöffnet, um das Ja auszusprechen, das von beinahe zermalmender Wirkung für das junge Mädchen war. Hatte er nicht früher selbst in der rauhesten Weise ein Entgegenkommen seines Vetters ihr gegenüber zu verhindern gesucht? … Wie ein erleuchtender Blitz fuhr es plötzlich bei diesem Gedanken durch ihre Seele: Sie war ja jetzt von Adel, das erklärte Alles. Hollfeld’s Stammbaum wurde nicht mehr verunehrt durch die bürgerlich Geborene; daher die Bereitwilligkeit der Verwandten, ihn in seiner Werbung zu unterstützen; daher Helenens Betroffenheit bei ihrer Erklärung, daß sie den ihr zugefallenen adligen Namen verschmähe… Wie es aber zusammenhing, daß Alle bereits ein völliges Einvernehmen zwischen ihr und dem Verhaßten voraussetzten, das zu ergründen war ihr im Augenblick unmöglich; denn ihre Gedanken wirbelten in einem unaussprechlichen Aufruhr durcheinander. Nur Eines war ihr klar: daß sie augenblicklich, ohne Rückhalt jenes Ansinnen zurückweisen müsse.

„Ich sehe mich einem Mißverständniß gegenüber, dessen Entstehen ich mir nicht enträthseln kann,“ nahm sie das Wort in fliegender Hast. „Es wäre wohl Herrn von Hollfeld’s Pflicht, hier Aufklärung zu geben; da er es jedoch vorzieht, zu schweigen, so sehe ich mich genöthigt, auszusprechen, daß er nie und nimmer irgend welches Versprechen von mir erhalten hat!“

„Aber, liebes Kind,“ sagte Helene zögernd und verlegen, „haben wir nicht vorhin bei unserem Eintritt mit eigenen Augen gesehen, daß –“ sie brach ab.

Wie ein Donnerschlag trafen Elisabeth diese Worte. In ihrer reinen, unschuldigen Seele war auch nicht einen Moment die Furcht aufgetaucht, daß jener Augenblick des Schreckens und der Hülflosigkeit mißverstanden werden könne, und nun mußte sie zu ihrem höchsten Schmerz erfahren, daß er ein abscheuliches Licht auf sie geworfen hatte… Sie wandte sich noch einmal rasch um nach Hollfeld; doch schon der eine Blick auf ihn belehrte sie, daß sie von dieser Seite keine Genugthuung, keine Ehrenrettung zu hoffen habe. Er lehnte, den anderen Anwesenden den Rücken halb zuwendend, wie ein ertappter Schulknabe am Fenster. Wären die Damen allein gewesen, so hätte er sich ohne Zweifel durch ein freches Lügengewebe zu helfen gesucht; allein Herrn von Walde’s Anwesenheit lähmte ihn vollständig. Er begnügte sich, in einem zweifelhaften Schweigen zu verharren, welches die verschiedenartigsten Deutungen zuließ.

„Gott im Himmel, wie schrecklich!“ rief das junge Mädchen außer sich und rang die Hände. „Sie haben gesehen,“ fuhr sie, das Gesicht schamhaft senkend, nach einem tiefen Athemholen fort, „wie ein wehrloses Mädchen vergebens gestrebt hat, die Zudringlichkeiten eines Ehrlosen zurückzuweisen… Die Versicherung meiner tiefsten Verachtung, meiner völligen Abneigung vermochten nicht, ihn zu verscheuchen. Ich habe Herrn von Hollfeld diese Gesinnungen stets unverhohlen gezeigt, trotzdem –“

Ein starkes Geräusch hinter ihr ließ sie plötzlich verstummen. [260] Helene war in das Sopha zurückgesunken, ihre Rechte klammerte sich krampfhaft um die Tischecke und zitterte so heftig, daß das auf der Platte stehende Porcellangeschirr aneinander klirrte. Das Gesicht der jungen Dame war aschfarben; ihr erlöschender Blick irrte hinüber zu Hollfeld… Vergebens bemühte sie sich, ihrer tödtlichen Bestürzung Herr zu werden, das Licht, das plötzlich auf ein Netz häßlicher Intriguen fiel, war zu grell; sein Strahl hatte etwas von der vernichtenden Gewalt des Blitzes für das bis dahin arglos vertrauende Gemüth Helenens.

Obgleich selbst in höchster Aufregung und im Begriff, ihrer Entrüstung noch weiteren Ausdruck zu geben, fühlte Elisabeth doch sofort ihr Herz in innigem Mitleiden schmelzen bei dem Anblick der jungen Dame. Sie hatte, indem sie ihre Ehre vertrat, der Unglücklichen die Binde von den Augen gerissen, das that ihr schmerzlich leid um Helenens willen, wenn sie auch wußte, daß diese Enttäuschung doch früher oder später hätte erfolgen müssen. Rasch trat sie zu ihr und nahm die eiskalten Hände, die langsam vom Tisch niederglitten, zwischen die ihrigen.

„Vergeben Sie mir, wenn ich Sie durch meine heftigen Worte erschreckt habe,“ sagte sie bittend, aber fest. „Es wird Ihnen nicht schwer werden, sich in meine Lage zu versetzen. … Einige erklärende Worte des Herrn von Hollfeld würden genügt haben, den unwürdigen Verdacht von mir zu nehmen. Ich würde dann nicht gezwungen gewesen sein, meine Ansicht über seinen Charakter und seine Handlungsweise so unumwunden auszusprechen. … Ich bedaure, daß es geschehen mußte, aber ich kann kein Jota davon zurücknehmen.“

Sie küßte Helenens Hände und verließ schweigend den Pavillon. Es war ihr, als strecke Herr von Walde hastig die Hand nach ihr aus, als sie an ihm vorüberschritt, aber sie sah nicht auf.

Draußen verfolgte sie den schmalen, gewundenen Pfad, der durch ein kleines Gehölz nach dem Teich mündete; sie schritt über den großen Kiesplatz am Schlosse vorüber und betrat den engen Waldweg, der nach dem Nonnenthurm führte, ohne zu wissen, wo sie sich befand, ohne daran zu denken, daß sie sich immer weiter vom Heimweg entfernte.

Sie war in einer unaussprechlichen Gemüthsaufregung. Wie ein Sturm brauste es durch ihr Gehirn… Hollfeld’s Heirathsantrag, seine maßlose Leidenschaft, Bertha’s plötzliche Erscheinung am Pavillonfenster, die unbegreifliche Thatsache, daß Helene sie freudig als die Braut dessen begrüßt hatte, den sie selbst leidenschaftlich liebte, dies Alles flog immer und immer wieder an ihr vorüber, und dazwischen klang schneidend das „Ja“ des Herrn von Walde… Er hätte sie also willkommen geheißen als Hollfeld’s Braut … es würde ihm nicht die geringste Ueberwindung gekostet haben, sie an der Seite seines Vetters zu sehen! … Diese Heirath war ohne Zweifel im Familienrath beschlossen worden. Herr von Walde hatte mit kalt prüfendem Verstand das Für und Wider erwogen und war schließlich mit seiner Schwester darin übereingekommen, daß Emil’s Auserwählte jetzt die Geschlechtstafel Derer von Hollfeld nicht mehr verunehre; man wollte sie in Gnaden annehmen und einem Mangel der Braut, ihrer Armuth, großmüthig aus eigenen Mitteln abhelfen.

Bei diesen Gedanken biß Elisabeth die Zähne heftig aufeinander wie bei einem starken körperlichen Schmerz. Eine unaussprechliche Bitterkeit erfüllte ihr Gemüth, dessen tiefinnige Neigung unverstanden zertreten worden war von jenen kalt berechnenden, eingefleischten Aristokraten… Wie hatte sie nur hoffen können, daß er je Sympathie fühlen könne für ein warmpulsirendes weibliches Herz, für eine junge Seele, die, nach Freiheit ringend, keinen Raum gab jenen engherzigen, oft so lächerlichen Satzungen der Menschen? … er, der nur in Moder und Schutt alter Geschlechter den Nimbus und die Vorzüge der Frau suchte?

Sie blieb manchmal in Gedanken versunken stehen; dann schritt sie wieder hastig, wie von ihrem Gedankenstrom getrieben, weiter, ohne zu bemerken, daß sie denselben Weg verfolgte, den sie vor wenigen Tagen an seiner Seite voll Scheu und Angst betreten hatte. Die vorstehenden Zweige der Büsche schlugen an ihre Stirn, sie dachte nicht daran, daß er sie neulich vorsorglich weggebogen hatte, wenn sie ihr Gesicht bedrohten… Noch war das Buschwerk eingeknickt, und abgestreifte Blätter lagen welkend am Boden, da, wo Fräulein von Quittelsdorf und Hollfeld sich Bahn gebrochen hatten zu den zwei einsam Wandelnden. Das war auch die Stelle, wo der halbvollendete Glückwunsch soufflirt worden war, Elisabeth glitt achtlos vorüber, und das war gut; denn ihr heißes Auge hatte keine Thränen, und hier war der Ort, wo sie sicher ihr ganzes Herz hätte ausweinen mögen.

Endlich sah sie sich erstaunt um. Sie stand vor dem Nonnenthurm. Sie war vielleicht das erste menschliche Wesen, das den Festplatz wieder betrat, seit ihn die letzten Gäste oder die müde Schloßdienerschaft neulich Nachts verlassen hatten.

Es sah wüst und unordentlich aus auf dem kleinen Plan, der auch nicht ein aufrechtstehendes Grashälmchen mehr zeigte; Alles war niedergetreten worden beim Tanz, der sonach kein Elfenreigen gewesen sein mochte. Die zwei Tannen, die das Marketenderzelt getragen hatten, lagen hingestreckt am Boden, auf einem Gemisch von Flaschenscherben und den Ueberresten eines in der Nähe abgebrannten Feuerwerkes, und droben hingen noch die zusammengeschrumpften Guirlanden zwischen Thurm und Eichen, ein leiser Luftzug strich flüsternd über die dürren Blumenhäupter, die, fest aneinandergepreßt und hoch in der Luft schwebend, über einem Zusammenfluß von Genüssen hatten verschmachten müssen.

Eine leichte Dämmerung webte bereits unter den Eichen, wenn auch noch ein goldiger Schein auf ihren Wipfeln und über der grauen Zinne des Thurmes gaukelte.

Elisabeth fühlte plötzlich, leicht zusammenschauernd, ihr Alleinsein mitten im Herzen des todtenstillen, dunkelnden Waldes, trotzdem zog es sie noch einmal unwiderstehlich nach jener Stelle, wo Herr von Walde von ihr Abschied genommen hatte. Sie schritt über den zerstampften Rasenplatz, blieb aber einen Augenblick wie festgewurzelt stehen; denn der Abendwind trug einzelne, abgebrochene Töne einer menschlichen Stimme zu ihr herüber. Anfänglich klang es wie ein ferner, vereinzelter Hülferuf, aber allmählich reihten sich die Töne aneinander, sie kamen rasch näher. Es war eine schneidend scharfe, gellende weibliche Stimme, die ein geistliches Lied mehr schrie, als sang. Elisabeth hörte deutlich, daß das Wesen während des Singens schnell vorwärts lief.

Plötzlich zerriß die Melodie, und an ihre Stelle trat ein entsetzliches Gelächter, oder vielmehr ein Geschrei, das eine Scala von Hohn, Triumph und bitteren Qualen bildete.

Eine schlimme Ahnung stieg in Elisabeth auf. Ihr Blick tauchte erschreckt in das Baumdunkel nach der Richtung hin, wo der Lärm sich näherte. Er verstummte in diesem Augenblick jedoch wieder, und die Stimme begann das Lied von Neuem … jetzt aber kam sie wie im Sturmschritt heran.

Elisabeth trat in die offene Thür des Thurmes, denn sie mochte der wandernden Sängerin, die offenbar ein unheimliches Wesen sein mußte, nicht in den Weg treten; allein kaum hatte sie die Schwelle überschritten, als das Gelächter abermals und zwar sehr nahe erscholl.

Jenseits des Rasenplanes stürzte Bertha aus dem Walddickicht hervor, ihr zur Seite lief Wolf, der grimmige Hofhund des Oberförsters.

„Wolf, faß an!“ kreischte sie, beide Hände nach Elisabeth ausstreckend. Das Thier jagte heulend über den Platz.

Elisabeth warf die Thür in’s Schloß und lief die Treppe hinauf. Sie gewann einen Vorsprung, aber noch ehe sie die Zinne des Thurmes erreicht hatte, wurde drunten die Thür aufgestoßen. Der keuchende Hund stürzte herauf, ihm nach die Wahnsinnige, indem sie unausgesetzt ihren hetzenden Zuruf wiederholte.

Athemlos erreichte die Verfolgte die letzte Stufe, sie hörte das Schnauben des ungeberdigen Thieres hinter sich – es war ihren Fersen nahe – warf mit der letzten Kraftaufwendung die eichene Thür zu, die auf das Plateau führte, und stemmte sich dagegen.

Einen Augenblick darauf rüttelte Bertha drinnen am Thürschloß, es wich nicht. Sie tobte und warf sich wüthend mit der ganzen Schwere ihres Körpers gegen die eichenen Bohlen, während Wolf abwechselnd heulend und knurrend an der Schwelle kratzte.

„Bernsteinhexe da draußen!“ schrie sie. „Ich drehe Dir den Hals um… Ich werde Dich bei Deinen gelben Haaren nehmen und Dich durch den Wald schleifen! … Du hast mir sein Herz gestohlen, Du Mondscheingesicht, Du Tugendspiegel, Scheinheilige! Wolf, faß an, faß an!“

Der Hund winselte und schlug mit den Tatzen gegen die Thür.

„Zerreiße sie in Stücken, Wolf, schlage Deine Zähne in ihre weißen Finger, die ihn behext haben mit der Musik, die vom Teufel kömmt! … Wehe, wehe! Verdammt seiest Du da

[261]

Der Alte von Neuseß am Arbeitstisch.
Nach einer für die Gartenlaube ausgeführten Originalzeichnung von Hohnbaum.

draußen, verdammt seien die Töne, die Deine Finger hervorbringen; sie sollen zu giftigen Mordspitzen werden, die sich gegen Dein eigenes Herz wenden und es zerfleischen!“

Abermals warf sie sich gegen die Thür. Das alte Bretergefüge erzitterte und ächzte, aber es wich nicht unter den Stößen des kleinen, ohnmächtigen Fußes.

Elisabeth lehnte währenddem mit festgeschlossenen Lippen und bleichem Gesicht draußen. Sie hatte ein Stück Holz, das zu ihren Füßen lag, ergriffen, um sich nöthigenfalls gegen den Hund zu vertheidigen. Bei den Flüchen und Verwünschungen, die Bertha ausstieß, erbebte ihr ganzer Körper, doch sie richtete sich um so entschlossener und trotziger auf.

[262] Hätte sie einen prüfenden Blick auf das Thürschloß geworfen, so würde sie bemerkt haben, daß das Anstemmen ihrer zarten Gestalt ganz unnöthig sei, denn ein mächtiger Riegel war vorgesprungen, gegen den die schwache Kraft der Wahnsinnigen nichts auszurichten vermochte.

„Wirst Du wohl aufmachen?“ tobte sie wieder drinnen. „Du durchsichtiges, zerbrechliches Ding! … Ha, ha, ha! Goldelse nennt sie der alte Brummbär, den ich hasse, wie das Gift; der Alte will durchaus nicht fromm werden, er mag zur Hölle fahren, aber ich werde selig sein, selig! … Gold-Else nennt er sie, weil sie bernsteingelbes Haar hat! Pfui, wie bist Du häßlich, Du Füchsin! … Mein Haar ist schwarz, wie ein Rabenflügel, ich bin schön, tausendmal schöner, als Du! Hörst Du das, Du Affengesicht da draußen?“

Sie schwieg erschöpft, und auch Wolf unterbrach sein Zerstörungswerk an der Schwelle.

In demselben Augenblicke zog fernes Glockengeläute durch die abendstillen Wipfel des Waldes. Elisabeth wußte, was es bedeutete. Aus den Ruinen der alten Burg Gnadeck bewegte sich eben ein Leichenzug den Berg herab. Lila’s sterbliche Ueberreste verließen das Haus, gegen dessen Mauern einst das schöne Zigeunerkind verzweifelnd die Stirn geschlagen hatte. Sie wurde durch den grünen Wald getragen, um deswillen vor zwei Jahrhunderten ihr Herz gebrochen war.

Auch Bertha schien den Glockentönen zu lauschen. Sie regte sich nicht.

„Sie läuten!“ schrie sie plötzlich. „Komm’, Wolf, wir wollen in die Kirche gehen .... Sie muß droben bleiben bei den Wolken, die werden des Nachts über sie herstürzen, der Sturm reißt an ihren Haaren und die Raben werden kommen und nach ihren Augen hacken, denn sie ist verflucht, verflucht!“

Gleich darauf begann sie das Lied wieder. Ihre schreckliche Stimme schlug grauenhaft gegen die engen Wände des Treppenhauses. Polternd lief sie hinab und trat unten aus der Thür. Sie sprang singend über den Plan, nach derselben Richtung, woher sie gekommen war, der Hund trabte nebenher. Nicht ein einziges Mal drehte sie sich um nach dem Thurm; nun sie ihn im Rücken hatte, schien sie bereits nicht mehr zu wissen, daß da droben hinter dem grauen Steingeländer der Gegenstand ihres Hasses stehe. Noch einmal tauchte ihr hochrother Rock aus dem dunkelnden Gebüsch auf, dann verschwand die Gestalt sammt ihrem schrecklichen Begleiter. Allmählich verhallte auch ihr Gesang, und bald trug die weiche Luft nur noch das Geläute zu der Einsamen auf der Thurmzinne.

Sie verließ aufathmend ihren Vertheidigungsposten, den sie mechanisch noch inne behalten hatte, und griff nach dem Thürschloß, aber der alte, eingerostete Knauf blieb so unbeweglich, wie unter Bertha’s Händen. Mit Schrecken entdeckte sie den vorgesprungenen Riegel, er hatte sie freilich wacker geschützt und vertheidigt, indeß nun hielt er sie auch gefangen. Er rührte sich nicht von der Stelle bei allen Versuchen und Anstrengungen; ermattet und muthlos ließ das junge Mädchen endlich die Hände sinken.

Was nun anfangen? Angstvoll dachte sie an ihre Eltern, die gewiß schon in diesem Augenblick sich um ihr Ausbleiben beunruhigten, denn sie hatte ja selbstverständlich der Beisetzung beiwohnen wollen.

Um sie her schaarten sich die gewaltigen Häupter des Waldes, hie und da noch rosig betupft von einem verblassenden, letzten Sonnenstrahl. Weit, weit da drüben schloß sich erst ein lichter Streifen an die dunklen Massen, dort lag L. mit seinem stolzen, hochgelegenen Schlosses dessen lange Fensterreihe eben noch einmal feurig aufblitzte und dann erlosch … Und dort thürmte sich der Berg mit den Gnadecker Ruinen, aber der Wald verbarg die traute Heimath; nicht einmal die weithin sichtbare Fahnenstange war von hier aus zu entdecken.

Die Hoffnung, gesehen zu werden, gab Elisabeth sofort auf, und ihr schwacher Hülferuf, das sagte sie sich ebenfalls, mußte ungehört verhallen, denn der Thurm lag ja so tief versteckt im Forst, keine belebte Fahrstraße führte in der Nähe vorüber, und wer betrat wohl bei hereinbrechendem Abend noch die stillen Wege, die kein anderes Ziel hatten, als den Nonnenthurm?

Trotzdem machte sie einen Versuch und schickte einen Ruf hinaus in die Lüfte. Wie schwach klang er! Es kam ihr vor, als hätten ihn schon die nächsten Baumkronen eingesogen; er hatte nur einige Raben in der Nähe aufgeschreckt, die nun krächzend über dem Haupt des jungen Mädchens wegflogen, dann war es wieder still, schaurig still. Die Lindhofer Kirchenglocken waren verstummt. Im Westen glimmte noch ein schwaches Roth, einige kleine Wölkchen zart besäumend, der Wald aber lag bereits im tiefen Abendschatten.

(Fortsetzung folgt.)




In Friedrich Rückert’s Haus.
2. Die letzten Tage des Alten in Neuseß.[1]


Neuseß! Welchem Menschen, dem das Glück einer solchen Bildung zu Theil ward, daß er in den Schöpfungen unserer großen Dichter die reinste Quelle seiner Veredelung und Erquickung findet, schlägt das Herz nicht rascher, wenn er im Gottesacker zu Weimar die Gruft betritt, in welcher die Dichter bei ihrem Fürsten ruhen, oder in Braunschweig der Stätte naht, in welcher der wahre „Nathan der Weise“ schläft, oder im Friedhof von Baireuth vor der bescheidenen Pyramide unseres edelsten Humoristen weilt, oder in Nürnberg, Bonn, Stuttgart die Gräber deutscher Bürger-Dichter und dichterischer Patrioten sucht, oder mit dem Eichenstrauß wallfahrtet zu den einsamen grünen Hügeln des Messiassängers bei Ottensen oder des Jünglings mit der Leier und dem Schwert bei Wöbbelin? Ein solcher Wallfahrtsort des Geistescultus ist nun auch Neuseß geworden.

Wir wandeln vom Coburger Bahnhof aus nach dem Dörfchen. An zur Linken steilaufragenden Hügeln hin, die mit ihren fürstlichen Parks und bürgerlichen Gärten einen gar freundlichen Anblick gewähren, führt eine schattige Fahrstraße uns in einer Viertelstunde nach Neuseß. Zur Rechten bietet der Weg den offenen Blick in das Land, dort die Stadt und die Veste Coburg, dahinter die schönen Linien der Waldhügel und dort die langen Ackerberge jenseits des weiten lebenvollen Thals, das die Pappel- und Lindenreihen der Chausseen und die Schienen und Telegraphenstangen der Eisenbahn durchziehen.

Da, wo unser Weg in die Chaussee einmündet, welche von Coburg nach Hildburghausen führt, erblicken wir jenseits derselben eine Gartenthür, dahinter einen Obst- und Gras- und dann einen Gemüse- und Blumengarten, über deren Laubdächern sich die gelben, zum Theil von üppigen Schlingpflanzen behangenen Wände eines Wohnhauses erheben, dem zur Linken sich augenscheinlich der Landwirthschaft dienende Baulichkeiten anschließen. Das war Rückert’s Besitzthum.

Wenden wir hier unsere Blicke nach den Hügeln zur Linken von der Chaussee hinauf, so sehen wir ein thurmartiges Schlößchen, das Graf Arthur Mensdorff (die Leser der Gartenlaube haben ihn als Freund Radhen Saleh’s kennen gelernt) sich als eine Erinnerung aus Spanien gebaut; der kleine Park desselben steht in Verbindung mit einer tiefen schattigen Schlucht, welche zwei fürstliche Denkmale einschließt; vor dieser Schlucht breitet eine helle, freundliche Terrasse sich aus, auf welcher eines der hellsten und [263] freundlichsten Geister unserer Literatur, Moritz v. Thümmel’s, hohe Grabsäule emporragt.

Wir gehen auf der Coburger Chaussee, Rückert’s Garten zur Linken lassend, dem Dorfe zu. Eine breite Gasse, deren Häuser, ein ehemaliges Schlößchen, Gasthof, Pfarrhaus und Bauernwohnungen, sämmtlich das Gepräge von Wohlstand oder wenigstens Auskömmlichkeit tragen, läßt uns den Blick bis zur Kirche und ihrer hohen Gottesackermauer frei. Dort, auf einer Brücke, unter welcher das Lauterflüßchen hinfließt, sehen wir das Dorf in zwei Gassen sich theilen, deren rechte zu einer von den lebensfrohen Coburgern vielbesuchten Vergnügungs-Wirthschaft führt. Unser Weg führt uns vom Brückchen zur Linken, zwischen der Lauter und der Gottesackermauer hin vor das für Dorfverhältnisse stattliche Haus, das wir erst von der Chaussee aus über die grünen Wipfel der Gartenbäume emporragen sahen: Rückert’s Haus.

Treten wir durch die Thür, die einst so vielen Gästen offen gestanden, so finden wir gleich den heimischesten Raum ebener Erde zur Linken: die liebe wohnliche Familienstube mit der bürgerlichen Einfachheit, in der es Jedem wohl ward, der ein rechtes Bürgerherz mitbrachte. Aus dem Hausplatz gelangen wir, an der ehrenden Werkstätte jeder braven Hausfrau, der Küche, vorüber in den Garten, wo zunächst eine dichtbelaubte Veranda den Aufenthalt im Freien auch bei der strahlendsten Sonne möglich macht und dann das von Blumen umrankte und von duftendem Buschwerk beschattete Plätzchen winkt, wo so oft der Dichter im Kreise seiner Lieben, Freunde, Verehrer und Gäste des Augenblicks die Allen unvergeßlichen Stunden der Kaffeezeit zubrachte.

Die Verehrer aus der Ferne wie die Freunde aus der Nähe zieht gerade ihre Verehrung und Liebe heute vor Allem zu einem, dem stillsten, dem geweihtesten Raum des Hauses, der Allen, fast ohne Ausnahme, so lange der Dichter lebte, verschlossen war: seine Arbeitsstube. Die Pietät hat kein Blatt darin verrücken lassen, so heilig halten sie die Lieben: möge nie ein anderes Gefühl, als das der Ehrfurcht vor dem Genius, der hier Unsterbliches geschaffen, zu ihrer Schwelle leiten.

Man schreitet in einen solchen Raum wie in eine Kirche, mit dem Gefühl, daß ein Geist aus Gott hier gewaltet. Und wie einfach ist dieses kleine Eckzimmer mit seinen drei Fenstern! Rückert selbst hat nie darauf geachtet, was eigentlich in dem Zimmer an Möbeln stand. Derlei war ihm nur entweder nöthig oder unnöthig, im letzteren Falle war es eben für ihn gar nicht da. Wir sehen vor einem einfachen Sopha einen runden Tisch und auf diesem ein ganz einfaches porcellanernes Schreibzeug, in welchem Cigarrenasche den Platz des Streusandes einnimmt. Außerdem ist der Tisch so bedeckt mit Schriften und Büchern, daß der Dichter daran eben nur Raum genug hatte, um seine geraden, ruhigen Buchstaben langsam auf’s Papier zu bringen. Zu seinen Füßen neben Tisch und Sopha hatten große Lexika ihren Platz. Neben dem Stehpult, auf welchem orientalische Werke aufgeschlagen liegen, steht an der Wand ein Regal mit einem Gitterfach, in welchem die vielen, vielen Zettel und Zettelchen für seine sprachwissenschaftlichen Arbeiten eingeschichtet liegen.

Der Wandschmuck besteht nur aus Bildern von unschätzbarem Herzenswerth für den Dichter. Ueber dem Sopha sieht man das Bildniß seiner Gattin als Braut, im vollen Lebensschmuck des Liebesfrühlings, wo sie einst „hört’ in stiller Lust die Frühlingsströme rauschen in ihres Dichters Brust“ und wo sie selbst durch des Geliebten Dichtermund bekannte:

Kann man im Herzen tragen
Soviel zu einer Frist?
Ich will davor nicht zagen,
Weil Alles Ein’s nur ist.
Durch Liebe will ich zeigen
Der Welt, ich sei liebeigen,
Und jeder Blum’ es sagen,
Daß Du mein Gatte bist.

Ich will die Liebesspenden
(O zürne nicht der Braut!)
An alle Welt verschwenden,
Wie Lenz vom Himmel thaut.
Mir ist soviel geblieben:
Ich kann sie alle lieben,
Ohn’ etwas zu entwenden
Dir Einem süß und traut!

Neben diesem Bilde hängen die Portraits seiner Eltern. Wie alle wahren Dichter – darin herrscht eine wunderbare Uebereinstimmung des Herzenszugs – bewahrte Rückert seiner Mutter die kindlichste Liebe im Leben und das innigste Gedächtniß nach ihrem Tode. Oft und nie ohne tiefe Ergriffenheit äußerte er, und besonders in den letzten Zeiten: „Ich möchte wohl einmal meiner Mutter wieder begegnen!“

Von Carl Barth’s Hand gezeichnet schmückt dieselbe Wand ein Bild von Rückert als Jüngling, mit Schnurr- und Knebelbart und im schwarzen (altdeutschen) Sammetrock, und die Bildnisse von den beiden gestorbenen Kindern Rückerts, seinen „Kleingebliebenen“, an die sein Vaterherz viele noch unbekannte Gedichte gerichtet und deren er noch zuletzt mit Thränen gedacht hat. Bekannt ist nur das eine tiefe, ruhige Liedchen:

„Heranzualtern ist der Jugend Loos,
Und kleine Kinder wachsen mählich groß,
Dann machen sie sich von den Eltern los,
Und wiegen kannst Du sie nicht mehr im Schooß.

Doch ihr, die mir geraubt ein frühes Loos,
Bleibt immer klein, nie werdet ihr mir groß,
Ihr reißt euch nie von meinem Herzen los,
Und wiegen kann ich euch wie sonst im Schooß.“

Endlich finden wir noch die Bildnisse von Barth und dem alten Truchseß, dem „letzten Ritter des Frankenlandes“, von dessen Bettenburger Tafelrunde „Freimund Reimar“ zuerst als Dichter anerkannt und in die Oeffentlichkeit eingeführt wurde. Ueber diesen denkwürdigen Augenblick seines Lebens verweisen wir auf einen demnächst folgenden Artikel der Gartenlaube.[2] Mit welch’ treuer Liebe er an dem alten Freiherrn hing, ist am blühendsten und glühendsten ausgesprochen in dem „Rosenlied“, das er ihm von Stuttgart (wo Rückert damals das „Morgenblatt“ redigirte) zum Geburtstag auf die Bettenburg sandte.

Das ist Alles, was uns in des Dichters Arbeitsstube besonders in’s Auge fällt, so einfach und doch so reich an Herzenswerth ist sie. Hier saß Rückert noch bis in die letzte Zeit, noch im Januar dieses Jahres, von früh sieben Uhr bis Mittag zwölf Uhr an seinem Arbeitstische. Dann machte er einen halbstündigen Spaziergang im Garten. Nach dem Mittagstisch schlief er auf dem Sopha seines Studirzimmers bis gegen halb vier und arbeitete hierauf wieder bis zum Abend, wo er die Zeitungen las; später ließ er sich dieselben am liebsten von seiner Tochter Marie vorlesen.[3]

Früher dehnte er, als ein rüstiger Fußgänger, seine Lustwandelungen weiter aus, wozu ihm der prachtvolle Park und Wald des Sommerschlosses Kalenberg die lockendste Gelegenheit bot. Ausgangspunkt oder Endziel seiner Nachmittagswanderungen war dann sein Goldberg. Dieser Hügel im Thale nordwestlich von Neuseß reizte ganz besonders seine große Lust am Bauen und an der Herstellung von Gartenanlagen, und so baute er sich denn auf der Höhe des Hügels, der von Alters her den stolzen Namen „der Goldberg“ führt, ein kleines Sommerhaus in Schweizerstyl und mit einem Balcon, von dem aus wir auf ein reizendes Landschaftsbild blicken. Vor uns breitet das grüne Thal von Neuseß sich aus, das Dorf, von der Kirche mit dem spitzen Thurm überragt, dahinter in baumreicher Flur Coburg, dessen Hauptgebäude, Kirchen und Schlösser ihm ein stattliches Ansehen geben, umrahmt von gartenreichen Hügeln, die zu mehrern Bergen aufsteigen, deren höchster die Veste Coburg trägt und das Bild schön abschließt. Wenn Rückert die Flügelthüren des Zimmers, die zum Balcon führten, öffnete und sich mit seiner Lieblingslectüre auf dem Sopha niederließ, so stand, so oft er die Augen erhob, dieses Bild vor ihnen. Früher wurden Blumen um dieses Haus gepflegt, später ließ er hier der lieben Natur ihren freien Lauf und freute sich der üppig wuchernden Wildniß. Auf einer Seite ist das Häuschen von der wilden Clematis ganz umklammert. Diese dankbare Waldrebe, die ihm die hier weniger heimisch sich fühlende Weinrebe ersetzen mußte, und das Wintergrün pflegte er besonders gern.

In der Stille und Abgeschlossenheit des Goldberg gönnte er sich ein geistiges Ausruhen nach der ernsten Arbeit. Außer guten neuen Büchern las er dort besonders gern im Ossian, im Nathan dem Weisen, und Goethe’s Gedichte waren ihm immer dort zur Hand; diese konnte er gar nicht entbehren.

Auch die Wahl des Goldbergs und die Art seiner Pflege zeugt von seiner Liebe zur Natur. Das Großartige, Gewaltige einer Landschaft zog ihn weniger an, er fühlte sich desto inniger zum Kleinsten, Nächsten, Einfachsten hingezogen. Das belauschte er in seinem Wachsen und „freute sich jeder ersten Blüthenspende. Ueber die ersten Schneeglöckchen konnte er jubeln, als ob er noch das Kindesherz in der Brust trüge. Und war’s denn nicht so?

[264] Ja, er hat diese kindliche Reinheit und Frische des Herzens sich bewahrt bis zum letzten Athemzug. Er konnte zum Kind herniedersteigen und mit ihm sinnen und fühlen, so oft er wollte. Aber auch dämonische Gewalten barg seine Seele. „Mein Herz gleicht ganz dem Meere,“ hätte auch Rückert mit vollem Recht von sich sagen können. Man konnte sich an seinem Anblick erquicken, wenn er so mild und ruhig und still befriedigt war. Aber wenn der Sturm der Gefühle in ihm losbrach, dann konnte man erschrecken vor dem Brausen desselben und dem Wirbeln der riesenhaften Gewalten seiner Seele.

Und sein Aeußeres gab stets das treue Spiegelbild seines Innern. „Was hast Du nur wieder für ein neues Gesicht? Das habe ich noch nie gesehen!“ sprach in solchen erregten Augenblicken oft seine Tochter Marie zu ihm, die feinfühlendste Beobachterin aller seiner Seelenregungen. Wer ihn einmal in recht freudig gehobener Stimmung sah, der wird eingestehen, daß das Licht und der Glanz seines Auges die Züge seines Antlitzes wunderbar verschönen konnte. Am häufigsten geschah dies, wenn er von seinem Morgenland sprach, wenn er von seinen Arabern oder den von ihm noch mehr geliebten Persern erzählte, und wenn er sich gar in Goethe vertiefte, dann überkam ihm nicht selten in seiner Verehrung vor diesem Geist eine weiche, seine Umgebung tief rührende Stimmung. Seine Tochter Marie wagte es einmal, ihn nach einer solchen Scene zu fragen, warum gerade immer Goethe eine so außerordentliche Wirkung auf ihn mache. Er antwortete nur: „Glaub’ mir, Kind, ich weiß, was das heißen will, wenn Einer so etwas schafft.“ – Fräulein Marie erzählte mir auch, daß ihr Vater ihr den ersten Unterricht im Lesen gegeben habe, und zwar – im Goethe. Sie mußte von den lyrischen Gedichten viele auswendig lernen und alle Tage hersagen. So früh führte er sein liebes Töchterchen in den Liebling seines Geistes ein.

Die Grundfeste des Glücks, das dem Dichter nie untreu geworden, bildete die Eheglückseligkeit, das von keinem andern Schatten, als dem des gemeinsamen Leids über den Tod zweier Kinder getrübte Hausleben der beiden Liebesfrühlingsleute. Ja, Rückert war glücklich – in sich, für seine Lieben und seine Lieben in ihm; ein volleres und vollendeteres Menschendasein kann sich kein Gleichbegabter wünschen. Und freudig bekannte er dies als einen Trost auf seinem letzten Leidenslager. „Ja,“ sprach er oft, „ich habe viel Gutes hier gehabt, ich kann dankbar scheiden.“ – Und als in solch’ einem geweihten Augenblick die Tochter ihm zuflüsterte: „Nicht wahr, und Du bist auch mit dem zufrieden, was Du gelebt und gesungen“ – sagte er lächelnd: „Fang’ doch lieber am Anfang an: Ein Vollendetes hienieden wird nie dem Vollendungsdrang.“

Es war nicht blos die hohe Körpergestalt, es war die Hoheit seines Wesens, welche auch außerhalb des Hauses die Leute vom Dorfe wie auf der Landstraße, die jeden Bauer, jedes Kind mit Ehrfurcht vor ihm erfüllte; seine Untergebenen fühlten sich wie bezaubert an ihn gefesselt. Gegen diese wie gegen seine Orts- und Feldnachbarn war er nichts weniger als abgeschlossen; mit ihnen unterhielt er sich sehr gern, wußte nicht nur in ihren Ideengang leicht einzugehen, sondern ihnen nicht selten ganz praktischen Rath zu ertheilen. Er hielt stets auf gute Nachbarschaft. Aber auch die Armen kannten ihn, und vielleicht mancher Gauner nicht weniger; man sah, wie gern er gab, ja daß fast nur der Dank ihm die Freude daran hätte verleiden können, und diese Herzensgüte ward natürlich nicht selten von Unwürdigen mißbraucht. Niemals aber kam ihm deshalb der Gedanke an, es mit seinen Gaben anders zu halten, als seither, weil er lieber einige Unwürdige mit begaben, als einen einzigen Würdigen kränken wollte.

Seine Lust am Freudebereiten, sein Gefälligsein, wo er nützen oder ein Wohlgefühl wecken konnte, ist nicht weniger häufig erprobt worden. Und hier möchte ich wohl eine allgemeine Bitte aussprechen. Dieser edle Zug des Dichters hat nämlich gar manches Gedichtchen und gar manchen Brief ihm entlockt, die natürlich von ihm nicht für die Oeffentlichkeit bestimmt waren. Wie es nun wohl Niemandem, so lange der Dichter lebte, beigekommen wäre, solche Gaben seiner Freundlichkeit ohne seine Einwilligung dem Druck zu übergeben, so sollte man billig dieses Recht des Dichters nicht mit seinem Hinscheiden für erloschen erachten, sondern mit deren Veröffentlichung wenigstens warten, bis seine eigene nachgelassene Verfügung darüber bekannt ist. Wir dürfen nicht vergessen, daß wir nicht blos eine gerechte, sondern auch eine makelselige Kritik haben, welche sich nicht scheut, ohne Rücksicht auf den Ursprung solcher kleiner, poetischer Gaben sie nur zu benutzen, um in den Augen der Vielen, die den Dichter noch nicht kennen, ihn tief unter seine Höhe hinunterzudrücken. Einer derartigen Kritik sollte man das Material nicht vermehren, sondern gerade jetzt mit allem Eifer der Dankbarkeit all das Große und Herrliche verbreiten helfen, das er dem deutschen Volke selbst in die Hand gelegt.

Wir treten nun vor seine letzten Tage, und hier muß ich ein Unrecht begehen: ich muß von vertrauten Mittheilungen, die der naturnothwendige Erguß eines schmerzbeladenen Herzens sind, wenigstens Einiges herausheben, dem großen Todten zu Lieb’ und Ehren, und in dem Gefühl, seinen treuen Verehrern im deutschen Volke es schuldig zu sein, das menschlich-schöne Bild des Mannes und Dichters auch in seinen letzten Zügen treu wiederzugeben. Ich fühle es, für ein noch vom großen Schmerz blutendes Herz geschieht dieses Hinaustragen der Erinnerungen an die letzten Stunden – zu früh, aber eben weil die Zeit, die heilende, versöhnende, das jetzt Verletzende allmählich mildert und endlich verwischt, so begehe ich mein Unrecht mit der Zuversicht, daß es seine Verzeihung doch noch finden wird.

Die Lebensvertraute Rückert’s war in den letzten Jahren seine Tochter Marie. Das Verhältniß dieser Tochter zum Vater war ein wunderbar schönes, es war aus der Bluts- eine Seelen-Verwandtschaft erblüht, der Vater achtete seine Tochter, die nach der Mutter Tode alle Sorgen der Hausfrau auf sich genommen, so, daß er ihr fast gleiche Rechte im Hause mit sich einräumte: sein Kind war seine vertraute Freundin geworden. Und wohl selten war eine Tochter einer solchen Ehre würdiger, als sie. Es ist selbstverständlich, daß sie nicht von seinem Krankenlager wich, und daß nur sie es sein kann, welcher Rückert’s Verehrer und Freunde den erhebenden Blick auf des Dichters letztes Leben zu verdanken haben. Dazu müssen wir sie nun selbst reden lassen:

„Was in den letzten Tagen in des Vaters Seele vorging, die Scheidestimmung, hat er vor Jahren annähernd wahr in dem Gedichte hingestellt:

„Wie, wer zu Grab geht, oder wer auf Reisen,
Grüßt liebevoll noch einmal das Bekannte
Und Alles zärtlich nennt, was sein er nannte,
Bevor er tritt aus den gewohnten Kreisen;

So drängt mich’s noch, was irgend lebt, zu preisen
In diesem Kreis, in den ich selbst mich bannte,
Noch einmal auf den Saiten, die ich spannte,
Zum Abschied anzustimmen alte Weisen.

Denn aufzubrechen scheint es Zeit geworden
Von hier, wohin? ich frage nicht, ich höre
Gerufen mich von höheren Accorden.

Dem Rufe will ich folgen, ich gehöre
Dem Herrn der Harmonien, der Dichterorden
Hier einsetzt und dort aufstellt Engelchöre.“

„Auf seine Seele vermochte die Krankheit keinen Schatten zu senken. Noch bis zuletzt hat er im Hafis gelesen und noch Einiges übersetzt.

„Als er am Montag fortwährend im Halbschlafe lag, saß ich voll Angst und Qual neben ihm am Bett; da, als er die Augen einmal öffnete, blitzte er mich so schelmisch heiter an. ‚Du bist heute wie Dein Hafis,‘ sagte ich zu ihm (ich habe ihn in solchen Augenblicken oft geneckt, nur weil ich sonst geweint hätte), ‚Du bist immer so im Taumel und hast nicht mehr Wein getrunken, als der.‘ – ‚Ich weiß wohl,‘ erwiderte er ‚das sind aber gar schöne Träume, in denen ich bin. Ich war schon in einem Himmel.‘ – ‚In welchem denn?‘ – ‚Ach, ich glaub’, ich hab’ die Paradiesquellen rauschen hören,‘ sprach er mit tiefer, voller Stimme.“

„Mehrere Male gedachte er der Nadowessischen Todtenklage von Schiller, die er sehr liebte, und sprach mit besonderem Nachdruck die Verse:

„Wohl ihm, er ist hingegangen,
Wo kein Schnee mehr ist.“

Er erschien dabei in seiner Seele so recht befriedigt. Dies mag wohl nicht ohne Zusammenhang gewesen sein mit dem großen Einfluß, den besonders in der letzten Zeit die Witterung auf ihn ausübte, so daß an trüben Tagen Verstimmung und mit dem Sonnenschein Heiterkeit über ihn kam. Als ob sich Alles mit ihm versöhnen wollte, strahlte an seinem letzten Tage die Sonne noch [265] so freundlich auf ihn herunter. Als ich den Vorhang zu seinem Schutz vor ihr schließen wollte, wehrte er ab: ‚Laß sie nur ganz auf mich scheinen,‘ sagte er, ‚vielleicht macht sie mich noch gesund.‘

„Ein andermal sagte er zu mir: ‚Weißt du, mir ist heut’ so urweltlich zu Muthe – Horizont, darunter Wasser – endlos, gestaltlos‘ – Wie mich das entsetzte! Es war schon das Gefühl der Auflösung. ‚Vater, wie ist Dir’s?‘ – ‚Ach, ganz wohl, Kind, kühl bis an’s Herz hinan.‘“

„Am letzten Tage war Mattigkeit, Uebel und Träumen vorbei und sein Geist hob sich in alter Macht und Lebenskraft mehr als je. Er strahlte förmlich von Geist und Heiterkeit, von übermüthigen Blitzen, und ich vergaß Schmerzen und Qual und war mit ihm noch einmal glücklich im vollen Besitz, im vollen Austausch, der uns Beide beglückte. Es hat ihm den Abschied sehr erleichtert, daß ich so muthig war. Und wenn ich nicht mehr konnte, wenn, oft mitten im Lachen über einen Scherz von ihm, mir das Weinen kam, lief ich hinaus, mich draußen recht auszuweinen. Er ließ mich ganz stillschweigend gehen und mich ausjammern, und wenn ich wieder hereinkam, waren wir wieder heiter und frisch wie vorher. – Aber dann! Es ist zu grausig erhaben, Milde und Thränen sind dabei unmöglich! – Der Kampf war zu groß, den er gekämpft! Solch’ ein Jünglingsgeist, der Kraft und Feuer bis zur letzten Minute behielt, mußte gegen die erbärmliche zerbrochene Maschine ringen! Er hätte sein Leben gerade von vorne anfangen können, so stark war sein Geist, sein Wille, zu leben!“

„Und am Schluß! Da war ein erhabener Ernst, eine majestätische Ruhe über ihn gebreitet – die rührende menschliche Milde fast ganz zurückgetreten, nur die Spuren des mächtigen Geistes lagen auf seinen Zügen. Er sah aus, als habe er einen guten Kampf gekämpft und sei nicht unterlegen.“ –

Die Himmelskundigen nennen das Aufflammen eines Gestirns bei seinem Untergang sein „letztes Blühen“. So hat auch der Stern dieses Dichtergeistes noch einmal den Lieben geblüht vor seiner Erdennacht – aber der Nachwelt strahlt er ewig.

Friedrich Hofmann.




Aerztliche Winke für Jungfrauen und junge Frauen.
2. Ueber die weibliche Schönheit und ihre Pflege.


„Ein reizend schönes Weib!“ Das mußten auch die anwesenden Damen sammt und sonders zugeben, „aber,“ flüsterten sie sich und ihren Männern in die Ohren „sie hat krumme Beine.“ Und wahrlich, es erschien uns Männern nun, schon beim bloßen Gedanken an die krummen Beine (denn sie hatte gar keine) diese Schönheit nicht mehr so schön und reizend, wie vorher. Und was beweist das? Es beweist, daß, um schön zu sein, der Körper eine harmonische und naturgemäße Ausbildung aller seiner einzelnen Theile zeigen muß. Dabei darf aber neben Anmuth im Gebaren nichts von Eitelkeit bemerkt werden. Ein weibliches Wesen, welches merken läßt, daß es sich seiner Schönheit bewußt ist, macht auf einen gebildeten Mann einen widerwärtigen Eindruck.

Eine der Schönheit zu Grunde liegende naturgemäße Ausbildung des ganzen Körpers und seiner einzelnen Theile ist nur bei vollkommener Gesundheit möglich, und deshalb sind stets die allgemeinen Unterstützungsmittel der Schönheit diejenigen, welche auch auf die Gesundheit fördernd einwirken. Es giebt keine Schönheit ohne den Besitz vollkommener Gesundheit. Da wir hier nun aber keine Gesundheitslehre schreiben wollen, sondern nur Winke zur Erlangung, Erhaltung und Erhöhung der weiblichen Schönheit geben – denn diese ist ohne unausgesetzte Sorgfalt ein sehr vergängliches Gut – so sollen zuvörderst nur solche diätetische Maßregeln besprochen werden, welche unmittelbar zur Pflege der körperlichen und geistigen Schönheit gehören.

Das oberste Gesundheits- und Schönheitsgesetz verordnet: Mäßigkeit, Nüchternheit, Enthaltsamkeit, kurz: Maßhalten in allen Beziehungen des Lebens. – Sodann ist es die strengste und unausgesetzteste Reinlichkeit in jeder Beziehung, worauf die Frauen ihre Sorgfalt zu richten haben, denn nichts beeinträchtigt die körperliche Frische und Gesundheit mehr, als Unreinlichkeit. Darum sind tägliche Waschungen und öftere Bäder neben gehörigen Abreibungen der Haut, ebenso wie Reinheit der Bekleidungsstücke und der umgebenden Luft unentbehrliche Unterstützungsmittel der Schönheit. Vor kalten Bädern mögen sich aber ja solche Jungfrauen und Frauen hüten, die nicht blutreich und nicht nervenstark sind, denn die Kälte erzeugt bei diesen sehr schnell Blutarmuth, Bleichsucht und Nervenschwäche; auch ist sie, die niemals ein Stärkungs-, sondern stets ein Reizungsmittel ist, sehr oft der Grund zum vorzeitigen Altern. Lauwarme, dem Gefühl zusagende Bäder dagegen können niemals schaden, nur müssen sie natürlich nicht zu oft und nicht zu lange genommen werden; wöchentlich ein bis zwei Bäder von etwa einer Viertelstunde sind vollkommen hinreichend. Wen beim warmen Bade große Hitze des Gesichts genirt, der überdecke die Badewanne so, daß er nur mit dem Kopfe heraussieht, und halte auf frische, kühle Luft im Badezimmer. Empfinden Personen anstatt des allgemeinen Wohlgefühls Unbehagen und Schwäche in und nach dem Bade, so mögen sie anstatt der Bäder nur lauwarme Abwaschungen des Körpers vornehmen, natürlich immer mit der Vorsicht, daß keine Erkältung stattfindet.

Was die Nahrung betrifft, so sind einfache, aber gehörig abwechselnde thierische und pflanzliche Speisen, in hinreichender Menge zu regelmäßiger Zeit genommen und gut gekaut, der Gesundheit und Schönheit am zuträglichsten. Die Milch steht als das allerbeste Nahrungsmittel obenan. Der Aberglaube, daß Fett und Salz den Teint verderben, kann insofern schädlich werden, als diese beiden Stoffe zur richtigen Ernährung unseres Körpers ganz unentbehrlich sind und dieser, wenn sie demselben nicht in hinreichender Menge zugeführt werden, krank werden kann. Ebenso ist der unzureichende Genuß von Wasser, das unser Körper zum Wohlbefinden in sehr großer Menge braucht, sehr häufig der Grund von Leiden. Anstatt des Wassers kann leichtes Bier getrunken werden. Daß die Nahrung bei mageren und bei stark beleibten Personen eine etwas verschiedene sein muß, wird später besprochen.

Die Luft, welche wir einathmen und die uns im Freien und im Hause umgiebt, hat ebenso wie die Nahrung den größten Einfluß auf die Gesundheit und also auch auf die Schönheit. Deshalb muß stets dahin getrachtet werden, in reiner Luft zu leben und besonders darin zu schlafen; der häufige Aufenthalt im Freien mit der nöthigen Vorsicht gegen große Hitze und Sonnenschein (s. später) und der Schlaf in geräumigen, nach Morgen oder Mittag gelegenen, gut gelüfteten Schlafzimmern mit mäßig warmer Temperatur können nicht genug empfohlen werden. Ein sehr bedeutendes Unterstützungsmittel der Gesundheit ist das langsame und tiefe Einathmen reiner (besonders sonniger Wald-) Luft, was aber erst durch Uebung erlernt wird und nur bei gehörig weiter Kleidung stattfinden kann.

Gehörige Körperbewegungen, mit hinreichender Ruhe, zumal Schlaf, abwechselnd, sind neben passender Nahrung und Luft die besten Kräftigungsmittel der Gesundheit. Niemals darf aber die körperliche Anstrengung bis zur übermäßigen Erhitzung und Uebermüdung fortgesetzt werden, und ebenso darf die Ruhe nicht zum fortwährenden Faulenzen ausarten. Arbeit, die Beschäftigung mit Gutem und für uns selbst oder für Andere Nützlichem, macht Lebenslust, Heiterkeit und Wohlsein, während der träge Mensch nicht nur allerlei Leiden ausgesetzt ist, sondern auch sich selbst und Andern durch innere Leere und Langeweile zur Last fällt. Heiterkeit des Geistes übt den wohlthätigsten Einfluß auf die Gesundheit aus; Trost und Beruhigung läßt sich nur aus der Arbeit schöpfen. – Spazierengehen mit tiefem Athemholen, Tanzen, Schlittschuhlaufen, Bewegungsspiele im Freien, häusliche Arbeiten, mögen mit sitzender Beschäftigung gehörig abwechseln. Von größter Wichtigkeit für die Gesundheit ist nun aber der Schlaf; er muß hinreichend lange andauern (wenigstens sieben Stunden), ruhig und tief (ohne Träume) sein, in reiner Luft und nicht in zu weichem und warmem Bette (unter Decke auf Matratze) geschlafen werden. Häufiges Nachtschwärmen und Aufopfern des nöthigen Schlafes bringt die Schönheit sehr bald zum Verblühen.

Die geistigen Unterstützungsmittel der Schönheit sind die Resultate einer richtigen Erziehung und ganz vorzüglich [266] folgende: ein angenehmes Betragen, welches so bezaubernd sein kann, daß es selbst bei körperlicher Unschönheit eine augenblickliche Zuneigung erweckt. Es hat seinen wahren Grund in der Freundlichkeit und Offenheit des Herzens und in einem wohlwollenden Gemüthe; es läßt sich dadurch zu eigen machen, daß man nicht blos sein eigenes Wohl, sondern auch das seiner Mitmenschen im Auge hat. Ein theilnehmendes Gefühl an den Freuden und Leiden Anderer (Mitgefühl, nicht Empfindelei) macht ein weibliches Wesen äußerst anmuthig und jedenfalls auch zu einer den Mann beglückenden Frau und zur guten Mutter; es kann auch als die Quelle der Wohlthätigkeit, der Gefälligkeit, Nachgiebigkeit, Höflichkeit und Gerechtigkeitsliebe angesehen werden. – Ordnungsliebe, bestehend in der Aufmerksamkeit auf die rechte Zeit und den rechten Ort, sie ist neben Reinlichkeit die erste Bedingung zu einem glücklichen häuslichen Leben. – Denken, richtiges (logisches) Denken, also Verstand, der leider den allermeisten Frauen (in Folge ihrer falschen Erziehung) fehlt, verschönert auch das häßlichste Gesicht und könnte die Frauen zu Engeln machen, weil sie dann das, was um sie herum vorgeht, ordentlich begreifen und beurtheilen könnten und nicht mit ihrem ganz verkehrten Glauben, Meinen und Gefühlen sich und Andern das Leben verhunzen würden.

Die Schönen, wenn sie auch nicht gerade schön sind, ziehen unsere Blicke zunächst auf ihre Statur. Ein schöner Wuchs läßt selbst ein unschönes Gesicht übersehen und verleiht dem durch Kleidung nicht verunstalteten weiblichen Körper, wenn sich dieser in seiner Haltung frei und ungenirt zeigt und seine Bewegungen mit Geschmeidigkeit und Anmuth ausführt, einen unbeschreiblichen Reiz. Schön ist nun aber der Wuchs nur dann, wenn er echt weiblich ist und die richtige weibliche Fülle besitzt. Es zeichnet sich nämlich der weibliche Körper an seiner Oberfläche vor dem männlichen durch weniger scharfe, mehr gerundete, von wellenförmigen Linien begrenzte Umrisse aus, und dies kommt daher, weil beim Weibe weit mehr Fett unter der Haut und zwischen den Muskeln lagert, während beim Manne die hervortretenden kräftigeren Muskeln, Sehnen und Knochenvorsprünge die Contouren schärfer und eckiger erscheinen lassen. Sodann charakterisirt sich der weibliche Habitus aber auch noch durch das breitere Becken mit volleren, runderen Hüften, den schmäleren, kürzeren und engeren Brustkasten und den kleinern Kopf. Der Unterkörper ist stets länger, als der Oberkörper; der Hals länger, runder und dünner, auch weniger von Kopf und Brust abgesetzt; die Schultern sind schmäler und mehr abfallend herabgesenkt; das Schulterblatt ist kleiner und weniger vorspringend; die Arme sind kürzer und runder, die Beine neigen, des breiteren Beckens wegen, mit den Knieen gegeneinander (weshalb das schnelle Laufen unschön aussieht), und die Füße sind kleiner, schmäler und fleischiger.

Magerkeit mit Verlust der Rundung der Formen schadet ebenso wie jedes Uebermaß an Beleibtheit der weiblichen Schönheit. Am häßlichsten sind aber die Wespentaillen unserer modernen Schönen anzusehen, die dadurch zu sanduhrähnlichen Figuren werden. Keins der herrlichsten Muster weiblicher Schönheit, die vom Alterthume auf uns gekommen sind, zeigt nur eine leise Annäherung an eine solche durch festes Einschnüren erzwungene Taille. Und welchen großen Nachtheil bringt nicht das Festschnüren, durch Beengung der Brust- und Bauchhöhle, der Gesundheit; es wird dadurch vorzugsweise der Athmungsproceß, der Blutlauf, die Verdauung und die Blutreinigung in der Leber gestört. – Bei unschöner Fettleibigkeit (s. Gartenl. 1866 Nr. 10), welche auf dem Gesichte die interessanten zarten, feinen Linien verwischt, die graziöse Taille zerstört, den Gang plump und die Bewegungen träge macht, ist zunächst der Genuß solcher Nahrungsmittel sehr zu beschränken, die Fett ansetzen, also nicht blos der Genuß von Fetten aller Art (Fleischfett, Butter, Oele), sondern auch von Mehlspeisen, Zucker und starken spirituösen Getränken. Sodann muß aber auch das überflüssige Fett aus dem Körper weggeschafft werden, und dies ist durch ausgiebige Körperbewegungen und Leibesübungen. besonders im Freien, kräftiges Athmen, reichliches Wassertrinken, Vermeiden zu langen Schlafes und überhaupt großer Ruhe zu ermöglichen. – Neben großer Magerkeit, die in der Regel auch scharfe Gesichtszüge, eckige Formen und Bewegungen, sowie bisweilen einen unangenehme leidenschaftliche Lebhaftigkeit mit sich führt, kann keine Schönheit bestehen. Auch die tadelloseste Körperhaltung und die geschmackvollste Toilette sind nicht im Stande, den Mangel an Körperfülle zu ersetzen. Gegen Magerkeit, die natürlich nicht von einem abzehrenden Leiden herrühren darf, ist gerade das zu thun, was die Fettleibigen unterlassen müssen. Sonach wäre Mageren fette, mehlige und zuckerreiche Nahrung, wenig körperliche Anstrengung, überhaupt große Ruhe (auch geistige und gemüthliche) und viel Schlaf zu empfehlen.

Daß Verkrümmungen der Wirbelsäule der Schönheit des Wuchses jedenfalls, nur nach dem Grade der Verkrümmung mehr oder weniger, Eintrag thun, versteht sich wohl von selbst, und da diese Mißgestaltungen nicht zu curiren, sondern höchstens nur in ihrer Verschlimmerung aufzuhalten sind, so muß man, wie früher (Gartenl. 1866 Nr. 14) gezeigt wurde, ihrer Entstehung so zeitig als möglich vorbeugen. Zartgebaute, bleichsüchtige Jungfrauen sind sehr zum Schiefwerden geneigt und müssen sich deshalb nach jeder Ermüdung (besonders der Rückenmuskeln durch längeres Geradesitzen) gerade ausgestreckt einige Stunden lang auf eine feste Matratze oder einen auf dem Boden ausgebreiteten Teppich legen. Ebenso müssen sie auch beim Schlafen ausgestreckt auf dem Rücken, nicht etwa auf einer Seite und zusammengekrümmt, liegen. Fest angelegte steife Schnürbrüste und drückende Bänder (besonders an den Unterkleidern) sind ihnen äußerst schädlich.

Die Haltung, der Gang und die Bewegungen eines schöngewachsenen Weibes können nur dann anmuthig und graziös sein, wenn ihr Körper frei und nicht genirt von beengenden Kleidungsstücken ist und wenn ihr nicht, etwa der Eitelkeits- und Hochmuthsteufel im Nacken sitzt. Widerwärtig und lächerlich ist’s anzusehen, wenn so ein in einen Kleidersarg eingepreßtes und pfauenartig herausgeputztes, reiches oder sich schön und vornehm dünkendes Dämchen, welches der Welt noch nichts genützt hat und auch niemals etwas nützen wird, steif (als hätte sie ein Lineal verschluckt) oder sich gravitätisch drehend und mit einer Miene um die hochgetragene Nase einherstolzirt, die immer sagen will: „Hier stinkt’s.“ – Als die vorzüglichsten, auf die Haltung verbessernd einwirkenden Leibesübungen sind anzuführen: Tanzen, Schlittschuhlaufen und Ballspiele. Turnen ist Jungfrauen weit weniger dienlich, als Schulmädchen. Freilich muß stets bei Körperbewegungen alles Ungraziöse einer unerbittlichen Kritik von Seiten der Lehrer, Eltern oder Freundinnen unterliegen; besonders sind Ausartungen in der Lebhaftigkeit der Bewegungen als unschön zu rügen. Bei sitzender Lebensweise müssen täglich mehrere Stunden zu körperlicher Bewegung und gleichzeitiger Erheiterung des Gemüths bestimmt werden. Nur darf die Bewegung nie bis zur heftigen Erhitzung und Uebermüdung fortgesetzt werden; auch ist dabei eine schnelle Abkühlung der schwitzenden Haut (besonders durch Zugluft) ängstlich zu vermeiden.

Die Kleidung (s. Gartenl. 1855 Nr. 16) kann ebenso die Schönheit des Weibes erhöhen, wie schädigen. Ein Haupterforderniß dabei ist: eine harmonische Zusammenstellung der einzelnen Kleidungsstücke, ebenso in Farbe, wie in Stoff, Muster und Schnitt. Eine auffallende, allzu bunte, schimmernde und excentrische Toilette kann niemals schön und elegant sein; jede Uebertreibung darin ist unschön. – Auch muß die Kleidung nothwendigerweise der Individualität der Person angepaßt werden, um kleidsam zu sein, und deshalb mögen sich bei der Wahl ihrer Kleidung besonders Putznärrinnen von Solchen rathen lassen, die ästhetisch gebildeten Geschmack haben. Es darf ferner ein wirklich eleganter Anzug niemals unbequem und beengend, aber ebensowenig auch allzu weit und schlotternd aussehen, er muß passend, jedoch nicht knapp sein und stets die Idee des Wohlbehagens beurkunden. Wenn ausgeschnittene Kleider um die Achseln herum sehr eng sind, so übt dies auf die Form, Haltung und Bewegung des Oberkörpers und der Arme einen ganz entsetzlich häßlichen Einfluß aus. Einfachheit, selbst bei den prachtvollsten Stoffen, ist das erste Erforderniß einer dem Auge wohlgefälligen eleganten Kleidung. Nicht der Glanz, nicht die Verzierungen dürfen bei einem wahrhaft eleganten Anzuge die Oberhand erhalten, sondern stets der Anzug selbst; alles Uebrige muß denselben heben, nie aber überladen und gleichsam erdrücken. Den unangenehmsten Eindruck macht ein sonst in Stoff und Form elegantes Kleidungsstück, wenn es verschmutzt und abgetragen ist. – Die Schönheit junger Mädchen wird durch einen einfachen, reinlichen und netten Anzug weit mehr gehoben, als durch Schmuck, der überhaupt von ihnen fern bleiben muß. Der schönste Schmuck junger Mädchen sind Blumen; wenn Frauen Schmucksachen tragen (natürlich niemals unechte), so dürfen [267] sie sich ja nicht damit überladen. – Frauen, die sich im Hause nachlässig und schlotterig kleiden, werden außer dem Hause auch in den prachtvollsten Kleidern niemals elegant aussehen, denn ein eleganter Anzug muß auch leicht und gut getragen werden, soll er den Eindruck der Eleganz hervorbringen, was nie geschehen kann, wenn sich die Trägerin in demselben beengt und genirt fühlt oder zu sehr mit ihrer eigenen Person beschäftigt ist. Was nun die Mode betrifft, so kann diese bei der weiblichen Bekleidung nicht unbeachtet gelassen werden, nur folge man derselben nicht allzu sclavisch, sondern suche das, was an derselben vielleicht übertrieben oder den Regeln des wirklich Schönen nicht ganz entsprechend ist, soviel als möglich zu mildern und seiner Person anzupassen. – Rücksichtlich des Gehens auf der Straße, so lassen sich recht gut ohne Verletzung der Regeln des Anstandes die Ober- und Unterkleider so in die Höhe nehmen, daß nicht nur diese geschont, sondern auch Naßwerden und Erkältung der Beine verhütet werden. Diejenigen, welche ihre Kleider nie aufheben, sondern mit wirklicher oder affectirter Gleichgültigkeit gegen den Schmutz durch Dick und Dünne gehen, möchten sich gern als hocharistokratische Größen präsentiren, für welche Oekonomie ein unschicklicher Gedanke ist und die zeigen wollen, daß sie Alles, Schmutz und gewöhnliche Menschen, verachten. Freilich müssen Manche auch ihres abscheulichen Pedals wegen die schmutzige Straße mit ihren langen Kleidern fegen und den nassen Koth bis in die Kniekehle hinaufziehen.

Die Corsets oder Schnürleiber sind als die Grundlage für den weiblichen Anzug, an welcher die meisten übrigen Kleidungsstücke befestigt sind und von welcher größtentheils Form und Aussehen des ganzen Anzuges abhängt, nicht zu entbehren. Nur müssen sie vernünftig für den Körpers passend aus elastischem Stoffe und ohne Einlage fester Stäbe gemacht sein; es muß sich das Schnürleibchen, ohne auf irgend eine Stelle zu drücken, vollkommen den Contouren der Brust und des Leibes anschmiegen, ohne die natürliche Form dieser Theile zu beeinträchtigen; es darf weder den Brustkasten, noch die obere Bauchgegend in ihren Ausdehnungen beengen, auch soll es die Rundung der Hüfte nicht schmälern, die ja charakteristisch für den echt weiblichen Bau ist und sehr oft künstlich bis zum Monströsen aufgebaut wird. Die Schlankheit der Taille, welche allerdings dem weiblichen Wuchse große Anmuth verleiht, aber nur, wenn sie die dem Auge so wohlgefällige Biegsamkeit in den Hüften nicht beeinträchtigt, könnte allenfalls dadurch unterstützt werden, daß ein in seinem oberen und unteren Theile weiteres und locker gebundenes Schnürleibchen in seinem mittleren Theile, also nur zwischen Hüften und letzten Rippen, etwas fester zusammengeschnürt wird (s. Gartenl. 1855 Nr. 16). Neuerlich verfertigt man sich sanft anschmiegende Schnürleibchen aus gesteppten, weichen, aber festen Stoffen über Büstenmodelle; sie werden von allen Damen, die selbige tragen, sehr gerühmt. Sie sind in Leipzig bei Frau Große (Markt Nr. 17) zu haben. – Im nächsten Aufsatze soll die Schönheit und Pflege der einzelnen Theile des weiblichen Körpers besprochen werden.

Bock.




Durch und über den Mont-Cenis.


Die erste Hälfte unseres Jahrhunderts sah Italien nach langem, schwerem Schlaf erwachen. Seit dem Sturz Napoleon’s arbeiteten alle patriotischen Männer an der Belebung des nationalen Geistes, und das Streben, dem übrigen gebildeten Europa näher zu treten, wurde immer stärker. Kaum begann man daher in Frankreich und Deutschland die ersten Eisenbahnen zu bauen, als auch in Italien der Wunsch rege wurde, die neue Erfindung zum rascheren Verkehr durch die Alpen zu benützen. Schnell genug war eine Eisenstraße bis an den Fuß der Savoyer Höhen gebaut, und man begann sich mit dem Gedanken eines Riesentunnels durch die Alpen vertraut zu machen. König Carl Albert berief schon 1845 belgische Ingenieure, um die Ausführbarkeit dieser Idee zu prüfen. Das piemontesische Volk, das rührigste aller italienischen Stämme, war am meisten bei dieser Frage betheiligt und widmete ihr den größten Eifer. Für einen Tunnelbau aber eignete sich kein Berg mehr, als der Mont-Cenis, ein an elftausend Fuß hoher Berg der Grajischen Alpen zwischen Turin und Piemont einerseits und Chambery und Savoyen andererseits.

Schon im Mittelalter war der Mont-Cenis-Paß belebt; den Bau der Straße, wie sie heute ist, verdankt man aber Napoleon, der sie nach dem Sieg bei Marengo hauptsächlich zu militärischen Zwecken herrichten ließ. Seitdem blieb sie die große Hauptlinie des Verkehrs von London, Paris und Lyon hinüber nach Norditalien. Es ist eine überaus malerische Fahrt, die der Mühe verlohnt, auch in unsern Tagen sich noch einmal zehn Stunden in den Postwagen klemmen zu lassen. Schwere, große Wagen mit drei völlig getrennten Abtheilungen warten der Reisenden in dem Hof des Postgebäudes zu St. Michel, dem Endpunkt der von Lyon nach Savoyen führenden Eisenbahn auf französischer Seite. Jeder Wagen faßt zwölf bis fünfzehn Personen, und oft gehen ihrer vier bis fünf zu gleicher Zeit ab. Der Postillon, der hoch oben sitzt, leitet vier rüstige Pferde, die zunächst vor den Wagen gespannt sind. Allein deren Kräfte reichen an vielen Stellen nicht aus; eine kurze Strecke nur, und lange Züge von Maulthieren stehen zum Vorspann bereit. Vor jeden Wagen kommen deren etwa zehn; ein paar kecke Burschen mit langen Peitschen laufen neben ihnen her, treiben sie an, schreien, schwingen sich auch von Zeit zu Zeit auf eins der Thiere, und so geht es in kurzem Galopp die Schlangenwindungen der Straße hinauf. Dem Reisenden, der zum ersten Mal die Fahrt macht, wird es sonderbar zu Muth, wenn er sich längs der Abgründe durch die anscheinend störrigen und schwer lenksamen Thiere hingerissen sieht, über welche der Postillon durchaus keine Macht hat, die durch keine Zügel, sondern lediglich durch die Peitsche der ziemlich verdächtig aussehenden Führer gelenkt werden.

Doch ruhig! Die Thiere sind vorsichtiger als die Menschen. Sie, die anfangs wild und übermüthig erschienen, fallen bald in ihren stetigen, sicheren Trott, und immer höher steigt der Wagen, immer weiter öffnet sich der Blick in die Alpenwelt, immer großartiger wird der Eindruck. So gelangt man endlich auf ein kleines Plateau. Ringsum erheben zwar die Riesenberge ihre Häupter in die Lüfte, aber die Straße hat ihren Höhepunkt erreicht. Nicht weit von einem auf dieser Höhe höchst merkwürdigen See liegt ein kleines Dorf und an dessen Ende das Hospiz, welches gerüstet ist, den müden und erfrorenen Wanderer zu wärmen und zu beleben. Denn auch im hohen Sommer fröstelt es uns, wenn wir Nachts hinaufsteigen, von dem Winter nicht zu reden, in welchem die Massen des Schnees sich oft zu dreißig Fuß hohen Mauern aufthürmen. In dieser Zeit hält es oft sehr schwer, die Straße frei zu halten. Der Sturm heult dann oft mit unerhörter Wuth durch diese Schluchten und droht in dem furchtbaren Schneewirbel, mit dem er den Berg umhüllt, Alles, was nicht fest ist wie seine Felsen, in die Abgründe hinabzuschleudern.

An solchen Tagen stockt der Verkehr gänzlich. Kaum aber hat sich der Sturm gelegt, so kommen die unermüdlichen Schneeschöpfer und Arbeiter mit ihren Maschinen, ihren Besen und Hacken und graben dem Postwagen einen engen Weg durch die Schneewände hindurch, welche die Bahn verschließen. Die Straße von der Höhe abwärts nach Susa, von wo uns die Eisenbahn weiter nach Turin führt, ist bei Weitem der großartigste Theil des Wegs. Das Gebirg fällt rasch zur Ebene ab. Während der Wagen an drohenden Abhängen sicher vorüberrollt, während die Riesenberge überwältigend nahe treten, weilt der entzückte Blick auf der weiten Landschaft, die sich lachend und verheißend vor ihm ausdehnt. Der Zauber ist gebrochen; der Bewohner des Nordens athmet südliche Luft, er sieht Italien, das Land seiner Träume. Schon vor zweitausend Jahren konnte Hannibal seinen erschöpften Kriegern neuen Muth einflößen, als er ihnen von der Höhe der Alpen das paradiesische Land zeigte, das sich zu ihren Füßen erstreckte und das er ihnen als Lohn versprach.

Das ist die Poesie einer Mont-Cenis-Reise. Doch daneben hat sie auch ihre praktische, oft sehr unangenehme Seite. Die Welt will von Poesie nichts wissen, wenn es sich um greifbare Interessen handelt. Die Mont-Cenisstraße ist in unserer heutigen Zeit durchaus nicht mehr genügend. Der Verkehr fühlt sich gehemmt, und besonders Italien fühlt sich nach dieser Seite hin [268] wie gelähmt. Hohe Gebirge sind bis heute noch die einzigen Hindernisse für die Eisenstraßen. Doch der menschliche Geist ruht nicht, er arbeitet und drängt voran. Auch die Berge sollen nicht mehr hemmen, und der Mont-Cenis ist dazu bestimmt, in den Versuchen, die hierzu angestellt werden, eine wichtige Rolle zu spielen.

Die Alpen zu besiegen, giebt es zwei Mittel. Man kann entweder die Gebirge durchbohren, um die Eisenbahn durchzuführen – eine wahre Riesenarbeit – oder man kann den Zug die Höhen überschreiten lassen, was im ersten Augenblick chimärisch erscheint. Allein Beides wird jetzt versucht. Nach einem von einem italienischen Ingenieur, Sommeiller, mit Hülfe zweier Collegen, Grandis und Grattoni, gefundenen eigenthümlichen Systeme, die Luft durch Wasserdruck zu comprimiren und sie dann als bewegende Kraft zu benützen, ward 1857 die Durchtunnelung des Mont-Cenis begonnen. Der kühne Ingenieur übernahm die Hauptleitung. Mit Muth begann man die Arbeit von beiden Seiten des Berges. Man entschied sich, den Tunnel in einer Höhe von etwa eintausendzweihundert Metern über dem Meer hinter St. Michel bei Modane in Savoyen und bei Bardonnèche hinter Susa in Piemont zu beginnen. Die Bohrlinie zieht sich nicht unter der eigentlichen Höhe des Mont-Cenis hin, sondern läßt sie zweihundert Meter seitwärts liegen und geht in der Nähe des Mont-Tabor durch den Berg. Ueber dem Tunnel thürmt sich also eine Masse von eintausendsechshundert Metern empor. Der Stein selbst, der zu durchbrechen ist, gehört zu den härtesten Felsarten, denn es ist hauptsächlich Glimmer und Quarz, auf die man gestoßen ist. Gleich der Beginn war mit großen Schwierigkeiten verbunden. Alle Maschinen mußten aus Belgien herbeigeschafft werden und ihr Transport über die Alpen war höchst mühsam. Bei Bardonnèche und Modane, die eben noch in der Oede gelegen halten, entstanden wie durch Zauberschlag neue Dörfer mit stattlichen Gebäuden, wo die vielen Hunderte von Arbeitern, die an dem Werk verwandt werden, Unterkommen und Unterhalt finden konnten.

Die treibende Kraft, die einzige, welche Sommeiller benützt, und welche hinreicht das härteste Gestein zu durchbohren, ist nichts anderes, als das von den Alpen strömende Bergwasser. „Keine Dampfmaschine, keine Kohlen!“ rief er im Parlament, wo er seinen Plan vertheidigte. „Mit diesem System sind wir reicher, als England. Dessen Kohlenlager werden sich einst erschöpfen, unsere Wasser aber werden fallen, so lange die Alpen stehen.“

Bis jetzt sind von Bardonnèche aus zweitausendsiebenhundert Meter und von Modane aus zweitausend Meter gebohrt, und es bleiben noch ungefähr siebentausendfünfhundert Meter übrig. Viel ist also gethan, doch unendlich viel ist noch zu thun. Aber sicher, wenn auch langsam, schreitet das staunenswerthe Werk voran. Jeder, der es einmal gesehen hat, wird mit der Idee scheiden, daß er hier wohl die großartigste Unternehmung des Jahrhunderts vor sich hatte. Wenn man den Tunnel zum ersten Mal betritt und an die Last denkt, die sich über den vorwitzigen Menschen hier erhebt, so kann man sich eines ängstlichen Gefühls nicht erwehren. Ein einziges Beben der Felsen, und Alles, was hier lebt und frisch sich regt, wäre für immer im tiefsten Schooß der Erde begraben. Doch nur einen Augenblick herrscht dieses Unbehagen vor, bald überkommt Jeden das Gefühl völliger Sicherheit. Der Tunnel ist ziemlich breit, denn er hat Platz für zwei Schienenwege; er ist völlig ausgemauert und sauber geglättet. Gasflammen erleuchten ihn, und die frische Luft, die fortwährend den Maschinen selbst entströmt, bewirkt, daß man überall frei und leicht athmen kann. Das ist eben einer der großen Vortheile, daß dieselbe Maschine dazu dient, die Bohrarbeiten zu führen und gleichzeitig die Luft zu erneuern. Unter dem eigentlichen Tunnel zieht sich noch ein kleinerer Gang hin, in welchem das Wasser abläuft, das man trifft, in welchem die Gasleitung angebracht ist und in welchem die Röhren der comprimirten Luft liegen, damit sie beim Sprengen der Felsen keine Beschädigung erleiden. Zugleich dient dieser zweite Tunnel zur Sicherung der Arbeiter, die sich im Nothfall durch ihn retten können, sollte der Haupttunnel durch irgend ein unvorhergesehenes Ereigniß versperrt werden.

Welche Schwierigkeiten sich bis zur Vollendung des Werkes noch darbieten werden, läßt sich nicht voraussehen. Wenn auch nicht zu bezweifeln ist, daß man derselben Herr wird, so ist doch die Berechnung der noch erforderlichen Zeit höchst unsicher. Im günstigsten Fall hat man immer noch, trotz der Versicherungen des italienischen Ministeriums, sieben bis acht Jahre zu arbeiten, und der ganze Bau wird schließlich die Riesensumme von hundert und dreißig Millionen Franken verschlungen haben.

Dieser ungemeine Aufwand von Zeit und Geld macht ähnliche Arbeiten sehr schwer. Nur Staaten, keine Privatgesellschaften, können im Interesse des Ganzen solche Opfer bringen. Und doch spricht sich in allen Alpenländern das lebhafte Bedürfniß nach Eisenbahnverbindungen mit den Ländern jenseits der Berge aus. Bereits arbeitet man an einer großen Brennerbahn, und in der Schweiz wägt man die Vortheile der verschiedenen Uebergangspunkte, des Gotthardt, Splügen und anderer Pässe gegen einander ab und scheut selbst nicht vor der Idee zurück, unter Umständen einen Tunnel von der Länge des Mont-Cenis-Tunnels herzustellen.

Diese Bestrebungen haben in neuester Zeit durch das Unternehmen einer englischen Gesellschaft, an deren Spitze der Ingenieur, J. B. Fell, steht, einen neuen Anstoß erhalten. Fell hat den kühnen Plan gefaßt, die Höhen der Alpen in offner Eisenbahn zu überschreiten. Auch er hat den Mont-Cenis zu seinem Versuch ersehen, und die französische, wie die italienische Regierung haben der Gesellschaft bereits die Concession zu dieser Eisenbahn über den Berg, jedoch nur bis zur Vollendung des Schienenwegs durch denselben, ertheilt.

Die ersten praktischen Versuche nach seinem neuen System machte Fell in England auf der High-Peak-Eisenbahn (Derbyshire), deren Benützung ihm von der London- und Nordwesteisenbahn-Gesellschaft bereitwillig gestattet wurde. Auf einer Strecke von etwa 700 Metern wurde eine Bahn angelegt, welche in den verschiedensten Steigungen und Windungen sich erhob und senkte, und alle Versuche gelangen zur größten Befriedigung.

Behufs weiterer Prüfung wählte man dann eine der steilsten Stellen der Mont-Cenisstraße auf französischer Seite, hinter dem Oertchen Lanslebourg, und legte auf ihr einen Schienenweg in der Länge von zwei Kilometern an, welcher 150 Meter, also auf zwölf Meter je um einen, stieg.[4] Auf ihm circulirt bereits seit einem Jahr die neue Locomotive und schleppt mehrere belastete Wagen ohne Hinderniß und Gefahr auf und ab. Englische und französische Ingenieure sind im Auftrag ihrer Regierungen zur Prüfung gekommen und haben sich in ihren Berichten auf das Günstigste über das ganze Unternehmen ausgesprochen.

Die Grundidee, von welcher Fell bei seiner Anlage über den Mont-Cenis geleitet wird, ist nicht neu; es ist der Grundsatz, den man auch beim Semmering in Anwendung gebracht hat, das Aufsteigen des Zugs durch verstärkten Druck auf die Schienen, durch größere Reibung zu bewerkstelligen.

Doch der Mont-Cenis steigt bedeutend steiler auf, als der Semmering. Hat man dem Weg zur Höhe durch große Schlangenwindungen auch viel von seiner Schroffheit genommen, so bleibt die durchschnittliche Hebung doch noch immer wie 1:25, ja sie erhebt sich nicht selten, wie schon oben bemerkt, bis auf 1:12. Es war also nöthig, eine größere Reibung, als auf dem Semmering zu erzeugen, und Fell erzielte dieses Resultat durch Hinzufügung einer mittleren, etwas erhöhten Schiene.

Die Eisenbahn wird auf der gewöhnlichen Straße angelegt, die etwa neun Meter breit ist. Davon werden jetzt vier Meter an der Seite des Abhangs abgeschnitten und für den Schienenweg bestimmt. Die übrigen fünf Meter zwischen der Bahnlinie und den Felsen bleiben, wie bisher, für den gewöhnlichen Verkehr der Menschen und Wagen. Daß die Bahn grade am Abhang her geführt wird, scheint im ersten Augenblick bedenklich und gefährlich; allein es liegt darin eine Minderung der Gefahr, weil der Bahnzug auf diese Weise öfters allzuschroffe Biegungen vermeidet. Auch ist dadurch in Winterszeit die Reinhaltung der Bahn sehr erleichtert, da man die Schneemassen nur in den Abgrund zu kehren braucht.

Auf diesem äußeren Abschnitt des gewöhnlichen Fahrwegs ist nun ein Schienengleis gleich dem einer jeden sonstigen Eisenbahn, gelegt. Allein zwischen diesem Schienenstrang zieht sich eine schmale Erhöhung von etwa sieben Zoll hin, auf welcher eine dritte Schiene gewöhnlicher Art, aber umgestürzt, befestigt ist. Diese Mittelschiene mit Erfolg benützen zu können, mußte nun auch die Maschine verändert werden. Ihre Cylinder wirken zunächst auf die senkrecht auf den Schienen laufenden Räder, die gleich denen einer gewöhnlichen

[269]

Die Eisenbahn über den Mont-Cenis.
Nach der Natur aufgenommen.

[270] Locomotive sind. Zugleich aber bewegen sie auch zwei Paar Räder, die unter der Maschine angebracht sind, und welche ihrerseits die Mittelschiene packen.

Ueberall, wo die Bahn eine Erhebung von über 1:25 hat, wird diese Mittelschiene angebracht, und, je steiler die Straße, desto härter wird die Reibung, welche sich bis zu einem Gewicht von zwölf Tonnen, drei Tonnen auf jedes Rad, steigern laßt. So kann man jede Höhe überwinden und die steilsten Partien der Straße aufsteigen. Damit ist aber noch keineswegs die Frage gelöst, wie man den oft sehr schroffen Biegungen des Wegs mit einem Zug folgen kann, ohne aus den Schienen zu gerathen. Auch hier hilft, die Mittelschiene. Unter jedem Wagen sind ebenfalls horizontale Räder angebracht, welche aber nicht dazu bestimmt sind, wie die Räder unter der Maschine, die Reibung zu erhöhen, sondern nur zur Sicherung dienen. Eine Entgleisung wird dadurch sehr erschwert, weil der ganze Zug durch die erhöhte dritte Schiene wie von einer Mauer festgehalten wird.

Dieselben Mittel, welche zum Aussteigen dienen, ermöglichen auch das Herabsteigen des Zugs, der ohne diese Vorsichtsmaßregeln mit rasender Schnelligkeit dahin fahren und Alles mit sich fort in die Tiefe reißen würde. Vor Allem wird die Kraft des Dampfes freigelassen; dann stemmen sich die horizontalen Räder mit aller Kraft gegen die Mittelschiene und bieten der dahin rollenden Last einen tüchtigen Widerstand; die Schaffner hindern jede Bewegung der senkrechten Räder durch Hemmschuhe von Eisen und Holz, und für den besonderen Fall feuchten Wetters, welches die Schienen glatt machen würde, ist an der Maschine noch ein besonderer Sandbehälter angebracht, aus welchem man auf die Räder und die Mittelschiene Sand streuen und dadurch die Reibung verstärken kann.

Dank dieser mannigfaltigen Mittel steigt der Zug nicht nur die Höhen ohne Gefahr hinan und hinab, man kann auch den Lauf desselben in jedem Augenblick einhalten.

Eine für die Fell’sche Eisenbahn sehr wichtige Frage ist es, ob der Winter nicht den ganzen Betrieb hemmen wird.

An den oben erwähnten Sturmtagen gewiß, wo eben alle Verbindung aufhört, aber auch nur an diesen wenigen Tagen. Der Schnee wird kein Hinderniß bieten, da man den gemachten Erfahrungen nach die Bahn ohne allzugroße Schwierigkeit freihalten kann und für den Postverkehr bisher schon freigehalten hat. Zum besseren Schutz der Straße will man noch einen Theil derselben überdachen, und zwar werden die Schutzdächer je nach der Beschaffenheit des Platzes und der dort fallenden Schneemassen verschieden sein. Ungefähr fünf Kilometer des Weges haben genügenden Schutz unter einfachem Holzdach, sieben Kilometer werden mit Holz und Eisen gedeckt, während drei Kilometer lang, da wo leicht Lawinen fallen und die Schneemassen vom Sturmwind aufgehäuft werden, der ganze Weg in solidem Steinbau überwölbt wird.

Eine Schneeschaufel, welche vorn an der Locomotive befestigt wird, erhält ebenfalls eine besondere Form. Es ist ein eiserner Triangel, dessen Seiten spiralförmig gewunden sind und an die Archimedische Schraube erinnern. So wird der Schnee nicht einfach weggeschleudert, sondern er wird sicherer und weiter weggeschoben und so gelegt, daß er eine Art sanften Abhangs bildet.

Der ganze Bau soll womöglich schon in diesem Jahr vollendet werden. Die Unternehmer denken dann zunächst täglich drei Zuge in jeder Richtung gehen zu lassen, um etwa 130 Personen und 80–90 Tonnen Güter zu befördern. Jeder Zug wird außer der Maschine nur zwei bis drei bequeme Wagen haben. Die Kosten, welche auf acht Millionen Franken veranschlagt sind, hofft die Gesellschaft nicht nur ersetzt zu sehen, sie zählt auch darauf, trotz der kurzen Dauer ihrer Concession, bedeutenden Gewinn zu machen.

Der Handel, der bisher über Marseille seinen Zug nach Italien und dem Orient nahm, wird zum Theil den Weg über die Alpen kürzer finden. Man wird künftig achtunddreißig Stunden sparen, wenn man auf der Reise von Paris nach Alexandria über den Mont-Cenis statt über Marseille fährt. Denn nach Vollendung der Eisenbahn über den Berg wird man die Strecke St. Michel-Susa in vier und einer halben Stunden zurücklegen.

Es ist begreiflich, daß man in den Alpenländern dem endlichen Erfolg der Fell’schen Eisenbahn mit größter Spannung entgegensieht. Von ihrem Gelingen hängt nicht blos der Aufschwung der nächstgelegenen Provinzen ab, es handelt sich viel mehr noch darum, zu wissen, ob man das System der Riesentunnels verlassen kann. In diesem Fall wird es nur wenige Jahre dauern, und alle wichtigen Alpenpässe werden ihre Eisenbahn haben. Dann werden in Wahrheit die Gebirge besiegt sein, wie die weitesten Meere es schon so lange sind.[5]
F. L–n.




Ein Besuch im Salzburger Mozarteum.
Reiseerinnerung.


Müde und hungrig kamen wir spät Abends in Salzburg an. Noë’s Buch der baierischen Seen hatte uns sorgsam durch’s Gebirg geleitet, und jeder Schritt, den wir vorwärts gethan, uns in dem angenehmen Gefühl bestärkt, wir seien mit einem solchen Führer auf’s Beste berathen. An seiner Hand hatten wir während einer fünftägigen Wanderung ohne Zagen den zitternden Steg der Schwarzberg-, Seisenberg- und Wimbach-Klamm betreten, auf seine Empfehlung hin im Hirschbichl ein treffliches Mittagsmahl eingenommen, gewürzt durch die muntere Unterhaltung einer Gesellschaft, die sich hier aus vier deutscher Herren Ländern zusammengefunden, wir hatten uns auf den tiefgrünen Wellen des Königssees gewiegt, den hohen Göhl im letzten Sonnenstrahl purpurn erglühen sehen, und jetzt, am Ziele unserer Wanderung in Salzburg, machte unser getreuer Noë plötzlich ein unliebsames Punctum und empfahl sich uns auf Wiedersehen.

Als vollkommener Neuling im Gebirg hatte ich der erhebendsten Eindrücke genug empfangen, um Jahre lang von der Erinnerung zehren zu können, und dennoch traten diese Bilder jetzt zurück vor dem Gedanken, daß ich morgen im Begriff war eine Stätte zu besuchen, die mir ebenso theuer, wenn nicht noch theurer war, als irgend einer der Gedenktempel des deutschen Genius. Einem begeisterten Verehrer der Mozart’schen Muse, wie ich war, mußte es als eine Gewissenspflicht erscheinen, jene Stätte zu besuchen, wo die Reliquien des alten Meisters uns von dem Mozart predigen, der ja auch als Mensch vermöge seines kindlich liebenswürdigen Charakters an dem Herzen des deutschen Volkes ruht.

Zum bessern Verständniß will ich zuvor noch kurz darzulegen versuchen, was man unter Mozarteum versteht. In Salzburg besteht unter dem Protectorate des Erzbischofs ein Dom-Musik-Verein und das Mozarteum. Nach dem Paragraph zwei der Statuten bezweckt ersterer die Emporbringung der Musik in allen ihren Zweigen, insbesondere aber der Kirchenmusik; letzteres ist eine Musikanstalt zur würdigen Erhaltung des Andenkens Mozart’s in seiner Vaterstadt, das heißt eine Anstalt, an welcher Unterricht im Gesange, auf Instrumenten, im Generalbaß etc. ertheilt wird. Zur Charakterisirung der Organisation des Vereins sei noch angeführt, daß zuerst der Erzbischof Protector ist; tritt er aus, so hat binnen Jahresfrist der Verein aufzuhören. Der Repräsentanten-Körper besteht aus sieben permanenten hochwürdigen Herren, wozu der Erzbischof nach eigenem Ermessen noch Andere ernennen kann, im Uebrigen hat der Verein noch acht Mitglieder als Repräsentanten zu erwählen. (Ehemals ließ ein Salzburger Erzbischof den Mozart mit einem Fußtritt zur Thüre hinauswerfen, jetzt protegirt ein Salzburger Erzbischof Mozart’s Andenken; tempora mutantur!) Dem Mozarteum ist auch die Sorge für das Archiv übertragen, zu welchem namentlich eine Sammlung von Originalgemälden aus der Mozart’schen Familie, sowie einiger Instrumente und einer ziemlichen Zahl von Manuscripten Mozart’s gehört. Trotz der hochwürdigsten Protection war es, wie wir später erfuhren, nur mit Mühe gelungen, in ganz Salzburg ein Zimmer zu erhalten, wo diese Sammlung, wenn auch nicht passend, so doch sicher untergebracht werden konnte. Dieses Zimmer zu besuchen war nun unser Streben.

Bei den guten Salzburgern war es freilich schwer zu erfragen, wo das Mozarteum zu finden sei. Im Höllbräu, wo ich Quartier genommen, wußte man gar nichts davon, und weitere Nachfragen hatten nur [271] den Erfolg, daß man uns bald zu Mozart’s Geburtshaus, seinem Wohnhaus, schließlich sogar zu seinem Standbilde schickte. Mißmuthig, waren wir fast im Begriff unsere Entdeckungsreise aufzugeben, als wir erfuhren, im Chiemsee-Hof solle „auch etwas vom Mozart zu sehen“ sein. Wir ließen es auf einen letzten Versuch ankommen und suchten den Chiemsee-Hof auf. Derselbe, ein weitläufiges, altes Gebäude, beherbergt augenblicklich, wie ich glaube, verschiedene Regierungsbureaus, Cassen etc. In ihm war denn richtig das vielgesuchte Mozarteum, leider verschlossen; um zwei Uhr sei es geöffnet, besagte ein einfacher Zettel an der Thür. Unsere Ungeduld trieb uns noch vor zwei Uhr wieder an Ort und Stelle, doch es schlug halb drei, und Niemand erschien uns einzulassen. Endlich sagte uns eine mitleidige Seele, wir thäten am Besten, den Herrn Conservator selbst herbeizuholen, er wohne um ein paar Ecken herum bei einem Bäcker. Der Conservator (er war Musiklehrer am Mozarteum) war mit einiger Mühe denn auch gefunden und versprach sogleich nachzukommen; wir möchten einstweilen vorausgehen. Die vielbetrachtete Thür erschloß sich endlich, und meinem heißhungrigen Blicke zeigte sich ein absolut leerer Raum mit kahlen Wänden; das war noch nicht das Rechte. Wir gingen hindurch, überschritten die nächste Schwelle und standen glücklich im ersehnten Heiligthum.

Ein helles Zimmer, mäßig groß, in welches durch die geöffneten zwei Fenster die hellen Sonnenstrahlen fielen, an den Wänden alte Oelgemälde in unscheinbaren Rahmen, große Schränke, einige Tische mit allerlei Papieren und Notenheften bedeckt, ebenso in den Winkeln Noten und Bücher über einander geschichtet, in der Mitte ein alter Flügel – das war der erste Eindruck, den ich gewann. So konnte Mozart’s Arbeitszimmer in Wirklichkeit wohl ausgesehen haben; es war eine glückliche Mischung von Ordnung und Unordnung, ob absichtlich, ob unabsichtlich hergestellt, gleichviel. Auf den Fensterbretern stand eine Reihe von blühenden Cactusgewächsen, draußen in einem ganz vereinsamten Garten rauschten leise die Bäume, und in den Strahlen der Nachmittagssonne tanzten von uns aufgestört die Sonnenstäubchen. Wir standen unwillkürlich auf der Schwelle still, um das Bild ganz in uns aufzunehmen. Die Abgeschiedenheit von dem Getöse der Außenwelt und die träumerische Ruhe, welche über dem Ganzen lag, wirkten auf mich ein und versetzten mich ganz von selbst in eine feierliche Stimmung, wie sie dem Orte angemessen war. Unser Führer versah nun sein Amt, indem er uns erklärend von Bild zu Bild führte, die Schränke erschloß und Manuscripte vorlegte. Schon nach wenigen Minuten sahen wir ein, daß wir einen ebenso wissenschaftlich gebildeten wie zuvorkommenden Mann vor uns hatten, und dieser Umstand erhöhte den Genuß wesentlich.

In der Mitte des Raumes stand also Mozart’s Concertflügel, ein hellfarbiges, hochbeiniges Instrument. Der Conservator öffnete es und spielte einige Tacte des bekannten Menuets aus Don Juan; der Klang war, wie immer bei diesen alten Instrumenten, etwas scharf und dünn, aber tadellos rein. Vor längeren Jahren war einmal Mozart’s ältester Sohn aus Mailand herübergekommen und hatte auf diesem nämlichen Flügel in einem großen Saale ein Concert seines Vaters mit Orchester-Begleitung gespielt; es wurde uns versichert, das Instrument habe eine wunderbare Klangfülle entwickelt. Es hat auch die Ehre gehabt, portraitirt zu werden, wenigstens hängt zwischen beiden Fenstern ein großes Oelgemälde, das den kleinen Mozart mit seinem Schwesterchen vierhändig spielend vorstellt. Er trägt das Tressenkleid, welches ihm die Kaiserin Maria Theresia schenkte. Der Papa Mozart steht daneben und scheint auf die Fehler zu passen, während aus ovalem Goldrahmen die Mutter Mozart auf ihre Kinder herabblickt. Unter den übrigen Bildern ist auch das Miniaturportrait der Aloysia Weber, Mozart’s schöner Schwägerin, Bilder von seinen Söhnen und seiner Constanze nebst ihrem nachmaligen zweiten Mann, dem dänischen Staatsrathe Nissen, vornehmlich aber mehrere Portraits von Mozart selbst, die ihn in seinen späteren Lebensjahren zeigen. Eines, etwa einen Quadratfuß groß, ist nach dem Urtheil des Sohnes bei Weitem das ähnlichste, nur der Kopf ist vollständig ausgeführt, das Uebrige blos grundirt, und doch übertrifft sie alle ein kleines Medaillon in Buchsbaum geschnitten. Ein seiner Zeit sehr berühmter Künstler (Bosse heißt er, wenn ich nicht irre) hat es in Berlin verfertigt, zu welchem Zwecke ihm Mozart selbst mehrere Male gesessen hat. Es ist unglaublich sauber geschnitzt und hat einen sehr anziehenden und lebendigen Gesichtsausdruck.

Der Conservator verbindet hierbei das Nützliche mit dem Angenehmen. Da nach einem vollkommen ähnlichen Bilde von Mozart natürlich stets Nachfrage ist, so hat er von diesem Buchsmedaillon Photographieen in natürlicher Größe anfertigen lassen, die den Besuchern des Mozarteums eine willkommene Erinnerung bieten. Jetzt wird ein Schrank geöffnet mit Mozart’schen und anderen Manuscripten gefüllt. In gebührendem Respect wird uns zuerst ein Gedicht producirt, welches der alte König Ludwig von Baiern zu Ehren Mozart’s verfaßt und eigenhändig niedergeschrieben hat. An diesem Gedicht, welches (zur Ehre der Wahrheit sei es gesagt) wirklich gut ist, haben sich Drei verewigt: einmal der hohe Verfasser, sodann Franz Liszt, welcher es auf eigene Kosten hat einbinden lassen, und zuletzt ein Salzburger Buchbinder durch den kostbaren Einband in Blau mit Silberpressung. Trotz alledem aber legen wir es beiseite und sehen lieber Mozart’s Clavierschule an, d. i. diejenige, nach welcher er das Clavierspiel gelernt hat. Es ist ein geschriebenes Heft, vielfach mit Anmerkungen des Papas versehen, die u. A. z. B. lauten: „Diese Menuet hat der Wolfgangerl, als er vier Jahre alt war, in einer halben Stunde auswendig gelernt.“ Weiterhin finden wir eine Sammlung der ersten Compositionen Wolfgangerl’s, die der Vater niedergeschrieben hat, stets mit Randbemerkungen, z. B.: „Diesen Marsch hat der Wolfgangerl am – folgt das Datum – in seinem sechsten Lebensjahre in einer Stunde componiret.“ Das Söhnlein hatte also am Clavier einen Marsch eigener Erfindung gespielt und der Vater denselben flugs zu Papier gebracht.

Von großem Interesse ist auch ein unscheinbares Quartblatt, nicht einmal ganz beschrieben; es ist die Antiphonie, die dem noch im Kindesalter stehenden Mozart in Bologna den Titel eines Maëstro filarmonico einbrachte, eine Ehre, nach welcher mancher tüchtige Musikus vergeblich getrachtet hatte. Mozart löste die gestellte Aufgabe spielend in kaum mehr Zeit, als er bedurfte, um die paar Noten überhaupt niederzuschreiben, und das Publicum schrie begeistert: Evviva il maëstro filarmonico! Evviva il maëstrino! Das betreffende Diplom hängt unter Glas und Rahmen an der Wand. Auch einige Bände von Mozart’schen Briefen sind vorhanden, aus jedem Lebensalter, nach dem Datum geordnet und sauber zwischen weiße Blätter gelegt; liest man nur einige Zeilen, so schaut allenthalben das kindliche Gemüth und oft ein schalkhafter Humor heraus, der warm zum Herzen geht. Zu lange dürfen wir aber nicht darin blättern, sonst wird unser Herr Conservator ungeduldig. Mit heimlichem Seufzer sah ich den kostbaren Schrank sich schließen, und nur eine neue Reliquie konnte meine Gedanken und Aufmerksamkeit ab- und auf sich lenken. Es war Mozart’s Spinett, recht eigentlich der Vertraute seiner heiligsten Stunden, der Zeuge und Gehülfe seines reichen Schaffens. So unscheinbar und altersschwach stand es da, ein schmaler niedriger Kasten auf dünnen Beinen, die Claviatur von etwa fünf Octaven Umfang, die oberen Tasten weiß, die unteren schwarz, alle ausgespielt und vergilbt. Im Innern war ein Zettel angeklebt, auf welchem Constanze selbst ein Zeugniß für die Echtheit des Instrumentes ausgestellt hatte, etwa so lautend: „Dieses Spinett hat mein lieber Mann Wolfgang viele Jahre hindurch besessen, auch an ihm mehrere Opern, den Idomeneo, die Zauberflöte und sein Requiem componirt.“ Während unser Führer zu einem Nebentische ging, konnte ich es mir nicht versagen, die eine Hand auf die Tasten zu legen; es gab einen ganz gedämpften Klang, und fast erschrocken zog ich die Hand zurück. Es schien mir sündhaft, diesen Vertrauten des herrlichen Meisters aus seinen Träumen von der guten alten Zeit zu wecken, wo noch die göttlich geweihten Hände Zaubermelodieen aus ihm hervorlockten. Unwillkürlich fiel mir, als ich den Namen Idomeneo las, ein, daß in denselben Räumen, wo der Freimaurer Mozart dieses sein unsterbliches Werk schuf, im Sonneneck der Burggasse zu München, gegenwärtig das katholische Casino haust.

Da unsere Zeit beschränkt war, so mußten wir uns mit einem flüchtigen Besuch begnügen; es blieb nur noch übrig, uns im Fremdenbuch zu verewigen. Auch dieses verdankt Franz Liszt sein Dasein; er hat es gestiftet, und sein Name steht auf der ersten Seite obenan in langen, spinnenbeinigen Zügen. Dicht darunter steht der Name Alfred Jaell so rund und drall geschrieben, daß man meinen sollte, die Schriftzüge der beiden Künstler repräsentiren auch ihre Figur. Aber weiter sind nur wenige Blätter beschrieben, [272] ein Zeichen, daß das Mozarteum bei Weitem nicht so bekannt und besucht ist, wie es von Rechtswegen verdient.

Als ich, im Begriff zu gehen, den Blick noch einmal das Zimmer durchlaufen ließ, fiel mir noch ein Heft von der Größe einer ansehnlichen Tischplatte auf; es lag auf dem Flügel und wir hatten es vorher ganz übersehen. Es war eine vierundfünfzigstimmige Messe von einem Salzburger Capellmeister vor Mozart’s Zeit, eine in ihrer Art wohl einzige Curiosität. Wir mußten uns jetzt verabschieden und thaten es mit aufrichtig gemeinter Danksagung und dem Versprechen, in unsern Kreisen dahin zu wirken, daß dem Mozarteum weitere Bekanntschaft zu Theil werde. Der freundliche Conservator begleitete uns bis an die Treppe und kehrte dann zurück, um nach seinen Cactusblüthen zu sehen.

Es war keine verlorene Stunde gewesen in meinem Leben, und ich wünschte wohl, mancher hochweise Musikmacher, wie die Gegenwart sie ausheckt, ginge hinein in’s Mozarteum, schluckte eine Stunde lang etwas Staub und nähme es sich recht sehr zu Herzen, in welcher Anspruchslosigkeit und unter wie kümmerlichen Verhältnissen Mozart eben der Mozart geworden ist, von dem ein Härchen mehr wiegt, als ein ganzes Dutzend solcher Eintagsfliegen mit Haut und Haaren. Sei es mir gestattet, mit einer Abänderung des letzten Verses vom Alten-Dessauer-Liede zu schließen:

„Die Löwenmähn’ am Schopfe
Macht nicht allein den Mann;
Ich halt’ es mit dem Zopfe,
Wenn solche Männer dran.“




Blätter und Blüthen.


Abenteuer in Texas. Mehrere Jahre, mit die angenehmsten meines Lebens, habe ich vor dem Ausbruche des amerikanischen Bürgerkrieges in Texas verbracht. Während des Krieges durchzog ich als Neutraler mancher Herren Länder und bin nun vor ein paar Wochen nach einer kleinen Zehntausend-Meilen-Reise hierher zurückgekehrt, um Geschäftsaußenstände von meinen alten Freunden, den rechtschaffenen Pflanzern, einzutreiben. Daß meine alten Freunde, die rechtschaffenen Pflanzer in Texas, mich eher auf irgend einen amerikanischen Blocksberg, als hierher, zurückwünschten, ist unter den Umständen sehr erklärlich, und daß ich in einem Lande, wo es noch vor Kurzem nichts Seltenes war, daß Räuber bei hellem, lichtem Tage in die Wohnungen drangen und den Bewohnern die Füße auf glühende Kohlen legten, um Geldcontributionen zu erpressen; wo die Deutschen wie wilde Thiere zu Tode gehetzt wurden; wo man Unionisten zum Vergnügen aufhängte und alle Landstraßen von Mördern, Spitzbuben und Gesindel aller Art wimmelten – daß ich in einem solchen Lande als plötzlich gleichsam von den Todten erstandener Gläubiger fast des halben County’s nicht eben auf Rosen ruhe, ist ebenfalls sehr erklärlich, da, wie bekannt, bei Geldsachen sogar in friedlichen Ländern die Gemüthlichkeit aufhört.

Indeß haben sich jetzt die Gemüther im Süden Gott Lob so ziemlich beruhigt und ich muß es dankbar anerkennen, daß man mich hier nicht nur nicht mehr als passende Eichenast-Fahne betrachtet, sondern im Gegentheil, sogar in Geldangelegenheiten, äußerst zuvorkommend und freundschaftlich behandelt. Jede Regel hat aber ihre Ausnahmen. Vor einigen Tagen – es war am 22. Februar, dem Geburtstage Washington’s – befand ich mich in meinem hiesigen Hauptquartier, einem Advocaten-Bureau, in dem mich meine alten Freunde, die Pflanzer, gelegentlich mit Zwanzigdollar-Goldstücken und Rollen von „Greenbacks“ – amerikanisches Papiergeld, so benannt nach seiner grünen Farbe – erheitern, und stand, meinen Meerschaum rauchend, gemüthlich am lustig brennenden Kaminfeuer, indeß ich mit zwei anwesenden Rechtsgelehrten einen Baumwollen-Casus kritisch beleuchtete, wobei es sich darum handelte, ob meine Wenigkeit oder die unter Oncle Sam’s Namen den Süden ausplündernden Baumwollen-Diebe das nächste Anrecht auf ein Dutzend Ballen Baumwolle hätten, als ein halbangetrunkener Texaner in die Stube hereinwankte und in einem Lehnstuhl mir dicht gegenüber Platz nahm.

Unser Besucher war seit den letzten Jahren der Schrecken der Stadt gewesen. Alle zwei, drei Tage kam er in den Ort und schoß beliebig mit seinen zwei geladenen Revolvern – die er beständig schußfertig im Gürtel trug – in den Straßen herum, wobei verschiedene Male nur wie durch ein Wunder sowohl Herren als Damen seinen planlos umherfliegenden Kugeln entgingen. In mehreren Privatgefechten hatte er seine Widersacher mit Messerstichen gefährlich verwundet und einen derselben erschossen, ging aber dessenungeachtet und obgleich vor dem Gesetze als Mörder denuncirt, frei in der Stadt umher, da sich Niemand getraute, ihn zu arretiren.

Er war auf unser Bureau gekommen um sich bei dem einen der daselbst wohnenden Advocaten, den er aus Versehen Tags zuvor auf der Straße fast erschossen hatte, für seinen Scherz zu entschuldigen. Mit mir hatte er nie Streit gehabt. Seine Frau Mutter, die eine ansehnliche Pflanzung in der Nähe unserer Stadt besitzt, war in früheren Jahren einer meiner besten Kunden gewesen, so daß ich mit der Familie unseres Besuchers auf freundschaftlichem Fuße stand, obgleich ich diesem Sprößlinge derselben von jeher am liebsten möglichst weit aus dem Wege ging, weil ich an seinen Pistolenübungen wenig Gefallen fand.

Ich begrüßte ihn freundschaftlich: „Wie geht’s, Pomp?“ (Pompejus hieß der Ritter). Wie der Blitz riß er einen seiner geladenen Revolver aus dem Gürtel und hielt ihn mir, nur zwei Fuß entfernt, vor’s Gesicht, indem er den Hahn halb spannte und rief: „Rede nicht zu mir, Du verdammter Deutscher; ich schieße Dir den Schädel vom Kopf herunter!“

Ich gestehe es, mich überlief es eiskalt, als ich so hülflos vor diesem Tiger in Menschengestalt stand und ihm in’s unheimlich blitzende Auge schaute. Bei einer wilden Bestie im Käfig wäre mir wohler gewesen. Daß er nicht im Scherz zu mir redete, sondern bittern Ernst meinte, war unverkennbar. Was gilt auch das Leben eines Dutchman, wie man verächtlicher Weise unsere Landsleute an dieser Seite des Oceans öfters titulirt, einem solchen edelgeborenen Amerikaner, der sich himmelhoch über jenen erhaben dünkt! Er würde nicht mehr Gewissensbisse darüber empfinden, eine so tief unter ihm stehende Creatur, einen Deutschen, niederzuschießen, als ob er ein Licht ausgeblasen hätte.

Ich blickte meinem Dämon möglichst kaltblutig in’s Auge, was, wie mir instinctmäßig bewußt war, meine einzige Hoffnung auf Rettung aus meiner peinlichen Lage blieb, da er mir bei der geringsten Bewegung ohne Frage eine Kugel durch den Kopf gejagt hätte.

„Ich will Dich, glaube ich, doch todtschießen,“ fuhr er, abgebrochen, zwischen den Zähnen murmelnd, fort und spannte den Hahn vollends – Klick! Unbeweglich stand ich etwa drittehalb Fuß vor der Mündung der Pistole, während es mir vorkam, als packte mich eine kalte Hand im Genick. Dann sagte ich bittend, doch bestimmt: „Laß das dumme Zeug, Pompejus, schieße nicht auf mich.“

Nachdem er, vorgebeugt im Lehnstuhl vor mir sitzend, den Finger am Drücker und die Mündung der Pistole gegen meinen Kopf haltend, mich fast zwei Minuten lang in dieser Stellung stier angeblickt, besann er sich eines Bessern und steckte den Revolver langsam wieder in den Ledergurt, worauf ich mich entfernte.

Meine beiden Freunde, die Advocaten, welche rechts und links etwas entfernt von mir an ihren Schreibtischen saßen und mir nicht helfen konnten, bemerkten späterhin, daß sie mein Leben nicht fünf Cents werth erachtet hätten und ihnen vor Entsetzen bei der jetzt geschilderten Scene der Athem still gestanden. Daß Pompejus für diesen „Spaß“ nicht bestraft wurde, versteht sich von selbst.

Und hier möchte ich denen meiner Landsleute, die nach den Südstaaten auszuwandern gedenken, den Rath geben, die ungeschminkte Darstellung dieser Scene sich tief in’s Gedächtniß zu prägen und wohl zu erwägen, was es bedeute, ein Land, wo so etwas möglich ist, für die friedliche Heimath zu vertauschen. Allerdings stehen dergleichen Fälle hier zu Lande jetzt vereinzelt da; die Mehrzahl der besseren Classe der Bewohner ist zuvorkommend gegen Fremde, deren zahlreiche Einwanderung man sehnlichst wünscht, und der Haß gegen Deutsche verschwindet mehr und mehr, aber – die Pompejusse sind immer noch keine Seltenheit im Süden.

Aus dem Staate Texas, Ende Februar 1866.
Theodor Kirchhoff.




Briefsteller für Liebende. Unter den literarischen Zeitproducten kann es wohl kaum etwas Abgeschmackteres, ja Verderblicheres geben, als jene „Briefsteller für Liebende“, welche als ein trauriger Nothhelfer für Geistes- und Gemüthsarmuth leider einen meist guten Absatz finden und in den geheimen Schubläden heranreifender Jünglinge und Jungfrauen oft genug sich bergen. Die weitaus verderblichste Folge dieser Machwerke ist, daß sie die Wahrheit des Gefühls, wenigstens die Naivetät des Herzens, verderben. Schon längst aber besitzen wir ein Buch der Art, das weithin alle diese Schriften überragt und das nicht nur mit gutem Gewissen, sondern dringend allen Jünglingen und Jungfrauen zur Lectüre empfohlen werden kann, und zwar nicht blos denen, die, wenn’s nun einmal sein muß, eine Mustervorschrift für den Ausdruck ihrer Gedanken haben wollen, sondern überhaupt allen, die ihr Herz veredeln und gegenseitiger Neigung die rechte, wahrhaft befriedigende Richtung geben wollen. Dieser wahre Musterbriefsteller ist das längst erschienene, aber noch lange nicht genug im Volke bekannte und gelesene herrliche Buch: Der Briefwechsel zwischen Schiller und seiner späteren Frau, Charlotte („Schiller und Lotte“), also ein wirklich durchlebter Briefwechsel. Auf der einen Seite dies echt weibliche, feinfühlende Wesen Charlottens, das in demuthvoller Hingabe und mit liebender Geschäftigkeit den hochgebenden Gedankenkreis des Geliebten hinanzusteigen strebt, auf der andern Seite er, hinter dem „im wesenlosen Scheine“ lag, „was uns Alle bändigt, das Gemeine“, der angezogen von diesem für alles Hohe und Schöne empfänglichen Gemüthe liebend wieder zu ihr hinabsteigt und ihr mit der ganzen Fülle seiner Liebenswürdigkeit entgegenkommt. Ich kenne kein sinnigeres Geschenk eines Bräutigams an die Braut, einer Mutter an die Tochter, als diesen Briefwechsel zwischen Schiller und Lotte, und möchte darum Eines recht sehr wünschen: daß die Verlagshandlung eine billige Volksausgabe desselben veranstalte.
Fr. Hg.




Bismarck an Uhden. Schluß in nächster Nummer.
D. R.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Es ist über Friedrich Rückert’s Persönlichkeit, häusliche Verhältnisse, Gewohnheiten und letzte Lebenstage so viel Halbwahres, Halbverstandenes und ganz Falsches durch die deutsche Presse verbreitet worden, daß es zur Nothwendigkeit wird, dem entgegen aus der einzigen lauteren Quelle geschöpfte Nachrichten, soweit die Verehrer des Dichters im deutschen Volk gerechte Ansprüche auf solche erheben können, schon jetzt zu veröffentlichen, obwohl eine ausführliche Biographie des heimgegangenen Dichters von seinem hierzu vor Allen befähigten und berufenen Sohne Heinrich in sicherer Aussicht steht. Diese vorläufigen Mitheilungen mögen wenigstens dazu dienen, weiteren schwankenden, auf ungenaue Grundlage gestützten Berichten Einhalt zu thun und das Bild des großen Mannes vor leicht möglichen weiteren Verzerrungen zu schützen. Das Wahrste von allem bis jetzt über Rückert’s inneres und äußeren Leben Veröffentlichten haben die „Grenzboten“ (Nr. 14 und 15 d. J.) von einer dem Hause ebenfalls vertrauten Hand empfangen.
    D. V.
  2. „Der letzte Ritter des Frankenlandes und seine Tafelrunde“. Mit einer Abbildung der Bettenburg und dem Bildniß des „alten Truchseß“.
  3. Unser sprechend ähnlicher Holzschnitt ist genau nach der von Hohnbaum für die Gartenlaube entworfenen Originalskizze ausgeführt, die an einem Abend gezeichnet wurde, während Rückert unsere Zeitschrift las.
  4. Ein Meter ist etwa 3,1 preußische Fuß; ein Kilometer = 1000 Meter.
  5. Nach englischen Illustrationen haben verschiedene deutsche illustrirte Blätter Abbildungen der Mont-Cenisbahn gebracht, die als reine Phantasiestücke zu bezeichnen sind.
    D. R.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Urenkelind