Die Gartenlaube (1866)/Heft 27
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.
Vor der kleinen Thür, deren eisernes Gitter einen schmalen Einblick in den Garten gewährte, hielt ein Einspänner. Das elende Fuhrwerk war eben in fliegender Eile die Chaussee herabgerasselt und hatte somit bewiesen, daß der häßliche, alte Gaul an der Deichsel und der gelb angestrichene Kutschkasten doch noch nicht so mürbe und lebensmüde seien, wie es den Anschein hatte. Für das verschrumpfte, staubige Lederverdeck war der Gewitterregen, der unaufhaltsam herniederströmte, augenscheinlich eine lange nicht genossene Wohlthat; der hinten aufgebundene elegante Koffer dagegen gewann sicher nicht durch die schwarzgefärbten Bäche, die aus den steifen Lederfalten auf seinen hellen Deckel herabrannen, und der Gaul protestirte durch Schnauben und ohnmächtiges Stampfen gegen das unfreiwillige Bad. Er hätte von seinem Lenker lernen können, wie man sich mit Ruhe und Würde in das Unvermeidliche fügt; der dickköpfige Bursche auf dem Kutschersitz klatschte energisch mit der Peitsche und wartete dann geduldig unter der triefenden Mütze auf den Effect seiner Armbewegung. Aber auch die Insassen des Wagens schienen nicht zu harmoniren mit diesem wahrhaft spartanischen Gleichmuth gegen äußere Unbill; denn als auch die letzte Schwingung des Peitschenknalles drüben an dem Berge verhallt war und hinter der Gartenthür nichts sich rührte und bewegte, als der Regen, der klatschend auf die riesigen Rhabarberstauden niederfiel, da erschien eine schmale Damenhand unter dem Lederbehang, der die Fensteröffnung des Wagens bedeckte. Die feinen Finger, die ein silbergrauer Handschuh so elfenbeinglatt umschloß, daß selbst die zierliche Mandelform der Nägel sich abzeichnete, wurden offenbar von Ungeduld dirigirt; sie gaben sich alle erdenkliche Mühe, den steifen Riemen zu lösen, mittels dessen draußen das Lederstück befestigt war – vergebens. Die Hand zog sich endlich wieder zurück und die Art und Weise, wie sie sich blitzschnell zu einer allerliebsten kleinen Faust zusammenbog, ließ auf einen bedeutenden Grad von Unmuth schließen.
Zu gleicher Zeit hielt es aber auch der Kutscher für angezeigt, sein Signal zu wiederholen, und diesmal blieb es nicht ohne Erfolg. Eine feine Thürklingel ertönte, dann näherten sich rasche Schritte über den knirschenden Kies; ein rother, baumwollener Regenschirm erschien hinter der Gartenthür und unter demselben ein hagerer, alter Mann in gestreifter Weste, einem altmodischen, bis auf die Fersen reichenden Rock und das eigenthümlich breitgedrückte, grundhäßliche Gesicht zwischen zwei steife Vatermörder geklemmt, die ihn zwangen, gleich dem Krokodil, jeder Kopfschwenkung seine gesammte Persönlichkeit hinzuzufügen. Nach einem prüfenden Blick durch das Gitter öffnete er die Thür, nahm sogleich den widerspenstigen Riemen in Angriff und rief in respectvollem Ton nach dem Garten zurück: „Ja, ja, es ist richtig, Frau Hofräthin, es ist der Christian aus Neudorf.“
Sofort trat eine große, stattliche Frau in die Thür. Ihre starken, dunkelgefärbten Züge zeigten unverkennbar freudige Erregung und Erwartung, aber beim Anblick des kläglichen Fuhrwerkes verschwand dieser Ausdruck augenblicklich. Die geröthete Stirn wurde noch dunkler und um den Mund, den der Anflug eines schwarzen Bärtchens beschattete, flog ein Zug heftigen Verdrusses.
„Ei, da soll mich doch Gott bewahren!“ fuhr sie den erschrockenen Burschen auf dem Kutschersitz an. „Ist denn Dein Herr verrückt? Schämt er sich nicht, eine junge Dame von Stande in solch’ einen erbärmlichen Rumpelkasten zu stecken? In solch’ eine Mäuseherberge?“
Während dieses Zornausbruchs hatte der Mann mit dem rothen Regenschirm den widerspenstigen Riemen gelöst, der Lederbehang und die Wagenthür wurde zurückgeschlagen. Ein reizendes Füßchen erschien, aber es vermied den Wagentritt; wie aus der häßlichen Puppe der Schmetterling, so flog eine leichte Mädchengestalt aus der altfränkischen Kutsche auf den Boden, und sogleich schlangen sich zwei Arme, um den Hals der scheltenden Frau Hofräthin.
„Sei nicht böse auf den guten, alten Postmeister, Tante Bärbchen!“ bat das junge Mädchen, und in seiner Stimme mischte sich mit dem Schluchzen der Wiedersehensfreude ein Anflug von Schalkheit. „Er wollte mich durchaus nicht weiter befördern, weil sein ganzes vierfüßiges Regiment in Begleitung sämmtlicher respectablen Postkutschen ausgerückt war; aber ich sehnte mich fast zu Tode hierher zu kommen und bat und bettelte so lange, bis er brummend dies Prachtstück aus der Remise brachte, wo es seit vielen Jahren seine verlorene Jugend betrauert. Tantchen, liebes, gutes Tantchen – und Mäuse sind ganz gewiß nicht drin, sonst wäre ich doch lieber zu Fuße nebenher gelaufen.“
Und Tante Bärbchen lachte und umschlang das junge Mädchen. Bei dieser Gelegenheit sehen wir, daß ein Aermel ihres derben, carrirten Gingham-Hauskleides schlaff an der Seite niederhängt, der linke Arm fehlt; doch mit der Rechten, die zugleich einen triefenden Regenschirm hielt, drückte sie die zarte Gestalt innig an ihre Brust und es sah merkwürdig genug aus, als sich ihr großer, kräftig geformter Kopf mit den fast männlich kühnen Zügen über das sonnige, weiße Gesichtchen neigte, das unter Thränen lachend emporblickte.
„Na, nur schnell hinein in’s Haus!“ mahnte sie. „Da hat mein Schirm schöne Straßen über Dein Kleid laufen lassen! Muß es denn aber auch gerade Seide sein auf der Reise? Und noch dazu Seide über einen so fürchterlichen Luftballon gespannt! [418] Und wie willst Du denn über den nassen Kies kommen mit den Papiersöhlchen an den Füßen? … Sauer wird Dich tragen müssen.“
Der Mann mit dem rothen Regenschirm näherte sich sofort und breitete mit dem tiefsten Ernst seine langen Arme aus, aber das junge Mädchen floh lachend in den Garten.
In demselben Augenblick brauste eine elegante Equipage heran. Hinter den Spiegelscheiben des Wagenfensters hingen fest zugezogene, seidene Gardinen und auf dem Bock neben dem Kutscher saß ein Neger in Livree. Der Kutscher fuhr mit der ganzen Rücksichtslosigkeit seiner Classe, sobald sie einen reichen oder vornehmen Herrn hinter sich im Wagen weiß. Offenbar hatte er das Gefühl eines Souverains auf der breiten Chaussee, denn er fuhr so dicht an der altersschwachen Postkutsche vorüber, als existire sie ebensowenig wie der Bauernknecht, der mittlerweile vom Bock herabgestiegen war und sich bei seinem Pferd zu schaffen machte. Nur mittels eines gewaltigen Sprunges rettete der entsetzte Bursch seine gesunden Glieder vor den Pferdehufen und Rädern der vornehmen Equipage. Er brachte vor Schrecken kein Wort heraus, aber es war auch gar nicht nöthig, die Frau Hofräthin stand bereits neben ihm und schien den Kampf für ihn aufnehmen zu wollen.
„Ist das auch eine Art?“ rief sie mit kräftiger, weithin schallender Stimme dem Kutscher nach. „Ich werde Ihm die Polizei auf den Hals schicken für seine Unverschämtheit!“
Der Kutscher fuhr unbeirrt weiter; der Neger jedoch wandte sich um und zeigte hohnlachend seine zwei Reihen blendend weißer Zähne. Gleich darauf verschwand der Wagen in der Einfahrt der angrenzenden Besitzung.
„Das hat man davon, wenn solch’ ein erbärmlicher Kasten vor der Thür hält!“ wandte sich die Dame grimmig an ihren Diener, dem ein Paar kleiner, rother Flecken der Entrüstung über den Vatermördern glühten. „Das war wieder einmal Wasser auf die Mühle da drüben! … Mach’ Er, daß Er in’s Haus kommt, Sauer,“ fuhr sie beruhigter fort, „und hole Er dem Burschen da ein Glas Wein; der Schreck ist ihm in die Glieder gefahren, er sieht ja fast noch wackeliger aus, als seine alte Kalesche.“
Sauer eilte fort und auch die Hofräthin trat in den Garten zurück. Der Regen hatte plötzlich nachgelassen; es rieselte fein hernieder und nur noch von den Zweigen tropfte es klatschend und schwerfällig. Die eben angekommene junge Dame hatte sich während des Vorfalls auf der Chaussee unter einen dichtbelaubten Baum geflüchtet und sah mit großen, erstaunten Augen auf ein neues Haus, das seine glänzend weißen Mauern jenseit des hohen Gartenzauns erhob.
„Lilli, Du bist und bleibst doch ein Leichtsinn!“ schalt die Tante. „Weißt Du denn nicht, daß das der zugigste Platz im ganzen Garten ist? … Ich bitte Dich, Kind,“ fuhr sie erregt fort, indem sie den Blick des jungen Mädchens auffing, „sieh nicht dort hinüber. Ich stelle Dir die eine Bedingung – aber in allem Ernst – daß Du während Deines Hierseins thust, als höre da drüben mit dem Zaun die Welt auf. … Was dort lärmt, schwatzt und geigt, darf nicht für Dich existiren, wenn wir gute Freunde bleiben wollen; hast Du mich verstanden, Lilli?“
Die junge Dame öffnete ihre Augen noch weiter, aber sogleich flog ein reizendes Lächeln um ihre Lippen, sie verbeugte sich und legte die Hände auf Augen und Ohren, zum Zeichen, daß sie blind und taub sein wolle.
„Vorläufig sollst Du wissen,“ sagte die Hofräthin und deutete mit dem Schirm nach dem neuen Haus, „daß da drüben täglich ein neuer Nagel zu meinem Sarg geschmiedet wird. … Jetzt laufe, daß Du in’s Haus kommst… Nimm doch Dein Kleid in die Höhe; siehst Du denn nicht, daß der Buchsbaum schwimmt und den Firlefanz auf Deinem Rock jämmerlich zurichtet?“
Lilli warf einen schelmischen Seitenblick auf die stattliche, kernfeste Gestalt der Tante – die Sargarbeit derer da drüben gedieh anscheinend nicht besonders – dann schürzte sie ihr Kleid, sprang den ziemlich steilen Kiesweg hinauf, der nach dem Hause führte, nahm eine dicke, wohlgenährte Katze, die eben träge durch die Hausflur schlich, bei den Vorderpfoten und tanzte so lange mit ihr herum, bis die Tante lachend, aber mit drohend gehobenem Zeigefinger in der Thür erschien und eine alte Köchin entsetzt aus der Küche stürzte, um ihren am Asthma leidenden Liebling der übermüthigen Tänzerin zu entreißen.
Die Hofräthin Falk hatte bei den Bewohnern der Stadt R. einen großen Stein im Bret. War auch die Art und Weise, wie sie den Leuten die Wahrheit in’s Gesicht zu sagen pflegte, nicht gerade die feinste und schmeichelhafteste und hatte sie die üble Gewohnheit, sich stets mit großer Energie und Entschiedenheit Derjenigen anzunehmen, deren guter Leumund auf dem Marterrost kleinstädtischer Klatschzungen lag, so fielen diese Schattenseiten doch nur leicht in’s Gewicht der seltenen Großmuth gegenüber, mit der diese Frau von ihrem bedeutenden Reichthum Gebrauch machte. Der Bedrückte fand stets ihre Hand und Thür offen, ihre Freunde konnten in Verlegenheit und übler Lage unverrückbar auf ihre Hülfe und ihr Schweigen zählen, und weil in der ganzen Stadt kein Kind zu finden war, das nicht wenigstens einmal Obst und Kuchen bei der Frau Hofräthin gegessen und sich auf den Rasenplätzen ihres Gartens herumgetummelt hatte, so war es wohl sehr natürlich, daß sie eine Allerweltstante wurde. Der vornehm klingende Titel wollte durchaus nicht über die Lippen der Kleinen, desto leichter aber wurde ihnen das traute „Tante Bärbchen“.
Und diese Frau mit dem Herzen voll Liebe und Erbarmen, mit dem starken, unerschütterlichen Gerechtigkeitssinn, sie hatte diese Welt betreten, lieblos verkürzt in ihren natürlichsten Rechten: sie wurde nur mit einem Arm geboren. Die böse Welt suchte diese Missethat der Natur in Einklang zu bringen mit dem göttlichen Gesetz: „Ich will die Sünden der Väter heimsuchen an den Kindern.“ Man raunte sich zu, der Vater der Unglücklichen habe einem armen Mädchen die Ehe versprochen und sich dabei vermessen, der Allmächtige solle ihn an Armen und Beinen strafen, wenn er sein Wort nicht halte. Er habe den Schwur gebrochen und das einarmige Kind sei die nothwendige Erfüllung des göttlichen Drohwortes. Beschwören konnte indeß Niemand dies Gerücht, das auch niemals bis zu den Ohren der armen Verkürzten gedrungen war. Sie blieb das einzige Kind ihres Vaters, der sie vergötterte und dem auch sie anhing mit der ganzen Liebe, deren ihr Herz fähig war. Um ihn über ihre Zukunft zu beruhigen, reichte sie an seinem Sterbebette in ziemlich vorgerückten Jahren dem Hofrath Falk, einem alten Hausfreund, ihre Hand. Aber auch er starb nach einer kurzen, glücklichen Ehe und fortan lebte sie als Wittwe in ihrem väterlichen Hause, umgeben von zwei musterhaften Inventarstücken desselben, dem alten Bedienten Sauer und der sechszigjährigen Köchin Dorte.
Das Haus lag außerhalb der Stadt. Die Chaussee, die hart an dem alten, mit einem häßlichen Thurm gekrönten Stadtthor begann, mußte eine beträchtliche Strecke laufen, bevor sie den Berg erreichte, der, droben jäh emporsteigend, seinen greisenhaften, unbedeckten Scheitel aus einem Kranz prächtiger Buchenwaldung hob, während er drunten gleichsam ein Knie vorbog, auf welchem das Haus der Hofräthin lag. Es war alt und unschön. Ein ungeheures Ziegeldach mit zwei mächtigen Schornsteinen saß so anspruchsvoll auf der einstöckigen Fronte, als sei sie lediglich um seinetwillen da. Einige dickstämmige Weinstöcke umspannen zwar die Wände, aber sie vermochten nicht ganz, einzelne Streifen der schmucklosen, weißen Tünche und die vom Alter braungefärbten Holzrahmen der Fenster zu verstecken. Und doch lag es so traut und heimlich da, gleichsam auf den grünen Pfühl des Waldes gebettet, der seinen Athem darüber hinwehte, jenen Hauch der Romantik, in den sich auch alte, versteckte Jagdschlösser einspinnen… Trat man auf der Thalsohle weit zurück, so daß man die ganze untere Breite des Berges übersehen konnte, dann erhielt freilich das alte Haus einen Gegner, der höhnisch alle Schattenseiten des verunglückten Baues, alle Sünden seines Schöpfers hervorhob. Auf demselben Vorsprung des Berges, nur durch einen hohen lebendigen Zaun von Tante Bärbchens Besitzung getrennt, erhob sich die brillante Façade eines neuen Hauses. Ein viereckiger, stumpfer Thurm an der Südseite überragte das beinahe flache Dach des Hauptgebäudes um eines Stockwerkes Höhe. Droben schwebte zart durchsichtig wie Spinnengewebe eine zierliche Galerie um die Zinne, und die vier Fenster, die fast die ganzen Wandbreiten des Thurmes einnahmen, zeigten in blendendem Farbenschmelz kostbare Schildereien aus buntem Glas. Fast schien es, als verhauche die nordische Luft ihre ganze Kühle und Schärfe an der trennenden grünen Hecke. In Tante Bärbchens Garten strich sie über ehrliche deutsche Kraut- und Kohlhäupter, über ungekünstelten Graswuchs [419] voller hochaufgeschossener Wiesenblumen, und drüben flüsterte sie in den verlockenden Zweigen des Lorbeers, in den Kronen dunkler Granat- und Orangenbäume, die ihre leuchtenden Blüthen auf die Terrasse vor dem Hause und die in den Garten hinabführende breite Steintreppe schüttelten. Drüben rauschte das Brunnenwasser aus der einfachen Holzröhre in eine uralte, grünbemooste Steinmulde, und hier sprangen Fontainen und spritzten ihre Silbertropfen auf den duftig grünen Flaum des englischen Rasens, auf eine wahrhaft orientalische Rosenpracht… Man meinte, auf jenes alte Dach, das sich vertraulich an die Buchenwipfel schmiegte, auf dessen Ziegeln große Büschel Hauswurz nisteten und das zahllose Schwalbennester beschirmten, den ernsten Schatten der deutschen Sage gleiten zu sehen, während drüben ein Stück heiterer, südlicher Poesie waltete.
Früher stand da, wo sich jetzt das neue Haus erhob, ein Gebäude, das dem Haus der Hofräthin glich, wie ein Ei dem andern. Vor Zeiten existirte auch die grüne Hecke nicht. An ihrer Stelle lief eine schöne Kastanienallee den Berg hinab und mündete drunten vor einem hohen Thor, dem einzigen in der ganzen, großen Umfangsmauer. In den Häusern wohnten zwei Vettern, Hubert und Erich Dorn mit ihren Familien. Sie waren sehr angesehen in der Stadt und galten für steinreich. Ihr musterhaftes Zusammenleben war zum Sprüchwort geworden; nie fiel ein Wort des Streites zwischen den zwei Männern. Die Kinder liebten und zankten sich, und die Mütter waren weise genug, Kläger und Beklagte allein fertig werden zu lassen. Der Garten wurde gemeinschaftlich benutzt und zur Sommerzeit aß man stets vereint in dem großen Pavillon, der zu Anfang der Allee stand… Da trat plötzlich eine schwarze Wolke über die beiden Häuser der Eintracht. Ein neuer Geist zog ein und ein fahles Gespenst, der Neid, heftete sich an seine Fersen und folgte ihm unhörbar, als er über die Schwelle schritt. Es war die Sammelleidenschaft, von der die beiden Familienoberhäupter mit einem Mal besessen wurden. Sie nahm liebe Familienbilder von den Wänden und hing dafür alte, verdunkelte Oelgemälde auf; die geliebten Leinenschränke der Hausfrauen wurden in entfernte Winkel gerückt, an ihre Stelle traten hohe Glaskästen mit Mordwaffen aller Arten und Zeiten, vor denen sich die Frauen- und Kinderseelen entsetzlich fürchteten. Das alte Aegypten kehrte ein unter den gemüthlichen Thüringer Dächern, und über seinen unverstandenen Hieroglyphen vergaßen die Sammler, weiter zu forschen im Reich der lebendigen Zungen, in ihren wohlausgestatteten Bibliotheken.
Anfänglich lachten die beiden Frauen über die urplötzliche Sammelwuth ihrer Eheherren. Allmählich aber überschlich Bangigkeit ihr Herz, wenn die sonst so friedliebenden Männer heftig wurden im Streit über den Werth oder Unwerth einer neuen Acquisition; wenn der blasse Neid in den Zügen des Einen und Schadenfreude triumphirend in denen des Anderen erschien; wenn Jeder bei Erlangung einer heißersehnten Antiquität sofort frohlockend in den Ausruf ausbrach: „Was der da drüben wohl dazu sagen wird!“ Die Zänkereien wurden immer heftiger und erbitterter und die Versöhnungsmomente seltener und kürzer. Es geschah auch wohl, daß beide Männer im leidenschaftlichen Wortwechsel beim Mittagstisch aufsprangen. Dann schlug der leicht aufbrausende Erich, die bleichen, entsetzten Gesichter der Frauen und Kinder nicht beachtend, mit der Faust auf den Tisch, daß Teller und Gläser klirrten, und stürzte zornsprühend aus dem Pavillon… Der Schatten der ausgestoßenen Eintracht irrte noch eine Zeitlang wehklagend durch den Garten und entfloh dann für immer… Es ereignete sich nämlich, daß ein entfernter Verwandter von Hubert’s Frau starb; sie war Universalerbin. Nebst vielen Capitalien und Kostbarkeiten fiel ihr auch ein Oelbild zu, ein herrlicher van Dyk. Sie machte es ihrem Mann zum Geschenk, der es stolz und frohlockend seiner Sammlung einreihte. Aber gerade diese Sammlung war der Zankapfel zwischen den beiden Vettern; ihre Zusammenstellung zeigte von keinem besonderen Kennerblick, es war viel Spreu darunter. Diese Schwächen hob Erich, der selbst nicht übel malte, stets mit bitterem Hohn hervor; seine Sammlung verrieth freilich ein feines, kritisches Auge. Nun aber stürzte sein Triumph zusammen wie ein Kartenhaus, als da drüben unter den so oft angefochtenen Copieen plötzlich das kostbare Original erschien; er selbst besaß keinen van Dyk. Mit erblichenem Gesicht – Hubert behauptete stets, es sei von Wuth und Ingrimm verzerrt gewesen – stand er vor dem Bilde; all’ sein Forschen und Prüfen führte immer wieder zu der schmerzlichen Ueberzeugung, daß es echt sei. Mit verdunkeltem Auge sah er Freunde und Bekannte in das Haus da drüben strömen, Jeder wollte das wunderholde Mädchenantlitz sehen, das die längst erstarrte Meisterhand auf die Leinwand gezaubert hatte. Er aß und schlief nicht mehr. Jede Begegnung mit dem Vetter, der stets von dem Bild zu reden anfing, versetzte ihn in fieberhafte Aufregung; er floh zuletzt scheu seinen Anblick, es war ihm unmöglich, jenem Auge zu begegnen, aus welchem der Triumph glänzte…
Eines Morgens scholl ein Schrei des Schreckens und der Erbitterung durch Hubert’s Haus. Da, wo noch gestern zwei süße Mädchenaugen gestrahlt hatten, starrte jetzt die leere Wandfläche hernieder – das Bild war verschwunden. Hubert war außer sich. Er schwur darauf, daß sein Kleinod sich nur um ein Haus weiter verirrt habe, und forderte es geradezu von Erich zurück. Es kam zwischen den beiden Männern zu einem fürchterlichen Auftritt, der nun auch die Leidenschaft in den weiblichen Gemüthern aufrüttelte. Noch nie hatte die Furie der Zwietracht so fessellos durch die zwei Häuser getobt, als in dieser unheilvollen Stunde. Die Streitenden stoben, nachdem von beiden Seiten entsetzliche Worte gefallen waren, auseinander. Zum letzten Mal für dieses Leben, und zwar in einem zornfunkelnden Blick, begegneten sich die Augen, klangen in gegenseitigen Schmähungen die Stimmen aneinander… Noch an demselben Tage erschienen Arbeiter in der Allee; sie rammten genau in der Mitte derselben Pfähle in die Erde ein, die Kastanienbäume fielen unter der Axt; es wurden Sträucher dicht aneinander gepflanzt, und von diesem Moment an liefen die Kinder von beiden Seiten täglich mit der Gießkanne herzu und gossen fleißig und beharrlich, damit die Reiser wachsen sollten, „wachsen bis in den Himmel,“ meinten sie. So entstand die grüne Hecke, und wie sie ihre Wurzeln tief in die Erde senkte und droben ausschlug und trieb, so klammerte sich der Haß um die Herzen der Kinder und wuchs mit ihnen. Es änderte auch nichts an diesem unnatürlichen Verhältniß, als Erich wenige Jahre nach jenen Vorfällen, vom Schlag getroffen, plötzlich starb. Seine Witwe, die ihn leidenschaftlich geliebt hatte, sah man nach seinem Tode nie wieder lächeln. Mit der tiefsten Erbitterung gedachte sie stets „Derer da drüben“, die seine letzten Lebensjahre umdüstert und seine Ehrenhaftigkeit mit einem Makel zu behaften gesucht hatten. Noch im hohen Alter war diese Wunde nicht verharscht; ihre Augen, die längst keine Thränen mehr hatten, sprühten unversöhnlichen Haß, wenn sie ihrem einzigen Enkelkind – das war Tante Bärbchen – die Unglücksgeschichte immer und immer wieder erzählte. Das Kind lernte schon mit seinen ersten Gedanken das „Drüben hinter der Hecke“ fürchten, und daß auch dort der Haß im Athem blieb und forterbte, davon erhielt die Kleine eines Tages einen eclatanten Beweis.
Auch Hubert hatte Enkel; sie wurden vornehm erzogen und hatten eine französische Gouvernante. Der Lärm der spielenden Kinder scholl hinüber in den stillen Garten, wo das einsame Bärbchen seine Puppen herzte, oder den Schmetterlingen nachlief, selbst bis an den gefürchteten Gartenzaun, über den sie, zu des Kindes Erstaunen, sorglos hinflogen. Dann verweilte sie auch wohl einen Augenblick und horchte verwundert den fremdklingenden Lauten, in denen sich die Kinder unterhielten. Einmal stand sie auch da und lauschte. Da rauschte es über ihr; die oberen Zweige der Hecke bogen sich auseinander, und ein trotziges Knabengesicht, aus dem zwei dunkle Augen übermüthig auf sie niederfunkelten, drängte sich durch das Grün. Er starrte die erschrockene Kleine einen Augenblick an, dann schnitt er eine abscheuliche Grimasse.
„Ach, bist Du ein häßliches Mädchen!“ rief er. „Hast ja nur einen Arm! Das ist Gottes Gericht, sagt meine Großmama immer… Ihr habt ja doch das Bild drüben… Bilderdieb, Bilderdieb!“
Tante Bärbchen erröthete noch in ihren alten Tagen, wenn sie daran dachte, daß sie in jenem Augenblick zornig einen Stein aufgehoben und ihn nach dem Knabenkopf geschleudert hatte, der hohnlachend, aber blitzschnell bei der drohenden Gefahr hinter der Hecke verschwunden war. Dieser Vorfall hatte einen unauslöschlichen Eindruck auf sie gemacht; auch in ihrem Gemüth faßte die Erbitterung jetzt Wurzel; der Groll rückte abermals um eine Generation weiter, und die Enkel neigten so wenig zur Versöhnung, wie ehemals die erzürnten Großväter.
[420] Die Jahre vergingen. Hubert’s Nachkommenschaft sank im blühenden Alter in’s Grab bis auf den Einen, der Tante Bärbchens Kinderherz so tief verwundet hatte. Er heirathete eine junge Dame aus vornehmer Familie und siedelte nach siebenjähriger Ehe auf den Wunsch seiner geld- und adelstolzen Frau aus der kleinen Stadt in eine große Residenz über. Haus und Garten wurden vermiethet, und nun faltete der finstere Dämon, der so lange die beiden Häuser umkreist hatte, seine Flügel zusammen; es war, als müßten selbst Bäume und Sträucher aufathmen, als drüben der letzte Koffer aus dem Hause getragen wurde. Eine lange Zeit der ungestörten Ruhe folgte jetzt für Tante Bärbchen, bis auf einmal das moderne Haus jenseit der Hecke aufstieg und, eine neue Quelle des Aergers und Streits, höhnend herübersah.
Die Hofräthin verlor stets ihre gute Laune auf mehrere Stunden, sobald sie an die verhaßte Nachbarschaft erinnert wurde; heute aber war selbst die Unverschämtheit der Dienstleute von drüben sofort vergessen und ein strahlendes Lächeln des Wohlgefallens glitt über die Züge der alten Dame, als ihre Augen dem jungen Mädchen folgten, das leichtfüßig vor ihr her nach dem Hause zuflog. Lilli war das Kind ihrer liebsten Jugendfreundin, die sich nach Berlin verheirathet hatte. Soweit das junge Mädchen zurückdenken konnte, hatte sie stets die Sommermonate bei der Hofräthin zugebracht; denn ihre Gesundheit war immer eine äußerst zarte gewesen und hatte in der kräftigen Thüringer Luft erstarken sollen. Seit drei Jahren waren indeß diese Reisen unterblieben. Lilli’s Mutter starb, und in der ersten Zeit des Schmerzes wollte sich der Vater von seinem Kind nicht trennen. Erst jetzt hatte er auf Lilli’s inständige Bitten nachgegeben; sie empfand tiefe Sehnsucht nach der Tante, die ihr stets einen größeren Fond von Liebe entgegengebracht, als die eigene Mutter. Daher ihre Ungeduld, ihre Todesverachtung, mit der sie auf der letzten Eisenbahnstation die sogenannte Mäuseherberge bestiegen hatte.
Jetzt lag das junge Mädchen in einem altmodischen, aber bequemen Lehnstuhl. Statt des schwarzseidenen Reisekleides flossen die weichen Falten eines hellen Muslins um die Gestalt, an der augenscheinlich die Thüringer Luft ihre gerühmte Kraft und Stärke umsonst versucht hatte. Man konnte nichts Zarteres sehen, als diese feinen Glieder, die, eben in sich zusammensinkend, schmal und klein zwischen den Polstern ruhten, scheinbar, ohne dieselben zu drücken. Sah es doch fast aus, als ob selbst die dunklen Flechten am Hinterkopf zu schwer seien für den schlanken Hals; denn das Haupt bog sich stets leicht hintenüber, als zöge es die Wucht der allerdings unglaublichen Haarfülle zurück. In solchen Momenten der Ruhe und Hingebung ahnte wohl Niemand, daß diese weichen Glieder urplötzlich wie mittels Stahlfederkraft Bewegungen voller Energie annehmen konnten, während jene sanfte Neigung des Kopfes zum Ausdruck jugendlichen Uebermuthes und Eigenwillens wurde. Ebensowenig ließ sich hinter der leichtgewölbten Kinderstirn, die wie ein weißes Blumenblatt unter den zurückfließenden Haarströmen leuchtete, jener aufgeweckte, willenskräftige Geist vermuthen, welcher eine so wunderbare Herrschaft über die zartgebaute Hülle ausübte.
Ihre Blicke glitten in diesem Moment langsam und prüfend durch das Zimmer. Sie nickte dann und wann befriedigt mit dem Kopfe und lächelte naiv und vergnügt wie ein Kind, das seine liebsten Spielsachen nach einer Trennung wiedersieht. Ja, es war Alles noch beim Alten! Da stand das wunderliche Kanapee mit den hohen Beinen und den dicken Federkissen. Sie wußte genau, daß diese vier kolossalen Polster eigentlich in einem Ueberzug von schwerer, grüner Seide steckten, aber Kappen von nicht zu vertilgendem, derbem Gingham bedeckten die veraltete Pracht. Die rothen und blauen Hyacinthen dort auf den zwei blankgebohnten Kommoden hatten nichts von ihrer Schönheit eingebüßt – kein Wunder, sie waren ja genau von demselben Stoffe wie der kleine Dorfcantor, der mitten unter ihnen geigte, wie das zarte Schäfermädchen, das mit vieljährigem Lächeln unter dem blumengeschmückten Strohhütchen hervorsah – sie waren von Meißner Porcellan. Ach, und die Zeit war auch schonend an den beiden Pfauenfedern vorübergegangen, die hinter dem großen Spiegel steckten! Er selbst warf noch immer das ihm gegenüberhängende Oelbild der mit Schminkpflästerchen bedeckten Großmutter zurück, und unten in den Ecken seiner versilberten Fassung steckten verschiedene Karten mit Verlobungsanzeigen und Neujahrsgratulationen. Und da trat eben der alte Sauer herein. Sein Rock war nicht um Haarbreite kürzer geworden; Vatermörder und Nacken hielten sich stocksteif in unverminderter Harmonie, und sein Fuß machte genau die wohlbekannte, groteske Schwenkung, mittels welcher er zunächst den langen Rockflügel zurückwarf und dann die Thür hinter sich zutrat, wenn er etwas in den Händen trug. Er brachte die altmodische, silberne Theekanne und zwei wohlbekannte kostbare Täßchen von chinesischem Porcellan; der Farbenschmelz ihrer abnormen Gebilde war noch derselbe, aber die Kittadern in den Untertassen hatten sich wohl um einige vermehrt… Welche Fülle von Erinnerungen aus der Kinderzeit stieg in Lilli’s Seele auf, als ein liebliches Aroma dem langgebogenen, häßlichen Schnabel der Theekanne entquoll und das Zimmer durchduftete! Das war freilich nicht der kostbare Blumenthee, den Seine Majestät von China Höchstselbst zu schlürfen pflegt, nicht der feine Pecco, den das verwöhnte Kind der großen Stadt daheim trank, die Blätter der heimischen Walderdbeere waren es, die unter dem siedenden Wasser ihre Duftadern öffneten und gesunde, kräftige Säfte ausströmten. Bei Tante Bärbchen wurde nur dieser Thee getrunken, und wenn die alte Dorte gute Laune hatte, dann steckte sie auch noch einen Zimmetstengel hinein… Ja, und da drüben neben dem alterthümlichen Uhrgehäuse hingen richtig der Kalender und die altersbraune Elle, und hinter der Glasscheibe des wandhohen Holzkastens schwang der Perpendikel sein breites Sonnengesicht in sehr moderirtem Tempo; er ließ sich Zeit, der alte bequeme Herr, er konnte es ja haben in dem stillen, einförmigen Hause und hätte seinen gravitätischen Gang wohl auch nicht geändert, schon aus alter Freundschaft für Tante Bärbchens Spinnrad, das, ein verblichenes rosa Seidenband um die Flachslocken geschlungen, dort auf der Estrade am mittelsten Fenster stand. Es summte und schnurrte Jahr aus, Jahr ein, Sommer und Winter, und der Perpendikel meinte mit Recht, sein Tiktak und das Gesumme gäben eine schönere Harmonie, als ein Zwiegespräch zwischen ihm und Seinesgleichen.
Wenn mitten im betäubenden Marktgewühl, im Schweiße und in der jagenden Hast und Angst des Alltagslebens unvermuthet ein voller Orgel- und Glockenton, der Zauber einer süßen Melodie unser Ohr berührt, wir werden ihm nicht wehren können, daß er zu unserm Herzen dringt und erquickend uns hinausträgt über das, was uns umgiebt. Und wenn im Dahinwandern auf heißer, kampf- und mühevoller Lebensbahn der Sinn des Gebeugten erstarren, die Schwungkraft seines Gemüths erlahmen will und plötzlich der frische Hauch des Waldes seine Stirn umweht, sein Blick auf die lachenden Höhen, die lichtgrünen Fluren und Thäler einer still vor ihm sich ausbreitenden Landschaft fällt, er wird den lieblichen Eindruck nicht hindern können, daß er lindernd und aufrichtend, beruhigend und stärkend die Seele von dem Drange und der Noth des Augenblickes abzulenken sucht. Es ist die Aufgabe des Menschen, im gluth- und sturmvollen Wettkampfe des Lebens seine Kraft zu üben. Aber tief im Innersten seiner Brust lebt als ein ewiges Gesetz, oft umnebelt nur vom Dampf und Dunst der Leidenschaft, die unvertilgbare Sehnsucht nach dem Frieden, das wehmuthsvolle Zeichen seiner göttlichen Abkunft. Mag der Boden unter seinen Füßen wanken und unter dem Sturm eines hereinbrausenden Weltgerichts der letzten Säule seines Daseins der Einsturz drohen; mag wilder Kriegslärm ihn umtosen und sein Geist mit Inbrunst und Selbstverleugnung nur der Gefahr des Vaterlandes, den großen Fragen des Tages zugewendet sein: es kommen mitten im Streit und Zwiespalt der Ueberzeugung und Leidenschaft doch Augenblicke, wo die hochgehende Welle des Blutes sich zu sänftigen und der alte Traum vom stillen Glück, der unsterbliche Zug nach Natureinfalt und harmlos-gemüthvoller Existenz seine urwüchsige Macht zu zeigen beginnt. Bilder voll süßer Ruhe und traulicher Abgeschiedenheit steigen dann vor dem Auge des Ermüdeten auf
[422] und senken sich wie ein erfrischender Trunk in das umbrauste und lechzende Herz. Solch’ ein Bild des tiefsten Friedens ist es, durch welches der Schöpfer des beistehenden Kunstwerks uns hat erfreuen und erquicken wollen in kriegerischer Zeit.
Am Saum des schwäbischen Tannenwaldes, fern von dem Umtrieb und dem Lärme der Großindustrie und der Eisenbahnen, fern auch bis jetzt noch vom lärmenden Kriegsgetümmel, wird der neue Pfarrer empfangen; Inschriften, Blumen, Kränze und farbige Bänder vom Ausgange des Waldes an bis hinunter zu dem reichgeschmückten Pfarrhause, die Empfangsrede des Schulmeisters und das von den Kindern überreichte Schaf mit dem Lamm: dies sind die äußeren Zeichen herzlichsten Entgegenkommens einem Manne gegenüber, von dessen Wirken unter Menschen, deren geistige Hauptkraft im Gemüthe liegt, so viel abhängt.
In der uns vorgeführten Gemeinde scheint sich nun das Verhältniß ganz günstig gestalten zu wollen; die etwas strengen Züge des Pfarrers werden wohl eher auf Strenge gegen sich selbst hinsichtlich treuer Pflichterfüllung, als auf die gegen Andere zu deuten sein. Dabei hat er die anmuthige, freundliche Gestalt der Pfarrerin zur Seite, deren ganze Erscheinung dafür bürgt, daß sie die Pflegerin der Armen und Kranken, die Beratherin in häuslichen Nöthen und die Fürsprecherin der Dorfjugend sein wird. Darum findet in dem Bilde das schwäbische Sprüchlein auch seine zweifache Anwendung:
„Weil die Frau Pfarrerin ist so brav,
So bringen wir ihr ein schönes Schaf.“
Der Pfarrfamilie gegenüber, durch entsprechende ausdrucksvolle Figuren dargestellt, steht voran der Schulmeister des Orts, umgeben von den Ersten seiner Schule mit der entsprechenden, wohleinstudirten Begrüßungsrede, hinter ihm die behördliche Dreiherrlichkeit des Dorfes: die kraftstrotzende Gestalt des Schulzen (Ortsvorsteher), die ruhig prüfende des Bürgermeisters (Gemeinderechner) und die Greisengestalt des Heiligenpflegers (Verwalter des Kirchenvermögens), umrahmt von den verschiedenen Altern und Ständen des Ortes.
Auf dem ganzen Bilde liegt die heitere Sonne friedlichen Zusammenlebens und die Bürgschaft dafür, daß das gegenseitige Verhältniß sich nicht so gestalten werde, wie dies in Schwaben mit den Worten bezeichnet wird: „Den führten wir vierspännig über’s schönste Samenfeld hinaus, wenn er nur ginge.“
Wir erinnern unsere Leser an ein Bild von Heck „der Reiseprediger aus Schwaben“, das in Nr. 2 des Jahrgangs 1863 der Gartenlaube eine Stelle gefunden. Auch unsere diesmalige Illustration schwäbischen Dorflebens ist einem trefflichen Originalgemälde desselben Künstlers, seiner neuesten Schöpfung, nachgebildet. Während aber in jenem ersteren Bilde der mystisch-religiöse Grundzug dieses Volksstammes dargestellt ward, welcher die Ursache so vieler Secten mit so schönen Geistesblüthen und daneben so tiefen Ungereimtheiten ist, führt uns die neueste Composition vor jenes gemüthliche, poetische Leben und Treiben, das für den Bewohner des deutschen Nordens, wenn er in diese Gegenden kommt, so anziehend ist.
Wem aber das wiederum mit frischem und sicherem Pinsel gemalte, eben so ansprechende, wie treu die eigenste Art des bezeichnenden Volksstammes ausprägende Bild in der jetzigen Zeit des Kampfes und Sturmes zu friedlich erscheinen will, der möge daran denken, wie ganz anders es um unser Volk und Vaterland stände, wenn die tausend und abertausend Pfarrer in den weiten Gauen unsers großen Vaterlandes seit den Jahren von 1813 ab mit dem wahren Gottvertrauen und dem echten Christenthume das rechte Verständniß für die Dinge dieser Welt, für Familie, Gemeinde und Staat gepflegt und Männer erzogen hätten, denen Recht und Freiheit am höchsten steht.
Wenn der Maler in den seitherigen Bildern den gemüthlichen und religiösen Theil des geistigen Lebens seiner Heimath nun genugsam geschildert hat, so könnte er freilich von jetzt ab auch in das politische Gebiet greifen, um aus demselben Züge darzustellen, welche in der Lebendigkeit der Handlung und Bestimmtheit der Charaktere gewiß dankbare Stoffe darbieten.
Eine Gesellschaft, aus Herren und Damen bestehend, war am Morgen eines schönen Sommertags durch ein langes quellreiches Waldthal gewandert und lagerte sich nun im Schatten der Kastanienbäume auf dem Abhang, wo die Front des Klosters T…, welches sie besuchen wollte, sich mit seinen grauen Mauern und seinem vorspringenden Dache auf’s Herrlichste präsentirte. Der Eindruck war ein so großartiger, daß das Gespräch eine Zeit lang verstummte und Aller Augen sich dem architektonischen Bilde zuwandten.
„Dieser merkwürdige Bau,“ sagte der ‚alte Herr‘, der in Historiographicis wohl bewandert, „stammt aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Ein Schafhirt, der hier bei seiner Heerde gewacht, war einer Erscheinung der Mutter Gottes gewürdigt worden, welche ihm ankündigte, daß sie hier eine Kirche wünsche, und als diese Kunde der Geistlichkeit der nahen Residenz zu Ohren gekommen, beeilte sich diese für den Bau einer solchen zu sammeln. Als derselbe stattlich in die Höhe wuchs, kam den geistlichen Herren der Gedanke, sich um einen Ablaß zu bewerben, der dann auch durch den ungeheuern Zulauf so einträglich wurde, daß sich bald Prälat, Pfarrer und Bischof um die baare Einnahme stritten. Es gab Zeiten, wo in einer Woche zwanzigtausend Wallfahrer anlangten, die Opferstöcke füllten und Messen bestellten, welche dann von den geistlichen Herren nach Gelegenheit und Gebühr gelesen wurden. Als, nach hundert Jahren, der Bau vollendet war, erschien der Fürstbischof persönlich zur Einweihung mit allen seinen Staatsministern, Kammerherren, Räthen, Köchen, Musikanten und Janitscharen, es wurde Tafel für fünfhundert Personen gehalten und man speiste von goldenem Geschirr. Das war ein Leben! Da entbrannte der deutsche Bauernkrieg; das Gnadenbild ließ die Frommen im Stich, den Herrn Prälaten traf, als die Bilderstürmer hereinbrachen, mitten in der Kirche der Schlag. Groß war der Verlust, den die Reformation dem Kloster brachte, allmählich erst hob sich die Saat wieder, die dies Hagelwetter verwüstet. Doch fünfzig Jahre später wurden wieder im Kloster viele Leute von den langwierigsten Krankheiten hergestellt, was einen neuen Zudrang zur Folge hatte. Alle Wunder wurden in ein sogenanntes ‚Wunderbuch‘ eingetragen. So geht es noch bis heute fort: Kirche und Kloster haben sich als Wallfahrtsort, Ziel für Lustpartieen und Hospiz für durstige Kehlen erhalten.“
„Die Geschichte, die Sie da erzählt,“ meinte der Doctor, „ist beinahe die Geschichte aller Klöster. Ueberall ist bei ihrer Stiftung, wofern diese in eine entlegene Zeit reicht, eine Madonnenerscheinung, ein Bild oder ein Brief, der vom Himmel gefallen, im Spiel, und der Erfolg davon ist wirklich mirakelhaft. So haben sich mitten in einer Welt, die in aller möglicher finanziellen Bedrängniß lebt und Schulden auf Schulden häuft, ungeheuere Schätze erhalten, welche ganz brach liegen, man müßte es denn für eine Wohlthat halten, daß, während man anderswo mit aller Anstrengung Spitäler, Schulen, Armenhäuser baut, hier ungeheuere Gebäude stehen, wo ein paar Mönche allerdings höchst angenehm leben und dabei gelegentlich für das Seelenheil der umliegenden Bevölkerung wirken. Erwägt man aber, wie schlecht diese Güter der todten Hand bewirthschaftet werden …“
„Also das nennt man Güter der todten Hand?“ fragte eine junge Dame. „Ich habe davon öfters gelesen und eigentlich nicht verstanden, um was es sich handelt. Aber der Ausdruck ist doch sehr schlecht gewählt. Wie kann man das eine todte Hand nennen, welche so tüchtig zugreift?“
Man lachte und der Doctor sagte: „Wäre ich Gesetzgeber, ich hätte diese todte Hand längst amputirt!“
„Sollte ein Eigenthum weniger verletzlich sein, weil es der Kirche gehört?“ fragte der Hofrath mit emporgezogenen Brauen.
„Individuelles Eigenthum und Kirchengut sind,“ erwiderte der Doctor, „jedenfalls etwas ganz Verschiedenes. Das eine ist [423] individuell, das andere corporativ, das eine kann vererbt werden, das andere nicht, das eine ist unbeschränkt, das andere ist nur zum Nutzgenuß seiner Mitglieder da. Ich schließe daraus, daß Kirchengut ein Gut der gläubigen Gesellschaft ist, dessen Umschmelzung die Gesetzgebung in’s Werk setzen kann, wenn es existirenden Bedürfnissen nicht mehr entspricht.“
„Die Absicht, etwas besser und richtiger anzuwenden, kann Niemand ermächtigen, etwas wegzunehmen, was ihm nicht gehört; wäre eine Stiftung noch so unsinnig, ich glaube nicht, daß es erlaubt ist, sie ihrem Ursprung zu entfremden.“
„Das wäre seltsam,“ erwiderte der Doctor; „der auf gewisse Zwecke gerichtete Glaube einer Zeit hat diesen Gütern den Ursprung gegeben; sie lebten, so lange diese Zwecke vorhanden waren, und sollten ein Ende nehmen, wenn der Glaube, der sie in’s Leben gerufen, stirbt. Wir müssen uns vor Allem fragen, welchem Zwecke noch der oder jener Orden dient. Dieser zum Beispiel widmete sich dem Loskauf von Christensclaven. Nun giebt es keine Christensclaven mehr, diese Mission ist also offenbar zu Ende. Ein anderer will die Pilger pflegen, die aus dem heiligen Lande kommen. Er findet solcher Pilgrime nicht mehr; damit er aber nach seinen Regeln lebe, kleidet er ein paar alte Männer in rothe Röcke und hält sie als Pfleglinge fest. Ist das Alles nicht sehr lächerlich? ein Pasquill auf die Zeit, in der wir leben und die sich eine aufgeklärte nennt? Ein dritter Orden widmet sich der Erziehung der Jugend. Das war herrlich, so lange in wilder Faustrechtszeit die Klostergeistlichkeit beinahe die einzige Hüterin der Wissenschaften war, jetzt hat es gar keinen Sinn mehr. Wie war es denn mit den Klöstern, als ein neuer Glaube sich geltend machte? Die Zeit der Reformation und die Periode der Aufklärung waren Zeiten der Säcularisationen. Und jetzt, da eine ungleich tiefere geistige Bewegung vorhanden ist und alle Bildungskreise sich dem Klosterwesen entfremdet haben, jetzt dürfte keine Säcularisation von Gütern, die sociale Güter sind, stattfinden und das muthige Wort nicht gesprochen werden, welches das alte Schatzhaus aufschließt und seinen Inhalt dem modernen Güterleben zurückbringt?“
Während der Doctor sprach, hatte eine mächtige Glocke im Thurme schon wiederholt angeschlagen, bald gesellte sich ihr eine zweite zu, daß die Luft von den mächtigen Tönen erzitterte. Zu gleicher Zeit ward in der Tiefe des Thales eine lange Procession von Landleuten männlichen und weiblichen Geschlechts sichtbar, die, ihre Fahnen und ihr Madonnenbild vorantragend, sich singend näherte. Plötzlich sah man den Zug vor einer breiten Carosse ausweichen, während alle Hüte vom Kopfe flogen. Der schöne Galawagen, von zwei starken Pferden gezogen, eilte die Anhöhe heran; ein feister, rothwangiger Herr blickte, den Gruß der Gesellschaft erwartend, heraus.
„Das ist der Weihbischof von …,“ sagte der Doctor; „er wird vermuthlich heute das Hochamt lesen. Der Curgebrauch von Kissingen hat ihm, wie ich sehe, nichts genützt. Sein Embonpoint ist derselbe geblieben.“
„Eine Persönlichkeit mit einem so vornehmen Gesichte,“ sagte der alte Herr, der zuerst gesprochen, „ist allerdings schwer als Nachfolger der Apostel denkbar. Christus meinte, sein Reich sei nicht von dieser Welt, und bei Matthäus heißt es: ‚Ihr sollt kein Gold und Silber in Eueren Gürteln führen, noch in Taschen auf dem Wege‘. Aber schon dreihundert Jahre später sehen die Dinge ganz anders aus. Constantin, durch Sylvester, den damaligen Papst, vom Aussatz gereinigt, schenkt diesem als ärztliches Honorar den Sitz seines Reiches, und nun behaupten die alten Kirchengelehrten, daß, wenn von diesem Reiche etwas abhanden käme, der ‚ungenähte Rock‘ zerrissen würde. Von da ab vergrößert sich das Reich und mehrt seine Schätze. Ganz Europa schießt bei, die Dotationen wachsen, der Papst wird ein Monarch, der in der ganzen Welt seine Steuereinnehmer hat. Erst jetzt – doch lassen wir die leidige Politik.“
Die Gesellschaft war unterdessen in den Klosterhof getreten, in welchem Procession um Procession anlangte. Die Muttergottesbilder, von kleinen, weißgewaschenen Mädchen zwischen acht und zwölf Jahren getragen – es sollten eigentlich Jungfrauen sein, – machten vor einander schöne Verbeugungen. Draußen tummelte sich das Volk vor den aufgeschlagenen Buden, zudringliches Bettelvolk verlangte Almosen mit dem Versprechen, für das Seelenheil der Geber zu beten.
Die Gesellschaft war im Begriff einzutreten, um den Versuch zu machen, ob man trotz des bestehenden Wirrwarrs Bibliothek und Schatzkammer ansehen könne, aber der Doctor war zum Mitgehen nicht zu bewegen.
„Ich habe,“ sagte er, „einen in clericalen Kreisen so berüchtigten Namen, daß ich es gar nicht wagen darf, mich hier sehen zu lassen. Ich wäre ein so unangenehmer Anblick in diesen Mauern, wie das Ferkel im Judenhause. Es könnte Ihnen Allen, aus dem bloßen Grunde, weil ich dabei bin, der Besuch verleidet werden, zum Mindesten würde Ihr Cicerone alle Naivetät des Vortrags verlieren, wenn ich als Beobachter dabeistände.“
„Alles dies zugegeben,“ war die Antwort, „wird man denn aber hier Ihr Signalement mit genauer Personbeschreibung haben?“
„Ein Zufall könnte zur Entdeckung führen; ein ehemaliger Schulfreund von mir ist Klostergeistlicher in diesen Räumen. Wenn ich richtig schließe, mag er ein rechter Fanatiker geworden sein, und ich möchte kein Rencontre mit ihm haben.“
Darauf war nichts zu erwidern, man ließ den Doctor allein und die Gesellschaft verschwand bald, von einem rothröckigen Sacristan geführt, im gothischen Thorweg. Noch einmal erschien sie, nachdem sie eine verdeckte Treppe hinangestiegen war, auf einer Plattform mit steinernem Geländer; die Damen winkten, daß sich’s der Doctor nochmals überlegen möge; dieser aber schüttelte den Kopf und schritt auf eine Umzäunung zu, hinter welcher grüne Wipfel hervorsahen und an heißen Tagen etwas Kühlung und Schatten versprachen.
Der Klostergarten, in welchen er trat, meist mit Gemüsebeeten bepflanzt, war klein und schlecht gehalten; der Doctor näherte sich einem waldähnlichen Gebiete, das auf- und absteigende Wege nach allen Richtungen durchschnitten. Hier war dem Baumwuchs alle Freiheit gelassen worden, es war eine grüne Wildniß emporgewachsen. Da stand ein alter Brunnen mit Statuen im Stil Bernini’s aus Sandstein gehauen, dort ein massiv plumper Tisch aus Stein mit im Kreis herumgestellten, von Moos überwucherten Bänken; es war fast das Einzige, was in diesem verwilderten Park noch an Menschen erinnerte.
Der Doctor hatte bereits einmal eine weiße Gestalt bemerkt, die, einen schwarzen Filzhut auf dem Kopfe, mit einem Buche in der Hand einen Waldweg ab und zurückging; plötzlich, bei einer Wendung, kam ihm die Gestalt entgegen, so nah, daß er ihr nicht mehr ausweichen konnte; der Mönch sah von seinem Buche auf, man erkannte sich beiderseitig.
„Welche Ueberraschung, Dich hier zu treffen!“ sagte Pater Sebastian.
„In der That, wir haben uns lange Jahre nicht gesehen.“
„In dieser Zeit bist Du nicht müßig gewesen, Deine Bücher –“
„Ich hoffe, sie sind Dir nicht zu Gesicht gekommen. Du hättest wenig Freude daran gehabt,“ sagte der Doctor nicht ohne einige Verlegenheit.
Der Mönch erwiderte nichts und schweigend gingen Beide eine Weile nebeneinander her. Endlich sagte der Pater: „Wir wissen, wie die Welt draußen denkt, Du sprichst in ihrem Sinne, giebst der allgemeinen Gesinnung Ausdruck – diese Gesinnung –“
„Hat ihre Berechtigung.“
„Wohl, wohl!“
„Ich hätte nicht geglaubt, diese Concession aus Deinem Munde zu vernehmen.“
„Und warum nicht? Wer sollte die Frage, ob Klöster etwas nütze sind, stellen, wenn nicht wir?“
„Natürlich bejahst Du die Frage nach allen Seiten hin …“
„Ich? Ich verneine sie auf’s Entschiedenste! Du wirst doch nicht in einem Kloster Vertheidiger des Mönchswesens suchen wollen? Diese findest Du nur an Höfen, im Salon hoher Aristokraten, vielleicht auch in manchen Hörsälen, wo auf den Kathedern noch immer Heuchler oder Phantasten sitzen, welche die ‚Wegthuung der Vernunft‘ empfehlen, aber nicht bei uns! Da ist fast Keiner, der nicht Mühe und Plage im bürgerlichen Leben diesem Leben im Käfig vorzöge.“
„Dein Orden gehört zu den gebildeten. Er bettelt nicht und legt sich nicht nutzlose Entbehrungen auf. Du wirst in den Büchern, in der Pflege einer Wissenschaft Erheiterung und Zerstreuung finden.“
„Ja, wenn wahre Wissenschaft im Kloster gedeihen könnte!“
[424] „Ei, ei,“ dachte der Doctor bei sich, „nun muß ich gar noch mildernde Umstände herbeibringen!“ Laut sagte er: „Ich gebe Dir Recht im Großen und Ganzen. Wahre Wissenschaft gedeiht besser in freier Luft und im praktisch gestaltenden Lebensverkehr, als hinter Klostermauern und hinter den verdüsternden Scheiben der Zelle. Dennoch sollte ich meinen, daß die Euch gegönnte Muße –“
„Nein, nein, diese Muße ist gar nichts werth. Diese Herbergen des Müßigganges haben gar keine Entschuldigung mehr. Welche wissenschaftliche That ist wohl seit Jahrhunderten aus einem Kloster hervorgegangen? Ich weiß keine. Das ganze mönchische Streben zielt von jeher nur auf todten Gedächtnißkram, auf den Nimbus von weltlicher Enthaltsamkeit und ist wenig mehr als ein leerer Schein. Wir leben im allerentschiedensten und dabei im ermüdendsten Müßiggang, und diesem Müßiggange wird, zur bitteren Verhöhnung der Vernunft, das Prädicat der Gottseligkeit beigelegt.“
„Mit solchen Ansichten mußt Du Dich allerdings hier sehr unglücklich fühlen und die Stunde beklagen, wo Du hier eintratest …“
„Meine Geschichte ist die vieler Anderer,“ erwiderte der Priester. „Wer zuerst das Tageslicht erblickte hinter den dicken Mauern eines Bauernhauses, dessen einziger Wändeschmuck Heiligenbilder waren; wer als Knabe im Herrn Beneficiaten den Inbegriff aller Größe und Gelehrsamkeit zu verehren gewohnt war; wer eine Mutter hatte, deren einziges Lesebuch die Legende der Heiligen war und die keinen höheren Wunsch kannte, als in ihrem Sohn einen Diener des Herrn zu sehen – nun, der kommt so herein, er weiß selbst nicht, wie! Mit zwanzig Jahren trat ich in’s Seminar. Zuerst fühlte ich mich unaussprechlich glücklich; ich glaubte, den Himmel auf Erden gefunden zu haben, aber dies dauerte nicht lange. Der Novizenmeister war das Muster eines Mönches. Er selbst hatte jede menschliche Regung in sich ersticken gelernt, er forderte ein Gleiches von uns. Ich war schon tief unglücklich, als die Zeit der Ablegung des Gelübdes herankam, aber wo sollte der junge Mensch, dem der Wille gewaltsam abgetödtet war, die zum Verlassen des Klosters nöthige Kraft der Entschließung finden? Ich legte das Gelübde ab. Im aufreibenden inneren Kampfe vergingen mehrere Jahre. Ach, wie viel Zeit und Kraftanstrengung ist nöthig, ehe sich ein Geist den Fesseln entwindet, die Erziehung und zum Glaubenssatz erhobener Wahn um ihn windet! Zuletzt glaubte ich doch herausgefunden zu haben, was die eigentliche Bestimmung des Menschen sei. Ich wendete mich um Rath an meine Collegen. Die wichen meinen Fragen aus, aber wie vielsagend war dieses Ausweichen! Kurz, allein habe ich gerungen, allein mich durchgekämpft, so daß ich nun, am Rande der dreißiger Jahre, das directe Gegenstück von dem bin, der ich mit zwanzig Jahren war; doch genug, ich hoffe, was ich Dir da gesagt, wird unter uns bleiben.“
„Gewiß, gewiß!“
„Seitdem begleite ich alle Anstrengungen Jener mit meinen besten Segenswünschen, welche daran arbeiten, die Bastillen zu brechen, in denen wir gefangen sitzen und die selbst zu zerbrechen wir zu schwach sind. Wenn sie einen Druck auf die öffentliche Meinung und durch diese auf die alten noch immer regierenden Gewalten üben, sind sie nicht unsere besten Wohlthäter? Meine Billigung hast Du und haben Alle, die Deiner Meinung sind, und für die heimliche Zustimmung der Mehrzahl meiner Mitgefangenen kann ich Dir bürgen.“
Eine Glocke rief und Pater Sebastian eilte mit raschem Abschied fort. Zugleich erschien die Gesellschaft, die den Doctor so lange allein gelassen hatte. Als dieser den lachend grünen Bergabhang hinabschritt, dachte er still bei sich: „Wenn selbst die nichts von Klöstern wissen wollen, die darin leben, wär’s dann nicht an der Zeit, daß man die ‚todte Hand‘ begrabe?“
Eine „musikalische „Gesellschaft, im vollsten Sinne des Worts, versammelte sich an einem Decemberabend 1828 im Hause des Professors der Medicin, Dr. Carus, zu Leipzig. Der Kreis der Eingeladenen war diesmal größer als gewöhnlich und das sonst so heitere Quartett von jungen Musikern und Studenten schien in Folge dessen ein wenig verstimmt zu sein und hatte sich in einen Winkel neben dem Clavier zurückgezogen, die steigende Fluth der eintretenden Gäste mit besorgten Blicken beobachtend. Die beiden nicht sehr großen Zimmer waren schon mit Damen und Herren gefüllt. Alle Musiknotabilitäten waren diesmal vertreten, als gälte es eine hochwichtige Prüfung abzuhalten. Da sah man unter Andern den alten verdienstvollen Concertmeister der Gewandhausconcerte und Stifter mehrerer Gesangvereine, den gelehrten Matthäi, den gesuchten Gesanglehrer August Pohlenz, den jungen Componisten Marschner, den Cantor Weinlig, den Cello-Virtuosen Carl Voigt, den berühmten Kanzelredner, Musiker und Kritiker Gottfried Wilhelm Fink, so wie den liebenswürdigen Hofrath Rochlitz, Herausgeber der Leipziger musikalischen Zeitung. Unter den Frauen erregten die größte Aufmerksamkeit die ausgezeichnete Sängerin Henriette Weiße, geborene Schicht, und die hübsche, zum Besuch bei ihr anwesende Pianistin Perthaler aus Graz. Viele reizende junge Mädchen flatterten wie bunte Falter hin und her; es war ein Gewirr schöner Gestalten, ein Schwirren fröhlicher Stimmen, ein anmuthiges Lachen und Flüstern, das unwillkürlich an einen Frühlingstag erinnerte, mit hellem Himmel, goldenem Sonnenschein, Blätterrauschen und Vogelgezwitscher.
Die freundliche Wirthin, eine zarte Blondine, machte die Honneurs mit vollendeter Grazie, aber ihre sanften blauen Augen richteten sich doch oft, inmitten der Begrüßungen, Fragen und Antworten, mit dem Ausdruck gespannter Erwartung nach der Thür.
„Sie haben heut’ etwas Besonderes vor, wer’s doch wüßte,“ murmelte Einer der Studenten; „bist Du wirklich nicht eingeweiht, Schumann?“
Der Angeredete, der vor dem geöffneten Clavier Platz genommen, schüttelte den Kopf.
„So frage doch einmal!“ nahm ein Anderer das Wort, „mir wird ganz unheimlich, ich habe keine Lust mehr mitzuthun.“
„Nun ich denke, Ihr könnt Alle besser reden als ich; habt Ihr mich doch oft genug ausgelacht, weil ich die Worte schlecht zu setzen weiß!“ antwortete Robert Schumann und legte träumerisch die Hände auf die Tasten.
„Aber Du kannst in Tönen sagen, was Du willst,“ fiel der junge Täglichsbeck ein, „und Jeder versteht, was es heißen soll. Hast Du doch neulich uns Alle auf dem Clavier so deutlich abconterfeit, daß Jeder auf der Stelle wußte, wer gemeint war. Und dann den Professor K., den spielst Du ja ganz genau, man sieht ordentlich wie der geht, und den Professor H., den maltest Du auch, daß wir Alle sterben wollten vor Lachen; so thu’ doch jetzt einmal eine Frage an Frau Agnes. Das kann Dir doch unmöglich so sauer werden?“
In eben diesem Augenblick trat die jugendliche Wirthin zu der Gruppe der jungen Leute. Sie wurde von ihnen Allen schwärmerisch verehrt. In ihrem gastfreien Hause versammelte sich mehrmals in der Woche ein kleiner Kreis musikalischer Menschen, der mit dem lebhaftesten Vergnügen den Quartetts oder Trios der Studenten lauschte. Julius Knorr oder Robert Schumann übernahmen die Clavierpartie, Täglichsbeck die Violine, Glock das Cello und Sörgel fungirte als Bratschist. Da ging es denn immer heiter zu. Die Kritik war zwar im Grunde eine strenge, aber schöne Augen und lächelnde Lippen übten sie aus, und so trug sie nur dazu bei, den Eifer zu erhöhen und eine noch strengere Selbstkritik hervorzurufen. Schumann verkehrte noch öfter mit der Professorin Carus, als alle Andern; er begleitete den Gesang der anmuthigen Frau. Sie kannte den jungen Schwärmer bereits vor ihrer Verheirathung, als sie seine Vaterstadt Zwickau besuchte und ihre Stimme ihn zu den ersten Liedercompositionen begeisterte. Augenblicklich studirte sie mit ihm meist Schubert’sche Lieder, die er ihr zuerst voll Entzücken brachte und die eben anfingen sich Geltung zu verschaffen. Es war in dem Carus’schen Hause, wo man in Leipzig zuerst den „Erlkönig“, „am Meer“ und das „Ständchen“ singen hörte. Und heute besonders wollte Frau Agnes [425] Schubert’sche Lieder singen, zum Andenken an den genialen Meister der vor wenig Tagen erst zur ewigen Ruhe eingegangen; sie hatte das wunderbare: „am Tage aller Seelen“ und „der Wanderer“ gewählt. Als sie sich eben ihren jugendlichen Verehrern näherte, hob Schumann langsam den Kopf und sah zu ihr auf. Leise glitten die Hände über die Tasten. Es war eine zögernde, träumerische Melodie, die da auftauchte; die junge Frau neigte sich lauschend zu ihm herab, die langen blonden Locken fielen ihr über die Wangen. Voll schüchterner Grazie und zugleich kecken Humors war die kurze Weise, die jetzt plötzlich mit einem harpeggirenden Accord schloß.
„Was will man von mir wissen?“ lächelte Frau Agnes schalkhaft; „das war ja ein ordentliches Fragezeichen! Heraus mit der Sprache!“
„Er ist wirklich ein Hexenmeister, sie hat’s begriffen,“ murmelte Sörgel; „das macht ihm doch Keiner nach! Man möchte sich beinah vor ihm fürchten.“
„Beruhigen Sie alle Neugierigen,“ fuhr die liebenswürdige Wirthin fort, „ich habe heut’ eine Ueberraschung für meine Freunde und hoffe, man wird dankbar sein und sich an dem Wunder freuen, das sich enthüllen soll. Robert Schumann ist ja, so viel ich weiß, ein echter Wundergläubiger; ich denke, er wird diesmal voll Andacht die Kniee beugen. Ach, da ist es schon!“
Leichten Schritts eilte sie einem kleinen weißgekleideten Mädchen entgegen, das in Begleitung eines Mannes eben eintrat. Voll mütterlicher Zärtlichkeit schloß sie das Kind in ihre Arme und bewillkommnete mit der ihr eigenen, herzgewinnenden Freundlichkeit den Vater, den sie gleich darauf ihren Gästen als den Musiklehrer Wieck vorstellte. Robert Schumann blickte voll lebhaftesten Interesses zu dem Manne hin, dessen Geist, Tüchtigkeit und Energie man ihm so vielfach gerühmt. Wie gern hätte er sich ihm vorstellen lassen, wie gern mit ihm geredet! aber da waren Andere, die den neuen Gast in’s Gespräch zogen, der junge Student mußte warten. Er gehörte zudem zu den Schüchternen und Niemand war wohl schwerfälliger, wenn es sich um eine neue Bekanntschaft handelte, als eben er. Ein Besuch bei Fremden schien für ihn eine Qual und die Einleitungen, um ihn zu bewegen sich in einer Familie einführen zu lassen, glichen den feinsten diplomatischen Winkelzügen und währten oft Monate lang. So hatte Robert Schumann schon seit seiner Ankunft in Leipzig den sehnlichsten Wunsch, Friedrich Wieck kennen zu lernen, aber er wagte seinen Freunden gegenüber nicht von diesem Verlangen zu reden, aus Furcht, daß sie ihn, wie er scherzend zu sagen pflegte, „binden und packen“ und mit List oder Gewalt in das Haus des Musikers schleppen würden.
An jenem Abend verfolgte er den Unerwarteten und Interessanten auch nur mit seinen träumerischen Augen, ohne den geringsten Versuch zu machen, sich ihm zu nähern. Man musicirte außergewöhnlich viel. Außer einem Quartett in E moll für Pianoforte und Streichinstrumente, von der Composition Robert Schumann’s, spielte er selbst mit seinem Freunde Knorr brillante Variationen zu vier Händen über ein Thema des Prinzen Louis Ferdinand. Henriette Weiße mit ihrer mächtigen Stimme sang Händel’sche und Gluck’sche Arien, die hübsche fremde Pianistin trug die C moll-Sonate von Beethoven vor und Frau Agnes Schubert’sche Lieder. Sie bezauberte heute mehr denn jemals Aller Herzen. Es war eine Stimme von seltener Lieblichkeit, ein Vortrag voll Seele und Poesie. Mitten in dem Sturm des Entzückens, der ihrem Gesange folgte, fiel der Blick ihres Begleiters auf ein süßes Kindergesicht, das dicht vor ihm auftauchte. Große blaue Augen schauten mit dem Ausdruck innigster Begeisterung zur Sängerin empor. Getroffen von dieser naiven Bewunderung ließ Robert Schumann unwillkürlich seine Hand über den dunkeln Scheitel des Kindes gehen und fragte: „Bist Du auch musikalisch, Kleine?“ Das Mädchen wendete sich langsam zu ihm; ein schalkhaftes Lächeln zuckte um ihren Mund, aber sie gab keine Antwort, denn in demselben Augenblick berührte die Hand ihres Vaters die zarte Schulter, und die Kleine wurde von ihm zu einer entfernten Gruppe entführt.
„Nun und das verheißene Wunder? Wo bleibt es?“ fragte Robert Schumann eine halbe Stunde später mit einem etwas mißmuthigen Zucken der Lippen.
„Dort offenbart sich’s, gieb nur Acht,“ antwortete sein Studiengenosse, der liebenswürdige Götte, und deutete auf das Clavier.
Da saß denn vor den Tasten ein kleines Mädchen, ein blasses Kind mit dunkeln Haaren, unbefangen und doch so bescheiden, und neben ihr stand Friedrich Wieck. Und plötzlich schlugen die zierlichen Händchen mit wunderbarer Kraft und Sicherheit die ersten Tacte der F moll-Sonate Beethoven’s an. War sie „musikalisch“, die kleine Clara Wieck?
„Was denken Sie von ihr, Schumann?“ fragte Agnes Carus mit strahlenden Augen, als die hochgehenden Wellen des Beifalls, der dem genialen Spiel des Kindes folgte, sich etwas gelegt. „Habe ich zu viel prophezeit? Habe ich Euch nicht ein Wunder gezeigt? Ist sie nicht eine kleine Fee?“
„Sie sah genau aus wie der Schutzengel, der daheim in meiner Mutter Stübchen hängt,“ antwortete er hastig und aufgeregt. „Aber wer lehrte sie so spielen? Was waren wir Andern neben ihr? Und was wird noch aus ihr werden? Ich will Clavierstunde nehmen bei Friedrich Wieck! Aber Sie müssen ein gutes Wort einlegen für mich! Gleich jetzt! O bitte, schlagen Sie mir’s nicht ab, lassen Sie uns zur Stelle mit ihm reden!“
Und Robert Schumann, der Leipziger Student, wurde für die Zeit seiner juristischen Studien der eifrigste Schüler des berühmtesten Musiklehrers der Stadt. Die kleine Clara aber trat wenige Tage nach jenem denkwürdigen Abend zum ersten Mal öffentlich in dem Concert der Pianistin Perthaler auf, begleitet und getragen von dem Jubel eines begeisterten Auditoriums. –
Es war fast vier Jahre später. Robert Schumann kehrte zum zweiten Mal nach Leipzig zurück, sein Leben hatte eine andere Wendung genommen, eine Wendung die ihn beglückte; nach manchem Kampf und Zweifel war die Entscheidung da: er wurde Musiker. Das Zeugniß Friedrich Wieck’s führte sie schneller herbei, als der junge Mann zu hoffen gewagt. Voll dankbarer Freude schloß er sich nun um so wärmer an diesen seinen ersten Lehrer an und studirte und übte mit einem Eifer, der seine Freunde oft um seine Gesundheit besorgt machte. Unablässig bemühte er sich zunächst eine gewisse Fingerfertigkeit zu erlangen und stellte, da die Resultate seines Fleißes ihn nicht befriedigten, endlich ganz im Geheimen[1] die gewagtesten gymnastischen Uebungen an, um seinen Fingern die ersehnte Gelenkigkeit zu verschaffen. Man erzählte von ihm, daß er sogar wunderliche Marterinstrumente erfunden, in welche er, bei verschlossenen Thüren, seine Hände einschraube. Aber anstatt das erwünschte Ziel zu erreichen, fühlte der junge Musiker vielmehr zu seinem Schrecken, daß eine lähmende Schwäche allmählich seine rechte Hand beschlich und besonders der mittlere Finger völlig unbrauchbar wurde. Die Uebungen mußten nun ruhen. Der Arzt verbot jede anstrengende Bewegung der kranken Hand. Welch’ ein Kummer! Eine Sängerin, die das Schwinden ihres kostbarsten Kleinods, ihrer Stimme, gewahrt, konnte sich nicht mehr betrüben und ängstigen. Man wollte doch den wunderbaren Chopin spielen, dessen Compositionen eben wie leuchtende Sterne auf dem dunkeln Grunde eines Nachthimmels heraufzogen. Und dazu lahme Hände!
An einem warmen Sommermorgen geschah es mitten auf dem Leipziger Marktplatz, daß Robert Schumann, eine Notenrolle unter dem Arm, in Sturmschritt an seinem Lehrer Friedrich Wieck vorbeirannte, ohne ihn zu sehen.
„Wohin so eilig?“ Und ein langer Arm streckte sich wie ein Schlagbaum aus.
Der Angeredete blieb stehen. „Um Verzeihung, ich komme soeben von Breitkopf und Härtel und habe mir ein neues Opus von Chopin geholt. Hier Masurken op. 17, ein Walzer op. 18, und eine Polonaise. Ich habe sie alle gelesen und möchte vor Verzweiflung weinen oder – in’s Wasser gehen.“
„Warum?“
„Daß ich sie nicht geschrieben habe und – daß ich sie nicht spielen kann.“
„Borgen Sie sich ein paar Hände, oder lassen Sie sich die Sachen von irgend Jemand anders spielen! Geben Sie mir die Noten mit und kommen Sie ein Stündchen zu uns, heute Abend; die Clara mag ein Stück davon versuchen.“
Mit einem Seufzer legte der junge Musiker die Notenrolle in die Hände Wieck’s. „Ich komme gern,“ sagte er leise, „aber was sollen die kleinen Finger der Clara mit dieser wilden Musik? Ich kann noch nicht fertig werden mit ihr – es ist, als ob ich in einem Walde mich verirrte bei Nachtzeit, wo Irrlichter tanzen! [426] Ich fürchte mich vor ihr. Und ein zartes, furchtsames Mädchen! Nun, Punkt sieben bin ich bei Ihnen.“
„Gut! Die Clara fürchtet sich, hoffe ich, nicht. Bis heut’ Abend also. Bringen Sie den Schunke mit und den Ortlepp.“
Die beiden Männer trennten sich und verfolgten ihre Wege, Friedrich Wieck in den Noten blätternd, Robert Schumann in tiefes Sinnen verloren, die Stirn gesenkt. So kam es denn, daß er sich endlich, statt vor seiner Wohnung in Riedel’s Garten, am entgegengesetzten Ende der Stadt unter den grünen Bäumen des Schwanenteichs wiederfand.
Was hatte ihn denn so gefangen genommen in Sinn und Gedanken? Waren es melodische Träumereien, eine Fata Morgana künftiger Schöpfungen? War es der Dämon Chopin, dessen seltsame, phantastische Weisen ihn Tag und Nacht verfolgten, oder ein feines Köpfchen, umgeben von einem Kranz dunkler Flechten, das ihn allezeit an jenen Schutzengel daheim erinnerte? Wer weiß es? –
Wie anders und viel reicher hatte sich Schumann’s Leben gestaltet seit jenem ersten Aufenthalt des jungen Studenten in Leipzig! Eine Genossenschaft geistvoller Menschen hatte sich zusammengefunden, die mit gleicher Hingabe ein gleiches Ziel verfolgten. Namen wie Kupsch, Dorn, Banck, Bennet, Schunke glänzten unter ihnen. Geist und Talent, eine halbe Welt auszustatten, war oft in dem kleinen Musikzimmer in Riedel’s Garten versammelt. Robert Schumann selbst war aber bei solchen Gelegenheiten der Stillste unter Allen. Ernst und verschlossen von Natur, zeigte er sich meist schweigsam, forderte nie zu einem Wettkampf heraus, blieb aber doch allezeit Sieger, wenn es dazu kam. Der Klarheit seines Urtheils unterwarfen sich alle seine Freunde, und sein warmes Herz, seine wohlthuende Begeisterung, das Ueberwallen seiner Empfindung und die edle Offenheit seines Wesens versöhnten selbst gar bald diejenigen, denen seine strenge Kritik weh gethan. Und doch war dieser scharfe Kritiker, dieser denkende Kopf zugleich der glühendste Jean Paul-Schwärmer, der in der damaligen Zeit sogar, wie seine Freunde berichten und seine Briefe beweisen, in Stil und Redeweise sich mühte, sein Vorbild nachzuahmen. Wie oft fand ihn die frühe Morgenstunde noch über seinem geliebten Titan oder Hesperus, und wie manches Mal weckte er seinen damaligen Stubengenossen, um ihm mit pathetischer Stimme in höchster Erregung eine oder die andere Lieblingsstelle aus diesen Büchern vorzutragen! Auch Eichendorff entzückte ihn, und wie manches von dessen Gedichten, das später mit Schumann’scher Melodie die Welt durchzog, wurde um Mitternacht im stillen Kämmerlein vor irgend einem Freunde voll Begeisterung declamirt! Sein Gefühl für Schönheit in der Poesie, sowohl in Form wie in Ausdruck, war unendlich fein; die einfachste Strophe, die einen Andern kaum berührte, konnte ihn zu Thränen bringen. Tief ergriff ihn jenes schauerliche: „Dämmrung will die Flügel spreiten“, und das unendlich melancholische: „Aus der Heimath hinter den Blitzen roth“ ging ihm mit dem Bilde der „Waldeinsamkeit“ Tage lang nicht aus dem Sinn, als er es zuerst gelesen. –
Der Abend, an dem andere Hände den Chopin spielen sollten, war gekommen. In dem freundlichen Musikzimmer Friedrich Wieck’s hatte sich die Familie mit ihren Gästen schon versammelt, als Robert Schumann mit seinen Freunden eintrat. Die Wieck’schen Knaben hingen sich jubelnd an ihren Liebling. Nur Fink und Rochlitz waren noch da und die liebenswürdige Henriette Vogt, die junge Gattin eines kunstsinnigen Kaufmanns, in dessen Hause Schumann vor wenigen Tagen eingeführt worden war. Man begrüßte einander herzlich und bald war das lebhafteste Gespräch im Gange, ein Gespräch, das eben in dieser Zeit so oft und stets mit gleichem Eifer aufgenommen wurde: man stritt hin und wieder über Chopin.
Die jungen Musiker fühlten sich ohne Ausnahme mächtig angezogen von jener feinen, wunderbaren Natur, zu dieser düstern Harmonienfülle, die wie ein Zaubernetz sich über jede Seele warf. Allein selbst der vielbewunderte Pianist Schunke erklärte, nur mit einer gewissen Scheu an das Studium Chopin’s sich zu wagen. „Es sind gebahnte Wege, die uns Mozart und Beethoven, Haydn und Bach führen,“ äußerte er einmal; „da wandelt man in Palmenhainen und Zaubergärten, wohin aber führt uns die schlanke, blasse Hand jenes Polen? In einen endlosen Wald voll Mondschein, in dem wir uns nicht zurechtfinden, wo seltsame Stimmen
‚auf und nieder wandern‘
und allerlei Geisterspuk auftaucht.“
Unter all’ diesen Reden ging still und leise die feine Gestalt eines kaum der Kindheit entwachsenen Mädchens hin und wieder zwischen den Gästen. Ein oberflächlicher Beschauer konnte so leicht dies blasse Gesichtchen, dies schüchterne Wesen übersehen. Es war in der ganzen Erscheinung der Außenwelt gegenüber etwas von jener Schüchternheit der Mimosa, die sich bei der geringsten unsanften Berührung in sich selbst zurückzieht. Das zarte Wesen erweckte leicht den Gedanken, daß die Alltagswelt kein Boden für diese „weiße Blume“. Und doch war dies Kind bereits der Gegenstand der Aufmerksamkeit eines großen Kreises.
Von dem wunderbaren Talent Clara’s, das sich unter der energischen Leitung ihres Vaters so mächtig entwickelte, war ganz Leipzig erfüllt; von ihrem Fleiß und Eifer sprach man mit Bewunderung. Aber nur wenige Augen sahen sie daheim in ihrem Hause; dort war sie zunächst die zärtlichste Schwester, die gehorsamste Tochter. Den Künstlern und Freunden ihres Vaters gegenüber, die als Gäste sein Haus besuchten, trat sie mit der liebenswürdigsten Bescheidenheit auf. Stumm und lauschend mit glühenden Wangen und strahlenden Augen saß sie meist an der Seite ihrer Mutter in dem Kreise der ältern und jüngern Musiker, und dann und wann sagte ein liebliches Lächeln beredter als Worte:
„Ich höre gern, wenn kluge Männer reden,
Daß ich begreifen kann, wie sie es meinen.“
Heute lauschte sie achtsamer denn je, als sie Alle nach und nach wieder in’s Feuer kamen und hin- und herstritten und fragten. „O, meine kranke Hand!“ rief jetzt Robert Schumann schmerzlich. „Warum kann ich heut’ die Polonaise nicht spielen! Wer will mir seine gesunden Finger leihen? Ich würde es ihm danken mein Leben lang.“
Da sagte eine liebliche Stimme ganz laut und deutlich: „Ich!“ Und Clara stand auf, trat zu ihrem Vater, legte leise die Hand auf seine Schulter und fragte erröthend: „Papa, erlaubst Du, daß ich sie spiele? Ich glaube, ich kann es wagen! Und die kleinen Masurken auch.“
„Du hast es selber zu verantworten,“ entgegnete Wieck, „ich war nicht zu Hause, als Du sie übtest. Versuche es, mein Kind, wenn Du glaubst, es wagen zu dürfen, und wenn Schumann mit Deinen zehn Fingern zufrieden ist.“ Sie schlug die Augen zu ihm auf. Er nickte. Ein Lächeln flog über ihr Gesicht. –
Wenige Minuten später saß Clara vor ihrem geliebten Flügel und spielte Chopin.
Und willenlos traten Alle in den Zauberkreis dieser Musik und dieses Spiels, wie im Traum folgten sie der Elfengestalt, die jetzt vor ihren Augen in den verzauberten Wald huschte. Da waren die wild verschlungenen, mondbeglänzten Pfade, aber wohin führten sie? Weiter und weiter, an hüpfenden, blitzenden Irrlichtern vorbei bis zum Schloß am tiefen See. Die erleuchteten Fenster spiegelten sich in den stillen Wellen. Ein Garten voll Rosen und fremden Blumen zog sich rings umher. Auf der breiten Terrasse standen blüthenschwere Orangenbäume, in sanften Wellen strömten die Düfte daher. Wunderschöne Frauen in prächtigen Gewändern, die dunklen Locken mit Perlen durchflochten oder funkelnde Kronen von edlen Steinen über den Stirnen, wandelten im irren Licht des Mondes langsam auf und nieder, neben ihnen stolze Männergestalten in fremder, glänzender Tracht. Leises Flüstern ging herüber und hinüber, heißes Athmen, Blicke voll Gluth, zitternder Druck verschlungener Hände. Drinnen, im Riesensaal, tanzte man. Es waren wilde Tänze, Melodien, die das Blut rascher durch die Adern trieben; klirrend schlugen die Sporen gegeneinander. Und so hinreißend die Gestalten, so entzückend die Verschlingungen und Gruppen, – es war doch etwas Schauerliches in dieser Lust, etwas Dämonisches in dieser Freude: Es rasselte wie Schwerter dazwischen, es klang wie ein Aufschrei verzweifelter Liebe, es tönte wie – „Leichenjubel und Hochzeitsklänge“. Und wilder und wilder wirbelten sie durcheinander die Männer und Frauen im Tanz, glühender wurden die Umschlingungen, flammender die Blicke; die da draußen gewandelt, standen jetzt an den Thüren und schauten bleich und traurig hinein in den Wirbel der tollen Lust, bis die Kerzen plötzlich erloschen, die Musik mit einem schrillen Wehlaut abbrach und Alles aus war. Das Mondlicht fluthete durch verödete Räume, die Tänzer und Tänzerinnen waren [427] verschwunden, nur im Garten huschte es noch geheimnißvoll und schattenhaft auf und nieder, die Wellen des Sees zitterten und das Rauschen des Schilfs starb hin wie leise Seufzer.
„Das war Chopin,“ sagte ruhig Friedrich Wieck und die zarte Gestalt des Mädchens erhob sich vom Clavier. Aber das Kindergesicht war bleich geworden, ein fremder Ernst lag auf der Stirn und die Augen schimmerten feucht. Keiner sprach, so hatte das Spiel Clara’s Alle ergriffen und überwältigt. Die Mutter nur streckte unwillkürlich die Hand aus, um die Tochter an sich zu ziehen. Da, im Vorüberstreifen, sank der Blick des Mädchens in zwei Augen, die mit fast anbetender Bewunderung zu ihm aufschauten. Einen Moment zögerte sie, helle Gluth färbte die zarten Wangen. Dies Begegnen der Augen an diesem Abend war das erste Glied jener goldenen, unlösbaren Kette, die zwei Seelen für Zeit und Ewigkeit miteinander verbinden sollte! Robert Schumann verlor seit jener Stunde das junge Mädchen, das ihm die Hände „geliehen“, wie er scherzend sagte, nie wieder aus seinem Herzen.
Noch viel wurde an jenem Abend debattirt und musicirt, aber Clara spielte nicht mehr. Sie saß bei den Geschwistern und ließ sich den kranken Finger des jungen Musikers zeigen, band vorsichtig und geschickt die Bandage fester und gab nach Frauenart allerlei kluge Lehren in Betreff des „Patienten“, lächelte und scherzte auch dazwischen, während er gedankenvoll auf die kleine barmherzige Schwester herabsah und auf die fesselnde Linie des Profils und das reiche, dunkle Haar. Und wieder erinnerte er sich bei diesem Anblick des Schutzengels in dem Stübchen der Mutter. Später, nach dem bescheidenen Abendbrod, baten die Knaben ihren Freund verstohlen noch um eine „lange Geschichte“ und zogen ihn allmählich in eine Fensterecke, während die Andern plauderten. Da erzählte er ihnen denn auch, wie es seine Weise, jene echten, köstlichen Märchen, die mit den magischen Worten anfangen: „Es war einmal“ und mit dem süßen Troste endigen: „Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch“. Als er aber begonnen, erhob sich ein allerliebster Jemand und schlich unvermerkt näher und legte die Hand auf die Lehne des Stuhls, ohne daß der Erzähler es gewahrte, und vergaß alle gelehrten Gespräche der Andern über das Logier’sche System, Chopin’sche Vorhalte und Bach’sche Fugen, um mit Seele und Augen zuzuhören, wie sich die „sieben Raben“ wieder in sieben Ritter verwandelten, um ihr vielgetreues „Schwesterlein“ zu retten.
Viele Jahre waren vergangen, seitdem Robert Schumann zuerst Clara Wieck Chopin spielen hörte – wie Vieles hatte sich gewandelt und verändert! Aus dem hin- und herflatternden Schwärmer war ein Musiker geworden, auf den sich die Augen der Menge staunend richteten, um den sich eine Schaar begeisterter Anhänger sammelte. Eine Reihe glänzender Werke gab Zeugniß von dem hohen Flug des Genius, von der reichen Phantasie und der echt deutschen Gemüthstiefe und Innigkeit ihres Schöpfers. Nach einem vielbewegten Leben, nach einem Aufenthalt in Leipzig, Dresden und Petersburg war er in Düsseldorf gelandet. Aber nicht allein: der lebendig gewordene Schutzengel war bei ihm. Das knospenhafte Kind hatte sich in eine Frau und Mutter blühender Kinder verwandelt. Die Vereinigung Schumann’s mit seiner Clara hatte schwere Kämpfe gekostet, heißes, standhaftes Ringen. Manches sorgenvolle Jahr war dahingegangen, ehe das herrliche Brautlied gesungen werden durfte:
mit seinem jubelvollen Refrain:
„Sie ist Deine, sie ist Dein!“
und das zärtliche, süße:
„Da hab’ ich denn so lange geküßt,
Bis Du mein Weib geworden bist.“
Um so glückseliger war endlich das Beieinandersein. Wie ein banger Traum lag die Zeit der Trennung hinter ihnen, sie gehörten einander für alle Ewigkeiten. –
Robert Schumann dirigirte seine „Pilgerfahrt der Rose“ im Düsseldorfer Concertsaale. Das dichtgedrängte Publicum lauschte der anmuthigen Dichtung, den reizenden Melodien mit gespanntester Aufmerksamkeit. Rosenfrische Mädchengesichter schmückten die Reihen des Chors. Im Sopran stand Clara Schumann. Ich glaube, daß ich den ganzen Abend sie fast keinen Moment aus den Augen ließ. Sie sang mit und sah dabei ihren Gatten an. Aber welch’ ein Blick! Echte, süße Frauensorge und Liebe ohne Ende. Sie folgte all’ seinen Bewegungen, sie tactirte leise, sie achtete auf den Alt und setzte mit ihm ein, sie hörte auf den Tenor, sie markirte den Eintritt der Bässe, sie horchte mit Spannung auf das Orchester, und dann wieder und wieder kehrten die tiefen, warmen Augen zu ihm zurück mit jenem Blick, den Keiner je vergessen wird, der ihn gesehen. Das Gesicht des Dirigenten blieb unbeweglich, nur bei einer oder der andern Lieblingsstelle hob er langsam die Augenlider, um den Augen seiner Gefährtin zu begegnen.
Später, als Alles vorüber war, sah ich ihn erschöpft in einem Sessel sitzen, und da stand sie neben ihm, wie einst vor vielen, vielen Jahren, als er Märchen erzählte, und die schlanke Hand lag auf der Lehne. Sie flüsterte ihm einige Worte zu, die ein sonniges Lächeln über seine Züge gleiten ließen. Dann nickte sie mit dem Ausdruck reizender, süßer Mütterlichkeit ihren kleinen Töchtern zu, die nicht weit vom Orchester saßen.
Im zweiten Theil jenes Concerts spielte sie Compositionen ihres Mannes – unter andern vierhändig mit einer ihrer jungen Schülerinnen, Nannette Falk – das bezaubernde: „Am Springbrunnen“, das lebhaftes Entzücken hervorrief, später Mendelssohn’sche Lieder ohne Worte und eine Chopin’sche Mazurka.
Robert Schumann saß in einem Winkel in der ihm eigenen Stellung, das Kinn in die Hand gelegt, die Lippen freundlich zugespitzt wie immer, wenn er so recht innerlich froh und befriedigt war, ihr gegenüber, und mitten unter dem Jubel der Hörer neigte sie den Kopf zur Seite, und suchte seine Augen und ganz leise nickte er und gab das „Zeichen“, nicht der Beifall der Menge, war ihr Lohn, das verrieth der Ausdruck ihres Gesichts.
Es war etwas tief Ergreifendes in der stillen Art, wie sie ihn umsorgte, wie sie Theil nahm an seinem geistigen und leiblichen Sein vor unser Aller Augen; wie sie aber für und mit ihm lebte in ihrem Daheim, noch unendlich rührender, das wissen ihre vielen Freunde. Sie hat ihm auch nicht nur damals an jenem Chopin-Abend im Scherze ihre Hände geliehen, sondern so recht eigentlich seinen genialen Claviercompositionen die erste Bahn gebrochen; sie hat sich auch gemüht, ihm jeden Stein aus den oft unebenen Pfaden seiner Künstlerlaufbahn zu räumen, den ihre Kraft hinwegzurücken vermochte, sie versuchte unermüdlich, den Rosen, die ihm auf seinem Wege erblühten, alle Dornen zu nehmen.
Ihr unbewußt stellte sich aus dem herrlichsten Liedercyclus Schumann’s: „Frauenliebe und Leben“, ihr eigenes Dasein zusammen von jenem zauberischen:
„Seit ich ihn gesehen“,
bis zu dem erschütternden:
„Nun hast Du mir den ersten Schmerz gethan.“
Es kann erst einer späteren Zeit vorbehalten sein, eine umfassende und erschöpfende Biographie von Robert und Clara Schumann zu bringen, aber was auch Ruhmvolles über ihn und seine Schöpfungen niedergeschrieben werden mag, die Capitel ihres wunderbar harmonischen Frauenlebens können dermaleinst in Bezug auf jene vollendete und seltene Künstlerehe doch nur das Motto tragen:
„Ich will ihm dienen, ihm leben,
Ihm angehören ganz –
Hingeben mich ihm und finden verklärt mich
In seinem Glanz.“
Es war am 3. Juni, als das elfte Husarenregiment von Düsseldorf ausmarschirte. Wohin? Die Leute wußten es nicht, aber daß es in einen schweren Krieg hineinging, das wußten sie, und deshalb auch waren sie so ernst, trotz den heiteren Klängen der Trompeten, die gar lustig in den Frühmorgen die alte Volksweise: „Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus“[WS 1] hineinschmetterten.
Der alte Wachtmeister mit dem weißen Schnurrbart und der schweren umfangreichen Brieftasche ritt vorauf dicht hinter dem Rittmeister, und die Gedanken dieser beiden alten Herren mochten wohl auch bei den Angehörigen weilen, die zurückgeblieben waren.
Ueber’s Jahr, dann ist meine Zeit vorbei,
Dann gehör i mein und dein.
Bin i dann, bin i dann dein Schätzele noch,
So soll die Hochzeit sein!
Ach ja, wie manches Herz hatte gehofft und darauf vertraut, daß der nächste Lenz der Geliebten den Myrthenkranz bringen werde! Und nun? Ein Achselzucken nur kann diese Frage beantworten. Wie manches blaue oder braune Augenpaar blickte hinunter auf die schmucken Jünglinge und wie manches dieser schönen Augen war feucht! Es ist eine schwere, verhängnißvolle Zeit, eine Zeit, die den Scherz nicht mehr aufkommen läßt, die den Humor „Hochverrath“ nennt. Und doch ist der Humor der Freund, der in Tagen wie die jetzigen vor allen tröstend uns zur Seite steht!
Am Bahnhofe machten die Husaren Halt; die Waggons standen zu ihrer Aufnahme schon bereit. Wie aber die Pferde hineinbringen? Gar mancher alte Cavalerist würde bedenklich das Haupt geschüttelt und verschiedene unausführbare Vorschläge gemacht haben, der Staat hatte die Aufgabe bereits in praktischer Weise gelöst. Es sind hohe, ziemlich flach aufsteigende und mit einem Geländer versehene Gerüste, welche vor die Waggons gestellt werden, und dieses Verbindungsmittel zwischen Waggon und Perron ist in der That so bequem und einfach, daß man nicht begreift, weshalb es nicht früher schon erfunden und benutzt wurde. Die Gerüste kamen nämlich zuerst im Jahre 1862 in Anwendung, damals als Preußen den (nunmehr gefangenen) Kurfürsten von Kassel zwingen wollte, sein Volk verfassungsgemäß zu regieren, und seitdem heißen sie die „Hessenböcke“. Nun, es geht ja auch heute wieder gegen Hessen, gegen den ganzen Norden und den Süden Deutschlands. Das Hineinbringen der Pferde bereitete keine Schwierigkeiten; es geschah mit jener Schnelligkeit und Sicherheit, welche man in der preußischen Armee zu finden gewohnt ist. War auch hin und wieder ein Rößlein ungeduldig, nun, die Menschen waren’s mitunter auch, aber der alte Wachtmeister mit dem weißen Schnurrbart und der schweren Brieftasche wußte den Ungeduldigen gar rasch „Raison beizubringen“.
Wie manches Herz mag stürmisch gepocht haben, als der Zug sich langsam in Bewegung setzte! Wie manches Auge mag feucht gewesen sein, während es dem davonbrausenden Dampfroß nachblickte!
Unter Hurrahrufen rückten sie ab, unter dem Hurrahrufen der Volksmenge, die auf dem Bahnhofe sich versammelt hatte, und manches weiße Taschentuch schickte noch aus der Ferne den letzten Abschiedsgruß.
Zu dem Wunderbarsten des an Wundern so reichen nordamerikanischen Freistaates gehört die allen Analogien in der alten Welt spottende riesenhafte Entwickelung vieler seiner Städte. Orte, die vor Jahrzehnten noch unbedeutende Dörfer, ja oft nur einsame Ansiedelungen waren, zählen jetzt ihre Einwohner bereits nach Zehn-, ja nach Hunderttausenden. Als das Wunder der Wunder aber muß unbedingt die Stadt Chicago im Staate Illinois bezeichnet werden: vor dreißig Jahren noch ein Dorf mit wenigen hunderten Bewohnern, ist sie jetzt ein Welthandelsplatz mit nahezu einer Viertelmillion Einwohnern, der mit Recht „die Königin des amerikanischen Westens“ genannt wird. Und Chicago verdankt dies selbst in Amerika beispielslose Wachsthum keiner Ausbeutung der Reichthümer ganzer Erdtheile, keinen aufgehäuften Capitalien, keiner Fernsicht großer Genies; nicht einmal seine Lage ist besonders günstig. Denn die Ufer des Michigan-Sees sind nirgends flacher und sumpfiger, als gerade da, wo der kleine, nur wenige Meilen aufwärts für mäßig große Flußkähne schiffbare Bach mündet, auf dessen beiden Seiten es sich ausbreitet, und die Einfahrt in die Mündung ist weniger leicht, als bei den Städten Milwaukee, Michigan City, Manitowoc und anderen Häfen des Michigan-Sees. Wenn also etwas aus der neuen Stadt werden sollte, so mußten die neuen Verkehrswege erst künstlich geschaffen werden, auf welchen derselben ihre Bedeutung zuwuchs, ein Canal, der den See mit dem Illinoisflusse da, wo er schiffbar wird, und Eisenbahnen, welche sie mit den Strömen Mississippi und Ohio, sowie mit dem fernen Osten verbänden. Somit ist die ungemein große Bedeutung Chicago’s fast lediglich das Geschöpf des Gemeinsinns und des Unternehmungsgeistes seiner Bürger, und wenn sich diese beiden Eigenschaften bei ihnen überaus glänzend belohnt haben, so war die Belohnung nirgends so wohlverdient und naturwüchsig. Es ist also nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet, daß bei Chicago eine kleine Zahl freier Männer, welche ihren Mitbürgern ihren Geist einzuflößen verstanden, sich mächtiger erwiesen hat, als anderswo der Wille von Kaisern und Königen, die über die Gesammtmittel vieler Millionen Menschen geboten.
Es fehlte den Gründern der Größe Chicago’s sogar an den bescheidensten Geldmitteln, es hat daran gefehlt bis noch vor wenigen Jahren. Die zum Bau des Canals und der Eisenbahnen nöthigen Summen waren weit und breit im Staate und im ganzen Westen nicht vorhanden, denn als er begonnen werden sollte, war eben jene entsetzliche Geldkrisis von 1837 eingetreten, durch welche mehr als achthundert Banken der Vereinigten Staaten sich in ihr Nichts auflösten und der abzuschätzende Reichthum des Landes auf die Hälfte des früheren herabsank. Noch 1844, als Friedrich v. Raumer hier seinen Besuch abstattete, waren die Folgen der Geldkrise nicht vorüber. Selbst noch vor sechs Jahren mußten die Einwohner der Stadt Capitalien zu allen ihren Unternehmungen auswärts (besonders in Boston) zu dem ungeheuren Zinsfuße von fünfundzwanzig Procent borgen, obwohl schon damals der Glaube an die zukünftige Größe der Stadt im ganzen Lande feste Wurzel geschlagen hatte und die Sicherheit alles dort angelegten Capitales bewiesen war. Dennoch wurden Canal und Eisenbahnen gebaut, fast durchaus auf Credit gebaut, und mit ihnen baute sich die Stadt auf, eine Stadt von Palästen. Mit der Stadt wuchs der Anbau des Staates; die endlosen Prairien füllten sich auf beiden Seiten der nach ihr führenden Eisenbahnen mit der besten Classe von Ansiedlern, welche einen lohnenden Markt in Chicago fanden, und so trieben Stadt und Staat einander wechselseitig zu immer rascherem Gedeihen in die Höhe, welches sich auch den angrenzenden Staaten mittheilte.
Da entdeckte man – mitten in diesem lustigen Gedeihen – einen Krebsschaden, an welchem die Stadt kränkelte und unterzugehen drohte. Sie war auf einem so sumpfigen Boden erbaut worden, daß eine Ueberschwemmung durch den See sie höchlich gefährdete.
[429][430] Die riesigen Ziegelsteinmassen, aus denen ihre Handelspaläste aufgethürmt waren, drückten sich immer tiefer in den Morast hinein. Der kaufmännische Credit der Stadt, ihr Lebensnerv, hing von ihrer glänzenden Außenseite mindestens ebensosehr ab, wie von ihrer pünktlichen Zinsenzahlung. In Kellern voll Wasser konnte man keine Magazine halten, wie ein solcher Welthandelsplatz sie braucht; auf sumpfigen Straßen konnte kein lebhafter Verkehr stattfinden; eine ungesunde Lage mußte auf das Kommen neuer Ansiedler abschreckend einwirken. Zu solcher verzweifelten Lage wären die Bewohner jeder europäischen Großstadt vielleicht rathlos gewesen und geblieben und hätten bei Regierung und Vorsehung petitionirt, bis ihr Untergang unvermeidlich geworden wäre. Nicht so bei einer Bevölkerung freier amerikanischer Bürger, welche wohl oder übel sich nur auf sich selbst verlassen dürfen und mögen. Der Stadtrath beschließt – Dank dem damaligen Bürgermeister John Wentworth – die ganze Stadt zehn Fuß hoch zu heben.
Meine europäischen Leser und Leserinnen werden sich bei dieser Stelle meines Berichtes wohl die Augen reiben, ob sie auch recht gelesen haben. Wie, eine ganze Stadt von Steinpalästen zehn Fuß hoch in die Luft zu heben? Und wenn sie da hängt, was dann? Nun, dann soll Rost unter den Häusern geschlagen und dann sollen die Häuser auf den Rost (die eingerammten Balken) aufgesetzt und somit Häuser, Straßen und Alles zehn Fuß höher, als bisher, gelegt werden. Und wie macht man das? fragt, wer noch nie davon gehört hat, daß man in Amerika das Emporheben von Häusern schon lange vorher und häufig prakticirt hatte, ja, daß man sogar mitunter große und kleine Gebäude auf Walzen setzt und bergauf, bergab, wenn es nur die Kosten deckt, an andere Stellen befördert. Man legt mächtige Balken längsweise unter die vier Grundmauern, hebt dieselben durch Schrauben in die Höhe, welche gleichzeitig um ein Viertel- oder Achtelgewinde emporgedreht werden, so daß das ganze Gebäude überall gleich sehr gehoben wird, und wenn es hoch genug gehoben ist, unterführt man es mit neuen Grundmauern. In Chicago freilich hob man ganze Häuservierecke, zwei- bis vierhundert Fuß lang und halb so breit, auf einmal; in so großem Maßstäbe hatte man dieses Balancir-Kunststück vorher noch nie versucht. Und bei diesem halsbrechenden Verfahren bricht kein Haus zusammen? Davon ist noch kein Beispiel bei den sprüchwörtlich leichtsinnigen Yankees vorgekommen. Man ist vielmehr seiner Sache so gewiß, daß man ruhig in dem Hause wohnen bleibt und darin Geschäfte macht, während es gehoben wird. In Chicago benutzte man während des Hebens viele der riesigsten Handelspaläste nach wie vor. Es gab Häuservierecke von sechstausend Tonnen Last und darüber, welche auf einmal viertelzollweise gen Himmel spedirt wurden, während man darin Geschäften oblag, bei welchen es sich um halbe und ganze Millionen Eigenthums handelte. Zuletzt wandte man, um größerer Zeitersparniß willen, die hydraulische Presse an. Eine einzige Pumpe, von wenig Menschenhänden in Bewegung gesetzt, hob diese Tausende von Tonnen Last so leicht und gefahrlos empor, wie es eine hydraulische Presse, diese wundervolle Erfindung, deren Einrichtung in jedem Handbuche der Naturlehre studirt werden kann, eben nur im Stande ist.
Um den Bürgern, von denen manchen bei den ungemeinen Kosten des Hebens ihrer Gebäude wohl der Kopf schwindeln mochte, Muth dazu zu machen, übernahm der Stadtrath die Kosten auf städtische Rechnung und ließ die Eigenthümer blos die mäßigen Zinsen für das dazu erforderliche Capital bezahlen. Und so ist denn die ganze Stadt Chicago jetzt gehoben, zehn Fuß über ihre frühere Höhe, und ist aus der schmutzigsten eine der reinlichsten, gesündesten und stattlichsten der neuen Welt geworden. Freilich, während der Hebungsarbeit war es ein unangenehmes Gehen und Fahren durch die Straßen. Während ein Haus oder eine Reihe Gebäude schon hoch oben befestigt waren, standen die benachbarten noch in der alten Tiefe und auf einige hundert Fuß Straße hatte man oft ein halbes Dutzend kurze, steile Berge oder Treppen und ebensoviele Thäler zu überwinden. Aber in sechs bis sieben Jahren ist das Wunder geschehen, und daß es ausgeführt worden ist, hat dem Unternehmungsgeist und Gemeinsinn der Bürger Chicago’s in den Augen des ganzen Landes zu seiner jetzigen Höhe verholfen.
Damit nicht zufrieden, machten sich die Behörden der Stadt sofort an ein nicht minder wunderbares Unternehmen. Eine so große und so riesig wachsende Stadt braucht viel Trinkwasser und Wasser der besten Güte überhaupt. Bis dahin hatte man sich, da der Boden wenig gute Brunnen gestattete, meist mit dem Wasser des Flusses, mit Cisternen und zuletzt mit einer Röhrenleitung aus dem Michigan-See versorgt. Allein der Schmutz, welchen eine so große Stadt in ihre Abzugscanäle entsendet und der hier durch den Fluß in den See mündet, begann das Wasser desselben weit hinaus zu vergiften. Wie bei vielen anderen amerikanischen Großstädten war es unmöglich, eine Wasserleitung dadurch herzustellen, daß man einen Fluß abdämmte und in Röhren auffing. Denn theils lagen die nächsten Flüsse zu fern, theils waren sie zu wasserarm und ihr Niveau zu tief. Man mußte eine Wasserleitung schaffen, die für eine Bevölkerung von vielen Millionen genügte, denn auf eine solche rechnen die ehemaligen Dörfler von Chicago. Woher das Wasser nehmen, als aus dem prächtigen Becken des Michigan-Sees? Aber dann mußte man es weit draußen abzapfen, wohin der hinausgespülte Unrath der großen Stadt nicht dringt. Ueber eine englische Meile weit mußte man hinausgehen an die reine Quelle, wo der See schon über fünfzig Fuß tief ist. Es blieb also nichts übrig, wollte man ein Werk für alle Zeiten schaffen, als einen Tunnel unter den Seegrund hinaus zu treiben, bis dahin, wohin die Verunreinigung des Wassers des Sees nicht mehr reicht – und diese Riesenarbeit ist ebenfalls nahezu vollendet. Der Tunnel selbst ist fertig; es bleibt blos noch der Schacht, in welchen von oben herab das filtrirte Wasser eindringen soll, und in wenigen Monaten wird auch dieser fertig sein. Dieser Tunnel hat mehr als Manneshöhe; es wird also die Stadt über einen Wasserreichthum gebieten, wie keine andere Stadt der Welt, und er wird ihr durch keinen Belagerer, durch keinen erdenklichen Zufall abgeschnitten werden können. Was ist – fragt man endlich mit Recht – solchen Männern unmöglich, wie diejenigen sind welche Chicago zu Chicago gemacht haben?
Kommen wir jetzt auf die Geschichte dieser Stadt während des Sonderbundkrieges. Es ist ein heikles Ding, einzelne Städte und Staaten auszeichnen zu wollen, wo alle weit über ihre Schuldigkeit gethan haben, wo innerhalb der sechszehn Millionen loyaler Bevölkerung des Landes jeder Einzelne sich im Patriotismus selbst übertroffen hat. Allein man wird wohl Chicago die Palme zugestehen müssen. Keine Stadt, kein Bezirk des Nordens hat mehr Truppen aufgebracht im Verhältniß zur Bevölkerung, wie denn überhaupt der ganze Staat Illinois weit über seinen gesetzlichen Antheil hinaus zur Rettung des Vaterlandes beigetragen hat. Es wird Europäern, welche daran gewöhnt sind, ein, zwei, höchstens drei Procent der Bevölkerung für kriegstüchtig zu betrachten, beinahe unglaublich erscheinen, wenn wir sagen, Chicago und Illinois überhaupt haben zum Unionskriege über zehn Procent der Ihrigen gestellt, alle freiwillig, und von diesen ist ein volles Viertel aus dem Kampfe nicht zurückgekehrt! Der Geist aber, mit welchem so große Opfer gebracht wurden, bleibt doch dabei die Hauptsache. Die Illinoistruppen waren an Qualität immer vorzüglich; sie wurden vom Staate wohl ausgerüstet entlassen; sie haben an dem Verdienste der Rettung Missouri’s, Kentucky’s und Tennessee’s einen Hauptantheil, und ihr Blut ist auf fast allen Schlachtfeldern der Union geflossen.
Für einen Deutschen ist es ein überaus wohlthuendes Gefühl, zu wissen, daß ein volles Drittel der Bewohnerschaft von Chicago und Illinois aus seinen Landsleuten besteht. Die Deutschen gehörten zu den frühesten Ansiedlern beider. Vielleicht die älteste reindeutsche Ansiedlung des Staates ist die von St. Clair County, worin Belleville, ein fast rein deutsches Oertchen, schon 1834 begründet wurde. Von dort und von Chicago aus, welches von Anbeginn eine verhältnißmäßig starke deutsche Bevölkerung enthielt, verbreitete sich der Strom der nachachtundvierziger Einwanderung den Eisenbahnen und dem Canal entlang, rationellen Ackerbau, Gewerbe, Handel, Kunst und Wissenschaft mit sich bringend. Wenn irgendwo, so hat in Illinois diese deutsche Bevölkerung verstanden, von den Angloamerikanern zu lernen und sie zu lehren. Dort hat die National-Eifersüchtelei zwischen beiden aufgehört, anders als vortheilhaft zu wirken. Im Staate Illinois besteht deshalb auch die Einrichtung, daß an den öffentlichen (Frei-) Schulen die deutsche Sprache überall, wo eine stärkere deutsche Bevölkerung sich befindet, durch besondere Lehrer und Lehrstunden vertreten ist. Dort wenigstens sind die Deutschen durchweg geachtet und vollauf gleichberechtigt. Sie werden ohne Unterschied als Beamte gewählt und in politischen Fragen um ihre Meinung mitbefragt; sie haben ihren rechtmäßigen Einfluß und machen ihn geltend.
[431] Es ist jetzt im Werke, den Illinoiscanal dergestalt zu erweitern und zu vertiefen, daß er für Seeschiffe zureichend Wasser enthält. Die Kosten sind auf fünfzig Millionen Dollars veranschlagt. Sollten die Vereinigten Staaten, welchen man dies angesonnen hat, eine solche Kostenlast nicht übernehmen wollen – nun, die Stadt Chicago allein wird sie aufbringen. Und da der Welland-Canal, welcher den Erie- mit dem Ontario-See verbindet, schon jetzt das Auslaufen von in Chicago befrachteten Seeschiffen nach allen Häfen der Welt gestattet, so wird alsdann diese Stadt ebenso, wie mit dem atlantischen Meere, mit dem Golf von Mexico verbunden sein und ihre Flagge auf allen Meeren präsentiren. Von der Handelsbewegung, welche Chicago an sich gezogen, beziehentlich in’s Leben gerufen hat, bekommt man einen schwachen Begriff, wenn man weiß, daß dort an zwanzig Millionen Bushel (Scheffel) Getreide jährlich ostwärts verladen werden, daß für etwa zehn Millionen Dollars jährlich Bauholz von dort westwärts passirt und daß der gesammte Capital-Umschlag des Platzes jährlich nahe an einhundert Millionen Dollars beträgt. Durch beinahe jede Straße der Stadt streckt sich eine Pferde-Eisenbahn; der Dampfbahnen, welche an ihren Grenzen münden, sind fünf, ungerechnet die Zweigbahnen, und den See durchfurchen viele prächtige Dampfboote, welche den Verkehr mit den Häfen des Michigan- und der anderen großen Binnenseen vermitteln. Allem Anscheine nach wird Chicago um 1900 die drittgrößte Stadt Amerikas und eine der größten der Welt sein. Und das Alles in Folge des Freiwilligkeits- und Selbstregierungsprincips!
Die Volksküchen in Berlin. Von all’ den unter den Zeitverhältnissen leidenden Gesellschaftsclassen sind die Familien am unglücklichsten, die verarmt sind bis zu dem Grade der allerhärtesten Einschränkung, ohne daß sie sich selbst aufgeben und als Almosenempfänger herausstellen dürfen. Denen zu helfen ist am schwierigsten, ja, es giebt nur Ein Mittel dieser Hülfe – die Ermöglichung einer Selbsthülfe.
Dieser Gedanke veranlaßte mich, einen Plan auszuarbeiten, wie man für solche Familien, denen es unter den gegenwärtigen Umständen fast unmöglich sein dürfte, ihren Haushalt zu führen, Volksküchen einzurichten habe, aus denen jede bedrängte Familie ohne Scheu gegen den billigsten, d. h. Selbstkostenpreis, die nahrhafteste Kost entgegennehmen kann. Die Gründung solcher Anstalten für eine große Stadt, wie Berlin, und in so traurigen Zeiten, wo das Bedürfniß unter der arbeitenden wie der gewerbtreibenden Bevölkerung ein allgemeines ist, kann allerdings nur durch thatkräftige Betheiligung vieler tüchtiger Männer und Frauen, durch die Vereinigung aller materiellen und geistigen Kräfte erreicht werden. Dies erkannte ich und theilte meine Gedanken einer Reihe von Männern mit, deren rastloses Streben von jeher dem Volkswohl geweiht ist. Mein Unternehmen fand so allseitigen Beifall, daß im Verlauf von acht Tagen ein Central-Comité zusammentrat, um jenes zu organisiren, und jetzt, da kaum vierzehn Tage seit meiner Aufforderung vergangen sind, befindet sich dieses Central-Comité durch Sammlungen bereits im Besitz von viertausend Thalern; außerdem haben zwei Bürger der Stadt Locale zu Küchen, ein anderer die Einrichtung zu einer derselben hergegeben, und ein dritter beabsichtigt, auf seinem Grundstück und mit seinen Freunden auf eigene Kosten eine Volksküche herzustellen und zu erhalten, so daß zunächst vier Volksküchen in Berlin eingerichtet und eröffnet werden, die je nach den weiteren Zeichnungen bis zur Zahl von zwanzig vermehrt werden sollen. Jede dieser Volksküchen wird zweimal täglich eintausend bis eintausend zweihundert Portionen Gemüse und Fleisch, die Portion zu anderthalb bis zwei Silbergroschen, verkaufen. Die Portion enthält das Maß eines preußischen Quarts, so daß zwei erwachsene Personen sich daran satt essen können. Der Einkauf im Ganzen, sowie die Massenfabrikation, wird bei diesem Verkaufspreise die Volksküchen um so mehr ohne Verlust bestehen lassen, als die Bauten, Miethe und Einrichtung durch freiwillige Sammlungen gedeckt werden, so daß nur das besoldete Küchenpersonal, die Nahrungsmittel selbst, wie etwaige Reparaturen der Anstalten, von dem Erlös der verkauften Speisen gedeckt werden sollen.
Die Controle sowie die Verwaltung dagegen geschieht von Seiten des Centralausschusses, respective der Localausschüsse.
Solche Volksküchen sollen eine allgemeine, gesellschaftliche Wohlthat der freien Vereinigung werden, die jeder Bedrängte um so eher annehmen kann, je weniger sie ihm als beschämendes Almosen entgegentreten. Dennoch vermag durch dieselben auch wohlthuend auf die gänzlich unbemittelten Bewohner der Stadt gewirkt zu werden, wenn bemittelte Familien Marken an sich kaufen, die sie als Almosen den Armen ihres Kreises vertheilen. Aehnliche Anstalten, wie diese Volksküchen, sind bereits von einzelnen Fabrikanten in England, Hannover, Sachsen und Schlesien für deren Arbeiter errichtet worden und haben sich seit einer Reihe von Jahren so vorzüglich bewährt, daß sie Theilnahme und Bethätigung weit über den Arbeiterkreis hinaus gefunden haben.
Eine der vorzüglichsten dieser Anstalten hält Herr Egestorff zu Linden bei Hannover, der uns bereitwillig in den Besitz seiner Statuten gesetzt hat. In seiner Arbeiterküche sind auch Speisesäle vorhanden und es wird meist in der Anstalt selbst gespeist. Anders wird es sich in den Volksküchen Berlins verhalten. Wohl wäre es gut, wenn wir es dahin bringen könnten, dem einzelnen Arbeiter, der einzelnen Arbeiterin Stuhl und Tisch in den Volksküchen zu bieten. Allein man würde bei Berücksichtigung dieser Wohlthat für Einzelne nicht allein das ganze Unternehmen hier in Berlin gefährden, da man einerseits das gemischte Publicum der untersten Classen schwer zu zügeln vermöchte, es andererseits auch doppelt schwer werden würde, solche Locale zu finden, in denen Speisesäle für fünfhundert bis eintausend Menschen eingerichtet werden könnten. Was aber bei Weitem wichtiger erscheint, warum vorläufig keine Speisesäle in den Berliner Volksküchen eingerichtet werden sollen, ist, daß wir dieselben vorzugsweise für verarmte Familien gründen, die wohl noch eine Häuslichkeit besitzen, in der sie die Familienglieder innig versammeln, aber kein Feuer, um den häuslichen Heerd warm zu halten, und kein Geld, um genügende Nahrung auf demselben zu bereiten. Wohl sind auch in Paris öffentliche Küchen, wo der von der Arbeit heimkehrende Mann speist, während sein auch außer dem Hause arbeitendes Weib in einer anderen und die in Fabriken beschäftigten Kinder vielleicht in einer dritten ihnen naheliegenden Küche ihre Mahlzeiten verzehren. Dahin jedoch soll es in Deutschland nicht kommen, so lange Volksfreunde solches Unheil der Familienauflösung verhüten können. Des Deutschen Heimath, seine Gesittung, sein innerer Halt, sein ganzes Glück liegt in der Familie! Wenn jedes Mitglied derselben auch mühselig zur Erhaltung des Lebens beitragen muß, so giebt es eine Zuflucht, eine Genugthuung, einen Einigungspunkt selbst für den Aermsten: es ist die Zusammenkunft der Familienglieder nach vollbrachter Arbeit am eigenen Heerd! Diese heilige Stätte wollen wir unsern Arbeitern wahren, wir wollen ihnen helfen, die Familie zu erhalten. Die Volksküchen ersparen der Frau des Arbeiters wie des kleinen Gewerbtreibenden die Feuerung, die Zeit und Kraft, die sie der Küche für den Haushalt widmen müßten und die sie nun besser für Mann und Kinder verwerthen können; sie ersparen dem Unbemittelten einen großen Betrag an Geld, welchen er für verhältnißmäßig schlechtere Nahrungsmittel im Einzelnen ausgeben müßte.
So sind die Volksküchen nicht allein eine große gesellschaftliche Wohlthat, die jedem Einzelnen zu gut kommen, sondern sie sind in volkswirthschaftlicher Beziehung ein großer Fortschritt. Möge es uns gelingen, dies recht bald durch die That zu beweisen, und mögen auch andere Städte und Ortschaften unserem Beispiele folgen.
Wir haben gern die obige Notiz zum Abdruck gebracht, da wir mit wahrer Freude das darin entwickelte Project begrüßen und ihm und den wackern menschenfreundlichen Unternehmern von Herzen den besten Erfolg wünschen. Dabei können wir indeß die Mittheilung nicht zurückhalten, daß, was jetzt in Berlin erst angestrebt wird, hier in Leipzig seit längerer Zeit bereits verwirklicht worden ist und schon großen Segen gestiftet hat. Wesentlich auf die Anregung des in weiten Kreisen bekannten Stadtrath Felsche trat nämlich bereits im Januar des Jahres 1849 unter dem Namen „Städtische Speiseanstalt’“ eine solche Volksküche in’s Leben. Die Stadt lieferte Local und nöthige Einrichtung dazu, im Uebrigen erhält sich das Unternehmen, das ein aus angesehenen Bürgern gebildetes Comité leitet, durch sich selbst. Diese Speiseanstalt ist so eingerichtet, daß sie täglich bis zu zweitausendfünfhundert Portionen kräftigen Essens zu dem niedrigen Preise von à zwölf Pfennigen herstellen kann, wie sie denn auch die gesammte österreichische Truppenabtheilung, die, seiner Zeit, 1851, nach Schleswig-Holstein gehend, durch Leipzig passirte, gespeist und augenblicklich die Verköstigung der im hiesigen Schlosse liegenden preußischen Besatzung übernommen hat; für gewöhnlich aber, und namentlich seit die Brodpreise niedriger geworden sind, giebt sie im Durchschnitt jetzt täglich nur vier- bis fünfhundert Portionen Essen aus, theils an bestimmte Wochenabonnenten, theils an Familien und Personen, – meist verschämte Arme – die sich die Speisen nach Hause holen lassen, theils an eine kleinere Anzahl, welche im Local selbst beköstigt wird. Immer aber ist feststehendes Princip, daß Niemand unentgeltlich gespeist, sondern ihm nur eine kräftige Nahrung um den Kostenpreis der im Ganzen und Großen eingekauften Lebensmittel überlassen wird; dagegen pflegen auch hier Wohlhabendere Speisemarken anzukaufen und an Bedürftige zu vertheilen.
Frau Currier. Friedrich Münch in Missouri, ein in Amerika sehr geachteter und geistreicher Landsmann, dessen literarische Thätigkeit überall große Anerkennung gefunden hat, schreibt uns: Vom Osten her wird täglich die Klage lauter, daß das orthodoxe Christenthum in Verfall gerathe, die Kirchen leerer werden, ganze Kirchengemeinden sich auflösen und ihre Prediger das Weite suchen müssen, während andere Prediger auf den Ausweg verfallen, mehr durch geistreiche Reden über Zustände und Vorgänge, die Tages- und Partei-Politik nicht ausgeschlossen, ihr Publicum zu unterhalten, als es durch dogmatische Predigten zu langweilen. Hat das seinen Grund darin, daß die veraltete kirchliche Scholastik doch endlich der frischeren Lebensansicht und der unaufhaltsam eindringenden wissenschaftlichen Bildung weichen muß? Oder erklärt sich die Sache durch eine ganz neue geistige und geisterhafte (spiritualistische) Bewegung, von welcher hier noch die Rede sein muß?
[432] Es wird uns nämlich im nüchternsten Ernste angekündigt, daß dem ganzen hiesigen Kirchenwesen ein naher und gewaltiger Umsturz bevorstehe, ja, daß von dieser neuen Welt ein ganz neues Licht über die übrige Welt ausgehen werde, angekündigt bereits durch einzelne Erscheinungen seit Jahrtausenden, aber klarer erkannt und zum segensreichen Eigenthum der um die Wahrheit so lange betrogenen Menschheit erst in dieser Zeit gemacht.
Auch in Deutschland hat man von den hiesigen spiritualistischen Manifestationen nicht nur gehört, sondern man stellt – wie berichtet wird – dort neuerdings die gleichen Versuche und mit dem gleichen Erfolge an, mehr jedoch als hier sich dabei der Oeffentlichkeit entziehend. Hier wird die Sache nicht nur in zahlreichen Schriften, sondern auch in ihr ausdrücklich gewidmeten öffentlichen Blättern verhandelt, und Wißbegierige können in den Cirkeln, deren es unzählige giebt, Zutritt erhalten. Neuerdings tragen Redner und Rednerinnen die neue Lehre in begeisterten Vorträgen von Ort zu Ort. Auch in den Hallen der Gesetzgebung von Missouri hielt eine solche Rednerin im letzten Winter drei Vorträge des interessantesten Inhalts.
Da Schreiber dieses den Vorträgen der Frau Currier (dies ist der Name der Rednerin) beiwohnte, so achtet er es dem Zwecke dieser Mittheilung gemäß, etwas ausführlicher darüber zu reden. Ich muß bekennen, daß, was von allem Amerikanerthum und dessen mannigfaltigsten Erscheinungen bisher mir vor Augen und zu Ohren gekommen ist, diese Vorträge das Vollkommenste waren und unwillkürlich den Gedanken bei mir hervorriefen: eine Nation, welche solche Frauen hervorbringt und ausbildet, was auch immer sonst an ihr zu tadeln sein mag, steht doch hoch, sehr hoch und hat ohne Zweifel eine bedeutende Zukunft. Die Dame scheint vierundzwanzig bis fünfundzwanzig Jahr alt zu sein, hat ein gefälliges und würdevolles Aeußere, in welchem edelste weibliche Sitte und Bescheidenheit sich abspiegelt, erhebt sich aber auf der Rednerbühne zu einer Bedeutung, welche im bloßen Umgange Niemand ahnen würde; sie leistet das Höchste, wozu menschliche Beredsamkeit fähig zu sein scheint. Sie betritt die Rednerbühne und setzt sich für eine Minute mit gebücktem Haupte nieder, als erwarte sie den Anhauch der Begeisterung von oben. Dann erhebt sie sich mit vollster Unbefangenheit, richtet ihr lebensvolles Auge auf die Zuhörermenge und beginnt – mit entsprechender Handbewegung – den Fluß einer Rede, die im gemessensten Vortrage etwa eine Stunde währt, in der auch nicht ein einziges Mal angestoßen, oder nach dem rechten Worte gesucht, oder ein unglücklich begonnener Satz verbessert, oder derselbe Gedanke wiederholt wird; Alles in zwar einfacher, doch so vortrefflicher Sprache, daß man über die schöne Rundung sowohl als über die treffenden Ausdrücke beständig staunt, und doch bemerkt man im Augenblick, daß dies keine memorirte Rede ist, sondern daß Alles frisch gedacht und gefühlt aus dem Innern hervorquillt.
Und was bildet den Inhalt dieser Reden? Ein schlagender Gedanke reiht sich an den andern, alle entsprossen der reinsten und edelsten Humanität. Sie stellt die ewige Wahrheit den Satzungen des Pfaffenthums, die natürliche Freiheit der tausendjährigen Knechtung, das menschenwürdige Handeln der Rohheit gegenüber, greift mit sicherer Hand da und dort in die Geschichte, mustert die gesellschaftlichen Zustände der civilisirten Nationen unserer Zeit und hält den hingerissenen Zuhörern ein Ideal vor, nicht wie der Fanatiker es aus den Wolken greift, sondern wie Alles sein kann und wird, sobald die Menschen vernünftig sein wollen. Was mehr gehört denn zum Wohle der gesammten Menschheit, als allgemeines Wohlwollen, Wahrheitsliebe und Selbstachtung, womit alle die Auswüchse beseitigt wären, welche jetzt das Dasein der Millionen verkümmern? Die Natur will uns wohl mit ihren Gaben und ihren unwandelbaren Gesetzen, – folgen die Menschen einfach ihrem Rufe!
Sie schließt mit einem nachhaltigen Gedanken und verläßt, etwas erschöpft, wie es scheint, aber in natürlichst einfacher Haltung den Rednerstuhl. Nichts Theatralisches ist in dem ganzen Vortrage, der vielmehr den Eindruck der tiefsten, auf klarstem Denken beruhenden Ueberzeugung, ja den Eindruck eines Prophetenwortes macht.
Die Dame kam nach dem Westen als Abgesandte eines spiritualistischen Cirkels in Massachusetts. Doch – so schien es – wollte sie nur den Weg bahnen für die neue Lehre und erwähnte derselben nur kurz im letzten Vortrage in dieser Weise: „Wie fast alle wahrhaft Weisen, wurde auch der große Nazarener von dem vornehmen Pöbel verfolgt und von der Menge nicht verstanden. Was er von seiner Verbindung mit dem Vater im Himmel sagt – eine Verbindung, die für uns Alle dieselbe sein sollte –, begreifen die Menschen noch heute nicht; er lehrt, daß wir von Schutzengeln umgeben sind, und erzählt wird, daß die Geister der bedeutendsten Männer seines Volkes, längst dahingeschieden, mit ihm zusammentrafen (? D. R.), man glaubt es entweder nicht, oder erklärt das ganz Natürliche für ein unbegreifliches Wunder; ebenso muß die von ihm ausgegangene Heilkraft ein Wunder sein und doch war nichts natürlicher; ist doch aller Wunderglaube eine kindische Thorheit. Bereits aber ist in diesem Lande die so lange verborgen gewesene, nur von einzelnen Begabteren (Swedenborg u. A.) geahnte Wahrheit deutlich an das Licht getreten. (? D. R.) Höchst unvollkommene Kundgebungen zogen zuerst die Aufmerksamkeit Einzelner auf sich; leider bemächtigte sich auch – und bemächtigt sich theilweise noch immer da und dort – der Betrug und Schwindel der Sache, wie ja auch mit dem Christenthume und allem an sich Vortrefflichen gemeine Schwindelei getrieben wird und von Anfang getrieben wurde. Aber von Enthüllungen untergeordneter Art kam es bald zu immer bedeutungsvolleren, bis es nunmehr gelungen ist, einen vollständigen Verkehr mit der Geisterwelt zu vermitteln (? D. R.), so daß uns, die wir die Wahrheit erkannt haben, ja sie täglich vor Augen haben können, das ganze Menschenleben mit seiner herrlichen Zukunft in so tröstlichem Lichte erscheint, wie es vordem nicht erkannt werden konnte, und daß in Zukunft an die Stelle des Wahns, der niedrigen Leidenschaft und der Rohheit ein Leben in Reinheit, in allseitigem Wohlwollen, in Hoffnung und edler Freude hingebracht treten muß. Das tausendjährige Dunkel ist bereits im Verschwinden und das neue Licht bricht mit Macht sich Bahn, so daß binnen kurzer Frist nicht nur dieses ganze Land davon erhellt sein wird, sondern seine Strahlen selbst bis in die fernsten Winkel der Erde dringen werden. (?? D. R.)
Dies waren nicht genau die Schlußworte der Rednerin, deren ich mich nicht vollständig erinnere, aber die Gedanken, mit welchen sie endigte, ohne über sich selbst ein Wort zu sagen, ja ohne irgend eine nicht durchaus zur Sache gehörige Bemerkung. Der Eindruck auf die gedrängte Zuhörerschaft war überwältigender, als ich irgend etwas der Art jemals gesehen habe. „Mehr Licht!“ schien das innigste Verlangen Aller zu sein. Da waren Gläubige von allen Secten, Deutsche, vertraut mit den neuesten Ergebnissen der wissenschaftlichen Forschung, Alte und Junge, Männer und Frauen, Alle gleich ergriffen.
Ein Wink. Heute, wo ganz Deutschland von Kriegsgetümmel erfüllt ist, der Kern seiner Jugend unter den Waffen steht und der Ausbruch der thatsächlichen Feindseligkeiten begonnen hat, ohne daß man noch absehen kann, wohin sie führen, ist die Summe derer nicht klein, die, sei es um ihrer schwachen Nervenconstitution willen, sei es im Allgemeinen ihres leidenden Körperzustandes wegen, sei es aus absolutem Ruhe- und Friedens-Bedürfniß, sich mit dem Gedanken vertraut machen, Haus und Hof (oder wer solches nicht selbst besitzt, die Besorgung seiner Angelegenheiten) irgend einem mit mehr Fassung, Ruhe und größerer Nerven-Widerstandsfähigkeit ausgerüsteten Freunde und Anwalt zu übergeben und eine Gegend für den Sommeraufenthalt zu suchen, die voraussichtlich noch einige Zeit vom allgemeinen Weltbrande verschont bleiben dürfte.
In dieser Beziehung sind, wie dies die Gartenlaube bereits hervorgehoben hat, Aller Augen auf die keiner diplomatisch-abgegrenzten Partei angehörende, neutrale Schweiz gerichtet, und schon jetzt geschehen Anfragen von Deutschland aus dorthin, um im Falle des Entschlusses gehörig unterrichtet zu sein. Daß in diesem Sommer die Schweiz, die aus den Reisemonaten Juni bis October jährlich eine Einnahmequelle von vielen Millionen Franken zieht, keine brillanten Geschäfte mit den Geldbeuteln der Touristen machen wird, darüber ist man einig. Aber deshalb wird die Schweiz eben nicht ohne Fremde sein, sondern es wird sich theilweise ein Aequivalent durch die vor den Kriegsunruhen sich flüchtenden Friedensleute herausstellen, wenn es auch vielleicht seinem Gesammt-Geldumsatze nach nicht das bietet, was ein guter Reise-Sommer im Frieden dem Lande einbringen würde. Der Schweizer ist übrigens nichts weniger als Umstürzler und Revolutionär, für den man ihn noch hier und da im Auslande hält; es kann vielmehr kein friedliebenderes und conservativeres Volk in ganz Europa geben als die Schweizer, so daß der Fremde in der Schweiz unangefochtener und sicherer lebt als irgendwo anders.
Ein altes bekanntes Sprüchwort heißt: „Point d’argent, point de Suisse,“ zu Deutsch: „Kein Geld, kein Schweizer,“ was etwa so viel sagen soll, als: „Wo kein Geld zu verdienen ist, da ist auch kein Schweizer zu haben.“ An dem Worte ist Wahres und Unwahres, nicht mehr und nicht minder, als wie man sagen könnte: „Kein Geld, kein Amerikaner,“ „Kein Geld, kein Pariser, Londoner, Petersburger“ etc. etc. Die Jagd nach Geld ist allgemein und wahrlich in Deutschland nicht geringer, als anderswo. Wer auf der breiten Heerstraße läuft, nun freilich, der muß zahlen, in der Schweiz wie am Rhein und in England und überall, wo er fremd ist; aber wer einigen Anhalt hat, wer die Leute kennen lernt, der wird finden, daß es in der Schweiz nicht schlimmer ist, als anderswo.
Dies jedoch schließt nicht aus, daß derjenige, welcher die Schweiz für längere Zeit zum Aufenthalte zu nehmen gesonnen ist, vorher ruhigen Blickes, vielleicht an der Hand eines Freundes oder Landsmannes, das Terrain genau recognosciren sollte, auf dem er sich zu bewegen gedenkt. In diesem Falle wird ein Jeder, und wenn er über den allergesegnetsten Geldbeutel der germanischen Christenheit zu verfügen hätte, dennoch neben den Anforderungen, die er an Lage, Leistung und Comfort seiner Wohnung stellt, auch die financielle Seite gebührend in’s Auge fassen. Es handelt sich hier nicht darum, für eine Nacht, ein Essen oder ein Frühstück in diesem oder jenem Hotel einer Uebertheuerung auszuweichen, – auf solche muß man zur Zeit der allgemeinen Touristen-Wanderung im Voraus gefaßt sein und sie ruhig in Kauf nehmen, ohne sich im Reisegenusse stören zu lassen, – es handelt sich um einen monatlichen oder mehrmonatlichen Aufenthalt, sei es im Gasthofe oder im Pensionshause oder in der Privatwohnung, und das damit verbundene, mehr oder minder entsprechende Behagen.
Nun der Kernpunkt dieser Zeilen. Nicht Jeder hat einen Freund oder Verwandten oder Landsmann in der Schweiz, an den er sich wenden könnte, und falls er wirklich einen solchen hat, ist dieser vielleicht nicht im Fall, die umfassende Auskunft geben zu können, die man verlangt. Ich lebe seit fast zwanzig Jahren in der Schweiz und glaube, ihre Localitäten, Zustände, Einrichtungen und auch ein gut Theil ihrer Leute kennen gelernt zu haben, – sowohl solche, mit denen man frisch gerade und loyal verkehren kann, die, wie man sagt, rechte Leute sind, – als auch solche, die – anders sind.
In den letzten Wochen haben Freunde und Benutzer meines Reisebuches mehrfach an mich geschrieben und um meinen Rath gebeten. Ich denke, es ist mithin im Sinne der Tendenzen, welche die Gartenlaube verfolgt, wenn ich sage, daß ich zu gleichem Zwecke auch fernerweit zu nützen bereit bin. Also, wer meine Adresse benutzen will, sie ist: Hottingen bei Zürich.
- ↑ Siehe Joseph von Wasielewsky, Biographie Robert Schumann’s.
- ↑ Wir müssen unsere Leser um Entschuldigung bitten, wenn unser zweiter Kriegsartikel etwas mager ausgefallen ist. Sein Verfasser ist plötzlich ebenfalls zu den Fahnen einberufen worden und schreibt die obigen Zeilen mitten auf dem Marsche. Schon unsere nächsten „Bilder aus dem Feld- und Lagerleben“ werden zeigen, daß wir unseren in diesen Beziehungen gegebenen Versprechungen vollständig Genüge leisten werden. D. R.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ z. B. „Muß i denn, muß i denn“ (Heinrich Wagner)