Die Gartenlaube (1868)/Heft 39
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No. 38. | 1868. | |
Der junge Mann stand noch einen Augenblick unschlüssig,
ein flüchtiger Blick rückwärts überzeugte ihn, daß es keine Möglichkeit
gab, den Weg, auf dem er gekommen, wieder zurückzuklettern;
ein zweiter scheuer und noch rascherer Blick streifte in den
Abgrund, der unter ihm wie eine Thurmmauer abstürzte, dunkel
und tief, daß kein Ende davon abzusehen war; drüben aber lag
und lockte der breite, grasbewachsene Block, und schon von Weitem
war zu erkennen, daß ein betretener Pfad von dort gefahrlos
weiter führe. Sich zusammenraffend, richtete er daher den Stock
zurecht und nahm die Stellung eines Springenden an; allein in
dem Augenblicke verirrten sich seine Augen unwillkürlich in die
Schlucht unter ihm, er fühlte, wie es ihm im Gehirne zu kreisen
begann und vor den Augen dunkelte.
„Na, was ist’s denn?“ rief Ambros wieder. „Wenn Sie herüber sind, ist alle Gefahr überstanden. Von da wird der Weg wieder gut, und wir kommen bald auf einen prächtigen Gamsstand. Springen Sie frisch zu, Herr Günther! Es passirt Ihnen nichts. Ich bin schon da und fang’ Ihnen auf, damit Sie nicht etwa zurückfallen. Ich glaub’ gar, Sie fürchten Ihnen.“
Günther fühlte sich allerdings sehr lebhaft von einer ähnlichen Empfindung durchzuckt. Er nahm nochmals einen Ansatz zum Sprunge, ließ aber wieder ab, und schon schwebte ihm wiederholt die Frage auf den Lippen, ob es nicht etwa doch einen anderen Weg gebe, aber der Gedanke, Furcht zu zeigen, scheuchte sie wieder zurück. In der krampfhaft festen Art, wie er den Bergstock anfaßte, zeigte sich jetzt, daß der Entschluß in ihm reifte; er blickte noch einmal zu Ambros hinüber, der eben den Hut abgenommen hatte, daß sein Gesicht deutlich zu sehen war … es kam ihm vor, als ob dasselbe von einem höhnischen Lächeln verzogen sei, und ohne sich weiter zu besinnen, schwebte er in der nächsten Secunde über dem Abgrund und langte wohlbehalten neben Ambros auf dem Felsblocke an. War er auch zögernd unternommen worden, so ließ der Sprung es doch wohl erkennen, daß es ein geübter Körper war, welcher ihn ausführte; ohne zu wanken, fest und aufrecht, stand Günther auf dem Felsen und bedurfte des haltenden Armes nicht, welchen ihm Ambros entgegenstreckte.
„Ich danke,“ sagte er, kurz ablehnend, und schritt sogleich auf dem deutlich erkennbaren Pfade vorwärts, während Ambros ihm verblüfft nachsah und erst nach einigen Augenblicken folgte. Als er um die Felsecke vorgetreten, hielt er an und deutete auf eine grüne Rasenstelle, welche zwischen dem Gestein recht angenehm zum Ausruhen einlud. „Wie ist’s, Herr Günther,“ sagte er, „wollen wir net ein bissel anhalten und ausrasten? Da wär’ ein ganz bequemer Sitz.“
„Habe kein Bedürfniß,“ entgegnete Günther. „Auch habe ich sagen hören, daß man bei großen Wanderungen es wohl unterlassen muß, auf kurze Zeit auszuruhen, weil dann die Müdigkeit immer ärger wird. Ich will mir das Ausruhen sparen, bis wir auf der Almhütte sind.“
„So?“ sagte Ambros, der den Unmuth seines Gefährten wohl herausfühlte. „Davon hab’ ich noch nie etwas g’spürt, es wird wohl auch nur in Ihren Büchern stehen. Ich will mich schon ein bissel dahersetzen, der Weg über die schieche Wand legt sich einem doch curios in die Glieder; da schmeckt ein Schluck Kirschgeist drauf.“ Er zog die Korbflasche aus dem Rucksack hervor und bot sie Günther. „Das ist echter, selbstgemachter,“ sagte er, „den werden Sie doch nicht verschmähen? Sie müssen ja an so ’was gewöhnt sein, bei Ihnen zu Haus in Preußen haben s’ ja gar nichts Anderes zu trinken, sagt unser Schullehrer.“
Der Jäger zuckte mit den Achseln und wies die Flasche zurück, welche Ambros sofort an den Mund setzte und bis auf einen kleinen Rest leerte. „Na, meinetwegen,“ sagte er, „mir kann’s recht sein, es thut halt Jeder nach seinem Brauch! Aber mir kommt’s vor, als wie wenn Sie a bissel harb war’n? Es verdrießt Ihnen wohl der schlechte Weg, den wir haben machen müssen? Aber Sie haben ja verlangt, daß ich Ihnen auf die Gamsjagd führen solle! Da hat man’s net am Schnürl, da muß man so ’was schon mit in den Kauf nehmen! Das kann Jedem g’scheh’n, daß er sich a mal versteigt, und die Gams haben halt auch ihren eigenen Brauch, daß sie zuhöchst droben in denen Steinfelsen logir’n und daß man sie net in der Ebnet’ mit der Schlafhaub’n todt werfen kann wie die Hasen.“
„Wie kommst Du darauf?“ erwiderte Günther. „Ich habe mich nicht beklagt und hab’ es auch nicht anders verlangt, obwohl es mich allerdings bedünken will, daß diese halsbrecherische Tour vielleicht nicht nöthig gewesen wäre, und daß Du Dir vielleicht nur den Spaß gemacht hast, meine Kraft und Ausdauer ein bißchen auf die Probe zu stellen.“
Er mußte ziemlich nahe an die Wahrheit gestreift haben, denn über das Antlitz des Burschen flog ein verräterisches Roth; weit entfernt aber, sich dadurch beirren zu lassen, rief er lachend [610] aus: „Warum net gar! Bin ich denn nicht selbst mitgegangen, Herr Günther, und noch dazu voran? Sie werden doch net denken, daß ich Sie zum Spaß irgendwohin führ’, wo’s g’fährlich ist? Es thät’ ja meinen Hals auch kosten, und das werden S’ auch glauben, daß mein Leben für mich g’rad’ so viel Werth hat, wie das Ihrige. Es giebt wohl ein’ anderen Weg, aber ich hab’ ihn in denen Steinfelsen verloren und mich nimmer zurecht g’funden, weil eben einer ausschaut wie der andere. Aber jetzt, jetzt kenn’ mich wieder völlig aus! Gleich da vorn ist der Hauptkamm, und wenn wir da net ein Rudel Gams aufsprengen, müßt’s mit’m Teufel zugehen. Es is gut, wenn wir unsere Stutzen zuvor herrichten … derweil aber gehen S’ da nach der anderen Seit’n ein bissel vor und schaun S’ in’s andere Thal ’nunter. Da liegt die Blümelalm, die zum Funkenhauserhof g’hört. Vielleicht g’fallt Ihnen die Aussicht, daß Sie doch einen Augenblick rasten mögen …“
Dem Winke folgend, trat Günther an die andere Seite des Berggrates, der, unbewachsen und nur aus festem Gestein bestehend, sich eine ansehnliche Strecke ziemlich breit und bequem dahinzog, und blieb mit einem Ausruf der Ueberraschung am Rande stehen. Auch hier fiel das senkrechte Geschröf in beträchtlicher Tiefe ab, gegenüber stieg ein breiter, felsiger Bergrücken von gleicher Höhe und Schroffheit empor, und zwischen beiden in einem weiten, aber nicht sonderlich tiefen Kessel lag, wie ein Garten in seiner Umzäunung, ein herrlicher, grüner Rasenteppich eingebettet und ausgebreitet, auf welchem hier und da ganze Gruppen von Feldblumen gleich rothen und blauen Stickereien leuchteten und die Sennhütte mit ihrem grauen, steinbelasteten Dache hervorsah wie ein mattes Juwel. Es war ein so stilles, liebliches Thal, als wäre es absichtlich versteckt und von den Bergen wie von Mauern umgeben, damit das Glück einen sicheren Ort habe, wo es heimisch bleiben könne und in den nichts von außen einzudringen vermöge, es zu stören oder zu verscheuchen. Die Hütte mitten im Grün, sammt den durch die weite Entfernung wie zu winzigem Spielzeug verkleinerten Heerden, bot ein ungemein anmuthiges Bild, und das Gebimmel von den Halsglocken und Schellen der weidenden Thiere klang in so eigenthümlichem und doch melodischem Gewirr herauf, daß das Ohr mit gleichem Entzücken lauschte, wie das Auge gefällig an dem reizenden Anblick hing.
„Einzig! Wundervoll!“ rief Günther. „Einzig in der That! Ein solcher Anblick belohnt für alle Mühe und macht jede Anstrengung vergessen, und wenn sie noch gefährlicher und halsbrecherischer gewesen wäre, als der Weg über die schieche Wand! Eine Idylle, an der nichts auszusetzen ist!“
„Ja, ja,“ sagte Ambros, der hinzugetreten war, „die Blümelalm ist gar net übel, aber daß nichts daran ausz’setzen wär’, dasselbige könnt’ ich doch net sagen. Das Dach braucht schon bald Neulegen, und wenn am Stall net nachg’holfen wird, so druckt’s im nächsten Winter der Schnee ein, und wie’s etwan mit der Dielen beschaffen ist, das weiß ich net.“
Um Günther’s Lippen zuckte ein starkes Lächeln, doch war er artig und gewandt genug, es rasch zu unterdrücken, wenn auch nicht so schnell, um es vor Ambros zu verbergen, dem es wieder roth in’s Gesicht stieg. „Du hast mich nicht recht verstanden,“ sagte er. „Ich meinte, die Sennhütte im Thal da unten sehe aus wie gemalt oder wie es in den Büchern geschrieben steht.“
„Von den Büchern weiß Unsereiner nichts,“ erwiderte Ambros finster und trotzig. „Dazu hat ein Bauer keine Zeit.“
„Warum nicht?“ entgegnete Günther, indem er sich auf der Schneide des Felsgrates niedersetzte und ein Buch aus der Tasche zog. „Ich habe viele Bücher und lese viel und bin doch auch ein Bauer.“
„Wollen Sie mich wieder einmal foppen?“ sagte Ambros mit scheelem Blick entgegen. „So seh’n ja die Bauern aus und haben g’rad’ solche feine, weiße Hand’ln!“
„O, die hab’ ich auch nicht immer,“ erwiderte Günther lachend, „ich habe eben längere Zeit keine grobe Arbe’t mehr verrichtet, aber ich habe sie schon alle gethan. Ich muß einmal das Gut meiner Mutter übernehmen, darum habe ich mich zum Landwirth oder Oekonomen oder Bauer ausgebildet und bin drei Jahre auf der Schule gewesen.“
Ambros lachte noch wilder und unmuthiger als zuvor. „Das giebt’s net bei uns,“ sagte er. „Unsere Schul’ ist der Stadel und der Stall und der Acker.“
Günther hatte inzwischen das Buch geöffnet, einen Stift hervorgezogen und fing an, mit flüchtigen, sicheren Linien das Alpenthal zu seinen Füßen zu skizziren. „Ich gebe zu,“ sagte er während dessen, „daß es jetzt so bei Euch sein mag, aber es muß darum nicht so sein und wird nicht immer so bleiben. Auch Ihr werdet dazu kommen und werdet einsehen lernen, daß derselbe Zweck auch mit anderen Mitteln und noch dazu leichter erreicht werden kann.“
„Hören S’ mir auf mit dem G’red’!“ unterbrach ihn Ambros zornig. „Das wissen wir schon lang, daß Sie g’scheidter sind als wir dummen Baiern, aber Alles müssen S’ doch auch net besser wissen wollen. Im Baiernland, da ist der Bauer der Herr, und so lang man denkt, ist der Ackerbau unser Stolz g’wesen. Bei Ihnen daheim kann’s freilich anders sein, Sie haben ja nichts als Sand. Bei unserm Boden braucht’s die Nothkünsten net, die in Ihren Büchern steh’n.“
Günther erwiderte nichts. Er wußte, daß die schon hie und da flüchtig berührte Saite immer einen Mißton vernehmen ließ, und schien so in seine Zeichnung vertieft, als ob er den Zornausbruch des Burschen gar nicht vernommen hätte. Darüber trat eine augenblickliche Stille ein. Man hörte den heiseren Ruf eines Geiers, der hoch über den Felsen dahinschwebte; man vernahm das Rauschen des Ostwindes, der im Thale drunten die Tannenwipfel schüttelnd beugte, mit dem Rauschen trug er den Gesang einer weiblichen Stimme deutlich zur Berghöhe hinan.
Ueber das Antlitz des jungen Mannes flog rasche, freudige Bewegung. „Was ist das?“ fragte er. „Das ist ja, wie wenn gesungen würde? Das ist wohl gar –“
„Das ist wohl ein G’sang,“ sagte Ambros, „der kommt von der Blümelalm. Sehen S’ dort, unter der Thür, vor der Hütten sitzt die Sennerin und singt.“
Bis an den Rand vortretend, nahm er jetzt den Hut ab, schwang ihn über dem Kopfe und stieß einen langgezogenen, kräftigen Juhschrei aus; die Sennerin unten horchte auf und blickte in den Höhen rasch umher, dann hob sie ebenfalls den Hut in die Höhe und ließ als Gegengruß ihren Juchzer ertönen, der so klar und melodisch heraufklang, wie das halbverwehte Läuten einer reingestimmten Glocke.
Günther stand hastig auf und klappte sein Skizzenbuch zu. „Das ist die Toni,“ sagte er, „ich erkenne sie an der Stimme. Wir wollen eilen, zu ihr hinunter zu kommen. Wo führt wohl der nächste Weg hinab?“
„Oho!“ rief Ambros, den Gefährten seitwärts mit bedenklichen Blicken musternd. „So genau kennen Sie die Stimm’, daß Sie s’ nach Jahr und Tag wieder kennen? Freilich ist’s das Funkenhauser Tonerl, aber net Toni, Herr Günther, so vornehm geht’s net ’runter bei Bauersleuten. Wir kommen schon hinunter zu ihr; da müssen wir noch einen weiten Bogen machen durch ’n Wald und haben immer noch ein paar Stündeln.“
„Ei, es wird doch einen näheren Weg geben!“ rief Günther unwillig.
„Den giebt’s schon,“ sagte Ambros, „gleich da durch das G’stein über die Wand ’nunter; aber der ist net viel besser, als der über die schieche Wand, und es wird wohl net gar so sehr eilen, Herr Günther – Sie vergessen ja auf einmal ganz auf die Gamsen.“
„Das nicht,“ erwiderte Günther, der sich bemühte wieder völlig unbefangen zu scheinen, „aber mit dem Irregehen haben wir uns verspätet, und ich fürchte, es möchte schon zu spät sein für die Jagd. Du weißt ja, daß auch meine Mutter und meine Schwester mit der Bäuerin in die Sennhütte heraufkommen; sie müssen bald hier sein, und wir dürfen eilen, wenn wir nicht zu spät kommen wollen.“
„O, so g’schwind geht das net,“ entgegnete Ambros. „Vor Mittag kommen die net herauf.“
„Ist denn der Weg so weit oder so anstrengend? Dann wird es meiner armen Schwester übel ergehen.“
„Der Fräul’n Wine?“ fragte Ambros rasch. „Nein, für die hab’ ich schon g’sorgt. Für die hab’ ich die braune Stuten, die Lies, herg’richt’t, das is ein lammfrommes Thier und hat einen Gang wie eine Sänften. Ich hab’ einen Sattel und Decken hinaufg’schnallt, da kann sie d’rauf sitzen. Der Geisbub’ führt das Roß am Zügel, und so kommt sie ’rauf, sie muß gar net wissen, wie.“
[611] Lächelnd stand Günther vor Ambros, sah ihm in’s Gesicht und streckte ihm dann die Hand zum Einschlagen entgegen. „Du bist ein rechter Trotzkopf,“ sagte er, „ein widerhaariger Bursch. Ich sollte Dir eigentlich böse sein, weil Du mich erst in der Irre herumführst und nun mir nicht einmal vergönnen willst, auf dem kürzesten Wege nach der Almhütte zu kommen und die Toni zu sehen, mit der ich, wie Du weißt, noch gar nicht zusammengetroffen bin. Aber wenn ich dann wieder sehe, wie herzlich Du für meine kranke Schwester sorgst, dann erkenne ich wieder Dein gutes Gemüth und kann Dir nicht gram sein. Es ist nur schade, daß wir immer mit einander zanken müssen, so oft wir zusammen kommen.“
Zögernd nahm Ambros den Handschlag des jungen Mannes an und sah ihm unschlüssig in’s Gesicht. Er wußte nicht, ob er dessen Rede als Spott annehmen solle oder als wirklichen Ernst; ehe er sich aber auf eine Antwort besonnen hatte, riß er sich los, denn hinter den Felsen hervor ertönte plötzlich ein kurzer, eigenthümlich gellender Pfiff. Im Augenblicke hatte Ambros sich gewendet, den Stutzen ergriffen und gespannt und lag schußfertig auf dem einen, gebogenen Knie da. „Machen Sie’s auch so!“ rief er mit unterdrückter Stimme seinem Begleiter zu. „Das ist ein Gamspfiff; da ist der Rudel aufg’scheucht worden, und die Wacht hat das Zeichen ’geben. Es sollt’ mich wundern, wenn uns nit ein Bock in’ Schuß rennt … Ich mein’, ich hör’ schon ’was trappen …“
Wirklich ließ sich ein immer näher heranpolterndes Geräusch vernehmen, und wie vom Sturmwind getragen, kam eine Gemse aus den Steinklippen hervor und in mächtigen Sätzen den Felsgrat entlang an den beiden Schützen vorüber. Ambros als der Vorderste wollte sich die gute Gelegenheit nicht entgehen lassen: der Schuß knallte aus seinem Rohr; aber sei es, daß er nicht genügend gezielt, oder war seine Hand unruhig gewesen – noch durch den Rauch sah er das flinke Thier entspringen. Im Moment aber, als wäre es der Wiederhall des ersten Knalles, krachte der Schuß auch aus Günther’s Gewehr – die Gemse hielt zurückprallend im Laufe ein, stieg mit den Vorderfüßen bäumend in die Höhe und plumpte dann, sich überschlagend, auf den Rücken nieder. Klappernd schlug sie noch ein paar Mal mit den Läufen auf den Felsgrund und verendete.
Ambros hatte sich erhoben und stand vor Verwunderung noch unbeweglich, als Günther bereits neben das gefallene Wild getreten war und es betrachtete. „Ein schönes Thier,“ sagte er. „Es ist beinahe schade, daß wir Menschen so hoch heraufsteigen und uns so viel Mühe geben, es seiner Freiheit und seines Lebens zu berauben.“
„Ah, wem wird denn so was einfallen!“ sagte Ambros, nun ebenfalls näher tretend. „Deswegen ist ja das Wildpret da, daß man’s schießt, und wenn man sich plagt, muß man doch auch was davon haben. Aber das ist ein Capitalbock,“ fuhr er fort, indem er das Thier mit dem Fuße bei Seite schob. „Und wie ihm die Kugel in der Weichen sitzt! Ein Jäger hätt’ ihm den Flankenschuß in der Flucht nicht besser hinsetzen können. Um den Schuß bin ich Ihnen fast neidig.“
„Das ist eben nichts Besonderes,“ sagte Günther gleichgültig. „Dazu gehört nichts als ein sicheres Auge, eine feste Hand und einige Uebung, beide an’s Zielen zu gewöhnen. Bei uns in Preußen, wo Jeder Soldat sein muß, lernt auch Jeder mit dem Gewehr umgehen und auf die Scheibe schießen. Aber was soll nun mit dem Thiere geschehen?“
„Ja,“ sagte Ambros, sich hinter den Ohren krauend, „da ist guter Rath theuer! Da kann’s nit liegen bleiben. So hoch es herauf ist, würden es die Füchs’ doch bald wittern und vor allen die Geier, und um den Bock bis auf die Blümelalm mitzuschleppen, das wär’ doch ein gar zu großes Stück Arbeit … Aber da fallt mir eben ein, daß da unten im Wald die Holzknecht’ arbeiten. Zu denen will ich ihn ’nuntertragen; die können den Bock Abends heimschaffen, wenn s’ Feierabend machen. Ich komm’ bald wieder. Sie müssen sich nur die Zeit nit lang wer’n lassen, Herr Günther, – oder,“ fuhr er zögernd und wie sich besser besinnend fort, „vielleicht könnten Sie gleich mitgeh’n! Unser Wildpret haben wir jetzt, und da könnten wir auch auf dem Weg auf die Blümelalm geh’n …“
Günther fühlte sich angenehm berührt, als der Bursche den Vorschlag machte, ihn allein zu lassen; ein flüchtiger Gedanke ging ihm durch den Sinn, er bemühte sich aber, die Bewegung zu bemeistern und völlig ruhig zu scheinen. „Es ist ganz gut so,“ sagte er. „Ich will aber doch lieber hier bleiben und Dich erwarten. Ich fühle erst jetzt, daß ich doch etwas ermattet bin und mir beim Sprung den linken Fuß ein wenig geprellt habe. Die Sohlen brennen mir, und es ist, als ob der Knöchel anfangen wollte, zu schwellen. Ich will hier sitzen bleiben und meine Zeichnung fertig machen.“
Ambros sah ihn wieder mit seinen bedenklichen Seitenblicken an. Es war, als erriethe er, welche Gedanken seinem Gaste durch den Kopf gingen. „Das ist doch merkwürdig,“ sagte er, „daß das so auf einmal und hinterher kommt! Wenn Sie nur das Warten net verdrießt! Es kann eine hübsche Zeit dauern, bis ich die Leiten ’nauf und ’nunter gestiegen bin.“
„Das schadet nicht,“ entgegnete Günther im unbefangensten Tone. „Desto länger kann ich mich ausruhen, und wenn mich ja die Langeweile überkommen sollte, so kann ich auch vorausgehen. Ich werde wohl den Weg in die Alm hinunter selber finden können? Du darfst mir nur sagen, in welcher Richtung ich gehen soll.“
„Ja, das is wahr; da haben Sie Recht,“ entgegnete Ambros mit einem lauernden Blicke, der das Gegentheil von dem enthielt, was seine Worte sagten. „Der Weg ist auch gar net schwer zu finden. Wenn Sie dort hinter der Steinklippen, wo der Bock für’kommen ist, in den Wald hinein gehen, kommen S’ bald auf einen Prügelweg. Dem gehen S’ nach, bis Sie an einen Bildstock kommen, der steht mitten im Wald auf einer Blößen unter einer großen Buchen. Von dort geht ein Straßl links; dem gehen S’ nach: dort laßt Ihnen nimmer aus, bis Sie auf die Blümelalm kommen.“
Der junge Mann erwiderte nichts; er nickte nur, nahm, wie zuvor, mit seinem Skizzenbuche auf dem Felsenrande Platz und schickte sich an, weiter zu zeichnen. Ambros hatte bald die Gemse auf den Rücken geladen, schielte aber während des Bückens immer nach seinem Gefährten hinüber.
„Ich will Ihnen anschreien, wenn i komm’,“ sagte er.
„Thu’ das!“ antwortete Günther. „Anschreien oder lieber noch ansingen! Ich höre das gar so gerne, und Du könntest auch beim Gehen etwas singen. Es klingt gar so gut, zumal aus der Entfernung.“
Ambros lachte listig in sich hinein und schritt ohne Erwiderung hinweg. Bald war er in dem Felseneinschnitt verschwunden, und bald hallte seine Stimme von unten immer ferner und ferner herauf. Er sang:
„Senderin, Senderin,
Denkst no an mi’?
Laß Dir nix plauschen für!
Bal’ i nit ’s Leb’n verlier,
Senderin, Senderin,
Kimm’ i zu Dir.“
„Deandl, mei’ Deandl, sag’:
Hast frischen Mueth?
Bal’s D’ mir an Andern magst
Und mi nit z’ersten fragst,
Deandl, mei’ Deandel, z’nach
Geht’s Dir nit guet.“
Eine geraume Zeit saß Günther völlig ruhig, anscheinend nur mit seiner Zeichnung beschäftigt, doch horchte er aufmerksam, wenn es auch nicht den Worten galt, die ihm doch nicht völlig verständlich klangen. Auch das Singen selbst war es nicht, was ihn anzog, wohl aber dessen immer schwächeres Verhallen, weil es bewies, daß der Singende sich immer weiter und weiter entfernte. Jetzt war der Gesang nur noch ganz schwach zu hören; jetzt verstummte er völlig, Ambros mußte also im Walde am Fuße der Wand angekommen sein. Gemächlich klappte Günther sein Zeichenbuch wieder zu und erhob sich, und nicht die mindeste Beschwerde verrieth etwas von den Schmerzen und dem Ungemach am Fuße, worüber er erst kurz vorher geklagt hatte. Rasch und gelenkig warf er Rücksack und Büchse über die Schulter, trat an den Rand der Schneide vor und blickte über das Gestein in die Matte hinunter, aus welcher ihm die Blümelalm zuwinkte.
„Ich wette meinen Kopf,“ sagte er für sich hin, „der Bursche hat etwas von meinem Vorhaben gemerkt und hat mir ganz gewiß den falschen Weg gesagt. Wenn ich ihm folge, mache ich sicher einen Umweg von ein paar Stunden … Aber sagte er [612] nicht auch, daß ein Pfad hier gerade durch die Felsen hinunterführe? Richtig, dort zwischen den Steintrümmern zieht es sich deutlich hinunter, wie das ausgewaschene Rinnsal einer Quelle. Es geht zwar etwas steil hinunter, und der Bergstock wird tüchtig herhalten müssen … Gleichviel! Ich wage es auf eigene Gefahr; ich will nicht umsonst an der schiechen Wand herumgestiegen sein und will zeigen, daß ich das Klettern gelernt habe. Jedenfalls bin ich ein Stündchen früher an Ort und Stelle als Alle.“ Während dieses halblauten Selbstgespräches war die Absicht auch zum Theil schon ausgeführt und Günther in vollem Herabsteigen begriffen.
Unten auf der Blümelalm war Tonerl indessen schon lange geschäftig gewesen, ihre Hütte, wie sie es nur vermochte, auf das Schönste und Beste auszuschmücken. Sie hatte Tannenzweige vom nahen Walde geholt und zu einem Gewinde gebunden, das sich über der Thür gar stattlich ausnahm. Das holzgebretterte Stübchen mit dem Heerde war zwar schon lange gefegt und gereinigt, daß die weißen, leicht gebräunten Fichtenbretter so blank aussahen, wie eine reingescheuerte Tischplatte. Dennoch fand das Mädchen immer noch etwas zu säubern und zu putzen. Mit einem aus rothem Haidekraut zusammengebundenen Besen ward jedes Stäubchen von dem Crucifix in der Ecke, sowie von den gemachten Blumenbüschen darunter und von den paar Bildern an der Wand abgekehrt, die Milchgeschirre und Schüsseln wurden von ihrem Platze genommen und wieder und wieder zurecht gerückt. Es war ein guter Ableiter für ihre Ungeduld, daß eine kranke Kuh, die ihrer Pflege bedurfte, sie nöthigte, manchmal im Stalle nachzusehen; so oft sie aber nur konnte, trat sie unter die Thür, um nach allen Seiten zu spähen, ob noch Niemand von den erwarteten Gästen sich blicken lasse. „Ich schau’ mir fast die Augen aus dem Kopf heraus,“ murmelte sie, „es kommt halt immer nichts! Es wird doch nichts dazwischenkommen sein? Das wär’ eine dumme G’schicht’.“ Dann kehrte sie unmuthig wieder zurück und trat an den Heerd, wo Holz und Kessel schon zurecht gemacht waren, um für die Gäste zu kochen, und fing in der Unruhe ihres Gemüthes wieder an, das Holz durcheinander zu stören, um es dann wieder anders aufzurichten. Sie hatte sich so sehr auf die Ankunft der Fremden gefreut, und die Freude war ihr arg in den Brunnen gefallen, denn am Tage nach dem Eintreffen des Anmeldebriefes hatte die Dirne, welche als Sennerin auf der Blümelalm war, einen gefährlichen Fall gethan, und die Bäuerin, welche den werthvollen Platz mit der großen Heerde nur einer ganz verlässigen Person anvertrauen wollte und im Hintergrunde ihrer Gedanken wohl auch noch andere Gründe haben mochte, hatte für gut gefunden, die Tochter auf die Alm zu schicken, um die Sennerin abzulösen. Wenn sie es auch nicht gern that, war Tonerl doch nichts übrig geblieben, als zu gehorchen, und so kam es, daß sie die preußischen Sommergäste, die einige Tage später eingetroffen waren, noch gar nicht zu Gesicht bekommen hatte. Das war ihr auf die Dauer um so ärgerlicher geworden, als es zu Anfang der Woche war und sie nicht hoffen durfte, daß vor Ende derselben Jemand heraufkommen und ihr Nachricht bringen würde; darum war es ihr eine doppelte Freude gewesen, als in den letzten Tagen der Bub zum Abtragen heraufgestiegen kam und ihr die Botschaft brachte, sie sollte Sonntags nicht hinunterkommen, die Bäuerin wolle mit den Fremden heraufsteigen und den ganzen Tag auf der Alm zubringen.
„Ja, ja – es wird schon so sein, wie ich sag’,“ rief sie, indem sie wieder aus der Thür trat und sich auf der Gräd’ niedersetzte. „Die Preußischen haben net aus den Federn gekonnt, sonst müßten sie schon lang’ da sein. Wenn man net gar kriecht, wie die Schnecken, ist man in drei Stunden heroben, und jetzt muß’s schon stark auf Neun geh’n; der Schatten vom Gamskogel legt sich schon fast bis zur Hütten herüber.“
Verstummend stützte sie den Kopf in die Hand, es war, als wolle sie ihren eigenen Gedanken und den Regungen ihres Herzens lauschen, und sie wußte selber nicht, wie es kam, daß sie mit einem Male zu singen anfing, zwar anfangs nur leise, wie man vor sich selber hinsummt, dann aber immer lauter und bald mit voller Stimme; es war, als ob ihr mit dem Singen ein Stein vom Herzen fiele, und als ob gerade das Singen die Zerstreuung wäre, deren sie in ihrer Stimmung bedurfte. Plötzlich unterbrach sie sich aber, denn von der Bergschneide gegenüber hallte ein Juhschrei herunter. „Der Ambros!“ sagte sie hastig vor sich hin und grüßte und juchzte entgegen, wie es ihr noch selten so freudig und laut aus der Kehle gegangen war. „Es ist noch wer bei ihm,“ sagte sie wieder für sich. „Das kann wohl kein anderer Mensch sein, als er …“ Sie wußte wieder nicht, wie es kam, aber sie fühlte, daß es ihr siedend heiß über Wangen und Nacken lief, und in die Kniee kam es ihr wie ein plötzliches Zittern und eine Schwäche, daß sie wieder auf der Gräd’ zusammenkauerte. Im Herzen aber wollte es ihr mit einem Male so unruhig werden, daß sie mit beiden Händen nach der Stelle fuhr und sich zugleich schüchtern umsah, als fürchte sie, von irgend Jemandem belauscht zu werden. „Wie g’schieht mir denn?“ fragte sie sich selbst. „Warum ist mir denn so eigen? Ein Glück, daß Niemand da ist! Wenn mich Jemand so seh’n thät’, der müßt’ wahrhaftig glauben, es wär’ nimmer richtig mit der Funkenhauser Tonerl, und das ist ja doch wohl net wahr.“ Sie war recht froh, daß das kranke Thier im Stalle sich regte, die unangenehme Selbsterforschung unterbrach und sie zwang, sich auf Augenblicke mit anderen Dingen zu beschäftigen. Sie vergaß darüber das Warten und die Ungeduld des Wartens; aber das währte nicht lange, und kaum war das Geschäft vorüber, als das Alles mit doppelter Stärke wieder über sie zurück kam und sie wieder unter die Hüttenthür trieb. Darüber gewahrte sie nicht, daß Günther vom Walde eilend herangekommen war, und als er mit lautem, fröhlichem „Grüß Gott!“ auf dem Rasenplatz vor der Hütte ihr gegenüber trat, stand sie vor ihm athemlos und rathlos, ein vollendetes Bild des Schreckens.
„Wie, Toni,“ sagte er lachend, „komm’ ich Dir so sehr unerwartet, daß Du vor mir erschrickst?“
„O, ich erschreck’ net,“ antwortete sie, nach Fassung ringend. „Wenn man ein gut’s G’wissen hat, fürcht’t man sich vor kein’ Menschen. I hab’ nur im ersten Augenblick ’glaubt, es kommen Schelmenleut’.“
„Schelmenleut’?“ fragte Günther, indem er Gewehr und Waidsack ablegte. „Was ist das für ein Geschlecht?“
„Wissen Sie das net?“ sagte Toni. „Bei uns ist das Wort halt so im Brauch. Giebt’s bei Ihna in Preußen keine Schelmenleut’? Wissen S’, das sind solche Leut’, die nichts arbeiten und die nichts haben, weil sie nichts arbeiten, und weil sie nichts haben, holen sie das, was sie brauchen, wo anders her und langen zu, wo ’was zu finden ist.“
„Hm, derlei Leute giebt es leider auch in Preußen im Ueberfluß,“ entgegnete Günther. „Aber das Wort Schelm braucht man bei uns meistens in anderer Bedeutung. Man sagt z. B. von einem hübschen, muthwilligen Mädchen, wie Du bist, sie habe den Schelm im Nacken, oder der Schelm gucke ihr aus den Augen oder sitze in solchen Grübchen, wie sie sich gerade jetzt in Deinen Wangen so reizend bilden.“
„Ah, närrisch!“ rief das Mädchen, sich zum Lachen zwingend. „Was Sie Alles g’lernt haben, seit Sie aus g’wesen sind! Aber ich will doch net denken, daß Sie nur deswegen auf die Blümelalm ’kommen, um mir von derer Schelmerei z’ erzählen?“
„Nein,“ rief Günther herzlich und streckte ihr beide Hände zum Gruße hin. „Ich bin gekommen, weil ich Dir ‚Grüß Gott‘ sagen will. Sind es doch bald acht Tage, daß wir hier sind, und ich habe Dich noch nicht zu Gesicht bekommen.“
„Ja, ja, so geht’s halt,“ sagte Tonerl. „Ich hab’ auf die Alm ’rauf müssen, weil sich die Sennerin so arg erfallen hat. Es ist mir leid g’nug g’wesen,“ fügte sie etwas übereilt hinzu.
„Wirklich? Hat es Dir leid gethan?“
„G’wiß. Es ist wohl schön auf der Alm, aber manchmal ist’s halt doch gar zu einsam. Aber wie ist denn das?“ fuhr sie einlenkend fort, indem sie auf die Bank an der Thür wies, „ich muß Ihna doch einen Sitz antragen, Herr Günther – wie kommen Sie denn in mein’ Almhütten? Sind Sie denn net erst vor einer halben Stund’ da droben auf der Schneid’ g’standen, wie mir der Ambros ’runter g’juchzt hat?“
„So hast Du mich erkannt?“ rief Günther, indem er sich neben sie setzte. „Allerdings war ich da oben. Wir haben einen Gemsbock geschossen; Ambros trug ihn zu den Holzknechten hinunter und hieß mich inzwischen auf ihn warten – aber ich habe das nicht ausgehalten, so vor mir unten im Thale die Hütte zu sehen und Dich darin zu wissen; deshalb bin ich herunter, um Dich zu begrüßen, ehe die Anderen alle kommen. Wenn sie da sind, kann man das doch nicht so herzlich und so offen wie unter vier Augen.“
„Bitte, was ist das?“ wurde ich auf meiner letzten Reise tief im Innern Rußlands gefragt, und der Sprecher, ein langbärtiger Mönch, legte mir die große Moskauer Zeitung vor die Augen. Seine hagern Finger ruhten auf den beiden einzigen deutschen Worten in der Riesennummer, und diese groß und fett gedruckten Worte hießen: Ulk und Haspe.
Ich konnte dem wißbegierigen Klosterbruder nur ungenügende Auskunft über die beiden geflügelten Worte geben, die hier fern von den Gestaden deutschen Geisteslebens gleich einer Degenspitze aus dem mir noch ungeläufigen Idiom hervorzuckten. Ich wußte selbst nichts weiter, als daß sich unter dem Namen Ulk in Haspe in Westphalen eine Gesellschaft witziger Männer gebildet hatte, welche von Zeit zu Zeit durch die Kundgebungen ihrer Laune auch in weiteren Kreisen Aufmerksamkeit erregte.
Nach meiner Rückkehr auf die rothe Erde hatte ich selbstverständlich das Verlangen, mit dieser Gesellschaft – und zwar durch das Präsidium selbst – näher bekannt zu werden, als es der Mönch der schwarzen Erde durch mich geworden. Der Zug brauste vom Hagener Bahnhof ab und hielt nach wenigen Minuten an dem romantisch an der Enneper Straße liegenden Haspe, aus dessen Fabrikschloten der Rauch weithin wirbelte. Ich konnte nicht aussteigen und mich aufhalten, denn ich hatte diesmal keine Zeit dazu, ich musterte aber den Bahnhof und seine Umgebungen mit Argusaugen, um etwa den humoristischen Kopf zu entdecken, der auf die Schultern des Präsidiums des Ulk paßte. Verlorene Mühe! Der Bahnhof lag wie ausgestorben. Außer dem Mann im blauen Kittel, der den Glockenstrang hielt, um den Zug abzuläuten, sah ich nur die Gepäckschieber, sonst Niemand. Ich stimmte meine Wünsche herab. Wenn nur irgend ein verspätetes Mitglied des Ulk einstieg, so war ich schon zufrieden. Nichts! Die Tropenhitze hielt Jeden unter Dach und Fach. Nur der Rauch der Fabrikschornsteine spottete der Tagesgluth, ballte sich – so schien es wenigstens – zu humoristischen Köpfen und schnitt schadenfroh Gesichter in der Luft. Die Minute Aufenthalt war längst vorüber. Wozu hielt der Zug noch? Da wurde das Zeichen zur Abfahrt gegeben. Die Glocke läutete. Die Locomotive pfiff. Ich sank in die Kissen des Coupés zurück, und der Zug begann sich zu bewegen. Plötzlich wurde meine Coupéthür hastig geöffnet und wieder geschlossen. Ein Herr war eingestiegen.
Der Herr hatte einen sehr charakteristisch ausgeprägten Kopf. Sollte er aus Haspe, sollte er vielleicht gar ein Mitglied des Ulk sein? „Sie sind aus Haspe, mein Herr?“ frug ich nach einiger Zeit. Er verbeugte sich mit einem eigenthümlichen Lächeln, das meine Vermuthung bestärkte. „Ah Haspe, wo die Gesellschaft Ulk ihr Wesen treibt – vielleicht selbst Mitglied der Gesellschaft?“ ging ich nach einer weitern Pause direct auf das Ziel los. Abermaliges eigenthümliches Lächeln und abermals bejahendes Nicken. Ich sah mir meinen Mann noch schärfer an. Der ist am Ende gar der Präsident des Ulk selbst! Sicher, der und kein Anderer! [614] kam es jetzt über mich wie eine Offenbarung. „Sie sind der – Präsident des Ulk!“ platzte ich heraus.
„Warum nicht!“ erwiderte er, warf den Strohhut vom erhitzten Haupte und sah mich mit seinen bebrillten, stechenden Augen prüfend an. Dann flog ein pikantes humoristisches Lächeln über sein volles, blondbärtiges Gesicht; er machte mir eine neue Verbeugung, und ich erwiderte dieselbe. Hierauf erzählte ich mein Begegniß mit dem russischen Mönch und knüpfte daran die für das Präsidium höchst überraschende Mittheilung, daß die Namen Ulk und Haspe wie zwei räthselhafte Hieroglyphen ebenso oft in den entferntesten Winkeln der schwarzen Erde auftauchen, wie die Gesellschaft auf der rothen Erde ein neues Ehrenmitglied ernenne.
„Der Mönch wußte fast mehr, als ich!“ sprach ich fort. „Er fragte mich, warum denn das ,Kind von Frankreich’ zum Ehrenpräsidenten des Ulk ernannt worden?“
„Und was erwiderten Sie?“ fragte das Präsidium.
„Ich erwiderte einfach, daß solches in Folge der Ernennung des ,Kindes’ zum Präsidenten der Weltausstellung geschehen sei.“
„Und damit gab sich doch auch der Mönch zufrieden?“ sagte das Präsidium.
„Das that er durchaus nicht!“ sagte ich. „Er fragte, warum denn das ,Kind’ für den barocken Gedanken des Vaters habe büßen müssen?“
„Und darauf hatten Sie keine Antwort?“
„Nein, ich hatte keine! Bitte, geben Sie mir jetzt dieselbe!“ sagte ich.
Da hielt der Zug in Gevelsberg, und zwar in einem für das Präsidium höchst günstigen Augenblick, denn die Antwort bedurfte wenigstens einer Minute Ueberlegung.
„Wie, Sie steigen aus?“ fragte ich das Präsidium.
„Ich habe hier einen Bau zu besichtigen.“
„Bitte, laden Sie mich so bald als möglich zu einer Sitzung des Ulk ein. Hier ist meine Karte.“
„Soll gern und soll bald geschehen!“
Mit diesen Worten verschwand das Präsidium, und der Zug brauste weiter. –
Einige Tage später erhielt ich folgenden Brief: „Es wird mich recht freuen, wenn Sie mich morgen früh mit Ihrem Besuch beehren wollen. Wie ich aus Ihrem Briefe sehe, beabsichtigen Sie mit dem zweiten Zuge weiter zu reisen; sollten Sie hiermit den Zug, der um neun Uhr hier durchkommt, meinen, so mache ich Sie darauf aufmerksam, daß dieser Zug, der in Hamm den Berliner Schnellzug erreicht, hier nicht anhält. Wenn Sie Ihr Gepäck mit dem ersten Zuge bis Hagen durchgehen lassen, so können Sie den zweiten Zug in Hagen nur dadurch erreichen, daß Sie den Weg von hier bis dahin (eine halbe Stunde) zu Fuß machen, in welchem Falle ich Sie begleiten werde.
Ich hoffe, Sie werden länger Zeit haben und bis zum Zuge zehn Uhr und siebenzehn Minuten hier bleiben können.
Ich fuhr denn an dem betreffenden Tage mit dem Frühzug nach Haspe. Das Städtchen lag sonntagstill da. Ich glaubte, auf dem Bahnhof vom Ausschuß des Ulk, oder doch vom Präsidium, empfangen zu werden, aber Niemand hatte sich zu meinem Empfange eingestellt. Eigenthümliche Gedanken durchkreuzten meinen Kopf. Mir war vor etlichen Tagen, und zwar von wohlunterrichteter Seite, mitgetheilt worden, daß schon Mancher, der den Ulk in Haspe sehen wollte, froh gewesen, mit einem blauen Auge wieder davongekommen zu sein. Selbst nach einem höflich abgefaßten und rechtzeitig eingegangenen Einladungsschreiben war doch das Endresultat nur eine „lange Nase“ gewesen. War doch ganz Hagen schon einmal – wie mir wohlbekannt – vom Ulk in’s Bockshorn gejagt worden.
Als sich nämlich der Riese Murphy in Elberfeld zeigte, wollte eine Schauspielertruppe in Hagen ihn ebenfalls fehen lassen. Der Riese aber meinte, es lohne sich nicht, die Siebenmeilenstiefel zum Zurücklegen einer so undankbaren mikroskopischen Entfernung anzuziehen, und sagte ab. Da kündigte plötzlich die Gesellschaft Ulk in Haspe an, daß sie den Riesen Murphy zu einem Besuch bewogen habe. Das große Hagen ärgerte sich über das kleine Haspe, dennoch strömten die Hagener schaarenweise nach der Metropole des Ulk. Der Ausstellungssaal war überfüllt. Jeder harrte gequetscht und schwitzend der Dinge, die da kommen sollten. – Der Vorhang rollte in die Höhe, – und was war zu sehen? Ein Paar auf einer Leiter stehende Riesenstiefel, daraus ein Paar riesige ausgestopfte Hosenbeine in eine Draperie emporragten. Der Riese selbst könne sich nicht sehen lassen, weil die geringe Höhe des Saales ihn daran hindere – so mußten sich jetzt die Hagener in die Ohren raunen lassen. – Ein Anderer, der aus weiter Ferne gekommen, um den Ulk „à tout prix“ zu sehen, soll in die Höhlen des Uebergangskalkgebirges bei Haspe und Milspe gelockt und hier bei vollkommener Finsterniß von einer satanischen Katzenmusik empfangen worden sein. – Noch ein Anderer hatte in Haspe den Ulk nirgends finden können und mußte, nachdem er „von Pontius zu Pilatus“ geschickt worden, dürstend und müde wie ein gehetzter Hirsch wieder abziehen, denn überall, wo er sich etwas für seinen bellenden Magen geben ließ, bekam er Ungenießbares.
Solche und ähnliche Bilder, besonders das geheimnißvolle: „Hast Du meiner Mutter Schlafmütze nicht gesehen?“ – „Nein, ich habe Deiner Mutter Schlafmütze nicht gesehen!“ welches mit der Virtuosität des Spottvogels in allen Tonarten, oft an öder Stelle am Felsenpfade, von einem Mitgliede oder einer ganzen Abtheilung des Ulk variirt wird, beschäftigten lebhaft meine Phantasie, als ich einsam wie ein Grenzpfahl vor dem Wirthshause stand, welches dem Hasper Bahnhof gegenüberliegt.
Die Wohnung des Präsidiums war mir von einem Elberfelder Schriftsteller, einem geheimen Mitgliede des Ulk – so vermuthete ich – als am oder im Hasper Bruch gelegen bezeichnet worden. Das Präsidium sollte auch Schmidt heißen, ein verfänglicher Name! Ich hatte einfach an den Vorstand der Gesellschaft Ulk adressirt und vom Vorstande Antwort erhalten. Da kam ein kleines Mädchen des Weges; es war im Sonntagsstaat und lächelte wie der junge Frühling.
„Mein Kind, wo wohnt hier Herr Schmidt?“ fragte ich.
Das Kind zeigte in verschiedenen Richtungen zu den Hasper Dächern empor und sagt: „Da und da und da wohnt ein Herr Schmidt.“
Hm! wenn das Präsidium einen Namen trug, der einer Unsumme von Erdenbewohnern anklebt, mußte ich doppelt vorsichtig sein. Ich wagte eine für das Kind allzu gelehrte Frage.
„Ist nicht ein Herr Schmidt Vorstand der Gesellschaft Ulk?“
„Ja, der Baumeister Schmidt am Hasper Bruch!“ antwortete das Mädchen rasch und machte große, helle Augen.
„Kind, das ist der richtige. Zu diesem Schmidt führe mich!“
Es geschah. Ich trat nach längerer Wanderung in ein geschmackvolles Haus, das entweder einem Baumeister gehören, oder doch von einem Baumeister mit ganz besonderer Sorgfalt herausgeputzt sein mußte. Mit der einen Seite lächelte es in einen hübschen Garten hinein, und mit der andern grüßte es zu den bewaldeten Höhen empor.
Das Präsidium war abwesend; es war nach dem Bahnhof gegangen. Wir hatten uns also verfehlt. Zur Strafe dafür mußte die Spitze der Gesellschaft Ulk in der Tropenhitze einsam heimwandern, und ich mußte bis zu ihrer Rückkehr mit furchtbarer Nüchternheit vor dem duftigsten Kaffee, den ein Menschenkind bereitet, lechzend sitzen. Ha, da erschien er in der Thür, der lächelnde humoristische Kopf, und bot die Hand zum Gruß. Er ließ sich und mich keinen Augenblick länger auf das Köstlichste warten, was es nach ausgestandener Drangsalshitze für einen Nüchternen Magen giebt, und bald sprudelte der duftende Trank Arabiens in die großen geblümten Tassen. Erst als eine hinreichende Anzahl von festlichen Kuchenschnitten das Zeitliche gesegnet und der Weihrauch der Havanna mit dem Duft des Mokka emporstieg, ging das Gespräch, welches anfangs nur in abgerissenen Sätzen mit Pantomimenbegleitung gepflogen wurde, in eine fesselndere Unterhaltung über.
„Ich glaubte, ich würde heute einer Sitzung des Ulk beiwohnen können!“ brach ich vom Zaun.
„Gewiß, sogar einer Ausschußsitzung! Belieben Sie sofort?“
„Ja, sofort, wenn ich bitten darf!“
Der Präsident erhob sich, näherte sich mit mir einer Thür und enthüllte eine durch eine Portière verhängte Glasscheibe. Ich sah hinein. Eine Ausschußsitzung des Ulk tagte. In einem sehr schön [615] decorirten Zimmer saßen drei Herren an einem Tische, darauf sich eine riesige Rheinweinflasche schlank wie der Straßburger Münster erhob. Neben diesem Riesenquell der Begeisterung und des sprudelnden Humors standen die mit dem goldigen Blut der Reben gefüllten Gläser.
„Mein Gott, Sie haben ja einen Doppelgänger?“ fragte ich erschreckt den Präsidenten.
Er nickte ernst und schweigend mit dem Kopfe.
An dem Tische saß wirklich eine Gestalt, die dem Präsidium glich, wie Hamlet’s Geist dem Geiste Hamlet’s. Sie sah mit den stechenden Augen, die hinter der classischen Brille lagen, an der Riesenflasche vorbei und zu einer vierten Gestalt hinüber, die an dem Tische, die Hände auf die Stuhllehne gestützt, mit einer Miene stand, mit welcher der Delinquent vor dem Richter zu stehen, pflegt, wenn dieser sich erhebt, um das Urtheil über Leben und Tod zu sprechen. Ja, diese vierte Gestalt sah nicht so heiter drein, wie das Triumvirat an der Tafel. Die ernsten Augen in dem marmorblassen Antlitz blickten zu Boden, oder senkten sich doch bis auf die Spitze des langen, langen Bartes hernieder. Die heroische, aber dabei doch unglückselige Figur legte feierlich Protest ein gegen ihre Aufnahme als Ehrenmitglied des Ulk, und ihre wahrscheinlich mit dumpfer Grabesstimme gesprochenen Worte wurden auf Befehl des Präsidenten von dem Schriftführer vermittelst einer Riesenfeder in das Manuscript der folgenden Nummer des Ulk-Kladderadatsches eingetragen. Dieses Urorgan des Humors, dieser würdige Sproß des Berliner Gelehrten-Kladderadatsches, hing in einem Exemplare einsam an der Wand, während der Berliner College kopfüber von der Tischkante herniederhing. Hinter dem Sitzungstisch prangten die von zwei Ehrenbüsten gehüteten Tafeln der Mitglieder und Ehrenmitglieder des Ulk. Ich konnte auf der ersteren nur den Namen des Präsidiums und auf der letzteren nur die Namen Wartensleben und Wantrup lesen. Wahrscheinlich folgten Eich (der vielgenannte Bürgermeister von Longerich), von Dücker (Rödinghausen), Urner, Grafe, Klug (Elberfeld), Hülsmann, Eickelberg, Löbbecke (Iserlohn), Graf Platen-Plappermund (Contrasignateur aller Ulk-Erlasse) und Knak („Sonnenschieber“ in Berlin). Rechts von dem Sitzungstisch hing an einem Hutständer der weiße angetriebene Hut jenes Bürgermeisters von Longerich; ein schwarzer Frack, aus dessen Schooßtasche eine riesige Ergebenheits-Adresse hervorragte, die Welfenhose und – ein Stück ungebrannte Asche. Auf der andern Seite befand sich die „Knakuhr“ mit festgebundenem Perpendikel.
„Ich danke Ihnen für die Ueberraschung!“ sagte ich zum Präsidium und ließ die Portière wieder über das Glas des reizenden Stereoskopbildes – es war nichts Anderes – fallen.
„Das hatte ich Ihnen zugedacht, weil in der Tropengluth des Sommers der Ulk nicht in corpore tagt. Nehmen Sie das Bild zur Erinnerung mit nach Berlin.“
Ich dankte und bat dann das Präsidium, mir auch in aller Kürze die Geschichte der geheimnißvollen, in jüngster Zeit so weltberühmt gewordenen Gesellschaft mitzutheilen.
„Die ist höchst einfach,“ sagte der Präsident. „Wir constituirten uns im Herbst 1857, um die bevorstehenden langen Winterabende bei derbem Humor zu verbringen. Unsere Mitglieder vermehrten sich bald wie die Sauerstoffperlen in einem Glase abgestandenen Wassers …“
„Mit diesem Glase des erquicklichen Getränks meinen Sie Haspe?“
„Ja, Haspe und Umgegend!“
„Richtig! was weiter?“
„Wir constituirten uns parlamentarisch, und jedes Mitglied wurde nach Befähigung und Neigung einer der drei Fractionen der Gesellschaft, die in einem glücklichen Augenblick ‚Ulk‘, das heißt Spaß, getauft ward, zugewiesen. Obenan stand die Fraction U, oder der Unsinn; dann kam das L oder der Leichtsinn, und schließlich das K, oder der Kneipsinn. Wenn Sie jetzt addiren, so erhalten Sie den ULK. Die erste Fraction umfaßte die Häupter majorum gentium …“
„Oder die Gelehrten des Ulk!“ fiel ich ein. „Wieviel gab es deren?“
„Das weiß ich nicht genau,“ antwortete der Präsident nach einigen Zögern.
„Sie concentrirte sich in Ihrem Kopfe allein; das ist mir genug,“ sagte ich. „Die Mitgliederzahl der Fractionen Leicht- und Kneipsinn wünsche ich nicht zu erfahren.“
„Der Verein entschlief nach zweijährigem Bestehen Anno 1859 aus Mangel an Theilnahme,“ fuhr das Präsidium fort.
„Und nur der Kopf lebte weiter!“ betonte ich.
„Als aber die Erweckungen im Waisenhause zu Elberfeld vor sich gingen, schlief der Ulk nicht länger. Sie kennen seine Thätigkeit nach jenen ,spittelsupperlichen’ Tagen. Dixi!“
„Außer den jetzigen thätigen Mitgliedern in Haspe, deren Zahl ich nicht wissen will, weil ich, um technisch zu reden, wenig geneigte Linien nicht gern auf den Horizont reducire, hat doch der Ulk etliche feine Fühlfäden in den Metropolen Europas? Lassen Sie mich das noch wissen.“
Der Präsident nickte, statt zu antworten, so bedeutungsvoll und humoristisch mit dem Kopfe, daß ich unwillkürlich mit einem „Wir verstehen uns!“ nachnicken mußte. Dann trat ein Diener in das Zimmer und überreichte einen Brief mit der Aufschrift: „An den Vorstand der Gesellschaft Ulk in Haspe.“
Der Brief mußte sofort beantwortet werden, und während dieses geschah, that ich einen tiefen Blick in den ausgedehnten Briefwechsel des Ulk. Der Ulk correspondirte mit den berühmtesten und berüchtigtsten Gesellschaften aller Welttheile, am interessantesten jedoch mit der ‚zigeunerbraunen Schwefelbande‘ in Böhmen, deren prachtvolles Diplom mich wahrhaft entzückte. Unter allen Scripturen aber fesselte mich der Dankbrief einer bekannten Größe für Uebersendung der Ulk-Rettungsmedaille und zwar für umsichtige Rettung aus höchsteigener Lebensgefahr am meisten. –
Beim Abschiede erhielt ich aus den Händen des Präsidiums den Ulkorden. Derselbe verleiht mir unter Anderm das Recht, der Gesellschaft zur Zeit ein Ehrenmitglied vorzuschlagen. Das Siegel des Ordens hat die Größe eines sächsischen Zweithalerstücks und stellt einen Bock dar, der eine Trommel hält. Die Eule, der Vogel der Weisheit, bearbeitet das Instrument. Dabei wird der Eulenlaut hörbar oder die Siegelumschrift: UUUUUUUUULK sichtbar.
Immer wechselvoll und anregend ist das lustige Leben hier rings um uns her. Eine allgemeine Pause, einen Stillstand, der gar nichts Neues zeigt, giebt es nicht. Selbst wenn bei den meisten Vögeln die Mauser eintritt, in der sie bekanntlich nicht allein ruppig und unschön aussehen, sondern auch ihr munteres und anmuthiges Wesen verlieren, selbst dann fesseln doch noch einige unsere Aufmerksamkeit durch neue Erscheinungen.
Das Paradieswittwen-Männchen hat sein prachtvolles Hochzeitskleid angelegt; seine glänzend schwarzen Schwanzfedern, welche die Länge des übrigen Körpers doppelt übertreffen, wehen im Fluge malerisch durch die Luft. Auch der Atlasvogel hat sein tiefschwarzes Gefieder mit blauem Seidenglanz bekommen, von dem das weiße Schnäbelchen und die rosenrothen Füße gar hübsch sich abheben. Und wenn diese beiden Vogelpaare jetzt, wie es den Anschein hat, auch zu nisten beginnen, dann giebt es eine gewiß seltene und interessante Erscheinung. Kürzlich ist eine Brut der Silberfasänchen ausgeflogen und Schönbürzel, Bandfinken, Helenafasänchen und Tigerfinken haben jetzt, bereits im Angust, noch auf’s Neue gebaut; die Inseparables, Korellas und Sperlingspapageien sind ebenfalls noch im Brüten begriffen.
Dieser fortwährende Wechsel ist einerseits darin begründet, daß die einzelnen Glieder der zahlreichen Gesellschaft mannigfaltig verschiedene Heimathen haben, so daß z. B. die vielen Afrikaner sogar unter sich zu sehr abweichenden Zeiten Frühling feiern; andererseits ist als Ursache auch der Umstand anzusehen, daß viele dieser Vögel mehrere Bruten hinter einander machen und eigentlich nur eine verhältnißmäßig sehr kurze Zeit zur Erholung und Mauser brauchen.
[616] Zunächst habe ich die Leser noch auf einige kleine Einrichtungen aufmerksam zu machen, welche in keiner Vogelstube fehlen dürfen. Da in der beweglichen Gesellschaft die soeben ausgeflogenen Jungen zuweilen sehr geschüchtert werden, so daß sie voll Angst in die Winkel flattern, hier hinab und hart auf die Erde fallen, so ist es nothwendig, daß man in allen Ecken des Gemachs Falltücher anbringe. Dies sind lose und flach beutelförmig aufgespannte und befestigte Zeuglappen, welche den herabstürzenden Vogel auffangen, damit er sich nicht beschädigen, sondern ruhen und davon fliegen kann. Ein sehr großer Uebelstand ist es, wenn die Vogelgesellschaft, durch irgend etwas Ungewöhnliches erschreckt, in Entsetzen geräth und darauf in blinder Angst durcheinander tobt; dann können nur die Fang- oder Falltücher in den Ecken und die Netze vor den Fenstern viele Unglücksfälle verhindern. Wenn sich dieser Schrecken öfter wiederholt und durch einige dumme oder muthwillige Wichte wohl gar zur täglichen Gewohnheit wird, so ist es höchst nothwendig, daß man die Ursache ermittele und abstelle, weil sonst die ganze Gesellschaft in die Gefahr geräth, zu Grunde zu gehen, mindestens an Brüten und eine gedeihliche Entwickelung nicht mehr zu denken ist.
Zuweilen kommt es vor, daß die Vögel des Nachts aufgestört werden und bis zum Morgen hin wie unsinnig toben, ohne daß man eine Ahnung davon hat. Deshalb ist es nothwendig, daß man scharf aufpasse, entweder dicht neben oder zuweilen in der Vogelstube schlafe, um dergleichen bemerken und abwenden zu können. In meiner Vogelstube tobte es eine Zeit hindurch zu meiner großen Betrübniß in jeder Nacht. Erst nachdem ich eine geraume Frist beobachtet, fand ich, daß der Ruhestörer ein Indigovogel war, dessen Zugzeit wahrscheinlich gekommen und der durch ängstliches Umherflattern alle Uebrigen aufscheuchte. Er wurde natürlich sofort herausgefangen und in einen Käfig gesperrt. Um Unglück abzuwenden, ist es zweckmäßig, bei nächtlicher Störung sogleich eine große, recht hellbrennende Lampe in das Zimmer zu bringen und bis zur Beruhigung stehen zu lassen, dann aber nicht wieder hinaus zu tragen, sondern schnell auszulöschen und möglichst geräuschlos sich zu entfernen.
Eine weitere Vorsicht, die viel Unheil verhüten kann, ist die, daß man jedes Nistbauer, sowie auch die Käfige, welche zum Einfangen der Vögel dienen, stets mit zwei oder mehreren Eingängen versehe. Bevor ich diese Einrichtung getroffen, haben die Sperlingspapageien, welche sonst gar nicht böse sind, durch die vor ihnen flatternden jungen Vögel erzürnt, mehrere derselben arg gebissen.
Im Spätsommer und Herbst sammele man fleißig Distel- und andere Pflanzenwolle, Birken- etc. Schale, selbst reine Spinnengewebe und noch brauchbare Vogelnester aus Gärten und Hainen, bewahre alle diese Gegenstände an einem trockenen Orte auf und lege sie nach und nach zur Benutzung in die Vogelstube. Die wohl gereinigten Nester bringe man an passenden Orten zur Benutzung an. Ueberhaupt sind die mannigfaltigsten und oft sonderbarsten Dinge den Vögeln zum Nisten willkommen; man thut immer gut, wenn man von Spaziergängen etc. alles Mögliche heimbringt und ihnen bietet, denn andererseits wird manche Brut durch den Mangel an richtigem Nistmaterial vereitelt.
Für die kostbareren Weberarten: Orange-, Napoleonsvögel etc. habe ich künstliche Durrahfelder angelegt. In einem flachen, aber sehr geräumigen Kasten wurde der Boden mit einer Lage von feuchtem Lehm bedeckt und in diese wurden steife Getreidehalme, namentlich Strandhafer, den ich aus dem Seebade Kolberg mitgebracht, in naturgemäßer Entfernung gesteckt. Dann wurde, zur bessern Festigung der Halme, die Kiste bis fast zum Rande mit reinem Stubensand gefüllt und nun das Ganze an einer hellen Stelle so an der Wand befestigt, daß die Spitzen der Halme noch einige Fuß von der Decke entfernt sind. Mehrere Paare von derselben Art nisten in solchem Felde friedlich bei einander; für verschiedene Arten muß jedoch je ein anderer Kasten angebracht werden. Man sollte in der beschriebenen Weise recht viele Versuche machen, denn die schönen Vögel verdienen es und schon ihre Nester erregen volle Bewunderung. Ich kann noch nichts Näheres mittheilen, denn ich habe diese Nistgelegenheiten soeben erst eingerichtet.
Während der Mauser, die bei manchen dieser Vögel schon im Mai eintritt und im Allgemeinen bis zum August währt, ist es wohl zu beachten, daß an kalten Tagen das Zimmer erwärmt werden muß, falls von den zartesten, z. B. Schmetterlingsfinken, nicht mehrere sterben sollen. Namentlich ist es aber nothwendig, selbst in den schon warmen Monaten bei kaltem Wetter noch ein wenig zu heizen, wenn die Vögel in der Brut begriffen sind. Es ist eine schon mehrfach bestätigte Beobachtung, daß die Weibchen der meisten fremdländischen Vögel regelmäßig sterben, sobald während des Eierlegens eine kühle Temperatur eintritt. Oft erkrankt freilich, wie schon früher bemerkt, die zarte Mutter beim ersten Ei trotz aller Vorsicht und Pflege doch. Dann pflegt es von gutem Erfolge zu sein, wenn man ihr den ganzen Unterleib mehrmals mit erwärmtem Provenceröle bestreicht. Dabei unterlasse man es nicht, einen in das Oel getauchten dünnen Federkiel, am besten aus dem eigenen Flügel, natürlich mit äußerster Vorsicht, in die Legeröhre zu schieben und auch dies etwa dreistündlich zu wiederholen. Manche Vogelfreunde geben in diesem Falle auch öfter hinter einander ein Dampfbad, indem sie Kamillenblüthen in heißem Wasser aufbrühen, darüber ein leinenes Tuch decken und auf dieses den Vogel in der hohlen Hand so halten, daß der Kopf vor dem Dampfe geschützt ist.
Auf andere Heilversuche lasse man sich, gleichviel in einer Vogelstube oder in kleinen Käfigen, durchaus nicht ein. In der Vogelstube wirkt bereits die Freiheit so wohlthätig, daß alle Kranken bald genesen und neue Erkrankungen nicht leicht vorkommen; Herr Mieth sendet mir sogar oft in den Schaufenstern elend gewordene Vögel, in der Hoffnung, sie bald frisch und kräftig zurückzuerhalten – und dies ist auch fast regelmäßig der Fall. In den Käfigen giebt es gegen die mancherlei Krankheiten, die sich allerdings zuweilen einstellen, meistens keine Hülfe; in manchen Fällen ist noch Rettung möglich, wenn man den Patienten frei im Zimmer umherfliegen lassen kann. Erkrankte kostbare Papageien beobachte man genau und wende dann, je nach den Umständen, karge Diät, blos in Wasser geweichte und ausgedrückte Semmel mit etwas Hafer, lange anhaltend an oder man setze den Vogel gelinder Wärme und milden Sonnenstrahlen aus. Gegen eine der übelsten krankhaften Erscheinungen, das Selbstausreißen der Federn, pflegt nur mageres Futter, bis zur völligen Entkräftung, wirksam zu sein. Im Uebrigen vermeide man sorgfältig die vornehmlichsten Erkrankungsursachen aller Vögel: Zugluft, Nässe, schlechte Luft, Unreinlichkeit, sauergewordenes oder sonst verdorbenes Futter und auch vielerlei Leckereien, die in den meisten Fällen schädlich sind. –
Die beiden ersten Mittheilungen aus meiner Vogelstube (in Nr. 25 und 28 der „Gartenlaube“) haben ungemein rege Theilnahme gefunden und mir zahlreiche Briefe eingetragen, aus allen Theilen unseres großen Vaterlandes, einschließlich Oesterreichs, ja sogar von Vogelliebhabern aus Nordamerika, Rußland, Holland, aus der Schweiz, Ungarn u. s. w. Hiernach mache ich mir eine Freude daraus, die hauptsächlichsten der ausgesprochenen Wünsche und Anfragen zu erledigen. Als das Wichtigste derselben will ich zunächst eine Anleitung zur Pflege der fremdländischen Vögel im kleinen Käfige geben.
Alle die kleinen herzigen Prachtfinken beanspruchen äußerst geringe Mühe von Seiten ihrer Besitzer und vergelten diese doch in reichem Maße. Schon ein Käfig von der geringsten Größe derer für Canarienvögel ist für ein Pärchen der Amadinen vollkommen ausreichend; nur ist zu beachten, daß der Draht viel enger, höchstens drei Achtelzoll weit geflochten sein muß. Hält man die Vögelchen ohne die Absicht, sie zum Nisten zu bringen, so brauchen sie zum Futter nur ungeschälten Hirse und recht häufig Vogelmiere oder Salat; dabei halten sie viele Jahre gut aus.
Den größeren Arten gebe man unter dem Hirse auch stets Canariensamen (Glanz oder Spitzsamen). Brehm empfiehlt auch immer das beim Aussieben des Getreides zurückbleibende Scheuerngesäme. Wärme ist allen Webefinken, Webern, Wittwen und den meisten Papageien in gleichem Maße nothwendig; directe Sonnenstrahlen sucht aber in den wärmeren Monaten des Jahres keiner von ihnen auf, nur im ersten Frühlinge, im Herbst und Winter sonnen sie sich gern. Es kann daher auch keineswegs richtig sein, diese Vögel gerade an ein von der Mittagssonne beschienenes Fenster zu stellen. Wohl aber ist ihnen, den Kindern der Tropensonne, stets helles Licht Bedürfniß; an düsteren, schattigen Orten verkümmern sie und viele, z. B. Tigerfinken, verlieren in den dunkel stehenden Käfigen der Vogelhändler ihre Farbenpracht und bekommen [617] ein braunschwarzes Gefieder. Sehr interessant ist mir die Erscheinung gewesen, daß einige fast völlig schwarze Tigerfinken in meiner Vogelstube sich allmählich wieder zum schönsten Hellgelb verfärbten.
Im kleinen Käfige ist jedem Vogel frisches Wasser ein wichtiges Bedürfniß; man gebe es daher stets täglich zwei bis drei Mal. Ebenso ist möglichst oft frischer, trockener Sand, ein Talgstückchen, Sepia oder Eierschale und vornehmlich äußerste Sauberkeit noch nothwendiger, als in großen Räumen. Die Schublade des Käfigs wird mindestens wöchentlich einmal herausgenommen, nachdem sie sauber gereinigt, mit feiner, trockener Asche bestäubt und dann dünn mit Sand bestreut ist. Hat man die Schublade nicht von Holz, sondern von Zink, Eisenblech oder dergleichen, so wird das Ascheausstäuben nicht nöthig; man belegt sie alsdann stets mit einem reinen Papierblatt und streut darauf den Sand. Dieser letztere darf für die kleinen Käfige nicht in bloßem Stubensande bestehen, sondern muß etwa zum sechsten oder achten Theile mit reiner, nicht gedüngter, schwarzer Gartenerde tüchtig vermischt und dann durch einen Durchschlag gesiebt sein. Für die Vogelstube ist dies nicht nöthig, da die Vögel hier an den Blumentöpfen Ersatz finden. Man thut gut, wenn man die Reinigung des Käfigs an ganz bestimmten Tagen und eben so die Fütterung und Erneuerung des Trinkwassers zu ganz bestimmten Stunden festsetzt; dadurch wird am sichersten eine mögliche Versäumniß vermieden. Vor der Reinigung der Schublade, jedenfalls aber bei warmem, sonnigem Wetter möglichst oft, setze man den Vögeln einen flachen Napf mit Badewasser hin, welches im Winter einige Stunden in derselben Stube gestanden haben muß, und bereite ihnen dadurch einen Genuß, der für ihr Wohlgedeihen außerordentlich fördersam ist.
Freundliche und liebevolle Behandlung, Vermeidung jedes Erschreckens und Verschüchterns ist nicht minder Erfordernis; des Wohlbefindens unserer kleinen Lieblinge. Von vornherein vermeide man es, sie mit den Händen anzufassen; beim Reinigen des Vogelbauers oder Wechseln desselben stelle man einen leeren Käfig daneben, offene beide Thüren und jage die Vögelchen ohne große Aengstigung in den letzteren und, sobald der erstere gereinigt ist, ebenso wieder zurück. Da die meisten Stubenvögel, namentlich in kleinen Käfigen, oft unnatürlich lange Nägel an den Zehen bekommen, die ihnen sehr lästig werden, so muß man dieselben, natürlich mit großer Vorsicht, etwa alljährlich einmal verschneiden. Dazu muß man den Vogel dann freilich greifen, lose und zart, doch sicher, so daß er nicht unversehens entschlüpfe, in die hohle Hand nehmen, jeden Nagel gegen das Licht halten, und soweit als thunlich mit einer scharfen Scheere abschneiden.
Will man ein Pärchen dieser Vögel, gleichviel von welcher Art, im Kleinen und in der Wohnstube zur Zucht bringen, so muß der Käfig mindestens dreifach so groß sein. Man bringt dann in der einen Ecke ein Harzerbauerchen, in welchem ein mit Leinwand ausgefüttertes Nestkörbchen befestigt ist, und in der anderen Ecke ein freihängendes Nestkörbchen an und läßt den Vögeln die Wahl. Amaranths, Goldbrüstchen, Elsterchen etc. bauen im ersteren, Astrilds, Helenafasänchen, Tigerfinken etc. überwölben sich das letztere. Ist der Käfig geräumig genug, so kann man statt des freihängenden Körbchens einen Busch aus dünnem Gesträuch anbringen, in den sie noch viel lieber bauen. Dabei versäume man aber nicht, mit den angegebenen Baustoffen sie möglichst reichlich zu versehen, denn manche, wie z. B. Astrilds und Schmetterlingsfinken, sind im Bauen unermüdlich und tragen noch immer ein, wenn sie schon Junge haben. Die Goldbrüstchen suchen jedes Mal, gerade in der Zeit, wenn die Jungen aus den Eiern schlüpfen, mit förmlicher Herzensangst nach weichen Federn.
Als inniger Vogelfreund hasse ich nichts so sehr, als die sogenannten Volièren, welche als bloße Luxusgegenstände ihre bedauernswerte Bewohnerschaft nur zur Spielerei enthalten. Die Vögelchen sind in ihnen, von allen Seiten unbeschützt, fortwährender Unruhe und Beängstigung ausgesetzt und zu langsamem Hinsterben verdammt. Wer einer bunten, mehr oder minder kostbaren Vogelgesellschaft als Luxusgegenstand oder zum Vergnügen sich erfreuen will, der suche den Thierchen mindestens einigermaßen naturgemäße Einrichtungen zu schaffen. Vor Allem muß der Käfig, gleichviel ob groß oder klein, von einer oder besser noch von drei Seiten geschützt sein; er muß mindestens an einer Wand stehen, doch mit der Hauptseite dem vollen Lichte zugekehrt sein, auch die Morgen- oder Abend-, nicht aber die prallende Mittagssonne bekommen. Sodann bringe man stets in einer oder zwei Ecken dichtes Gebüsch an, in welches die Vögel bei jeder Beängstigung schlüpfen können; beim kleinen Käfig ist es ausreichend und zugleich sehr schön, wenn man einen Topf mit Epheu daneben stellt und die dem Lichte entgegengesetzte Seite damit überzieht. Jeder zum Nisten bestimmte Vögel enthaltende Käfig muß durchaus ungerückt auf einer Stelle stehen bleiben, auch eine sehr lose ausziehbare Schublade haben.
Sobald die Vögel nun wirklich bis zum Nisten gelangen, beginne man bereits während der Brutzeit, ihnen allmählich eingequellte Sämereien, je nach der Zeit, frische oder aufgeweichte Ameiseneier oder auch kleine Maden, Räupchen etc., falls man dergleichen bekommen kann, ferner frische, weiche Vogelmiere, eingequellte und ausgedrückte Semmel, auch frischen Quarkkäse, oder fein gehacktes Eigelb und abgesondertes Eiweiß zu bieten, und sobald die Jungen vorhanden sind, lasse man es an denen von diesen Nahrungsmitteln, welche sie annehmen, niemals fehlen. Im Gegentheil versuche man es immer wieder auch mit denen, die sie bisher noch nicht gefressen haben. Da liegt es manchmal an einer Kleinigkeit, die gerade mangelt und doch der Brut zum unabwendbaren Verderben gereicht. So habe ich den kleinen Astrilden versuchsweise Grassämereien, wie sie auf den Heuböden zu finden sind, und den größeren Amadinen ungeschälten und eingequellten Reis gegeben, und über Beides fielen sie eifrig her.
Sehr erfreut und zu großem Danke verpflichtet haben mich mehrere Vogelfreunde durch die Mittheilungen ihrerseits erzielter Züchtungserfolge und der dabei gemachten Beobachtungen. Namentlich interessante Züchtungen hat Herr Hermann Leuckfeld in Nordhausen erlangt, indem er von dem rothen Cardinal, der herrlichen „virginischen Nachtigall“, ferner von den schönen australischen Graspapageien, den Corellas oder Nymphenpapageien, Wellensittichen und brasilianischen Canarienvögeln Junge glücklich erzogen. Weitere namhafte Erfolge hat – soviel ich bis jetzt weiß – ein Verlagsbuchhändler in Stuttgart gehabt, der sogar einer Brut des schönen grünen Cardinals sich erfreute, ferner der Director des zoologischen Gartens in Breslau, Herr Dr. Schlegel, welcher einige Webefinken, wie Elsterchen und Halsbandvögel, ebenso Wellensittiche, Corellas etc. mit Glück in großer Anzahl züchtete und dies in Dr. Noll’s „Zoologischem Garten“ veröffentlicht hat.
Somit ist es ganz zuversichtlich anzunehmen, daß alle diese schönen und lieblichen Vögel einerseits durch dankbare Züchtungserfolge ihre Pfleger immer häufiger erfreuen und andererseits sich immer mehr Freunde erwerben werden, ebenso in allen Theilen unseres großen Vaterlandes, wie in allen Bewohnerclassen desselben.
Sie verdienen Beachtung und Liebe wirklich in hohem Grade!
In kleineren Städten und auf dem Lande sind diese Vögel bis jetzt aber noch fast gar nicht zu finden; ihrer Verbreitung auch dorthin dürfte daher die Notiz wohl förderlich sein: daß sie ohne besondere Gefahr sich auf der Post in weite Entfernungen verschicken lassen. Erst kürzlich habe ich jenem Buchhändler nach Stuttgart ein Paar Sperlingspapageien gesandt, und sie sind trotz der weiten Reise (von Berlin aus) glücklich angekommen. Auf Wunsch nenne ich schließlich noch als zuverlässige und ehrenhafte Händler für den Bezug von Berlin Mieth und Donndorf, von Hamburg C. Hagenbeck.
Als Goethe im September 1786 über die Alpen gegangen war, fand er sich in dem schönen, zum Lebensgenuß reizenden Italien bis tief in den Sommer des nächsten Jahres hinein vor der Wiederkehr der alten Sesenheimer und Wetzlarer Freuden und Leiden durch Zweierlei geschützt. Erstens hatte er die Liebe zu Frau von Stein als schirmenden Talisman mitgebracht. Aber eine stärkere Schutzwehr noch war die ungeheuere Fülle neuer Anschauungen, die ihm Kunst und Natur in Italien darboten, [618] und der rastlose Eifer, mit welchem er diese Anschauungen ergriff und für seine innere Auferbauung zu verwerthen suchte.[1] In seiner schönen Wohnung auf dem Corso zu Rom, dem Palast Rondanini gegenüber, hielt er sich vor der großen, besonders der vornehmen Welt in einer Art von Halb-Incognito verborgen, bewegte sich aber dafür um so freier und heiterer in einem Kreise von Künstlern und Kunstliebhabern, zu denen Hackert, Tischbein, Angelica Kaufmann und ihr Gemahl Antonio Zucchi, der sachsen-gothaische Hofrath Reiffenstein, einst Winckelmann’s vertrauter Freund, und viele Andere gehörten. Ueber seinen Kunstgenüssen war Goethe allerdings nicht blind für hervorragende Schönheiten der römischen Frauenwelt; besonders erregte eine junge Römerin, die unfern von ihm auf dem Corso wohnte, seine Aufmerksamkeit. Er pflegte, wenn sie Abends vor der Thür saß, sie im Vorübergehen zu grüßen, ohne jedoch ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen. Zu einem näheren Bekanntwerden kam es erst im Herbst 1787 bei einer Villeggiatur zu Castel Gandolfo, deren sich Goethe etwa vom 6. bis zum 24. October bei dem herrlichsten Wetter erfreute.
Er war dort mit Reiffenstein bei dem reichen englischen Kunsthändler Jenkins einquartiert. Nach und nach fand sich eine große Zahl von Gästen ein, unter Anderen Angelica Kaufmann mit ihrem Gemahl, auch – die schöne römische Nachbarin mit ihrer Mutter; und unter dieser ganzen Gesellschaft gestaltete sich sofort ein traulich geselliger Verkehr, wie in einem Badeorte. In der Morgenfrühe schweifte Goethe, damals wieder lebhaft für das Landschaftszeichnen schwärmend, in dem Gebirge umher und bemühte sich, die frappantesten Motive nachzuzeichnen. Nach der Rückkehr gehörte er für den übrigen Tag der Gesellschaft an, in welcher gemeinschaftliches Mittagsmahl, Spaziergänge, Lustpartieen, ernst- und scherzhafte Unterhaltung schnell Bekanntschaft und Vertraulichkeit hervorriefen. Die junge Römerin kam dem Dichter wie eine bereits Bekannte entgegen, und er versäumte seinerseits nichts, sich ihr gefällig und aufmerksam zu erweisen.
Es tritt, wenn man zwischen den Zeilen des vom Dichter selbst nur vorsichtig Mitgetheilten liest, der Gedanke nahe, daß das Zusammentreffen der beiden römischen Nachbarinnen mit ihm in Castel Gandolfo, wenigstens von Seiten der Mutter, nicht ganz absichtslos geschah. Wenn dem so war, so hatte sie die Unklugheit begangen, ihrer Tochter selbst eine gefährliche Rivalin zur Seite zu stellen. In ihrer Begleitung war nämlich auch eine schöne Mailänderin mitgekommen, Schwester eines Commis von Herrn Jenkins und mit der jungen Römerin nahe befreundet. Beide Schönen bildeten einen entschiedenen, wenn auch nicht schroffen Gegensatz: die Römerin von dunkelbraunem Haar, die Mailänderin von hellbraunem; jene braun von Gesichtsfarbe, diese klar, von zartem Teint; jene braunäugig, diese mit fast blauen Augen; jene etwas ernst und zurückhaltend, diese offener und zutraulicher.
Eine kurze Zeit hielten sich die beiden anziehenden Pole einander ziemlich das Gleichgewicht, aber bald brachte ein besonderer Anlaß unseren Dichter zum Bewußtsein, daß sich seine Neigung bereits für die Mailänderin entschieden hatte.
Goethe saß eines Abends bei einer Art Lottospiel zwischen den beiden jungen Damen und hatte mit der Römerin Casse zusammen gemacht. Im Laufe des Spiels fügte es sich, daß er auch mit der Mailänderin sein Glück durch Wetten versuchte, so daß auf dieser Seite gleichfalls eine Art von Partnerschaft entstand. Vertieft in die Lust der Unterhaltung, wie er war, bemerkte er nicht, daß diese Theilung seines Interesses Mißfallen erregte, bis nach aufgehobener Partie die Mutter der Römerin abseits zu ihm trat und ihn zwar höflich, aber mit Matronenernst in’s Gebet nahm. In einer Villeggiatur, belehrte sie ihn, sei es allgemeine Sitte, daß Personen, die sich näher aneinander geschlossen, der Gesellschaft gegenüber in diesem Verhältniß verharrten und für die ganze Saison die Rolle einer anmuthigen, besonderen Wechselgefälligkeit durchführten. Da er nun einmal mit ihrer Tochter in solche Beziehung gekommen sei, so schicke es sich nicht wohl, mit einer andern jungen Dame in gleiche Beziehung zu treten. Goethe war eifrig bemüht, sich zu entschuldigen; als ein Fremder, bemerkte er, habe er jene Sitte nicht gekannt, in Deutschland sei es vielmehr herkömmlich, sämmtlichen Damen der Gesellschaft, der einen mit und nach der anderen, sich dienstlich und höflich zu erweisen, und das habe ihm hier um so mehr am Platze gedünkt, als die beiden jungen Damen ja durch Freundschaft enge verbunden seien. Indem er so der älteren Dame gegenüber jede Vorliebe für die Mailänderin abzustreifen suchte, empfand er auf einmal mit der größten Bestimmtheit, daß diese ihn wirklich ganz erobert hatte; und um die Herzensfreiheit, die er bis dahin in Italien bewahrt hatte, war’s geschehen.
Goethe suchte am nächsten Morgen sogleich ihre Gesellschaft auf, und da sie im Laufe der Unterhaltung es beklagte, an der englischen Conversation von Herrn Jenkins, Madame Angelica und Andern nicht Theil nehmen zu können[WS 1], erbot er sich, ihr zur Erlernung des Englischen behülflich zu sein. Das war freilich eine Beschäftigung, die mindestens eben so geeignet war, die Liebe des Lehrers, als die Sprachkenntnisse seiner Schülerin zu fördern.
Die artistischen Morgenwanderungen wurden nun ausgesetzt, um möglichst früh mit der Geliebten zusammen sein zu können, und auch diese versäumte ihrerseits keine Gelegenheit, in der Nähe des Lehrers zu sein. Man hatte ihm an einem der nächsten Tage an der großen Mittagstafel den Platz rechts neben Angelica Kaufmann angewiesen. Eben als er diesen eingenommen, erschien seine Schülerin gegenüber am Tisch und besann sich keinen Augenblick, während die übrigen Tischgenossen sich um ihre Plätze becomplimentirten, um die Tafel herumzugehen und sich neben Goethe niederzulassen. Angelica bemerkte es mit Verwunderung und ahnte als eine scharfblickende Frau, daß mit ihrem bisher so frauenmeidenden Freunde etwas Besonderes müsse vorgegangen sein, wie sehr er sich auch Mühe gab, sein Gespräch zwischen den beiden Tischnachbarinnen gebührend zu theilen.
Leider sollte seine lebhafte Gemüthsbewegung noch an demselben Tage eine Steigerung schmerzlicher Art erfahren. Als er gegen Abend sich nach den jungen Damen umsah, fand er die älteren Frauen in einem Pavillon sitzend, wo sich die herrlichste der Aussichten darbot. Goethe schweifte mit seinen Blicken in die Runde und überzeugte sich, daß Amor als der höchste Landschaftsmaler erst einem solchen Bilde das Gepräge vollendeter Klarheit und Schönheit aufdrücke. Es hatte sich ein Ton, erzählt er selbst, über die Gegend gezogen, der weder dem Untergang der Sonne, noch den Düften des Abends allein zuzuschreiben war. Die glühende Beleuchtung der hohen Stellen, die kühlende blaue Beschattung der Tiefe war herrlicher, als sie ihm je in Oel oder Aquarell erschienen waren. Auf die Einladung der Damen an einem Fenster sich niederlassend, hörte er, in Beschauung der Landschaft und in Gedanken an die Geliebte vertieft, lange nur mit halbem Ohr einem Gespräch über Ausstattung einer Braut und die Eigenschaften des Bräutigams zu, und fragte zuletzt, wer denn die Braut sei. Da vernahm er, eben im Augenblick als die Sonne untertauchte, zu seiner höchsten Bestürzung, es sei Niemand anders, als seine Schülerin. Um seine Bewegung zu verbergen, verließ er augenblicklich die Gesellschaft, suchte ein einsames Plätzchen zur Bekämpfung seiner Schmerzen auf und sah sich nun in Italien abermals von den Wetzlarer Leiden bedroht.
Goethe will in den Berichten, die er in späterem Alter über diese Tage geschrieben, uns glauben machen, daß sich das Verhältniß in seinem Gemüth bald auf die anmuthigste Weise zurecht gelegt habe. Indem er gezwungen gewesen sei, die Geliebte nunmehr als Braut, als künftige Gattin anzusehen, habe sie sich vor seinem innern Blick aus dem trivialen Mädchenzustande in einen würdigeren erhoben, und in seinem Begegnen mit ihr habe sich fortan eine höhere, uneigennützige Zuneigung, mit Ehrfurcht verbunden, ausgesprochen. Es läßt sich aber in manchen Fällen nachweisen, wie Goethe in den aus spätern Jahren herrührenden Darstellungen früherer Herzensbeziehungen über Manches einen farbendämpfenden Schleier zu breiten liebte, oft vielleicht nur, um seinem weichen Gefühl schmerzliche Erinnerungen erträglicher zu [619] machen. So können wir auch im vorliegenden Falle zeigen, daß der Schmerz[WS 2] um den Verlust seiner Geliebten noch lange, bis etwa in den Juni des folgenden Jahres hinein, in seiner Brust nachgeklungen habe und oft hindernd genug zwischen all’ die ernsten Aufgaben getreten sei, die er sich noch für den weiteren Aufenthalt in Italien vorgesetzt hatte. Doch dürfen wir ihm Glauben schenken, wenn er sagt, er habe diesmal, durch frühere Erfahrungen und reifere Jahre unterstützt, sich entschlossener von der erst im Keimen begriffenen Leidenschaft loszureißen gesucht.
In der Frühe des nächsten Morgens nach der schmerzlichen Entdeckung ließ er sich für die Mittagstafel entschuldigen, machte, die Mappe unter dem Arm, einen weiten Weg durch das Gebirge, wich nach der Rückkehr den englischen Studien aus und hatte Acht darauf, der heimlich Geliebten nur im Beisein mehrerer Personen zu begegnen.
In diese Tage fällt die erste Conception des wunderschönen Gedichtes Amor als Landschaftsmaler, wenn es gleich erst in einem Briefe an Herder vom 22. Februar des nächsten Jahres erwähnt wird. Goethe deutet selbst in seinem Bericht über die Villeggiatur zu Castel Gandolfo auf den Sinn des Gedichtes hin, da, wo er erzählt, er habe sich nach der erschütternden Aufweckung aus seinem süßen Liebestraum rasch zu dem inzwischen vernachlässigten Landschaftzeichnen zurückgewandt und dabei die Erfahrung gemacht, daß seine Technik zwar wie früher unzulänglich gewesen, aber daß er im Sehen in den letzten Tagen einen großen Fortschritt gemacht. Die ganze Fülle der landschaftlichen Bilder jener Gegend sei durch seine Gemüthsaufregung seinem Auge gleichsam fühlbar geworden, und so habe er dem Schmerz nicht grollen können, der ihm den innern und äußern Sinn in solchem Grade geschärft habe. Eben dieses drückt auch unser Gedicht in sinnbildlich poetischer Weise aus. Der Dichter sitzt in der Frühe des Herbstmorgens auf einer Felsenspitze und starrt, von seinem Liebesschmerz hingenommen, in den Nebel, der, wie ein grau grundirtes Tuch gespannt, Alles in die Breite und Höhe deckt.
Da findet sich Amor ein und malt ihm ein Landschaftsbild:
Und er richtete den Zeigefinger,
Der so röthlich war wie eine Rose,
Nach dem weiten ausgespannten Teppich,
Fing mit seinem Finger an zu zeichnen.
Oben malt’ er eine schöne Sonne,
Die mir in die Augen mächtig glänzte,
Und den Saum der Wolken macht’ er golden,
Ließ die Strahlen durch die Wolken dringen;
Malte dann die zarten, leichten Wipfel
Frisch erquickter Bäume, zog die Hügel,
Einen nach dem andern, frei dahinter;
Unten ließ er’s nicht an Wasser fehlen,
Zeichnete den Fluß so ganz natürlich,
Daß er schien im Sonnenstrahl zu glitzern,
Daß er schien am hohen Rand zu rauschen.
Ach, da standen Blumen an dem Flusse,
Und da waren Farben auf der Wiese,
Gold und Schmelz und Purpur und ein Grünes,
Alles wie Smaragd und wie Karfunkel!
Hell und rein lasirt’ er draus den Himmel,
Und die blauen Berge fern und ferner,
Daß ich, ganz entzückt und neu geboren,
Bald den Maler, bald das Bild beschaute.
Der poetischen Fiction entkleidet, heißt dieses: die aus dem Nebelflor vor dem Dichter sich entwickelnde Landschaft schaut er aus dem Grunde in so wunderbarer Klarheit und Körperlichkeit, weil die Kraft seines Sinnes durch die Liebe gesteigert ist. Und wie es ihm damals mit der vor ihm ausgebreiteten Landschaft erging, so ergeht es uns fort und fort mit dem poetischen Bilde, das er uns in dem Gedichte vorführt; es tritt uns jeder Zug darin mit einer wunderbaren Kraft und Reinheit stereoskopisch klar entgegen, was sich zum Theil daraus erklärt, daß ihm jene poetische Fiction gestattete, das poetische Gemälde durch und durch nach der Lessing’schen Regel zu entwerfen: der Dichter solle den zu malenden Gegenstand nicht als einen fertigen, sondern als einen werdenden darstellen.
Als Goethe gegen den 24. October wieder in Rom angelangt war, ergab er sich von Neuem einer mannigfachen und angestrengten Thätigkeit, die zwar seine Liebesleiden zu mildern, aber nicht zu ersticken vermochte. Dazu kam, daß er Anfangs December die Nachricht erhielt, der Bräutigam seiner still Geliebten habe unter irgend welchen Vorwänden sich zurückgezogen und von der Verlobten losgesagt, und diese sei aus Gemüthsbewegung darüber in ein heftiges Fieber verfallen, welches für ihr Leben fürchten lasse.
Voll schmerzlicher Besorgniß ließ er sich tagtäglich, und die erste Zeit sogar zweimal täglich, nach ihrem Zustande erkundigen, und stellte zugleich genaue Nachforschungen über die Vorwände des Bräutigams an, weil er von dem Gedanken geängstigt wurde, durch sein Benehmen gegen die Braut in Castel Gandolfo Anlaß zur Auflösung des Verhältnisses gegeben zu haben.
Zu seiner Beruhigung erfuhr er, daß unter den Vorwänden nicht im mindesten jener Villeggiatur gedacht worden sei, und er pries sich glücklich, damals seine Neigung im Zügel gehalten und sich so bald von dem lieben Mädchen zurückgezogen zu haben.
Aber höchst schmerzlich war es ihm, sich ihr schönes heiteres Auge durch Thränen getrübt, das frische Jugendroth ihrer Wangen durch Kummer und Krankheit gebleicht vorstellen zu müssen, und er gelangte erst zu einiger Beruhigung, als er Mitte December auf einer kleinen Gebirgstour eben da, wo er in den schönsten Herbsttagen sie kennen gelernt hatte, in Castel Gandolfo die Nachricht von ihrer Genesung erhielt.
So zitterte also die Herzensbewegung, die er mit zu großem Selbstvertrauen als eine angenehme Unterhaltung für die Villeggiaturzeit selbst eingeleitet hatte, noch immer in seinem Busen fort und mag sich oft genug störend und verwirrend zwischen sein ernstes Bildungsstreben gedrängt haben. Als interessantes Document seines Gemüthszustandes gegen den Jahresschluß hin hat sich ein sehr anmuthiges Gedicht erhalten, dessen Goethe zwar erst im Bericht vom Januar 1788 gedenkt, dessen Entstehung aber ohne Zweifel in den December, wenn nicht gar in den November 1787 zurückreicht. Aus einem Briefe vom 9. Februar des nächsten Jahres erfahren wir, daß es Goethe’s Leibliedchen geworden war, wieder ein Beweis, wie tief ihm das Verhältniß zu Herzen ging, und wie viel er noch in spätem Alter auf das Gedicht hielt, bezeugen die Gespräche mit Eckermann an vielen Stellen. Da es von Goethe aus der Gedichtsammlung ausgeschlossen worden ist und daher manchem Leser noch unbekannt sein mag, erlaube ich mir, es ganz mitzutheilen. Viehoff hat ihm in seinem Commentar folgenden jetzt ziemlich allgemein adoptirten Titel gegeben:
Amor als Gast.
Cupido, loser, eigensinniger Knabe,
Du batst mich um Quartier auf einige Stunden!
Wie viele Tag’ und Nächte bist Du geblieben,
Und bist nun herrisch und Meister im Hause geworden!
Von meinem breiten Lager bin ich vertrieben;
Nun sitz’ ich an der Erde, Nächte gequälet;
Dein Muthwill’ schüret Flamm’ auf Flamme des Heerdes,
Verbrennt den Vorrath des Winters und senget mich Armen.
Du hast mir mein Geräth verstellt und verschoben;
Ich such’ und bin wie blind und irre geworden;
Du lärmst so ungeschickt; ich fürchte, das Seelchen
Entflieht, um Dir zu entflieh’n, und räumt die Hütte.
Wunderlich genug sucht der Dichter diesem Liedchen, dessen specielle Beziehung aus dem Vorhergehenden so klar wird, sowohl in seinem Bericht über den Januar 1788, als in den Gesprächen mit Eckermann, eine ganz andere, allegorische Deutung zu geben.
Er will es dort nicht im nächsten Sinne genommen, nicht jenen Dämon dabei gedacht haben, den wir gewöhnlich Amor nennen, sondern, wie er sich ausdrückt, „eine Versammlung thätiger Geister, die das Innerste des Menschen ansprechen, auffordern, hin und her ziehen und durch getheiltes Interesse verwirren“. Demgemäß wäre also hier Amor eine Verkörperung seiner italienischen Vielgeschäftigkeit, während in der That, wie das Gedicht auch ausdrücklich sagt, Amor der Störer seines ernsten und vielseitigen Bildungsbestrebens, der Verzehrer des Vorrathes an Bildungsstoffen war, den der Dichter sich in Italien für die nordische Winternacht zu sammeln bemüht war.
Wie kam Goethe zu dieser verdunkelnden Erläuterung? Giebt sich darin wieder die Neigung kund, seine zartesten und theuersten Herzensbeziehungen der Welt zu verdecken? Oder war ihm in der That (wozu sich allerdings auch Parallelfälle bezeichnen lassen) in späterem Alter das rechte Verständniß der eigenen früheren Production gänzlich abhanden gekommen?
Der schönen Mailänderin hatte sich, sogleich nach dem Mißgeschick, das sie getroffen, Angelica Kaufmann tröstend angenommen. Auch nach der Wiedergenesung fand sie, die vorher völlig Fremde, im Zucchi’schen Hause die freundlichste Aufnahme und [620] wurde von Angelica selbst in höhere Gesellschaftskreise eingeführt, wo sie sich sehr gut zu benehmen wußte. Man greift wohl nicht fehl, wenn man annimmt, daß Angelica, die das lebhafte Interesse ihres Freundes an dem schönen Mädchen bemerkt hatte, ihm nunmehr nach der Auflösung ihres Brautstandes den Weg zur Anknüpfung eines näheren Verhältnisses habe ebenen wollen. Dazu stimmt wenigstens gut die Rolle, die Angelica beim Wiedersehen der Beiden spielte. Es geschah mitten im Gewühl des Carnevals, daß Goethe auf dem Venetianischen Platze in der Reihe der Kutschen den Wagen Angelica’s bemerkte und an den Schlag trat, um sie zu begrüßen. Sie hatte sich kaum freundlich gegengrüßend zu ihm herausgeneigt, als sie sich zurückbog, um ihrem Freunde einen Blick auf die neben ihr sitzende wiedergenesene schöne Mailänderin zu öffnen. Mit Freude gewahrte er, daß diese sich durchaus nicht verändert hatte, nur schienen ihre Augen ihn noch frischer und glänzender, als früher, anzublicken, und zugleich mit einer Freudigkeit, die ihn bis in’s Innerste durchdrang. So blieben die beiden Liebenden eine Zeit lang einander sprachlos gegenüber, bis Angelica das Schweigen mit den Worten unterbrach: „Ich muß hier wohl den Dolmetscher machen, denn ich sehe, meine junge Freundin kommt nicht dazu, das, was sie mir so oft wiederholt hat, Ihnen selbst auszusprechen, wie sehr sie Ihnen für den Antheil verpflichtet ist, den Sie an ihrem Schicksal und ihrer Krankheit genommen haben. Das Erste, was ihr beim Wiedereintritt in’s Leben zum Trost gereicht und wiederherstellend auf sie gewirkt habe, sei die Theilnahme ihrer Freunde und vor Allem die Ihrige gewesen.“
„Das ist Alles wahr,“ fügte das liebenswürdige Mädchen hinzu, indem es ihm über die Freundin her die Hand reichte, die er mit der seinigen ergriff, aber auch gar zu gern mit seinen Lippen hätte berühren mögen. Still beglückt und mit inniger Dankbarkeit gegen Angelica zog er sich in’s Gedränge der Fastnachtsthoren zurück.
Und er bewarb sich nun nicht ernstlich um die freigewordene Hand der Geliebten? wird man fragen. Er that es nicht, und den eigentlichen Grund, warum er es unterließ, hat er hier ebenso wenig bestimmt ausgesprochen, wie bei der Auflösung der Verhältnisse zur Sesenheimer Friederike und zur Frankfurter Lili die Gründe, warum er sich zurückzog. Denn wenn er selbst berichtet, er habe die letzte Zeit hindurch manches Erfreuliche von ihr gehört und die Vermuthung nähren können, daß ein mit Zucchis befreundeter wohlhabender junger Mann „gegen ihre Anmuth nicht unempfindlich und ernstere Absichten durchzuführen nicht abgeneigt sei,“ so liegt darin keine genügende Erklärung. Warum trat er nicht als Mitbewerber mit dem jungen Mann in die Schranken? Zu Hoffnungen hatte ihn doch wahrlich des Mädchens bisheriges Begegnen berechtigt. Scheute er sich das liebenswürdige Kind der schönen Heimath zu entziehen? Aber sie sehnte sich ja, wie er selbst berichtet, die Welt außer Italien kennen zu lernen, und war in ihren einfachen Lebensverhältnissen nicht verwöhnt worden. Oder zweifelte er, ob sie in seine Weimarischen Gesellschaftsverhältnisse passen würde? Aber er stellte sie ja doch selbst als ein anmuthvolles[WS 3] Mädchen von großer Bildungslust und Bildungsfähigkeit dar, die sich auch in höheren Gesellschaftskreisen mit Tact und Geschicklichkeit bewegt habe. Wenigstens wäre sie ihm eine minder unebenbürtige Gattin geworden, als Christiane Vulpius, mit welcher er wenige Monate später eine Verbindung anknüpfte. Am wahrscheinlichsten däucht mir noch, daß ihm das Verhältniß zu Frau von Stein im Wege stand, wenn es gleich in ihm selbst schon im Absterben begriffen war und nicht lange nachher durch ein entschiedenes Zerwürfniß sich auflöste. Wie dem auch sein mag, das Entsagen ist ihm in diesem Falle nicht leicht geworden, und an der süßschmerzlichen Bewegung seines Inneren, an welcher er die letzten Monate in Rom bis zu seinem Aufbruch nach der Heimath (22. April 1788) litt, hatte die bevorstehende Trennung von der Geliebten gewiß ihren guten Theil. Scheint er auch in der letzten Zeit das Zusammentreffen mit ihr gänzlich vermieden zu haben, so versäumte er doch nicht, ihr einen Abschiedsbesuch zu machen.
Er fand sie im reinlichen Morgenkleide, wie sie zuerst in Castel Gandolfo ihm begegnet war; sie empfing ihn vertraulich entgegenkommend und drückte mit natürlicher Anmuth wiederholt den Dank für seine Theilnahme aus. „Ich werde es nie vergessen,“ sagte sie, „daß ich aus tiefer Verwirrung mich erholend unter den lieben und verehrten Namen der Anfragenden auch den Ihrigen nennen hörte; ich fragte wiederholt, ob es denn auch wahr sei. Sie setzten Ihre Erkundigung mehrere Wochen hindurch fort, bis endlich mein Bruder Sie besuchte, um für uns Beide den Dank auszusprechen. Ob er es so ausgerichtet hat, weiß ich nicht; ich wäre gern mitgegangen, wenn sich’s geschickt hätte.“ Dann fragte sie ihn nach dem Wege, den er zu nehmen gedächte, und als er ihr seinen Reiseplan[WS 4] vorerzählt hatte, rief sie: „O Sie Glücklicher, der Sie so reich sind, daß Sie sich dergleichen nicht zu versagen brauchen! Wir Andern müssen uns in die Stelle finden, welche Gott und seine Heiligen uns angewiesen haben. Schon lange sehe ich vor meinem Fenster Schiffe kommen und gehen (die Fenster gingen gerade auf die Treppen der Ripetta, und die Bewegung war eben sehr lebhaft), ich sehe ausladen und einladen; das ist unterhaltend für mich, und ich denke manchmal, woher und wohin dies Alles?“
Von ihrem Bruder, der wegen seiner Kenntnisse, Fertigkeiten und Redlichkeit bei seinem Principal, Herrn Jenkins, in großer Gunst stand, sprach sie mit Zärtlichkeit; sie freute sich, ihm seine Haushaltung ordentlich zu führen, ihm möglich zu machen, daß er bei mäßiger Besoldung noch immer etwas erübrigen und in einem vortheilhaften Handel anlegen könne, und so verbreitete sie sich noch weiter redselig und vertraut über ihre Familienzustände. Ihre Gesprächigkeit war dem Dichter willkommen, da er, alle Momente ihres zarten Verhältnisses noch einmal rasch an seinem Geiste vorüberführend, nicht eben in der besten Verfassung zum Reden war. In Gegenwart des eintretenden Bruders schloß sich dann der Abschied, wie er sagt, „in freundlicher, mäßiger Prosa.“
Als er vor die Thür kam, fand er seinen Wagen ohne Kutscher, den eben ein dienstfertiger Knabe zu holen fortlief. – Die Geliebte sah heraus zum Fenster des Entresols, das sie in einem stattlichen Gebäude bewohnte; es war gar nicht hoch, so daß man es fast mit der Hand hätte erreichen können. „Man will mich nicht von Ihnen wegführen,“ rief er ihr zu, „man scheint zu wissen, wie ungern ich von Ihnen scheide.“ Ihre Antwort und das weitere Gespräch, das sich daran knüpfte, hat er uns leider! aus Furcht, „es durch Wiederholung und Erzählung zu entweihen,“ nicht aufbewahrt. Es war, wie er sich in der seltsam gezirkelten Sprache seines Alters ausdrückt, „ein wunderbares, zufällig eingeleitetes, durch innern Drang abgenöthigtes lakonisches Schlußbekenntniß der unschuldigsten und zartesten wechselseitigen Gewogenheit, das mir deshalb auch nie aus Sinn und Seele gekommen ist.“
Von der Baustätte des Berliner Aquariums.
Es war einmal ein durstig Jahr,
Da also groß die Hitze war,
Daß auf dem Kreuzberg frank und frei
Die Hühner krochen aus dem Ei.
„Das ist der Untergang der Welt!“
Doch Doctor Brehm sprach voll Vertrau’n:
„Auf, laßt uns eine Arche bau’n,
Darin wir sammeln jedenfalls
Dazu die Flüsse süß und rein,
Dann wird es kühl im Kasten sein.“
Nun macht er an die Arbeit sich,
Baut eine Arche säuberlich
Macht Grotten kühl und Keller d’rein,
Baut helle Gläser rings herum
Und nennt das Ding – Aquarium.
Mit diesen Worten begrüßte Rudolph Löwenstein vor wenigen Wochen das „Berliner Aquarium“, dessen Eröffnung binnen Kurzem bevorsteht. Berlin besitzt bekanntlich den ältesten Thiergarten Deutschlands, einen der ältesten Europas; derselbe ist jedoch trotz des lieblichen Parkes, in welchem er sich befindet, trotz
[621][622] der erheblichen Beisteuer, die ihm von seiten der Regierung wird, und trotz der volkreichen Stadt mit ihren zahlreichen Fremden, welche naturgemäß als steuerpflichtig betrachtet werden müssen, im Verlaufe der Jahre derartig in Verfall gerathen, daß er zur Zeit von jedem anderen deutschen Zoologischen Garten in Schatten gestellt wird. Unter diesen Umständen erschien es nicht allein thunlich, sondern sogar geboten, in der Hauptstadt Norddeutschlands eine Anstalt in’s Leben zu rufen, welche ihr unzweifelhaft zur Zierde gereichen und den Thiergarten wesentlich ergänzen wird.
Der Gedanke, in Berlin ein Aquarium anzulegen, wurde gleichzeitig von verschiedenen Seiten gefaßt und in’s Werk zu setzen gesucht; es gelang jedoch erst der gegenwärtig bestehenden Gesellschaft, den Plan zu verwirklichen. Während des Winters von 1866 zu 1867 traten, zunächst auf Anregung des Kaufmanns E. Stahlschmidt, Justizrath Dr. Hinschius, Banquier Rauff, Geheimerath Tuchen, Kaufmann Eichborn und Hans Wachenhusen (welcher später nach seinem Austritt durch Professor Schultz-Schultzenstein ersetzt wurde) zu einem Ausschuß zusammen, beriefen F. von Stückradt und mich zu „persönlich haftenden Gesellschaftern“ und forderten im April des Jahres 1867 zur Theilnahme an dem allseitig mit Beifall begrüßten Unternehmen auf. Beinahe hätte die Luxemburger Frage, welche wenige Tage nach dem öffentlichen Hervortreten der Pläne des Ausschusses den politischen Himmel verdüsterte, das Unternehmen im Keime erstickt; es wandte sich jedoch demselben sofort wieder die allgemeinste Theilnahme zu, nachdem sich das drohende Unwetter verzogen, und schon im Juli konnte die erste Generalversammlung berufen und die Gesellschaft „Berliner Aquarium“ gebildet werden. Ein in günstigster Lage, dem Mittelpunkte des Verkehrs, unter den Linden gelegenes Grundstück wurde erworben, wenige Tage darauf mit dem Niederreißen verschiedener Hintergebäude begonnen, in den letzten Tagen des September vorigen Jahres der erste Stein gelegt und der Bau, ungeachtet des höchst ungünstigen Grundes und anderer Hemmnisse, so rüstig weiter geführt, daß am 27. August unter Theilnahme der Vertreter der Presse und aller beim Bau Betheiligten das Richtfest desselben gefeiert werden konnte.
Der Entwurf des gesammten Bauwerkes und aller Einzelheiten rührt von dem ebenso strebsamen als begabten W. Lüer in Hannover her, welcher sich beim Bau des dortigen Aquariums und der Gebäude des Zoologischen Gartens die nöthigen Erfahrungen erworben und früher schon in dem Maurermeister Seyfarth aus Cassel einen verständigen und bereitwilligen Werkmeister herangebildet hatte. Die Maurergesellen, welche bestimmt waren, die Grottenarbeiten auszuführen, wurden vom Harz verschrieben und an Ort und Stelle noch besonders über Schichtung und Lagerung der verschiedenen Gesteinsarten unterwiesen. Auch die letzteren mußten von fernhern verschrieben werden, da die Mark außer Findlingsblöcken und Kalksteinen wenig oder nichts bieten konnte. Die meisten Steine lieferte der Harz, andere der Deister, die Tropfsteine der Thüringerwald, Grünsteine und Marmor das Erzgebirge, Basalt das Siebengebirge, versteintes Holz und Aehnliches die Kohlengruben bei Halle etc. An die Technik wurden vielfache und theilweise höchst schwierige Aufgaben gestellt, zur Lösung derselben aber in Berlin alle nöthigen Kräfte gefunden.
Das Berliner Aquarium erhebt sich auf einem Raume von etwa sechszehntausend Geviertfuß in drei Geschossen übereinander. Als Aquarium im strengsten Sinne des Wortes ist es nicht, richtiger vielmehr als Vivarium zu bezeichnen oder, wenn man sonst will, ein Thiergarten unter Dach und Fach zu nennen, weil es, wie bereits bemerkt, allen Classen des Thierreichs Herberge gewähren soll. Das obere Geschoß ist bestimmt, Säugethieren, Vögeln, Kriechthieren und Lurchen zur Wohnung zu dienen; das Erdgeschoß wird einzelne Wassersäuger und die Thierwelt des Meeres aufnehmen; das Kellergeschoß enthält die Lagerräume für das Seewasser, die Maschinen und Pumpen zur Bewegung desselben, die Heizungsvorkehrungen und die Kellereien.
Von den Linden aus betritt der Beschauer, nachdem er einen längeren, entsprechend verzierten Corridor durchschritten, eine breite Treppe, welche zu den oberen Räumen empor an der Casse vorüberführt, und gelangt sodann in die erste Galerie, die zu beiden Seiten Käfige mit Krokodilen, Schuppenechsen der verschiedensten Art und Schlangen enthält. Wie im ganzen Aquarium ist auch hier die Einrichtung getroffen, daß man von einem dunklen Raume aus in die hell erleuchteten Käfige sieht.
Hieraus ergiebt sich ein doppelter Vortheil: man nimmt jedes Thier in der günstigsten Beleuchtung wahr, und das Thier fühlt sich, weil es ihm schwer oder unmöglich ist, aus dem Hellen in’s Dunkle zu sehen, durch die Besucher wenig oder nicht gestört. Alle Käfige sind gegen den Beschauer hin durch Spiegelscheiben abgeschlossen, stark genug, um auch etwaigen Fluchtversuchen eines Krokodils oder der kräftigsten Riesenschlange die Spitze zu bieten. Durch diese Einrichtung ist die Möglichkeit gegeben, in unmittelbarster Nähe und ohne das sonst so allgemeine Schaudern zu empfinden, selbst mit den fürchterlichsten Giftschlangen verkehren zu dürfen und sich auch mit der Schönheit dieser Thiere befreunden zu können. Die erste Galerie wird durch einen Hochkäfig begrenzt, welcher eine tiefe, anscheinend vom Wasser ausgewaschene Schlucht darstellt, deren Wandungen die hauptsächlichsten Schichten der Erdrinde zur Schau bringen, und welche in der Tiefe durch schwere, massige, aber pflanzenfressende Landschildkröten belebt werden soll, während die Höhe von dem leichten Volk der Lüfte in Besitz genommen wird. Einige Stufen führen in einen tiefen Raum hinab und gleichsam aus der tropischen Wüste in den tropischen Urwald; denn während man bisher hauptsächlich Thiere der dürren Oede vor sich sah, steht man hier vor einem prachtvollen, in fünfzehn Abtheilungen zerfällten Gesellschaftskäfig von vierundvierzig Fuß Durchmesser und achtundzwanzig Fuß Höhe, welcher das buntgefiederte Heer der Vögel aller Wendekreisländer zur Anschauung bringen wird. Einzelne Becken, Nischen, Käfige und anderweitige Behälter werden verschiedenen umsichtig ausgewählten Säugethieren, Lurchen, Fischen und anderen Süßwasserthieren zur Behausung dienen. Ein größeres Becken oder, richtiger, ein kleiner Teich mit schwimmenden Blattpflanzen und grün berankten Wänden ist für die Süßwasserschildkröten hergerichtet worden. An diesen Mittelraum reiht sich ein Grottengang an, in welchem einerseits die Käfige kleiner Sumpf- und Wasservögel, andererseits die Becken für Lurche, Süßwasserfische, Süßwasserkerbthiere und dergleichen sich befinden. Von diesem Gange aus betritt man die aus dem Felsen gehauene große Verbindungstreppe, zu deren Seite Behälter angebracht sind, in denen Jedermann, welcher für die hochwichtige Angelegenheit Theilnahme besitzt, die künstliche Fischzucht studiren kann. In einem größeren Teiche, aus dem sich Felsen erheben, soll zunächst ein Seehund oder Fischotter, später ein Biberpaar Herberge finden.
Nunmehr gelangt man in das eigentliche Seeaquarium und, nachdem man an einigen Behältern vorübergegangen, zum Standpunkt des Malers unserer Abbildung. Auch diese Becken bringen die Thiere und Pflanzen verschiedener Meere zur Schau, und die einzelnen Meere und Meerestheile sind gekennzeichnet durch die betreffenden Thiere und Pflanzen; wie denn überhaupt so viel als nur möglich der Grundsatz zur Geltung gebracht werden wird, die Natur in Kleinbildern nachzuahmen. An die Nordsee reiht sich das Becken der Ostsee an, ungeachtet der Thierarmuth dieses Gewässers das größte von allen, ein Behälter, dessen Wasserinhalt dem gesammten des Hamburger Aquarium mindestens gleichkommt. Den Mittelraum der allseitig gewaltigen, untermeerischen Grotte nimmt das Becken ein, welches dem atlantischen Meere als Gesammtheit entspricht, während andere Hoch- und Tiefbecken einzelne Gegenden und Buchten desselben Weltmeeres vertreten und unter Anderem auch große Seeschildkröten zur Schau bringen sollen. Von hier aus wendet man sich dem letzten Theile zu, welcher mit Thieren des Mittelmeeres bevölkert werden wird, kommt bis zu einer getreuen Nachbildung der blauen Grotte von Capri und steht vor dem Ausgange, welcher in der Schadowstraße mündet.
Alle Pfeiler-, Gewölb- und Wandverkleidungen des Erdgeschosses sind aus natürlichem Gestein hergestellt und künstliche Nachbildungen desselben soviel als möglich vermieden worden[WS 5], weil keine Kunst im Stande, das natürliche Leben des Gesteins in Form und Farbe auch nur annähernd richtig wiederzugeben, und gerade hierdurch überrascht das Berliner Aquarium Jeden, welcher es betritt, weil er sich wirklich und wahrhaftig in eine durch freundliche Hülfe des Meergottes ausgewaschene, untermeerische Grotte versetzt glaubt.
Das Berliner Aquarium ist zehn Mal größer, d. h. räumlicher, als das zu Hannover, zwölf Mal größer als das zu Hamburg bestehende und gegenwärtig das großartigste der Erde. Siebenhundert [623] und fünfzig Personen können gleichzeitig in erster Reihe, zwölf- bis dreizehnhundert überhaupt zu gleicher Zeit ihre Schaulust befriedigen, ohne sich gegenseitig zu behindern. Dem Gedränge ist dadurch vorgebeugt worden, daß der Beschauer immer vorwärts geht, niemals zurückkehrt; zudem sind alle Gänge für das Publicum in einer Breite von zehn Fuß angelegt worden, welche auch einem sehr starken Andrange genügt.
Soviel zunächst über den Bau als solchen; die einzelnen Abtheilungen und ihre Bewohner müssen späterer Schilderung vorbehalten bleiben.
Die zwei Todfeinde des menschlichen Auges. „Aber Herr Doctor, soll es denn wirklich wahr sein und mein armes Kind sein Lebelang blind bleiben müssen? O ich Unglückliche! Wer hätte das geahnt!“ – Wie oft hört der mehr beschäftigte Augenarzt diesen Schmerzensschrei einer Mutter, die wegen ihres acht- oder vierzehntägigen Kindes nach langem Zögern endlich ärztlichen Rath nachsucht, nachdem Hebammen, Muhmen, Tanten und andere verständige Frauen und wer sonst noch Lust hatte, der Reihe nach, und zwar Jeder ein besonderes Mittelchen angegeben, welche die Mutter auch alle getreulich angewendet hat! Nun kommt die geängstigte Mutter, da alle die guten Mittelchen nicht anschlagen wollen, zum Arzt. Aber die Zeit, in der noch wirksame Hülfe gebracht werden konnte, ist meist verstrichen, das Augenübel bereits so weit vorgeschritten, daß eine Rettung des Auges nicht mehr zu hoffen, oder das Auge überhaupt schon ausgelaufen. Darum merkt es euch, ihr jungen Mütter: es tritt häufig in den ersten Lebenstagen des Kindes – gewöhnlich am dritten oder vierten Tage beginnend – eine Entzündung des Auges ein, gegen welche, soll sie nicht gefahrdrohend werden, sofort energisch vorgegangen werden muß.
Der Sitz der Krankheit ist zunächst die Augenbindehaut, und sie kündigt sich durch Röthung und Schwellung der Augenlider an. Diese Schwellung ist nur bei den niedersten Graden weniger beträchtlich, in der Regel wird sie sehr bedeutend. Die Lider erscheinen dabei hart und gespannt, oberflächlich glänzend, heiß und überaus empfindlich gegen Berührung. Namentlich das obere Lid ist stark geschwollen, so daß es das untere überragt und oft ganz verdeckt. Nach kurzer Zeit wird Eiter in großer Menge abgesondert, der sich fortwährend aus dem Bindehautsack entleert und über die Wangen herabrinnt. Bei Eröffnung der Lider stürzt eine größere Menge auf einmal hervor.
Treten diese Krankheitserscheinungen auf, so wendet Euch sofort an einen verständigen Arzt, denn noch sind edlere Theile des Auges nicht mit ergriffen und der Arzt kann sichere Heilung versprechen. Bis zu seinem Erscheinen schütze man das Auge vor zu grellem Licht, sorge für reine Luft, für stete Reinhaltung des Körpers des Kindes, sowie der Hände der Pflegerinnen, suche mit einem weichen, lauwarm angefeuchteten Schwamme den Eiter aus dem Bindehautsack des Auges von Stunde zu Stunde vorsichtig zu entfernen und lasse sich durch das Schreien des Kindes davon nicht abhalten. Man bedenke, die Vernachlässigung dieser Krankheit liefert das Hauptcontingent aller Blinden.
Noch rapider, aber glücklicher Weise nicht so häufig auftretend zerstört das Sehvermögen eine andere Krankheitsform, wenn sie nicht sofort zur ärztlichen Behandlung gelangt – die sogenannte gichtische Augenentzündung oder der grüne Staar. Noch vor Kurzem führte sie unrettbar zur Blindheit; daß jetzt Tausenden von Patienten das Augenlicht erhalten bleibt, ist das unsterbliche Verdienst Gräfe’s. Und doch gehen auch jetzt noch alljährlich aus Unachtsamkeit so viele Augen dieser Wohlthat verlustig! Es trifft dies namentlich Patienten vom Lande und von kleinen Städten, die sich vom althergebrachten Vorurtheile, „mit dem Auge dürfe man nichts anfangen,“ noch nicht lossagen können und zum Arzte erst kommen, wenn alle Hoffnung vorbei ist.
Dennoch sind die Erscheinungen des grünen Staares so charakteristische, daß sie auch dem Laien verständlich sein müssen. Meist in einer schlaflosen Nacht werden die Patienten von heftigen Schmerzen im Kopfe und an der Schläfegegend des befallenen Auges ergriffen. Das Auge erscheint geröthet, die Pupille erweitert, starr. In kurzer Zeit ist das Sehvermögen entweder erloschen oder doch so bedeutend herabgesetzt, daß nur noch größere Gegenstände wahrgenommen werden können.
Zwar hellt sich in einzelnen Fällen das Sehvermögen nach einigen Stunden wieder auf, aber bald darauf erneuern sich die Schmerzen in Kopf, Schläfen und Stirn, das Sehvermögen nimmt wieder ab, und wird jetzt nicht noch rechtzeitig ärztliche Hülfe nachgesucht, so tritt unheilbare Blindheit ein – oft schon nach vierundzwanzig Stunden.
Es ist dies die acute Form des grünen Staares; es giebt aber noch eine chronische, in der das Auge erst nach Monaten oder Jahren zerstört wird. Bei dieser treten die Anfälle periodisch auf, und nach jedem derselben wird das Sehvermögen geschwächt. Die Pupille wird gleich anfangs weiter und reagirt sehr träge auf Lichtreiz; später erscheint auffällige Erweiterung und Starrheit, welche einen eigenthümlichen graugrünlichen (meergrünen) Reflex des Augengrundes bedingt, woher auch der Name „grüne Staar“ kommt. Bei gewöhnlichem Tageslicht lagert sich ein mehr oder weniger dichter Nebel über das Gesichtsfeld und Abends – ein sehr beachtenswerthes Symptom – erscheint die Kerzenflamme von einem Lichtscheine umgeben, der oft in Regenbogenfarben spielt und zwar so, daß an der äußeren Seite das Grünblau, an der inneren das Roth vorherrscht. – Nach und nach nimmt das Sehvermögen immer mehr ab, bis endlich völlige, unrettbare Erblindung eintritt.
Darum achte man auf obige Erscheinungen und suche rechtzeitig Hülfe, denn je länger man wartet, desto ungünstiger ist der dann noch zu hoffende Erfolg. Später sind Thränen und Gebete vergeblich: Eure geistige Blindheit hat auch die körperliche herbeigeführt.
Frauen-Emancipation. Der Drang nach sogenannter Emancipation scheint bei dem „schönen Geschlecht“ von Tag zu Tag stärker zu werden. Aller Orten und Enden bilden sich Gesellschaften, um diese „wichtigste aller Fragen“ zu besprechen; Vereine werden von Damen gegründet und Reden gehalten, und in vielen solchen Versammlungen, auf dieser wie der andern Seite des atlantischen Oceans, verlangen die schönen Rednerinnen völlige Gleichberechtigung mit den Männern, Zutritt zu Staatsämtern, das Recht der Wahl, kurz alles das, was sich bis jetzt der „Herr der Schöpfung“ als alleinige Gerechtsame vorbehalten. Ich will hier gar nicht von der physischen Unmöglichkeit reden, eine solche Maßregel durchzuführen, da verheirathete Frauen oft auf lange Zeit hinaus allen übernommenen Geschäften entzogen werden würden; ich möchte die emancipationseifrigen Damen nur auf etwas aufmerksam machen, an das vielleicht doch nicht alle gedacht haben, und es fragt sich, ob sie im Vortheil wären, wenn sie gerade das gegen ihre Emancipation eintauschten. Lassen Sie mich vorher eine ganz kleine Anekdote erzählen:
Wie bekannt, sind die Amerikaner außerordentlich rücksichtsvoll gegen Damen. In einer größeren Stadt der Vereinigten Staaten war eine Versammlung von Damen angekündigt worden, um einen Verein für die Emancipation zu gründen. Der Waggon der Straßeneisenbahn, die zu diesem Local führte, war vollständig besetzt. Eine Dame will noch mitfahren und steigt ein. Ein schon sitzender Herr steht, wie gewöhnlich, auf, um der Dame seinen Platz anzubieten; ehe sie aber an ihm vorüber kam, fragt er sie sehr artig, ob sie ebenfalls für die Emancipation der Frauen wäre.
„Allerdings, mein Herr,“ erwidert sehr entschieden die junge und hübsche Dame.
„Dann, Miß,“ erwiderte der Herr ruhig, indem er seinen kaum verlassenen Sitz wieder einnahm, „sehe ich nicht ein, weshalb Sie nicht eben so gut stehen können, wie ich.“
Meine schönen Leserinnen werden jetzt sagen: „Das war sehr grob und ungezogen,“ und unter gewöhnlichen Verhältnissen hätten sie Recht. Lassen Sie uns aber die Sache genauer betrachten. Der Mann ist der natürliche Beschützer der Frau. Wie ihm die Stärke gegeben wurde, so hält er das schwächere Weib mit seinem Arm und kämpft für dasselbe des Schicksals Stürme durch. Aber gerade deshalb liebt er es nur desto mehr. Jene holde Weiblichkeit bildet den schönsten und herrlichsten Schmuck der Frau. Als sorgende Gattin und Mutter verehren wir sie und tragen wir sie auf Händen. Der Mann, von schwerer Tagesarbeit ermüdet, findet, wann er nach Hause kommt, eine freundliche Heimath und schöpft da Kraft und Lust zu neuen Anstrengungen. Was er der Frau an den Augen absehen kann, thut er, um ihr die Liebe und Sorge, die sie für ihn und seine Kinder zeigt, nur in etwas abzutragen. Und nicht allein unter dem Schutz des eigenen, nein, unter dem jedes wackeren Mannes steht die Frau. Auf den Eisenbahnen werden besondere Waggons für sie reservirt, andere ebenfalls, damit sie nicht durch Rauchen belästigt sind, kleine Hülfsleistungen werden ihnen gern geboten, man läßt sie nicht allein in der Nacht über dunkle Straßen gehen und thut mit einem Wort Alles, was man kann, um sie nicht belästigt, nicht zurückgesetzt zu sehen. Das aber hört von dem Moment an auf, wo sie aus dem Schutz des Mannes heraustritt und sich selber gleichberechtigt ihm an die Seite oder vielmehr gegenüber stellt. Eine emancipirte Frau kann wohl noch auf Achtung Anspruch machen, aber nur auf eine solche, wie sie auch sonst jedem anständig sich betragenden Mann gezollt wird, vorausgesetzt nämlich, daß sie nicht vollständig ausartet. Artigkeiten und Hülfsleistungen, wie man sie jetzt mit Vergnügen jeder Dame darbringt, kann und darf sie nicht mehr erwarten. Sie waren nur eine Folge ihrer geschützten und reservirten Stellung und fallen in demselben Moment weg, wo sie diese verläßt.
Jetzt setzen wir Alles daran, den Frauen irgend eine Freude zu bereiten, weil sie ja eben auf uns angewiesen sind. Das hört auf, sobald die Frau nicht mehr für uns, sondern mit uns sorgt und arbeitet. Sie wird dann dem Manne ein gleichberechtigter Freund – nichts mehr, und jeder Schutz selbst, den ihr sogar jetzt in vielen Fällen und vorzugsweise die Gesetze gewähren, muß ebenfalls schwinden.
Wollen die Damen das Alles aufgeben, wollen sie die Liebe und Sorgfalt des Mannes gegen eine für sie unnatürliche Stellung gänzlicher Unabhängigkeit eintauschen, immer noch den sehr zweifelhaften Fall gesetzt, daß sie eine solche Stellung auch ausfüllen und besonders durchführen könnten: dann mögen sie ihr Glück versuchen – aber die Folgen haben sie sich auch selber zuzuschreiben. Schiller’s „Ehret die Frauen“ paßt nicht mehr auf sie, und ich fürchte, sie werden mehr dabei verlieren als gewinnen.
Die Körnerhalle in Wöbbelin. Als im Jahre 1863 am Todestage unseres Heldensängers gleichsam ganz Deutschland nach seinem Grabe in Wöbbelin zog, um die fünfzigjährige Gedenkfeier der Befreiung Deutschlands hier in voller Begeisterung zu halten, da brachten so Viele, Einzelne sowohl, als Repräsentanten ganzer Vereine, ein Ehrendenkzeichen ihrer Hochachtung und Liebe mit, um es am Grabe niederzulegen. Aber sollten alle diese Liebesgaben hier verkommen in Wind und Wetter, in Staub [624] und Regen? „Das sei ferne!“ meinten die alten Kampfgenossen Körner’s, die auch am Grabe standen. Deutschland müsse vielmehr hier eine Halle errichten zur Aufnahme und Bewahrung aller dieser vielen, meist so sinnigen Erinnerungsdenkmale, damit dieselben noch späteren Geschlechtern Zeugniß ablegen könnten, wie ihre Vater es verstanden, ihre großen Todten zu ehren. Ein Comité in Ludwigslust wurde deshalb beauftragt, zunächst öffentlich alle Verehrer Körner’s um Gaben für diesen Zweck anzusprechen und dann später die Ausführung des Baues in die Hand zu nehmen, respective zu überwachen. Am 26. August 1865 ward der Grundstein gelegt und am selben Tage dieses Jahres der vollendete Bau eingeweiht.
Den Schmuck der Halle bilden neben einzelnen Körner-Reliquien eine große Anzahl von Gedenkzeichen, die vorzugsweise im Jahre 1863 hierher getragen und gesendet sind. Zuerst nenne ich Körner’s „Eisenbraut“, erst in neuester Zeit der Halle geschenkt von Herrn Freidank auf Pollnow bei Rotzow in Hinterpommern, mit der ausdrücklichen Bedingung, das Schwert an Körner’s Geburts- und Sterbetage jedesmal frisch zu bekränzen. Ein grüner Lorbeerkranz bestätigte für diesmal die Erfüllung dieser Bedingung. Herr Hofrath Dr. Förster in Berlin hatte ebenfalls vor Kurzem gesendet: Körner’s Tschako, Feldmütze (schon sehr defect), Stiefeln (sehr gut erhalten), Trinkglas und einen Briefbeschwerer aus Marmor, der von Körner selbst gearbeitet und 1809 der Mutter zum Geburtstag geschenkt war.
Von den sehr zahlreichen Ehrendenkmalen ist hauptsächlich Körner’s von seiner Schwester in Oel gemaltes Brustbild zu erwähnen. Dasselbe hatte bisher in der Gemäldegalerie im Schlosse zu Ludwigslust gehangen. Ferner das Portrait seiner Pflegerin nach seiner Verwundung bei Kitzen. Die Tische unter den Fenstern an den beiden Querseiten liegen und die Wände hängen gedrängt voll von Kränzen, die aus Lorbeerblättern, Eichenlaub, Immortellen, Myrthen, Rosen, Cypressen etc. zum Theil sehr künstlich gewunden sind, an denen allen aber der Zahn der Zeit schon mehr oder weniger kräftig genagt hat. Eine Ausnahme hiervon machen die aus künstlichen Blättern oder Blumen angefertigten, und sehr gut erhalten sind natürlich die von Metall. Einen vergoldeten Silberkranz sandten die Frauen und Jungfrauen von Spandau. Außerdem legten hier Silberkränze nieder: der Central-Ausschuß zu Ludwigslust, die Studirenden der Kunstakademie zu Dresden, der Schützenverein in Klütz (Mecklenburg) und der Männergesangverein in Neustadt (Mecklenburg); silberne Leier und Schwert in Etuis der Gesangverein Eintracht in Malchin (Mecklenburg). Unter den Einzelspendern von Kränzen hebe ich hervor: Die Tochter Schiller’s, Freifrau Emilie v. Gleichen-Rußwurm; Chr. Jul. Körner, Dr. med in Meldorf (Süderdithmarschen); Anna Kath. Sauerteig in Hamburg, Marketenderin im Lützow’schen Corps; M. v. Weber’s Söhne; Fritz Reuter und Frau in Eisenach; Amalie Oertling geb. Körner in Schwerin; Antonie Arneth geb. Adamberger in Wien (Körner’s Braut). Eine Kürbisfeldflasche der Lützower stiftete der Veteran Strielack in Güstrow; eine Gedenktafel von weißem Marmor, Widmung in Goldbuchstaben, der Kölner Männergesangverein. Einen Epheukranz von Lützow’s Grabe sandte die Turngenossenschaft Friesen und Hermann. Der Katalog zählt fast zweihundert Nummern, in denen neben den meisten bedeutenden Städten Deutschlands auch die Stadt Jassy vertreten ist, Ein prachtvolles Votivbuch, ein wahres Meisterstück seiner Art, hat der Centralausschuß der 1863er Jubelfeier hier niedergelegt. Die Namen von Tausenden von Besuchern stehen darin und geben Zeugniß, daß wir Deutsche „unsere treuen Todten nicht vergessen“.
Fehlgeschossen! Victor Hugo hat eine förmliche Leidenschaft, aller Welt etwas Schönes, merkwürdig Geistreiches sagen zu wollen; natürlich werden ihm, wie jedem bekannten Dichter, eine Unmasse von Gedichten und Dramen zur Beurtheilung zugeschickt oder ihm selbst gewidmet, auf die er in den gesuchtesten, übertriebensten und zuweilen fast unsinnigen Ausdrücken antwortet. Auf eine Ode erwiderte er z. B.: „Sie gingen vorüber, Meister, und erleuchteten meinen Weg.“ Ein amerikanischer Dichter widmete ihm eine Romanze, darauf entgegnete er die denkwürdigen Worte: „Sie besitzen eine erhabene Inspiration; die milden Ströme Ihrer harmonischen Rede verleihen meinen Gefühlen eine neue Jungfräulichkeit. Ich drücke Ihnen über den Ocean die Hand.“ In Entgegnung auf eine ihm übersandte Zeichnung schrieb er: „Beim Anblick Ihres Bildes ergriff mich ein Schwindel – Ihre Linien sind Verse, Sie dürfen Gott Du nennen.“
Neulich passirte ihm bei einer ähnlichen Gelegenheit jedoch ein kleiner Mißgriff. Ein braver Maurer in Roubaix, der von dem Dämon der Poesie geplagt wurde, richtete ein Schreiben in Versen an den Dichter, auf welches Victor Hugo folgende Worte erwiderte: „Ich sehe deutlich in Ihren Versen Ihr Bild – jeder Ihrer Gedanken kam aus einem von blonden Locken umwallten Haupte. O mein Kind, mögen Sie noch lange diese blonden Locken behalten, welche die Scheere des Alters noch nicht berührt hat!“
Der poetische Maurer, ein Mann von fünfundsechszig Jahren, machte bei dem Durchlesen dieses Briefes ein sehr verdutztes Gesicht.
Victor Hugo hat übrigens kürzlich die langjährige Gefährtin seines Lebens, seine treffliche Gattin verloren, welche Ende August zu Brüssel im Kreise ihrer Familie plötzlich von einem Schlaganfall hinweggerafft wurde. Er war seit fünfundvierzig Jahren mit ihr verheirathet, denn im Jahre 1823 fand die Vermählung des jungen Paares statt – der Bräutigam, Victor Hugo, zählte damals zwanzig, die Braut, Adele Foucher, erst fünfzehn Jahre.
Ein Meisterwerk deutscher Seidenweberei schmückt soeben das Redactionszimmer der Gartenlaube: das nach unserem Holzschnitt von Herrn H. F. Schaller in Ernstthal in Seide gewebte Bildniß Roßmäßler’s. Wir nahmen schon früher Gelegenheit Schaller’s Kunstfertigkeit anzuerkennen, als er den ebenfalls in der Gartenlaube mitgetheilten Plüddemann’schen „Heinrich der Vierte in Canossa“ in verschiedener Größe auf dem Webstuhl ausgeführt und auch zur Chemnitzer Ausstellung gebracht hatte. Doch gestehen wir, daß uns dieses Portraitbild Roßmäßler’s einen bedeutenden Kunstfortschritt zeigt und beweist, daß in der That die sächsische höhere Webkunst sich mit der hochgepriesenen Frankreichs messen kann.
In einem Garten sah ich Blumen steh’n,
Auf einem runden Beete voll und schön;
Gepflegt von eines treuen Gärtner’s Hand,
Hier lieblich eine bei der andern stand.
Levkoyen vierzehn mehr als Tausendschön,
Und acht mehr Lilien als die letztern steh’n;
Doch wenn man Lilien einunddreißig nimmt,
Der Rest die Zahl der Nelken dir bestimmt.
Und schließlich zum Verständniß sag’ ich dir:
Die letztern nicht, die andern nur addir’:
Und einundzwanzig mehr die Summe hat
Als von der Nelken Anzahl das Quadrat. –
Nun sag’, wenn du im Rechnen so gewandt,
Wie viele Blumen ich im Garten fand:
In welcher Anzahl dort beisammen steh’n
Levkoyen, Lilien, Nelken, Tausendschön?
- ↑ Auf allen bedeutenderen Stationen seiner Lebensfahrt knüpfte Goethe ein neues Liebesverhältniß an und gewann jedes Mal eine neue Ausbeute erotischer Gedichte. Sein Aufenthalt in Italien (vom September 1786 bis in den April 1788) scheint hiervon eine Ausnahme zu bilden, da die gewöhnlich als Document und Frucht einer italienischen Liebe aufgefaßten römischen Elegien, wie Viehoff in seinem Leben Goethe’s näher nachgewiesen hat, auf deutschem Boden und unter dem Einfluß des Verhältnisses zu Christiane Vulpius entstanden sind. In der That ist der lyrische Ertrag seines Aufenthaltes in Italien nicht groß; doch zeugen zwei seiner kleineren Gedichte, durch Anmuth beide ausgezeichnet, von einer italienischen Liebe. Sie gewinnen erst volle Klarheit und zugleich ein höheres Interesse, wenn das vom Dichter nur bruchstücklich und zerstreut Angedeutete in näheren Zusammenhang gebracht wird. Ich mache den Versuch um so lieber, da dieses Herzensverhältniß an sich schon eine anziehende, bisher noch nicht genugsam aufgehellte Partie in dem Leben des großen Dichters bildet.