Die Gartenlaube (1868)/Heft 46

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1868
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 46.   1868.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Das Erkennungszeichen.
Von A. Godin.
(Fortsetzung.)


3.

Es ist der erste Sonntag im Mai. Die Sonne lacht strahlend vom wolkenlosen Himmel hernieder, als wolle sie das Frühlingsfest, das alljährlich an diesem Tage in Bamberg gefeiert wird, begrüßen. Wie Pilger zu einem Wallfahrtsort wandern von des Morgens an Schaaren von Spaziergängern den Pfad entlang, der zur Höhe der Altenburg führt; die dienenden Classen, wo es ihnen nicht gelungen war, sich den Nachmittag frei zu bitten, schon um vier Uhr früh, um sich von dem Pächter, der die Gartenanlagen pflegt, ein gutes Frühmahl bereiten zu lassen und dem fröhlichen ersten Morgenconcerte beizuwohnen. Gegen acht Uhr nimmt die herbeiströmende Menge schon einen gewählteren Charakter an. Selbst die beau monde, deren jüngerer Theil namentlich, dem Tage zu Ehren, heut ungewöhnlich zeitig das Lager verlassen hat, mischt sich jetzt, im frischesten Frühlingsputze, unter die Bürgersleute, denn um neun Uhr sollte dort oben der Gottesdienst im Freien beginnen, eine Frühlingsfeier, wie ein andächtiges und für die Poesie der Natur empfängliches Herz sie nicht schöner wünschen kann.

Bald nach acht Uhr trommelte der Finger des Assessors an die Scheiben des Freundes, der die erste Morgenrunde bereits beendigt und sich für ein paar Stunden frei gemacht hatte. Mit Genuß wanderten die beiden jungen Männer in den himmelblauen, sonnengoldenen Morgen hinein, durch die alte, charaktervolle Stadt den engen Schluchten zu, die sie, langsam aufsteigend, durchschritten, oft genug vom Reize des Landschaftsbildes gefesselt, das sie bei mancher Wendung plötzlich anlachte, wie die vereinzelte Strophe eines schönen Gedichtes, dessen vollen Genuß freudig ahnen lassend.

Nachdem der letzte ziemlich steile Theil des Berges überwunden und ein von Bäumen besetztes Plateau erreicht war, fesselte die volle Pracht der Aussicht in der That Fuß und Auge Beider, so oft sie den Ausblick auch schon genossen hatten. Eine weite, lachende Thalebene dehnt sich dort in aller Mannigfaltigkeit eines reich angebauten Landes aus und bildet in ihrer sanften Färbung eine Folie für die Stadt, deren Anblick um so malerischer erscheint, als ihre schönsten Kirchen, ihre bedeutendsten Gebäude hochgelegen sind. Die reiche Ebene, von sanft ansteigenden Bergen amphitheatralisch begrenzt, von dem lebendigen Flusse erhellt, wird durch einen dichten Föhrenwald um so effectvoller schattirt, als ein dem Forste nahegelegener klarer See wie ein Thautropfen auf einem Blatte funkelt und mitten aus dem Walde die weißen Mauern des hübschen, mit vier Thürmen geschmückten Schlößchens Seehof hervorleuchten. Manche Bergcapelle giebt, von den Höhen herabgrüßend, der Landschaft die locale katholische Färbung, während die Thürme der zahlreichen Kirchen, besonders des schönen byzantinischen Doms, ein hochgelegenes Klostergebäude, ein weitläufiges Residenzschloß, dem kundigen Blick leicht verrathen, daß er in der Stadt selbst einen Bischofssitz vor sich liegen sieht. Wohl fünfzig Ortschaften sind rings umher ausgestreut, manche Burg beschirmte oder bedrohte das flache Land, als ihre jetzt zerbröckelten Mauern noch stolz emporragten. Die großartigen Trümmer der Feste Giech scheinen das Pendant zu dem stattlichen Bergschlosse Banz zu bilden, das, ein ehemaliges Kloster, jetzt hell von der Morgensonne beschienen wird; dieselbe Sonne tanzt spülend und hüpfend auf der muntern Regnitz und scheint ihr zu ihrer Vermählung mit dem Main, der blau herüber schimmert, den Segen zu geben.

Die Freunde schritten weiter, der Altenburg entgegen, wo sich an der mit jungem Rasen bekleideten Brustwehr, welche den Schloßgraben abgrenzt, eine wogende Menge in lebensvollen Gruppen bewegte. Denn hier war der Punkt, von wo aus sich der bevorstehende Hauptmoment der heutigen Feier am besten genießen ließ. Bot der Anblick von Hunderten festlich geschmückter und gestimmter Menschen ein Allegro frischen Lebens, so glich der Schauplatz, dem sie entgegenblickten, dem Adagio einer lieblichen Idylle. Auf der Wiesenfläche jenseits des Grabens steht ein schmuckloser, in weißem Sandstein ausgehauener Altar; drei Crucifixe, welche Christus und die beiden Schächer in mehr als Lebensgröße tragen, erheben sich hinter demselben und treten einfach, aber wirkungsvoll aus dem Hintergrund einer Gruppe alter Buchen hervor. Wiesen und Bäume füllen in allen Schattirungen von Frühlingsgrün die Schlucht aus, die sich von dort bis zur Ebene hinzieht, und, wie ein Ei im Neste, liegt tief unten im Grunde ganz lauschig und einsam das Dörfchen Wildensorge.

Immer neue Gruppen strömen, da es in wenigen Minuten neun Uhr war, über die hölzerne Brücke, die aus dem Burgthor über den Graben führt, der unmittelbaren Nähe des Altares zu, und sowohl diesseits als jenseits des Grabens, bis tief in den grünen Thalgrund hinab, war bald jedes Plätzchen besetzt. Das Glöckchen des Meßners erklang, und aus dem Schatten der Bäume hervor trat der Priester mit seinen Chorknaben an den heute mit Teppichen und Blumen reich ausgestatteten Altar. Mit allen Ceremonien des katholischen Cultus ward nun, mitten im Grün, [722] Angesichts der herrlichen Gotteswelt, ein feierliches Hochamt abgehalten. Beim Schalle des Glöckchens, welches das Sanctus verkündigt, werfen sich Hunderte von bunten Gestalten auf die Kniee, und mit brausendem Klange vereinen sich nun alle Stimmen der Andächtigen zu der herrlichen Melodie: „Großer Gott, Dich loben wir etc.“

Sich dem Eindruck dieses lebensvollen Vorganges zu entziehen, dürfte dem gleichgültigsten Naturell kaum möglich sein. Die ganze Menge scheint in diesem Augenblick nur dem Gedanken an einen freundlichen Gott der Güte hingegeben, und der heilige Friede der von Schönheit verklärten Natur rings umher muß selbst ein kaltes Gemüth mit sanftem Hauch berühren.

Kaum aber ist das letzte Wort des Priesters verklungen, als auch, ohne allen Uebergang, den Freuden dieser Welt gehuldigt wird. Die leichtbewegten Massen strömen auseinander, wie eine Procession geht es zurück über die kleine Brücke, und eilfertig sucht Jeder ein Plätzchen in den Gartenanlagen oder auf der Terrasse zu erbeuten. Am Eingange zu der engen Küche, die in den erhaltenen Räumen der Burg etablirt ist, wird ein Sturm nach dem andern auf die Hunderte von kleinen Bratwürsten gewagt, die, als officielles Gericht des Tages, vom hartbedrängten Restaurateur in immer neuen Auflagen herausgereicht werden. Das braune Bier schäumt in den Gläsern, zwei Musikchöre lassen ihre Klänge abwechselnd erschallen und ein volksthümliches Leben und Treiben entfaltet sich in allen Schattirungen. Allerwärts ertönt Plaudern und Lachen, die Gläser klingen, selbst die Dissonanz einer schreienden Kinderstimme, die mitunter erschallt, scheint zum Ensemble zu gehören; während die mit staunenswerther Ausdauer fortgesetzten Mahlzeiten entschieden einen Theil der Lustbarkeit ausmachen, wird auch der Tanz im Saale, trotz der Frühlingssonne, die hereinblitzt, von den jungen Bürgermädchen nicht verschmäht.

Den Freunden war es gelungen, ein gutes Plätzchen zu erobern und mit Ergötzen und manch launiger Bemerkung musterten sie das Treiben rings umher. In der Mauerecke, nahe der Brüstung, saß eine kleine Gesellschaft, die sichtlich den höheren Ständen angehörte und für die Blicke der beiden jungen Männer ein Magnet war, der sie unbewußt immer von Neuem anzog.

Die Gruppe bestand aus zwei Damen und einem Herrn. Letzterer, ein Stabsofficier von hohem Wuchse und einnehmenden Zügen, mochte ein Vierziger sein; sein dunkles Haar war an den Schläfen bereits ergraut, auf dem noch frischen, scharf markirten Gesicht zeigten sich Linien, die mehr das Leben als das Alter in manche Physiognomie zeichnet. Die eine der Damen war alt und hatte eines jener gutmüthigen Gesichter, die stets zugleich Erstaunen und Besorgniß auszudrücken pflegen; um so mehr diente sie ihrer Nachbarin zur Folie, einer Erscheinung von solch zarter Frische, daß kein erster Blick sie treffen konnte, ohne daß ein zweiter folgte und gefesselt verweilte. Das moderne Hütchen versteckte nichts von dem Reichthum der prachtvollen, aschblonden Flechten, die den kleinen Kopf belasteten, blaue Augen, die taubensanft blicken und doch Blitze sprühen konnten, drückten mit seltener Beredsamkeit jede Regung aus, und eine zarte, leicht aufgebaute Gestalt von libellenhafter Beweglichkeit trug diesen zierlichen Kopf mit großer Anmuth. Wie absichtslos trafen manche ihrer raschen Blicke im Fluge einen oder den Andern unserer Freunde, deren Conversation nach und nach in’s Stocken kam.

„Nun,“ sagte Schaumberg nach einer Pause, während welcher das Auge des Assessors wieder einmal nach jener Gegend gewandert und von diesem Ausflug ziemlich lange nicht zurückgekehrt war, „warum schmachtest Du hier aus der Ferne, und überschreitest nicht den gewaltigen Rubikon dieses nur zehn Schritt breiten Rasens?“

„Soll ich Dich heute vorstellen?“

„Nein!“ erwiderte Otto. „Geh nur, mir wird die Zeit nicht lang.“

Marbach erhob sich und trat an den benachbarten Tisch.

„Wie gerufen!“ nickte Helene Dalen ihm lebhaft entgegen, als er sie begrüßte. „Sie sollen mir gegen den Major beistehen! Wir sprachen von sommerlichen Reiseplänen, und da behauptet dieser Kriegsheld, das Reisen sei heut zu Tage seiner ganzen Romantik beraubt!“

„Was die Romantik des Reisens betrifft,“ lächelte der Assessor, „so liegt sie vor Allem im Reisenden selbst, und ich will gern zugeben, gnädige Frau, daß Sie aller Romantik, deren Sie bedürfen, auf Tritt und Schritt begegnen werden.“

„Mit Ihren Spötteleien ist mir hier nicht gedient,“ schmollte die schöne Frau, das Köpfchen schüttelnd. „Was aber hat die gegenwärtige Zeit und all ihre Prosa damit zu thun, daß Einem schon bei dem bloßen Gedanken das Herz schlägt, nun in die blaue Welt hineinzufahren, um Neues zu sehen und Neues zu hören? Wer könnte auch nur den Dampfwagen dahin sausen sehen, wenn er, etwas Lebendigem gleich, brausend und zischend, als der verkörperte, feurige Menschengeist das Land durchschneidet, ohne sich – ja, ich wage das Wort! ohne sich poetisch angeregt zu fühlen? Und der Sonnenschein, der auf grünen Blättern funkelt, die wir nicht knospen und werden sahen, die gute Stimmung, die jeder schöne Tag dem Reisenden als Mitgift bringt, die Wärme und Natürlichkeit, die uns aus wildfremden Gesichtern entgegen grüßt – das Alles sollte nichts mit Romantik zu thun haben?“

„Aber, Kind,“ warf die Cousine bekümmert dazwischen, „es hat mit dem Reisen doch auch seine zwei Seiten! Wenn man den Zug verpaßt, und wenn man den ganzen Tag mit aufgerecktem Kopfe in den Museen herumsteigen muß, um Bilder zu sehen, von denen man nicht weiß, was sie vorstellen, und wenn man nie dazu kommt, in Ruhe sein Strickzeug herauszunehmen –“

„Ja, und wenn man Morgens seinen Sonnenschirm und Nachmittags seinen Haubenbeutel im Gasthof liegen läßt etc. etc.,“ unterbrach Helene neckend die alte Dame. „Und doch läßt mich, trotz all dieser Noth, mein Cousinchen nicht im Stich, wenn ich’s, als ächter Zugvogel, im Lande nicht mehr aushalten kann.“

„Die Sonntagsstimmung freier Reisezeit fühlt Ihnen wohl Jeder nach,“ sagte der Assessor, dessen Blick die lebhaft Plaudernde nicht einen Augenblick verlassen hatte. „Es ist hoch anzuschlagen, daß dieser Genuß heut zu Tage nicht mehr das Monopol weniger Begüterten, sondern ein Gemeingut geworden ist, das Jedem einmal erreichbar bleibt.“

„Wir Soldaten haben triftige Ursachen, dem vielen Reisen, das jetzt Sitte geworden ist, nicht das Wort zu reden,“ fiel der Major ein, „denn zuletzt wird es jeden Krieg der Völker gegeneinander unmöglich machen. Sicher gewinnt das Bedürfniß weltbürgerlicher Gemeinschaft, das jetzt so allgemein durch die Völker geht, durch die eigene Anschauung fremder Gauen. Die jedem Lande eigenthümlichen Sitten werden vom Gedächtniß Dessen, der sich in freiester Stimmung ihnen anschloß, von Süd nach Nord, von Nord nach Süd getragen, manche Anschauung wird gemildert, manches Vorurtheil aufgeklärt. Das Interesse an Orten und Dingen, das früher mehr ein locales war, gewinnt allgemeinere liebevolle Bedeutung, und gern kommt Jeder in späterer Zeit der Erinnerung zu Hülfe und erzählt sich und Anderen das Geschaute wieder.“

„So wird es auch heute wohl nicht an Fremden fehlen, die unser liebes Frühlingsfest wie Brieftauben in die weite Welt hinaustragen,“ sagte Helene, heiter um sich blickend. „Welch ein Feiertag! Warum sitzen wir eigentlich hier so fest? wollen wir nicht lieber ein Weilchen umherwandern? Ich muß mir ansehen, wie sich die gefüllte Terrasse von drüben her ausnimmt!“ – Schon war sie aufgesprungen, die beiden Herren schickten sich an, sie zu begleiten.

„Mich dispensirst Du, ich werde den Platz hüten, nicht wahr, Kindchen?“ bat die alte Dame, und, fröhlich nach ihr zurückwinkend, wanderte Helene mit ihren Begleitern durch die Halle der Altenburg, dem Platze zu, wo der Altar stand. Auch dort war es noch sehr belebt, und jeden Augenblick streiften Vorübergehende aneinander.

„Wollen Sie mir nicht lieber den Arm geben, Helene?“ fragte der Major, als eben wieder ein kleiner Stoß ihn gegen sie gedrängt hatte.

„Mich führen lassen, heut’, wo ich fliegen möchte!“ rief die junge Frau. „Nein, daraus wird nichts!“ Mit geflügelten Schritten eilte sie bei diesen Worten ihren Begleitern voraus und lief wie ein Kind den grünen Wiesenabhang hinunter. Plötzlich aber sahen die Herren sie schwanken und mit einem unterdrückten Schrei in die Kniee sinken. Augenblicklich waren Beide an ihrer Seite, sie erhob sich lachend, erblaßte aber gleich darauf und biß die Lippen zusammen.

„Ich glaube wirklich, ich habe mir den Fuß verstaucht,“ [723] sagte sie zögernd „es ist mir nicht möglich ohne heftige Schmerzen damit aufzutreten.“

Jetzt nahm sie den vorhin verschmähten Arm und stützte sich fest darauf, hielt aber schon nach wenigen Schritten wieder an und setzte sich mit der Miene eines verzogenen Kindes in’s Gras. „Ich kann nicht weiter,“ sagte sie aufblickend.

„Nur einen Augenblick bleiben Sie so!“ rief der Assessor „Ich rufe den Freund, der mit mir heraufgekommen ist; er ist Arzt und wird hier den besten Rath geben.“

Schon forteilend, sah er die fliegende Röthe nicht, die plötzlich das Gesicht der schönen Leidenden bedeckte, die jedoch dem Auge des Majors nicht entging und ihn mit eigenthümlicher Aufmerksamkeit dem bevorstehenden Zusammentreffen entgegenblicken ließ.

Nach ein paar Minuten war Schaumberg zur Stelle, und vier Augen, die sich seit den letzten Monaten häufig genug über die Straße hinüber gesucht und gefunden hatten, trafen in einem flüchtigen, leuchtenden Blitz zusammen. Nach ein paar rasch beantworteten Fragen forderte der Arzt die Patientin auf, sich zu dem kurzen Gange bis in die Burg zu überwinden, wo er den Fuß untersuchen und das Nöthige anordnen wolle. Von ihm und Feldheim gestützt, erhob sich Helene, nahm dann des Majors Arm und bewegte sich mühsam vorwärts, während der junge Arzt vorauseilte, um für ihre Bequemlichkeit in einem geeigneten Locale der Wirthschaft zu sorgen.

Marbach holte inzwischen Frau von Klinger herbei, die, zugleich mit Helene das Zimmer betretend, sie mit wortreichen Lamentationen überschüttete und ungeduldig machte. Der Major und der Assessor zogen sich zurück, und Schaumberg untersuchte nun den durch die Tante rasch von seinen Hüllen befreiten rosigen Kinderfuß, der bereits bedeutend angeschwollen war.

„Nun?“ sagte die junge Frau, mit kindlichem Ausdruck zu ihm aufblickend.

„Sobald ein Wagen bereit ist, werde ich mir erlauben, Sie, gnädige Frau, in Ihre Wohnung zurückzubringen. Bis dahin, und unterwegs, sind kalte Umschläge das Einzige, was wir vornehmen können. Später wird dann Ihr Arzt das Weitere anordnen – leider müssen Sie sich, aller Wahrscheinlichkeit nach, auf eine lange Geduldsprobe gefaßt machen.“

„Ich habe keinen Hausarzt,“ sagte Helene leicht erröthend; „seit dem Jahre meines Hierseins bedurfte ich keines Beistandes dieser Art. Würden Sie wohl so freundlich sein, mir ferner beizustehen?“

Otto’s Augen blitzten auf, doch entgegnete er nur ein paar gelassene Worte der Zusage. Als er hinaustrat, fand er die anderen Herren wartend vor der Thür.

„Nun, wie steht es?“ fragte Feldheim ungeduldig.

„Es ist eine starke Verstauchung; ein Bruch wäre mir lieber. Dergleichen ist leider sehr langwierig, auf fünf bis sechs Wochen Clausur muß Frau von Dalen sich gefaßt machen. Willst Du Dich nach einem Wagen umsehen, Marbach? Ich werde einstweilen für die nöthigen Umschläge sorgen.“

„Dazu würde auch wohl die alte Klinger zu brauchen sein,“ murmelte Feldheim, nicht in bester Laune. „Für den Wagen werde ich sorgen, meine Herren, es fehlt nicht an wartenden Droschken.“

Eine Viertelstunde später fuhr ein bequemer Wagen langsam den Abhang hinab; Helene lag behaglich[WS 1] im Fonds, das kranke Füßchen ruhte im Schooß der gegenübersitzenden Tante, neben welcher Otto Schaumberg, der ernste Jünger der Wissenschaft, zu den bescheidensten Anfängen ihrer Wirksamkeit herabgestiegen war und mit lobenswerthem Eifer aus einem am Wagenschlag befestigten Gefäß mit kaltem Wasser die von ihm angeordneten Umschläge persönlich erneuerte.




4.

Es war ein Regentag; einer von denen, wie sie im Sommer so wohlthuend sind, wo man der Abwechselung halber auch gern einmal im Zimmer bleibt und das regelmäßige Fallen der Tropfen, das zu anderer Zeit melancholisch wirken kann, als Behagen und Erfrischung empfindet. Wenigstens empfand Helene Dalen heute so. Wir wollen in ihr Wohnzimmer eintreten, von dem wir bis jetzt nur die Fenster kennen lernten; es ist der wohnlichste und zugleich anmuthigste Raum, den Reichthum und Geschmack zu erschaffen vermochten.

Die junge Frau ruhte auf einer Chaise-longue, ihr noch bandagirtes Füßchen auf ein Kissen gestützt, die zierlichen Finger mit einer Stickerei beschäftigt, von der sie nicht aufschaute. Vor ihr saß Major von Feldheim, ein Buch in der Hand, aus dem er eben vorgelesen.

„Warum hören Sie auf?“ fragte Helene, plötzlich aufblickend.

„Weil Sie nicht zuhören,“ sagte Feldheim, und sah sie fest an. „Sie sind zerstreut, Sie sind –“

„Und was bin ich, daß man’s gar nicht aussprechen kann?“

„Was ich an Ihnen noch nicht erlebt habe, Helene – träumerisch!“

Ein Lächeln spielte auf den Lippen der jungen Frau. „Und ist das ein solches Staatsverbrechen, daß mein strenger Mentor mich darob mit so dunkeln Blicken anschaut? Ist’s nicht erlaubt, auch einmal zu träumen? Ich bin ja hier im Zimmer festgebannt wie ein gefangener Vogel, zwitschern kann ich doch nicht den lieben langen Tag, da läßt man denn mitunter die Gedanken wandern, und bei dem Klang Ihres melodischen Lesens träumt sich’s hübsch.“

Feldheim’s Stirn faltete sich. Er schloß mit einer raschen Bewegung das noch aufgeschlagene Buch. „Dafür ist Shakespeare zu gut,“ entgegnete er kurz.

Helene lachte. „Lassen Sie uns lieber plaudern,“ sagte sie mit kosendem Ton, „Sie haben Recht, ich bin heute wirklich keine brave Zuhörerin gewesen. Erzählen Sie mir von dem gestrigen“ – sie brach ab, ein gespannter Zug glitt über ihr Gesicht hin. Feldheim’s Blick trübte sich, mit ihr zugleich hatte er die Hausthür öffnen hören; er stand hastig auf und stellte das Buch in den Bücherschrank zurück. Schon hatte aber Helene den schleppenden Tritt der Cousine auf der Treppe unterschieden und wiederholte nun in leichtem Ton ihre Aufforderung: „Erzählen Sie mir doch von dem gestrigen Concert!“

„Ich war nicht dort, Sie wissen, ich bin kein Musikkenner,“ erwiderte der Major trocken; „Sie werden darüber von anderer Seite bessere Auskunft erhalten.“

Helene sah lebhaft zu ihm auf; die Entgegnung, die ihr auf der Zunge schwebte, ward aber durch den Eintritt der Cousine abgeschnitten, die hastig auf sie zueilte, das gutmüthige Gesicht vom tiefsten Verdruß hochgeröthet. „Die Menschen sind doch zu schlecht, Helene!“ rief sie erbittert.

„Was ist denn geschehen?“

„Meine Uhr ist fort! Meine Uhr mit dem emaillirten Deckel, die ich noch von der Großmutter habe, die über hundert Jahre in der Familie ist! Dein Mädchen hat freilich immer gesagt, ich solle sie nicht in das Uhrtäschchen thun, das neben der Thür hängt, weil mein Zimmer so dicht an der Treppe liegt, wo die Handwerksburschen immer vorbeigehen, wenn sie betteln. Aber wer hätte gedacht, daß ein Handwerksbursche so schlecht sein könnte! Nicht eine halbe Stunde war ich in der Kirche, und wie ich nun heim komme, ist die Uhr fort. Was fängt man nur an!“

„Beruhigen Sie sich, Frau von Klinger, Ihre Uhr ist sehr kenntlich und wird zu ermitteln sein,“ sagte Feldheim. „Ich werde Ihnen das besorgen und bei den Uhrmachern, vor Allem aber bei der Polizei und in der Leihanstalt Anzeige machen.“

„In der Leihanstalt!“ wiederholte die alte Dame, und ihr Auge leuchtete auf. „Dahin wird sie gewiß gebracht! Das werde ich aber selbst besorgen – nein, nein, schweigen Sie ganz still, das lasse ich mir nicht nehmen, ich bin ohnedies neugierig, wie es in einer Leihanstalt zugeht! Adieu, Kinderchen!“

„Aber bei diesem strömenden Regen“ – wandte Helene ein.

„Was soll mir der Regen schaden!“ rief die gute Frau eifrig; „Du hast mir ja erst neulich den schönen neuen Regenschirm geschenkt! Es sind ja auch nur ein paar Schritte bis zur nächsten Straße“ – und damit huschte sie hinaus.

„Lassen wir sie ruhig gehen,“ lächelte Feldheim, „sie ist schon halb über ihren Verlust durch die Aussicht getröstet, zu erfahren, wie es in einem Leihhause zugeht. Das freundliche, ewig zufriedene Gemüth!“

„Von der Mancher lernen könnte!“ sagte die junge Frau mit Beziehung.“ Ja, ja, Feldheim! Sie haben nicht nöthig mich so fragend anzusehen; wäre die Cousine nicht dazwischen gekommen, so hätten Sie schon einige Minuten früher die Gardinenpredigt [724] erhalten, die jetzt nicht ausbleiben soll. Was ist seit einiger Zeit mit Ihnen vorgegangen? Ich kenne Sie gar nicht wieder! Von Ihnen zuweilen ausgescholten zu werden, bin ich seit Jahren gewöhnt, aber nicht, Sie unfreundlich und launisch zu sehen! Sie sprechen jetzt mitunter in einem Tone mit mir, so kühl und fremd, daß ich mich auf mich selbst besinnen muß; Sie bleiben Tage lang aus, und frägt man nach dem Grunde, so hat keiner existirt.“

„Werde ich denn vermißt, Helene?“ fragte er, und eine eigenthümliche Weichheit milderte den meist etwas schroffen Ausdruck der männlich schönen Züge, während er vergebens ihr Auge suchte.

„Welche Frage!“ sagte die junge Frau empfindlich, doch mit einiger Befangenheit zu ihm aufsehend. Plötzlich lief ein lichtes Roth über ihr Gesicht hin, wie der Abendschein über eine schneeige Bergspitze. Feldheim’s Auge, das noch fest an ihr haftete, leuchtete auf, einen Moment nur, denn schon wußte er, daß dies mädchenhafte Erröthen nicht ihm gegolten hatte. Der elastische Schritt, der sich der Thür näherte, war diesmal nicht zu verkennen, und das helle „Herein!“ Helenens klang mit dem Klopfen des Nahenden fast zusammen.

Feldheim blieb in strammer, hoch aufgerichteter Haltung neben dem Sopha stehen, während Otto Schaumberg sich der jungen Frau näherte und die leichte Hand, die sie ihm entgegenbot, ein paar Augenblicke in der seinen hielt.

„Sie haben doch meine Botschaft erhalten, weshalb es mir nicht möglich war, Sie gestern zu sehen?“ fragte der junge Arzt, sich neben ihr niederlassend.

„Heute aber haben Sie Zeit für mich, nicht wahr?“ sagte Helene herzlich. „Die ganze Woche über mußte ich mich ja mit Viertelstunden begnügen, wir haben seit hundert Jahren weder zusammen botanisirt noch musicirt!“

„Dafür bringe ich Ihnen heute auch etwas Hübsches mit,“ erwiderte Otto heiter, indem er ihr eine zierliche Mappe vorlegte. „Mein Freund und Ihr Verehrer Marbach ist gestern von seiner Schweizerreise heimgekehrt und war so liebenswürdig, mich mit diesem Album der dortigen Flora zu beschenken.“

Lebhaft griff Helene nach der Mappe. Es war eine Sammlung der mannigfaltigsten Alpenblumen, in der kunstreichen Weise getrocknet, die den Blüthen weder ihre Farbe, noch ihre Zartheit abstreift und sie mit aller Frische eines Gemäldes und allem Schmelz der Natur dem Auge bewahrt. Erklärend und manche interessante Schilderung jener von ihm früher selbst durchstreiften Landschaften der Schweiz daran knüpfend, schlug Schaumberg die Blätter für sie um, und ein interessantes Gespräch, an dem sich auch der Major betheiligte, war bald im Gange. Schon begann es zu dämmern, als Frau von Klinger, von ihrer Excursion zurückkehrend, plötzlich wie eine Bombe in’s Zimmer fuhr.

„Mein Himmel, Cousine, wie siehst Du aus?“ rief Helene bestürzt. „Du triefst ja wie eine Wassernixe!“

„Ja, Kind,“ sagte die alte Dame kläglich, „naß bin ich, aber das wollte ich gern ertragen, wären nur die Menschen nicht gar so schlecht! Nun denke Dir, da komme ich in’s Leihhaus, und wie ich vor dem Eingang zum Bureau bin, lasse ich natürlich meinen nassen Regenschirm draußen auf dem Flur. Drin im Zimmer habe ich lange warten müssen, bis ich dazu kam, endlich meine Anzeige wegen der Uhr zu machen, denn es waren eine Menge Leute da, und ich sah und hörte auch gar Vielerlei, was mir die Zeit nicht lang werden ließ. Nun denke Dir, wie ich nach einer Weile hinauskomme, ist mein neuer seidener Regenschirm auch fort! Natürlich habe ich im Bureau Lärm geschlagen, aber der Beamte war ganz unhöflich, und die Weiber, die drinnen herumstanden, haben mich noch dazu ausgelacht.“

Helene brach bei diesem bekümmerten Bericht in lautes Gelächter aus.

„Ja, Du hast es wohl nöthig, auch zu lachen,“ sagte Frau von Klinger ganz böse. „Das ist wohl der Dank dafür, daß ich eine Erkältung riskire und mit meinen nassen Kleidern hereinkomme, nur um Dir zu sagen, daß Du selbst bestohlen bist! Sieh doch einmal nach Deinen Schmucksachen! Dort hat ein altes Bettelweib ein paar Schmuckstücke versetzt, die, wenn ich nicht sehr irre, zu Deinem Filigranschmuck aus der Großmutter Erbschaft gehören. Ich habe freilich nicht die besten Augen, aber sieh nur gleich einmal nach.“

„Warum nicht gar!“ sagte Helene, immer noch lachend, ohne sich von der Stelle zu bewegen; „mein Schmuck ist wohl verwahrt, der macht keine Reisen in’s Leihhaus.“

Otto Schaumberg wandte sich lebhaft zu ihr. „Warum sich nicht überzeugen, gnädige Frau, und wäre es auch nur, um bei dieser Gelegenheit unseren profanen Männeraugen Einsicht in Ihre Schätze zu gewähren? Ich schwärme für alterthümlichen Schmuck von Filigranarbeit!“ Er hatte mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit und erhöhter Farbe gesprochen. Helene erröthete unter seinem ausdrucksvollen Blick bis in die Schläfe, schüttelte aber verneinend das schöne Köpfchen, und sagte in etwas capriciösem Ton: „Wenn ich mich überhaupt entschließe, meine bequeme Lage aufzugeben, so wäre es nur, um Musik zu machen. Ich habe die vierhändigen Symphonien, die Sie mir schickten, schon durchgesehen; wollen wir daran gehen?“

Statt der Antwort sprang Otto rasch auf, öffnete den Flügel und schob ein Fußkissen darunter, worauf er seine Patientin während der paar Schritte, die zwischen ihrem Sopha und dem Instrumente lagen, sorglich unterstützte.

Die alte Dame war murmelnd verschwunden. Feldheim zog sich stillschweigend in eine Fensternische zurück und betrachtete mit ernstem Gesicht und gekreuzten Armen die beiden Spielenden, die, bereits in ihr Vorhaben vertieft, seine Anwesenheit nicht mehr beachteten. Während er am Fensterkreuz lehnte, ohne sich zu rühren, brauste und tobte es in ihm, wie in einem Vulcan. Er blickte unverwandt auf Helene, deren feines Profil ihm zugekehrt war. Wie lange schon kannte er dies süße Gesicht! und doch schien es ihm, als hätte er es nie vorher gekannt – nie mit diesem Ausdruck gekannt, der es jetzt durchleuchtete!

(Fortsetzung folgt.)




Ein Musikabend beim Prinzen Louis Ferdinand.

„Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die
      Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksals Wagen durch …
Wohin es geht – wer weiß es?“
 Goethe, Egmont.

Die Goethe’sche Egmont-Gestalt ist für uns der Inbegriff aller Ritterlichkeit, der Typus eines Volkshelden im höheren Sinne des Wortes geworden, jenes Helden, der überall zu siegen wußte, eine Erscheinung, die jedes menschliche Wesen bezauberte und vermöge ihrer glänzenden Eigenschaften und ihres Herzens Jeden bezaubern mußte, gleichviel ob Mann ob Weib, Jung oder Alt, – fast wie Bertrand de Born, der Troubadour, von dem es heißt:

„er sang sie Alle in sein Netz!“

Aber jener „Prinz von Gaure“, der sich am liebsten „Graf Egmont“ nannte, bleibt doch mehr oder weniger nur ein Bild aus ferner Zeit im Schleier der Dichtung, kein warmes lebendiges Menschenkind, dessen Augen wirklich leuchten und lächeln, dessen Blut heiß durch die Adern rollt, dessen Herz klopft, dessen Stimme wir noch zu vernehmen glauben, und dessen Athem wir fast an unserer Wange hinwehen fühlen. Welchen Eindruck ein Egmont von Fleisch und Blut hervorrufen mußte, und – hervorgerufen hat, wird uns erst klar in der Erinnerung an jene einzige Gestalt der neueren Zeit, die unserm Dichter zu dem Bilde seines Lieblings gesessen haben könnte, in Erinnerung an den Prinzen Louis Ferdinand.

Wer kennt sie nicht, die kurze Geschichte des preußischen Königssohnes, des Neffen Friedrich’s des Großen, des genialen Mannes, mit dem seine Umgebung nicht recht fertig zu werden wußte? War sie zu klein und armselig, die Welt der damaligen Zeit für den Thatendrang der Feuerseele? Lebte Prinz Louis Ferdinand ein Jahrhundert zu früh oder zu spät? So fragen wir uns unwillkürlich, diesem reichen und doch so unbefriedigten, thatenlosen Dasein gegenüber. Es ist, als wären die Schranken für ihn überall zu eng, als paßte sie in den Rahmen ihrer Zeit nicht recht hinein, diese Männergestalt, deren Schönheit die Frauen bewunderten,

[725]

Beethoven beim Prinzen Louis Ferdinand.
Originalzeichnung von L. Pietsch.

deren Kraft Niemand brauchte, und deren Ringen und Streben Keiner theilte.

Romantisch von Anfang bis zu Ende erscheint uns sein Geschick, ein fast dämonischer Zauber geht von ihm aus, er ist ein wiederauferstandener Troubadour, Ritter und Sänger zugleich, um die Stirn den Kranz von blutgetränktem Lorbeer und frischen lachenden Rosen.

Es ist aber nicht der geniale Mensch, nicht der Held von Saalfeld, den heut unsere kleine Skizze zu schildern versuchen will, es ist Louis Ferdinand der Liebling der Frauen, und vor Allem Louis Ferdinand der Musiker. –

Wie ein lebendiger Stern geht die Liebe zur Musik durch Leben und Wesen des Prinzen. Schon in frühster Jugend zeigte sich diese glühendste Leidenschaft seiner Seele, und sein großes [726] und vielseitiges musikalisches Talent wurde in der sorgfältigsten Weise ausgebildet. In der Schule Benda’s und Himmel’s erwuchs er zum Clavierspieler und Componisten ersten Ranges, und in allen wechselvollen Stimmungen seiner so erregbaren Seele flüchtete er sich zu seinem geliebten Instrument. Der alte Hofinstrumentenmacher und Kammermusikus Bachmann mußte ihm die sogenannten englischen Flügelclaviere bauen, die der Prinz vorzugsweise liebte, und von denen er, wie man sagt, dreizehn von verschiedenster Tonfärbung in seinem Palais aufstellen ließ, die er abwechselnd nach Lust und Laune spielte.

Im strengsten Studium der alten Italiener und Deutschen auferzogen, von Scarletti, Durante und Pater Martini an bis zu Bach, Mozart und Haydn, war es besonders Mozart, der Unerreichbare, dessen höchste Formenschönheit, bei allem Reichthum der Melodien und aller Leidenschaft, die Seele des Prinzen entzückte und in Banden schlug, bis die magischen Augen jenes seltsamen Zauberers ihm begegneten, der sich Ludwig van Beethoven nannte. –

So vollendet nun auch Louis Ferdinand die Schöpfungen Anderer wiedergab, liebte er es doch noch mehr sich in freien Phantasien zu ergehen, und diese eben wirkten, nach den Berichten seiner Zeitgenossen, wahrhaft hinreißend. Er vergaß dann Alles um sich her und spielte weiter und weiter, von einem Gedanken in den andern tauchend, bis ihm die Hände ermatteten und er sich plötzlich erhob wie aus Träumen erwachend. Niemand hätte ihn zu stören gewagt, keinerlei Nachricht erschien wichtig genug ihm in solchen Augenblicken zugetragen zu werden. „Dieses Glück wenigstens will ich ganz und ungetrübt genießen,“ sagte er, „man soll es mir gönnen!“

In so mancher kritischen Lebenslage fand er an seinem geliebten Clavier allein das Gleichgewicht wieder, so manchen Sturm beschwichtigten die Töne. Prinz Louis Ferdinand liebte es nicht vor einem großen Kreise zu spielen, nur Auserwählte durften ihn so hören, und vor Allem Frauen.

Wie oft hat die schöne Königin Louise seinem wunderbaren Spiel gelauscht; ebenso die ernste Rahel Levin, jene Prophetin des neunzehnten Jahrhunderts, deren Herz nicht minder groß als ihr Geist, und neben ihr vielleicht die reizende Schauspielerin Unzelmann, zu deren lachendem Bilde das Motto paßt: „wenn ihr das Leben gar so ernsthaft nehmt, was ist denn dran?“ Es mag wohl eine lange Liste reizender Frauen sein, die den Prinzen als Musiker bewundern dursten, eine Galerie weiblicher Schönheiten, unter denen die edle Henriette Herz und die wunderbare Pauline Wiesel geb. Cäsar als die hervorragendsten bezeichnet werden dürften. So verschieden wie der Charakter ihrer Schönheit war aber auch das Wesen und Leben dieser beiden Frauen. Henriette Herz mit ihren stolzen, fast classischen Zügen, der wundervollen Haltung und dem fleckenlosen Leben, jene Frau, die Prinz Louis Ferdinand einst der Rahel zuführte mit den Worten: „diese Frau ist nie so geliebt worden, wie sie es verdiente,“ und der strahlende Schmetterling Pauline, ein Wesen, das sich seiner Schönheit freute und wie ein Falter von Blume zu Blume, von Genuß zu Genuß flatterte. Von ihr könnte man sagen: „sie wurde mehr geliebt, als sie es verdiente.“

Sie klingen so märchenhaft, die Schilderungen jener Tage des Berliner Lebens und die Beschreibung der Kreise, deren Mittelpunkt Louis Ferdinand bildete. Die Frauen und nur die Frauen waren es, die den Ton angaben, Schönheit, Geist und Grazie regierten, man spielte mit den Herzen wie mit den Worten, und die Männer schienen nur da zu sein, um zu lieben, zu bewundern und mit sich spielen zu lassen. Und Einer eben war unter ihnen, der nicht nur lieben und tändeln, sondern auch geliebt, tief und wahrhaft um seiner selbst willen geliebt sein wollte, und dieser Eine war der Prinz. Ob ihm jene echte wahre Frauenliebe und Treue über Tod und Grab hinaus geworden, die er so heiß ersehnte? Wer kann es sagen?

Man hört oft die Behauptung aufstellen, daß auf die musikalische Bildung Louis Ferdinand’s, auf seine Richtung und seine Compositionen die Bekanntschaft und Freundschaft mit dem Claviervirtuosen und Componisten Dussek den wichtigsten Einfluß ausgeübt.

Johann Ludwig Dussek aus Czaslau in Böhmen hatte, als er 1790 nach Berlin kam, ein ziemlich bewegtes Leben als gefeierter Musiker in Paris und London geführt, eine Musikalienhandlung in London angelegt und durch dies Unternehmen fast sein ganzes Vermögen verloren. Mit jenem schönen Enthusiasmus und jener echten Herzenswärme, die ihn charakterisiren, näherte sich der Prinz Louis Ferdinand seinem Kunstgenossen, dessen Spiel er lebhaft bewunderte, und bot ihm in der feinsten und unwiderstehlichsten Weise alle und jede nur irgend erwünschte Unterstützung an. Seit jener Zeit war Dussek der tägliche und stets willkommene Gast im Palais des Prinzen und wurde zugleich sein Vertrauter und Freund. Mit erneutem Eifer widmete sich Louis Ferdinand nun der Composition und unterwarf mit der liebenswürdigsten Bescheidenheit seine Schöpfungen dem Urtheil des erfahrenen Musikers. Dussek staunte über solch’ eminentes Talent, sowohl in dem freien Vortrag, als auch in der Composition. Er erklärte aber zugleich frei und offen, daß er hier nicht als Lehrer aufzutreten sich fähig fühlte, und in der That waren es auch nur die Rathschläge der Erfahrung und die Winke des Musikers von Profession, die der Prinz Louis Ferdinand benutzte. Nicht der Hauch eines gemeinsamen Gedankens findet sich in den Schöpfungen Beider. Dussek componirte glatt und liebenswürdig, seine Muse könnte man mit einer leicht dahinschwebenden Schwalbe vergleichen, der musikalische Flug des Königssohns ist der eines Adlers. In seinen Variationen, Quartetten, Trios, Quintetten (bei Breitkopf und Härtel erschienen) und vor allem in seinem ergreifenden F-Moll-Quatuor wogt und wallt eine Fülle tiefer Ideen, glühender Empfindung, sie sind frisch und glänzend figurirt, voller Größe und Kühnheit, regellos zuweilen, aber immer durchaus edel.

Von gleicher Verschiedenheit war das Spiel Beider. Dussek zeigte sich hier blendend und elegant, glänzend und zuweilen auch warm, der Prinz leidenschaftlich und ungestüm, voll Gluth und Seele, Licht und Innigkeit, nirgend gemaltes Feuer, echte Flammen! Einen verbesserten Dussek zu finden in unseren Tagen dürfte nicht schwer sein, bei dem Spiel des Prinzen kann man nur an Liszt und Chopin denken, nach den Beschreibungen, die davon vorliegen.

Dussek’s heiterer Sinn, sein leichtes, halb französisches Wesen waren dem Prinzen angenehm, der gefeierte Musiker verstand in seltenem Maße die Kunst den Augenblick zu genießen, er dachte nicht besonders hoch von den Frauen und kümmerte sich wenig um die Männer; alle Wärme aber, deren sein Herz fähig war, gab er seinem königlichen Freunde, an ihm hing er wie an Nichts in der Welt bis zum letzten Hauche seines Lebens. Einfluß auf die musikalische Richtung, wie sie in seinen Compositionen zu Tage tritt und in seinen freien Phantasien sich kund gab, hat nur Einer gehabt: Ludwig van Beethoven.

Himmel war es, damals 1796 noch Kapellmeister in Berlin, der dem Prinzen eines Tages Beethoven’sche Compositionen spielte, von denen Louis Ferdinand hingerissen war.

„O wer ihn kennen lernen, mit ihm reden, ihn hören konnte!“ rief der Prinz begeistert.

„Dazu könnte Rath werden; wenn Durchlaucht den Beethoven, der jetzt auf der Reise nach Wien in Leipzig verweilt, aufforderten nach Berlin zu kommen, würde er sicher nicht zögern. Man sagt, daß er ein Meister sei im Phantasiren, nebenbei freilich ein etwas seltsamer Kauz, der mit den Großen dieser Erde nicht viel Umstände macht!“

„Desto besser! Schreiben wir ihm auf der Stelle!“

Wenige Wochen später war Ludwig van Beethoven in Berlin. –

Das größte Musikzimmer des prinzlichen Palais strahlte am Abend des 10. October 1796 in einem Meer von Licht. Von den Kronleuchtern und Girandolen floß es wie Sonnenschein und das lebensgroße Bildniß Friedrich’s des Zweiten schaute aus seinem prachtvollen Rahmen ganz erstaunt darein. Das Clavier war aufgeschlagen, Notenblätter lagen auf dem Tabouret, das man daneben geschoben hatte. Auf dem spiegelglatten Parket bewegte sich eine kleine auserlesene Gesellschaft von Musikfreunden. Man erwartete Ludwig van Beethoven. Die Prinzessin Ferdinand in ihrer königlichen Ruhe rauschte in ihrem blaßgrünen Schleppkleide daher, auf den Arm ihres jungen Schwiegersohns, des Fürsten Anton Radziwill gestützt, während die Kronprinzessin Louise mit der jungen Fürstin Arm in Arm leise plaudernd folgte. Der jugendliche Prinz [727] August und der schöne Graf Tilly standen in einer Fensternische harmlos scherzend und lachend, und nur Prinz Louis Ferdinand erschien zerstreut und unruhig. Wiederholt glitt er mit der schlanken Hand über die Tasten, wanderte hin und her und warf ungeduldige Blicke auf die prachtvolle Pendule, die bereits die siebente Stunde zeigte. Der Capellmeister Himmel war von ihm abgesandt worden, den Ehrengast in das Palais zu geleiten, und mit einer Spannung ohne Gleichen erwartete Louis Ferdinand den Eintritt Beethoven’s. Jede Unterhaltung ermüdete ihn, er brach sie, kaum begonnen, wieder ab. In diesem Augenblick nun blieb er bei der Kronprinzessin stehen und sagte lächelnd: „es ist als ob ich eine Geliebte erwartete, ich bin wie im Fieber!“

„Und ist es nicht eine Geliebte, theurer Vetter,“ erwiderte die schöne Frau, „wenn auch in etwas seltsamer Gestalt, nämlich die heilige Cäcilia? Wenn die Schönste und Gefährlichste der Frauen einen Besuch verheißen, da ist solch Fieber wohl natürlich!“

Kaum waren diese Worte gesprochen, als die Flügelthüren sich öffneten und Francois, der Kammerdiener des Prinzen, die Erwarteten meldete. Tief aufathmend und erregt eilte Louis Ferdinand ihnen einige Schritte entgegen. Am Arme Himmel’s trat Ludwig van Beethoven in den Saal.

Die damalige Erscheinung des Meisters beschreibt Seyfried folgendermaßen: „Der Körperbau Beethoven’s war gedrungen, nicht groß, starkknochig, voll Rüstigkeit, ein Bild der Kraft; sein Haupt hatte sich mit dunklem Haargebüsch bedeckt, das ungeordnet, mehr mähnenartig als lockig umherlag; die Stirn war breit und vordringend über den dunkeln Augen gelagert, die schon tiefer und verschlossener zurücktraten; die Nase war kräftig, mehr in die Breite entwickelt als vordringend, von deutschem, nicht römischem Profilschnitt; der Mund war wohlgebildet.“

Ohne Schüchternheit, aber auch ohne Verbindlichkeiten grüßte Beethoven die Versammlung und war, als die Vorstellung vorüber, sofort mit dem Prinzen in ein tiefes Gespräch verwickelt. Später nahm auf den Wunsch der Prinzessin Ferdinand der Capellmeister Himmel Platz am Clavier und phantasirte mit gewohnter Meisterschaft unter dem lebhaftesten Beifall, indem er aus seinen Opern von dem primo navigatore an bis herab zu der beliebten Fanchon die bekanntesten Melodieen kunstvoll in einander webte zu einem lebendigen farbenfrischen Tonbilde. Dann spielte Prinz Louis Ferdinand auf die Bitte seines Gastes die Beethoven’sche Fdur-Sonate mit ihrem herrlichen Largo. Als er geendet, reichte ihm Beethoven beide Hände in lebhafter Bewegung hin und sagte mit seinem herzgewinnenden Lächeln: „Das war gar nicht königlich oder prinzlich, sondern meisterlich wie ein tüchtiger Clavierspieler und Musiker gespielt!“

Wie oft und mit welchem freudigen Stolz citirte Louis Ferdinand später noch diese Worte seines geliebten und bewunderten Meisters! Man durfte nun endlich hoffen auch den Gast spielen zu hören. Eine erwartungsvolle Stille trat ein, nachdem die Damen Platz genommen, Aller Augen wandten sich dem Clavier zu, ein mächtiger Accord – und Ludwig Beethoven spielte die Seelen aller seiner Hörer gewaltsam mit sich reißend hinauf in seine Sonnenbahn.

Bekanntlich ist Beethoven als musikalischer Improvisator unerreicht gewesen. Selbst bei dem Wettstreit zwischen ihm und dem berühmtesten Pianisten der damaligen Zeit, Wölfl, der einst in Wien im Hause des Freiherrn von Werthern stattfand, siegte er glänzend, obgleich beide Nebenbuhler in der Technik auf gleicher Stufe standen und Wölfl’s Hand viel größer war und mit Leichtigkeit zehn Töne spannte. Aber Wölfl „unterhielt“ nur angenehm, während Beethoven allem Irdischen entrückt „im Reiche der Töne schwelgte“, wie Seyfried sagt, „und sein Geist ihn zu Kraftäußerungen trieb, denen das Instrument kaum zu genügen vermochte.“ Das Feuer seines Vortrags, die düstere Leidenschaft seines Wesens, die überraschenden Wendungen und Contraste, die abenteuerlich erhabenen Ideen wirkten immer überwältigend. Jeder mußte eben fühlen, wie heiliger Ernst es ihm war mit der Musik, wie er sie als die einzige wirkliche Sprache seiner Seele betrachtete. Die Gruppe seiner Hörer war in Fesseln geschlagen. Der Fürst Radziwill, auf den Sessel seiner Frau gestützt, verwandte kein Ange von dem Spieler. Seine musikalische Seele war hingerissen, und auf den Wangen der lieblichen Prinzessin blühten die Rosen lebhaftester Erregung. In tiefes Sinnen verloren lehnte die Prinzessin Ferdinand in ihrem Sessel, die Mutteraugen ruhten mit einem Gemisch von Zärtlichkeit und Sorge auf dem Antlitz ihres Lieblings, Louis Ferdinand, dessen Sein und Wesen ihr schon so manchen stillen Kummer gebracht, den sie bewunderte, auf den sie stolz war, und um dessen Zukunft ihr doch heimlich bangte, wie eben nur einer Mutter, deren Herz sie ja so oft zur Hellseherin macht, bangen kann. Unmittelbar hinter dem Sessel Beethoven’s saß der Prinz. Das vollste Licht fiel auf die schlanke Jünglingsgestalt, auf diese wunderbar edle Stirn, auf das Antlitz, das im Glanze höchster Begeisterung strahlend schöner als je erschien. Die Seele, jene wunderbare Doppelseele, von der

Die eine hält in derber Liebeslust
Sich an die Welt mit klammernden Organen,
Die andre hebt gewaltsam sich vom Duft
Zu den Gefilden hoher Ahnen – –

durchleuchtete die Hülle, es war ein Bild ungebrochener Jugendkraft. – Zehn Jahre später an demselben Tage, vielleicht zu derselben Stunde, wer hätte es damals ahnen können, umzog dies stolze Haupt die Glorie des Heldentodes – Prinz Louis Ferdinand lag kalt und starr auf dein Schlachtfeld von Saalfeld.

Und jetzt? Die eine Hand umschloß fest die goldene Verzierung der Lehne des Sessels Beethoven’s, wie in Träumen verloren hing sein Blick an jener Frauengestalt, die sich langsam erhoben und jetzt, wie die Muse der Tonkunst selber, neben dem Spieler stand. In tiefster Bewegung, das wunderschöne Haupt gegen ihn hingeneigt, war die Kronprinzessin unwillkürlich näher und näher herangetreten, wie gewaltsam vorwärts getrieben – bis sie endlich hingerissen, unter strömenden Thränen leise die zarte Hand auf den Arm Beethoven’s legte und flüsterte: „O laßt den Himmel wieder blau werden, das Herz thut mir zum Sterben weh!“

Da hob er seine Augen und sah sie lange und fast staunend an, die schöne Frau, die künftige Königin Louise, und – allmählich zog ein leises Lächeln wie ein Sonnenstrahl über das ernste Antlitz. Mit einem kraftvollen Accord verließ er nun das Reich der bangen Klage, die wilden Wogen ebneten sich, Wolkenschatten huschten dahin, die Nacht verschwand allmählich, höher und höher zog das Licht herauf, bis Alles hell wurde und blau wie die Augen der zauberischen Frau, deren Thränen eben vor ihm geflossen.

Beethoven hat dem Prinzen Louis Ferdinand zum Andenken an jenen Abend des 10. Octobers 1796 sein herrliches C moll-Concert op. 37 dedicirt. Es war in dem Rudolstädter Schlosse in der Nacht vor der verhängnisvollen Schlacht bei Saalfeld, als Prinz Louis Ferdinand es zum letzten Mal spielte.

Wie eine Fata Morgana stieg die Erinnerung an jenen Musikabend in den glänzenden Räumen daheim vor seiner Seele auf: er sah den geliebten Meister so deutlich vor sich und fühlte, sein Herz von seltsamen Schauern bewegt, es sang und klang wunderbar um ihn her, auf den goldenen Wellen der Töne tauchten sie empor, alle jene lieben fernen Gestalten, die ihn damals umgaben, und wie zwei Sterne strahlten sie ihn an, die thränenvollen Augen einer angebeteten Königin, und er hörte ihre süße Stimme so deutlich flüstern: „das Herz thut mir zum Sterben weh!“ daß er erschrocken aufsprang und das Clavier schloß. Ahnete er, daß ein Tag heraufzog, um den noch heißere Thränen aus den schönsten Augen fließen sollten, als damals, daß die Königin Louise bald noch bitterer klagen werde: „mein Herz thut mir zum Sterben weh,“ als an jenem Musikabende – – und daß diese Thränen und diese Klage dann ihm galten – einem Todten?!



[728]

Der Wunderglaube in Paris.

Von Ludwig Kalisch.

Das civilisirte Europa ist trotz der erstaunlichen Fortschritte, welche die Naturwissenschaften seit zwei Menschenaltern gemacht, bei Weitem nicht so aufgeklärt, als es sich einbildet, und wer auf den Wunder- und Aberglauben der Menschen mit einigem Geschick speculirt, ist immer noch sicher seinen Zweck zu erreichen. Das größte Wunder unserer Zeit ist, daß Tausende und aber Tausende noch an Wunder glauben, und zwar nicht blos auf dem platten Lande, sondern auch in den großen Städten, und nicht nur in den niedern Ständen, sondern auch in den höheren und höchsten Schichten der Gesellschaft. Nirgends sieht man dies so sehr wie in Paris, wo trotz der Sorbonne, des College de France und der Akademie der Wissenschaften der wunderthätige Schwindel ein sehr ausgebreitetes Gewerbe bildet. In der Hauptstadt Frankreichs leben an sechshundert Somnambulen, die den Aerzten in’s Handwerk pfuschen und ihnen eine sehr empfindliche Concurrenz machen; denn es giebt viele Häuser, in denen man Zutrauen zu dem Somnambulismus, aber nicht zu den Aerzten hat und in Krankheitsfällen sich nur an jenen und nicht an diese wendet. Wenn eine Somnambule das Glück hat, in einem bedeutenden Hause zufällig einen Patienten zu heilen, bekommt sie schnell eine zahlreiche Praxis und macht die vortrefflichsten Einnahmen.

In diesem Augenblick wohnt in der Nähe der Kirche Notre Dame de Lorette eine Somnambule, die sich eines großen Rufs in der vornehmen Welt erfreut. Vor ungefähr zehn Jahren kam sie, ein schmuckes normännisches Bauermädchen, in Holzschuhen und eine große Haube auf dem Kopfe, nach Paris, um hier wie so viele Tausende ein Unterkommen zu suchen. Ihre großen schwarzen Augen, ihr hübsches ausdrucksvolles Gesicht und eine gewisse Verstandesschärfe, die man bei der normännischen Bevölkerung so häufig findet, erregten die Aufmerksamkeit eines Magnetiseurs. Es war ihm nicht schwer, die Normännin zu überzeugen, daß ihr als Magd selbst in dem vornehmsten Hause keine glänzende Zukunft bevorstehe, daß sie aber als Hellseherin ihr Glück machen könne. Ohne besondere Wehmuth warf sie die vaterländischen Holzschuhe in’s Feuer, vertauschte die steife normännische Haube mit einem eleganten Pariser Hut und ließ sich vor dem Publicum in magnetischen Schlaf versetzen. Einige Patienten, die sich an sie gewendet und fest überzeugt waren, ihr die Heilung zu verdanken, führten ihr eine zahlreiche Kundschaft zu, die bis jetzt noch im Zunehmen begriffen ist. Ihre Zimmer sind eben so reich als geschmackvoll eingerichtet. Die Thür steht keinen Augenblick still. Bald werden Briefe, bald Depeschen, bald kleine Packete gebracht, in denen sich Haarlocken oder Kleidungsstücke der Leidenden befinden, die außerhalb Paris leben. Sie giebt in ihrer Wohnung täglich acht bis zehn Sitzungen, die nicht nur trefflich honorirt, sondern auch mitunter durch ansehnliche Geschenke belohnt werden. Sie ist sehr regsamen Geistes und unterhält sich gern mit Künstlern und Schriftstellern. Während meines Besuches zeigte sie mir eine Menge Briefe von den angesehensten Männern und von den vornehmsten Damen, so wie die Geschenke, die sie von denselben erhalten. Unter ihren Verehrern befinden sich renommirte Staatsmänner und sogar – ein Mitglied des Instituts. Sie hat viel gelesen, besonders populäre medicinische Bücher, und aus denselben so viel gelernt, als nöthig ist, um einige Hausmittel zu nennen, die weder helfen noch schaden. Wie so viele andere Somnambulen ist auch sie von der Justiz wegen unbefugter Ausübung der Medicin verfolgt worden; es verwendete sich aber für sie eine solche Schaar angesehener Leute, daß sie jetzt unangefochten die Hellseherei ausüben kann. Sie ist übrigens entschlossen, nächstens den Somnambulismus an den Nagel zu hängen und zurückgezogen von ihren Renten zu leben.

Indessen sind nicht alle Hellseherinnen so glücklich wie besagte Normännin, da nur wenige so viel Tact und Verstand besitzen wie sie. Die meisten bringen sich schlecht und recht durch, oder sie endigen gar als „Somnambules en plein vent,“ d. h. sie spenden auf öffentlichen Plätzen ihre Orakel für ein Honorar von zwei Sous. Auf der Place de Clichy, wo sich jeden Nachmittag Taschenspieler, Athleten, Seiltänzer, abgerichtete Hunde und Affen sehen lassen, sitzt auch eine solche Pythia. Schier sechzig Jahre ist sie alt und hat manchen Sturm erlebt. Ihre Kundschaft besteht großentheils aus Ammen, Köchinnen, Mägden und Soldaten, denen sie, nicht von Apollo) sondern von Absynth begeistert, den Schleier der Zukunft lüftet. Während der Wintersaison finden in Paris viele magnetische Soiréen statt, zu denen man durch einen Freund des Hauses eingeführt werden kann. Ich wohnte einer solchen Soiree vor mehreren Jahren bei. Der Salon so wie die Nebenzimmer waren prachtvoll erleuchtet und von Herren und Damen aus allen Ständen überfüllt. Der Hausherr, ein Magnetiseur, empfing die Gäste auf’s Liebenswürdigste und stellte denselben acht schöne Mädchen vor, an denen er seine magnetische Kraft ausüben sollte. Er versuchte seine Manipulationen zuerst an einer reizenden Brünette, die er in einen starrsüchtigen Zustand versetzte. Er hielt ihr eine große Lampe dicht vor die Augen, ohne daß sie mit denselben auch nur im Geringsten zwinkerte oder irgend einen Zug des schönen Gesichtes verzerrte. Er stach sie mit Nadeln, er zwickte sie mit kleinen Zangen – sie bewegte sich nicht. Eine zweite versetzte er in eine musikalische Ekstase. Sie ging an’s Piano, an dem ein Künstler seine Fingerfertigkeit übte, schien ganz entzückt von den Tönen, die, beiläufig gesagt, durchaus nicht entzückend waren, und küßte das Instrument mit Inbrunst. Eine dritte wurde in eine poetische Ekstase versetzt, und sie citirte mit verklärtem Gesichte einige Verse von Lamartine zur Bewunderung mancher Zuhörer und Zuhörerinnen. In einer vierten erregte er die Leidenschaft des Zornes und sie zeigte sich in ihren Stellungen als eine Furie. Kurz, sämmtliche acht Sujets kamen nach einander an die Reihe, und die Vorstellung schloß zur größten Zufriedenheit der Gesellschaft.

Der Leser wird sich leicht denken, warum diese Soireen gegeben werden. Sie sind Reclamen, die dem Geschäft auf die Beine helfen oder es in Blüthe erhalten sollen; denn unter den Eingeladenen sind doch Manche, die an den Hokuspokus glauben und ihn als ein nie geahntes Wunder verbreiten. Auch befinden sich in der Gesellschaft stets mehrere Personen, die zur Boutique gehören und Propaganda machen. Was die Sujets betrifft, so finden sie, wie es sich von selbst versteht, ebenfalls ihre Rechnung dabei. Diese Nachtwandlerinnen wandeln nicht immer auf dem Wege der Tugend; und die magnetischen Abende geben ihnen Gelegenheit, sich nicht blos als Hellseherinnen zu empfehlen.

Der Spiritismus giebt auch seine Abendvorstellungen. Die besuchtesten sind in der Rue Beaujolais dicht am Palais Royal. Sie werden von dem Baron D… geleitet, der eine lange Reihe von Schriften und Aufsätzen über den thierischen Magnetismus herausgegeben hat. Ein reicher Engländer, der, wie seine Ehehälfte, im fanatischen Eifer für den alleinseligmachenden magnetischen Glauben, nichts unterließ, um Proselyten zu werben, rang mir einst das Versprechen ab, einer solchen Abendunterhaltung beizuwohnen, in der festen Ueberzeugung, daß ich mich dann bekehren würde. Das Ehepaar führte mich eines Abends unter Verheißungen der wunderbarsten Offenbarungen in den Salon des Herrn Barons. Derselbe saß hinter einem Tische, und ihm zur Rechten eine wohlbeleibte schöne Dame. Vor ihr lag ein Heft Papier von ungeheuerm Format, und in der Hand hielt sie einen langen Bleistift. Wir setzten uns dicht neben sie und harrten wie die übrige Gesellschaft, die den Salon füllte, der Dinge, die da kommen sollten. Punkt acht Uhr eröffnete der Baron die Sitzung und stellte uns die corpulente Dame mit dem Bleistift als ein Medium erster Classe vor, als ein Medium, das mit den abgeschiedenen Geistern in innigstem Verkehr stünde. Man ersuchte sie nun, sich in Communication mit dem Geiste Voltaire’s zu setzen und ihn zu fragen, was er in seinem jetzigen Zustande von seinen Schriften denke. Das Medium blickte eine Weile mit verzückten Augen auf die Stubendecke und fuhr sodann mehrere Minuten mit dem Bleistift auf dem Papier herum. Endlich hielt sie ein und las mit wohlklingender und höchst feierlicher Stimme einen Unsinn vor, der nicht blühender hätte sein können. Das Ding hatte weder Hand noch Fuß; die Vordersätze paßten nicht zu den Nachsätzen, und wie die Logik bekam auch die Grammatik sehr derbe Ohrfeigen. Der größte Theil der Gesellschaft war erstaunt über den tiefen Sinn dieses Unsinns. Ich war ebenfalls erstaunt, und als mich das englische Ehepaar, das ganz entzückt war von dem Voltaire’schen Dictat, um meine Ansicht fragte, bemerkte [729] ich, daß es mir unmöglich sei zu begreifen, wie Voltaire, der so klar und geistvoll war, als sein Geist noch in einem elenden kranken Körper steckte und er mit dürren Beinen auf der Erdenbahn wandelte, jetzt, da er die erbärmliche irdische Hülle abgeworfen und als Geist in höhern Regionen schwebe, sich so verworren, so geistlos, so ungrammatikalisch ausdrücken könne.

„Sie verstehen es nicht,“ rief der Engländer gereizt, „weil Sie es nicht verstehen wollen. Ihre Zweifelsucht zieht einen dichten Schleier um Ihren Verstand.“

„Und die Grammatik?“ fragte ich.

„Im Reiche der Geister giebt es keine Grammatik!“ rief seine Gattin kurzweg.

Ich schwieg beschämt. Ich hätte früher schweigen und wissen sollen, daß der Mensch viel leichter in seinem Glauben, als in seinem Aberglauben zu erschüttern ist.

Es wurden noch andere Geister citirt. Pascal, Jean Jacques Rousseau, Balzac mußten herhalten; ja selbst Verger, der Mörder des Erzbischofs von Paris, wurde über seinen gegenwärtigen Aufenthalt, über seinen Zustand und über seine Ansichten befragt. Die Antworten dieser abgeschiedenen Geister waren eben so geistlos, eben so albern wie die Voltaire’schen. Der Vorsitzende, der auf manchen Gesichtern eine gewisse Unzufriedenheit lesen mochte, bemerkte am Schlusse der Sitzung, daß die Geister sich zwar immer gleich blieben, daß aber die Media nicht jeden Tag in der nämlichen Verfassung seien, und vertröstete auf die nächste Sitzung. Als wir schieden, wurden uns im Vorsaal mehrere Bücher, Broschüren und Journale, die sich sämmtlich auf den Magnetismus und Spiritismus bezogen und den Baron zum Verfasser hatten, unter den wärmsten Empfehlungen zum Kauf angeboten. Mit dem englischen Ehepaar suchte ich mich auf der Heimkehr zu versöhnen. Ich verlor Beide bald aus den Augen, hörte aber nach einigen Jahren, daß sie, dem Wahnsinne verfallen, in eine Irrenanstalt untergebracht worden, wo sie sich täglich sehen und aneinander vorüber gehen, ohne sich zu kennen.

In der Rue des Bons Enfants werden ebenfalls spiritische Abendvorstellungen gegeben. Dort lassen sich die Geister aus den Schubläden der Tische, Schränke und Commoden vernehmen. Ich besuchte eine dieser Sitzungen mit einem deutschen Gelehrten. Um den runden Tisch, auf dem sich eine große Lampe befand, saßen ausschließlich Damen, von denen die meisten unmittelbar vor oder sogar schon hinter der Grenze des Schwabenalters angelangt waren. Unter den Männern befanden sich einige pensionirte Officiere und ein Abbé. Gegen zehn Uhr ging der Spectakel los. Eine der Damen citirte, nachdem ihre Nachbarinnen sämmtlich ihre Hände auf den Tisch gelegt hatten, den Geist eines in der Krim gefallenen Husarenmajors. Der Geist fing sogleich an, ganz husarenhaft im Tisch zu rumoren, und ließ durch sein Gepolter erklären, daß er etwas auf dem Gewissen habe und deshalb die ewige Ruhe nicht finden könne; was er aber auf dem Gewissen habe, könne er nur einer Dame mittheilen, die am Ufer der Garonne wohne. Nun wollte man wissen, wie sich die Dame nenne, da sprang der Tisch vor Unwillen über diese Indiscretion hoch empor, ohne daß sich die Lampe nur im Mindesten bewegte. Mein gelehrter Landsmann hatte nun den unglücklichen Einfall, den Tisch untersuchen zu wollen und dabei zu sehen, ob die Lampe nicht an demselben befestigt wäre. Dies erregte den heftigen Zorn besonders der Damen. Sie beschwerten sich darüber, daß man Leute einführe, deren Zweifelsucht die Geister erschrecke; denn die Geisterwelt sei nur dem erschlossen, der gläubigen und kindlichen Herzens in dieselbe einzutreten begehre. Die Hausherrin, die den Vorsitz an der Geistertafel führte, wollte die Sitzung schließen, was jedoch der Abbé durch einige salbungsvolle Worte verhinderte. Ich fand es inzwischen für gut, mich mit meinem Landsmann unbemerkt davon zu machen.

Diese wie ähnliche Abendunterhaltungen dienen dazu, leichtgläubige Gemüther zu berücken und dann in Privatsitzungen möglichst auszubeuten. Jeder Zweifel, der in diesen Versammlungen laut wird, beeinträchtigt das Geschäft. Der Magnetismus, die Geisterbeschwörerei und Alles, was in das Fach des Uebernatürlichen einschlägt, hat eine massenhafte Literatur hervorgerufen, die mit jedeme Tage mehr anschwillt. Die größten Charlatane schreien in diesen Schriften am lautesten gegen den Charlatanismus. So erzählt ein Magnetiseur in einer Revue den Anfang seiner glorreichen Laufbahn wie folgt:

„Nachdem ich bereits das fünfzigste Jahr hinter mir habe, empfinde ich ein gewisses Vergnügen, auf meinen Lebensgang zurückzublicken. In meinen Jünglingsjahren war ich Ladendiener in einer Modewaarenhandlung. Wie jeder junge Mann, der erst den neunzehnten Frühling gesehen, träumte ich eine rosige Zukunft. Ich sah mich schon als Besitzer eines sehr einträglichen Geschäftes, als Eigenthümer eines schönen Landhauses in der Nähe von Paris, an der Seite eines reizenden Weibes und umgeben von zahlreichen Kindern mit Engelsköpfen. Indem nun meine Einbildungskraft mir die schönste Zukunft ausmalte, hörte ich von Wundern des Magnetismus. Da fuhr es mir wie ein Blitz durch’s Gehirn. Ich kaufte einige Schriften über den thierischen Magnetismus und lernte aus denselben das Verfahren, ein Sujet in magnetischen Schlaf zu versetzen und seinen Willen zu beherrschen. Als mir nun mehrere Versuche über alles Erwarten gelungen, beschloß ich, an der Verwirklichung meiner geträumten Hoffnungen zu arbeiten. Mein Principal hatte eine Tochter. Sie hieß Angeline und sie rechtfertigte auf’s Vollkommenste ihren schönen Namen; denn sie war ein Engelskind mit himmelblauen Augen und einer reichen Fülle von blonden Locken, die ihr wie goldene Wellen von Nacken und Schultern flossen. Aber nicht nur ihre Schönheit, sondern – ich gestehe es zu meiner Schande – auch die beträchtliche Mitgift, die sie als einziges Kind zu erwarten hatte, erregten in mir den Wunsch, sie zu besitzen. Sie war eben aus der Pensionsanstalt gekommen, und da sie klug und umsichtig war, hatte sie ihr Vater an die Casse gesetzt. Leider fehlte mir die Gelegenheit, mit ihr allein zu sein und ihre Hand fassen zu können; um mich nun mit ihr in magnetischen Rapport zu setzen, richtete ich hinter ihrem Rücken die Augen auf sie und suchte ihren Willen dem meinigen zu unterjochen. Aber, ach! trotz meiner elektrisch geladenen Blicke, trotz meiner angestrengten Willenskraft addirte, subtrahirte und multiplicirte Angeline am Cassenbuch darauf los, ohne sich zu regen. War ich das Opfer einer Mystification? War mein Agens unzulänglich? Ich gerieth in Verzweiflung und las und überlas eine Anzahl Werke und Flugschriften über die Kunst zu magnetisiren; dieselben sagten einstimmig, daß Niemand dem festen Willen eines Magnetiseurs widerstehen könne, daß die Entfernung kein Hinderniß für das elektrische Fluidum sei, und noch unzählige andere Dinge, womit der Charlatanismus die Leichtgläubigkeit hintergeht. Ich gehörte zu den Leichtgläubigen. Mit erneuter Hoffnung setzte ich daher meine Bemühungen fort, um die Hand Angelinens und eine reiche Mitgift zu erlangen. Nichts verschlug. Ich wurde ungeschlacht gegen meine Collegen, unwirsch und unartig gegen die Kunden. Ich magnetisirte die Rechnungen, die Briefe, die Federn, das Tintenfaß, kurz alles, was Angeline berührte – umsonst! Sie saß nach wie vor, ohne mich zu beachten, ein kaltes Marmorbild hinter dein Cassenbuch. Eines Tages nun, nachdem ich die Schrift eines Fürsten meiner Wissenschaft gelesen, trat ich freudigen Herzens und in der Ueberzeugung eines vollständigen Sieges in den Laden. Ich hatte nämlich in besagter Schrift ein unfehlbares Mittel zur Erreichung meines Zweckes angezeigt gefunden. Es bestand darin, mit sicherer Hand ein Herz auf einem Stück Papier zu zeichnen, dasselbe zu magnetisiren und von der Person, auf die man seinen Willen auszuüben beschlossen, berühren zu lassen. Ich stellte mich hinter Angeline; aber indem ich mich anschicke, unter allerlei Geberden ihr das gezeichnete Herz zuzustellen, fühle ich eine schwere Hand auf meiner Schulter. Es war die Hand meines Principals, der mir folgende Worte in’s Ohr donnerte: ,Jch brauche fleißige Leute in meinem Geschäft, aber keine Tollhäusler. Ihr Platz ist besetzt; verlassen Sie mein Haus auf der Stelle!’

Ich war nun vor die Thür gesetzt und machte noch viele ähnliche Versuche, die nicht glücklicher ausfielen, bis ich mich eines Tages dem Krankenlager eines armen Mädchens näherte. Diesmal war mein Herz rein von Begierden nach Geld und Gut. Ich wollte der Kranken ohne allen Eigennutz helfen, und ich half ihr. Sie genas und belohnte mich durch heiße Zähren der Dankbarkeit. Sie ist jetzt meine geliebte Gattin, die Freud und Leid ergebungsvoll mit mir theilt. Nur wer mit reiner Seele und zu edlen Zwecken die magnetische Kraft anwendet, ist seines Erfolges gewiß, und der Kranke wird niemals seine Hülfe vergebens in Anspruch nehmen.“ –

Der Zuave Jacob, der vor einigen Monaten durch seine [730] Wundercuren so viel von sich hat reden machen, wirkt jetzt im Stillen und verdient viel Geld. Er hat seine Uniform ausgezogen und lebt in Passy, wo ihn eine zahlreiche Kundschaft aufsucht. Er arbeitet vorzüglich auf dem Gebiete der Rheumatismen und behandelt die Patienten, wie ein Corporal seine Gemeinen behandelt. Die Leidenden, die sich an ihn wenden, werden mit den Worten angeschrieen: „Die Arme ausgestreckt! Die Beine in die Höhe! Pas de drogues! Allez-vous en!“ (Keine Medicin! Marsch!) Dieser unhöfliche Lakonismus erfüllt die Gebrechlichen mit Vertrauen. Sie glauben sich geheilt und belohnen ihn reichlich, und was die Obrigkeit betrifft, so kann sie ihm nichts anhaben, da er keine Medicin verschreibt.

Sprechen wir jetzt ein Wort von der Kartenschlägerei, die in Paris ebenfalls ein sehr verbreitetes Gewerbe ist. Die Kartenschlägerei oder Cartomancie, wie die Franzosen sagen, wird meistens von Frauen betrieben, und zwar von solchen Frauen, die eine mehr oder minder stürmische Vergangenheit hinter sich haben. Sie besitzen viel Menschenkenntniß und verstehen sich vortrefflich auf Physiognomiken. Auch wissen sie durch die Unterhaltung mit den Kunden, die größtentheils dem schwachen Geschlecht angehören, auf indirecte Weise und ohne daß diese es merken, so viel zu erfahren, daß sie mit ziemlicher Sicherheit und geschützt vor lächerlichen Widersprüchen ihre Offenbarungen formuliren können. Ist die Kunde eine verheirathete Frau mit schwermüthigem Gesichte, so ermangelt die Sibylle nicht, ihr den baldigen Eintritt in den Wittwenstand zu prophezeien. Sie kommt dabei sehr häufig dem stillen Wunsche der Dame zuvor; denn in der Regel wenden sich an die Kartenschlägerinnen schmachtende Frauen, die mit ihren Gatten in Hader leben. Keine dieser Prophetinnen erlangt zwar einen solchen Ruhm wie weiland Mademoiselle Lenormand, die Freundin der Kaiserin Josephine, des Kaisers Alexander und anderer gekrönter Häupter; indessen giebt es doch manche unter ihnen, die sich einer sehr vornehmen Kundschaft erfreuen. Eine dieser Prophetinnen, Madame Guloten, hat sogar vor Kurzen die Ehre gehabt, in die Tuilerien geladen zu werden und der Herrin des Hauses die Zukunft zu entschleiern.

Wie gewisse Putzmacherinnen und Schneiderinnen sind auch gewisse Kartenschlägerinnen eine Zeit lang in der Mode, um dann andern den Rang abzutreten. Die Cartomancie wird auch von vielen Männern betrieben und zuweilen mit glänzendem Erfolg, So erregte vor einigen Jahren der Kartenschläger Edmond unter den wundergläubigen Seelen großes Erstaunen. Er wohnte in der Rue Fontaine St. Georges. Seine Zimmer waren mit Skeleten, Todtenköpfen, Himmelsgloben, kabbalistischen Figuren und sonstigem Firlefanz verziert und er selbst zeigte sich seinen Besucherinnen in der Tracht eines Magiers. Ein junger schöner Mann, nahm er sich in dem langen schwarzsammetnen Talar und dem spitzen, mit goldenen Charakteren gestickten chaldäischen Hut vortrefflich aus. Die vornehmsten Damen harrten stundenlang in seinen Vorzimmern und bezahlten seine Weissagungen mit schwerem Golde. Er war jedoch kein allzuschroffer Aristokrat und verschmähte es nicht, auch der kargen Bourgeoisie um ein mäßiges Honorar zu verrathen, was in der Zeiten Schooße verborgen liege. Aber nachdem das Geld, nachdem die Waare. Das „grand jeu“ war für die höheren Classen, das „petit jeu“ für die geringeren. Nachdem Edmond mehrere Jahre als Magier gewirkt, warf er eines Tages die Skelete, die Todtenköpfe, die kabbalistischen Figuren und seine chaldäische Garderobe in die Rumpelkammer und zog sich in die Provinz zurück, wo er als Rentier lebt und Muße genug hat, über die Thorheiten der Menschen zu lachen.

Die Cartomanten werden von der Polizei nicht verfolgt; viele von ihnen stehen sogar mit derselben auf vertrautem Fuße und leisten ihr manchen Dienst. Da sich nämlich bestohlene Personen häufig an sie wenden, um den Dieb zu entdecken, so setzen sich mit ihnen die Diener der öffentlichen Sicherheit in Verbindung, erfahren von ihnen eine Menge Details und kommen dadurch nicht selten dem Hehler und Stehler auf die Spur. Vielleicht leisten sie der Polizei noch andere Dienste, die sich weniger auf das Mein und Dein beziehen.

Es leben, besonders in den ärmeren Vierteln von Paris, sehr viele Frauen, die aus dem Kaffeesatz prophezeien und von denen Einige großen Zuspruch haben. Auch die Chiromantie, die Handwahrsagerei, ist in Paris ein Gewerbe und wird von Manchen nicht ohne erklecklichen Gewinn betrieben. Die Welt will betrogen sein, und der gewandte Betrüger erfreut sich gewöhnlich eines wärmeren Dankes, als derjenige, der den Betrug enthüllt und dadurch die Eigenliebe des Betrogenen verletzt. Wir wundern uns über die Erfolge Cagliostro’s; wir haben jedoch an den Erfolgen des Amerikaners Home gesehen, daß das neunzehnte Jahrhundert kein Recht hat, der Leichtgläubigkeit des achtzehnten zu spotten, und daß es nicht die niederen, sondern die höheren und höchsten Stände sind, in denen der alberne Wunderglaube am tiefsten wurzelt.




Die Staßfurter Salzlager.

Von Professor Dr. K. Birnbaum.
(Schluß.)

Von weit höherem Werthe sind aber die Kalisalze und zwar einmal an sich selbst, zum anderen aber dadurch, daß Staßfurt in diesen Mineralien fast keine Concurrenz zu bestehen hat. Außer dem Lager von Sylvin in Kalucz in Oesterreich kennt man bis jetzt derartige Lager nicht. Ihre Bedeutung haben sie durch das in ihnen vorkommende Kali erlangt, und ehe man zur Besichtigung der Fabrikanlagen schreitet, ist es gerathen, sich über die Rolle des Kali in der Industrie und Landwirthschaft zu vergewissern.

Vom Kali wird in der Industrie sehr mannigfache Anwendung gemacht; man braucht:

Chlorkalium zur Darstellung von Salpeter, zur Alaunfabrikation, zu Kältemischungen; Jodkalium und Bromkalium in der Photographie, Cyankalium zur Bereitung von Metallauflösungen, zur galvanischen Versilberung und Vergoldung u. s. w.; kohlensaures Kali (Pottasche) zur Seifensiederei, Bleicherei, Färberei, Glasfabrikation und zu allerlei wichtigen Kalipräparaten; schwefelsaures Kali zur Alaun- und Glasfabrikation, zur Darstellung von Pottasche; salpetersaures Kali (Kalisalpeter) zu Schieß- und Sprengpulver, zum Conserviren und Einpökeln von Fleisch; chlorsaures Kali zur Erzeugung von Sauerstoff, zu Zündmassen, zu gefärbten Feuerwerken; chromsaures und blausaures Kali in der Färberei, letzteres zu Berliner- und Pariserblau; kieselsaures Kali ist bekannt als Wasserglas, und Aetzkali wird zum Bleichen, Färben und in der Seifensiederei gebraucht. In den Apotheken und Laboratorien werden außerdem noch alle diese und andere Kalipräparate in Mengen verbraucht.

Für die einzelnen Staaten war seit Erfindung des Pulvers die ausgiebige Beschaffung der dazu erforderlichen Rohmaterialien (Schwefel, Kohle, Salpeter) eine wahre Lebensfrage, und mancher blutige Krieg ist um ihretwillen schon geführt worden. Um der Schwefelzufuhren aus Sicilien und Neapel willen hat England von jeher in seiner italienischen Politik die der „freien Hand“ geliebt. In Ceylon und Bengalen wird Kalisalpeter in Menge gefunden; die Zufuhren nach England betrugen von 1858 bis 1863 jährlich von dreiundzwanzig bis vierundvierzig Millionen Pfund, wovon nur fünf bis zehn Millionen Pfund wieder direct ausgeführt wurden, ein anderer Theil in zehn bis vierzehn Millionen Pfund fertigem Pulver. Natürlichen Kalisalpeter findet man in beachtenswerther Menge nur noch in Spanien und vereinzelt in Ungarn, Frankreich, Italien, Nordamerika, Afrika. Andere Staaten mußten daher den zum Schießpulver brauchbaren Salpeter einführen (Deutschland jährlich 157,000 Centner) oder künstlich erzeugen. Dazu legte man entweder sogenannte Salpeterplantagen an oder mußte die Hülfe der Chemie, die Fabrikation, in Anspruch nehmen, um aus anderen kalihaltigen Materialien durch Umwandlung Kalisalpeter zu gewinnen.

Ein Franzose, Joulin, giebt in einer sehr interessanten [731] Schrift „Les Soudes et les Potases de Stassfurt“ ausführliche statistische Angaben über Produktion und Consumtion der hier in Betracht kommenden Präparate. Er berechnet, daß die heutige Industrie achtzig Millionen Pfund Chlorkalium brauche und inskünftige hundertachtzig Millionen Pfund brauchen werde; bis jetzt habe sie nur acht Millionen Pfund geliefert, welche größtentheils zu Pulver verarbeitet worden seien; außerdem hätten der Industrie zu Gebote gestanden: etwa 65,2 Millionen Pfund Pottasche (aus Rußland 18, Amerika 13,5, Ungarn 10 und den europäischen Zuckerfabriken 23,3 Millionen Pfund) und ferner 40,4 Millionen Pfund Salpeter aus Indien und anderen Ländern.

Seit 1863 trat Staßfurt mit seiner Production auf den Weltmarkt; die ersten Fabriken waren die der Herren Dr. Frank und Vorster und Grüneberg, jetzt giebt es deren schon zwanzig, von welchen nach Joulin die größeren täglich zwölf bis sechszehntausend Pfund liefern. Noch steht die derartige Production in keinem Verhältniß zu der, welche Joulin in Aussicht stellt, und doch hat Staßfurt schon die bisherigen Marktverhältnisse völlig umgekehrt. 1863 zahlte man in England noch für hundert Zollpfund Kalisalpeter 45 Francs, jetzt nur noch die Hälfte; für den aus Chilisalpeter bereiteten muß man, wenn dieser 8 bis 81/2 Francs kostete, 26 bis 271/2 Francs zahlen. 1863 verkaufte man in Staßfurt den Centner Chlorkalium von 80% noch mit 23 bis 271/2 Francs und schon 1866 lieferte man ihn, inclusive aller Unkosten, mit 81/2 bis 9 Francs nach England und Frankreich.

Unter solchen Umständen muß dieser Industriezweig ganz in deutsche Hände kommen, und Joulin stellt daher Staßfurt die oben angegebene Jahresproduction in Aussicht; dazu müßten freilich die vorhandenen Fabrik- und Capitalanlagen mindestens um das Vierfache erhöht werden. Er meint, daß es bei der Bedeutung dieser Industrie an dem Gelde nicht fehlen werde, und wir wollen hoffen, daß er hierin Recht behält.

Die für die Industrie in Aussicht genommene Production entspricht etwa der von 70 Millionen Pfund reinem Kali; die österreichische Bergwerksverwaltung in Kalucz hat contractlich die Lieferung von jährlich 200,000 Centner reinem Sylvin (Chlorkalium) zum Preise von 12 Kreuzer ö. W. übernommen; das entspricht 10,5 Millionen Pfund Kali. Im Jahre 1867 hatten die beiden Werke in Staßfurt schon über 300 Millionen Pfund Rohkalisalze geliefert, welche etwa 60 Millionen Pfund Chlorkalium entsprechen würden.

Es ist aber auch die Landwirtschaft in hohem Grade an den dortigen Vorkommnissen interessirt und mit der Zeit dürfte die Fabrikation von Kalidünger die der Kalipräparate für die Industrie weit überflügeln, Staßfurt also noch eine ganz andere Zukunft, als die von Joulin in Aussicht genommene, bevorstehen.

Seit J. Liebig die Ernährungsgesetze der Pflanzen außer Frage gestellt und bewiesen hatte, daß die bei dem Verbrennen einer Pflanze, des Holzes im Ofen z. B., zurückbleibende Asche dem Boden entstammt (daher der Name Aschenbestandtheile gleichbedeutend mit Bodenbestandtheilen oder mineralischen Nährstoffen ist), und ferner bewiesen hat, daß keine Pflanze ohne die sämmtlichen in dieser Asche enthaltenen Verbindungen zu wachsen vermag, seitdem hat bekanntlich das bisherige Düngungsverfahren der Landwirthe eine vollständige Reform erfahren, wenn schon nach wie vor der Stalldünger in Ehren bleibt.

In jeder Ernte entzieht der Landwirth seinem Boden einen Theil seines Bestandes, eine gewisse Quantität von Bodenbestandtheilen; giebt er dieselben seinem Felde nicht wieder oder nicht vollständig wieder zurück, so ist das Feld nicht mehr im Stande eine ähnliche Ernte wie bisher zu geben, wenn nicht der Vorrath an Mineralstoffen im Boden ein ungewöhnlich großer ist. Wird alljährlich immer mehr genommen, als gegeben, so muß einmal der Zeitpunkt kommen, wo der ursprünglich große Vorrath erschöpft ist und der Boden die Ernte versagt.

Die Bodenarten sind in ihrem Bestände sehr ungleich; es giebt solche, welche wir gegenwärtig noch geradezu unerschöpflich nennen können; auf ihnen ist also willkürliche Bewirthschaftung, bloßes Nehmen ohne Geben gestattet; es giebt aber sehr viel anderen Boden, auf welchem entweder von Haus aus nicht in Fülle das Erforderliche gegeben war, oder durch bisherige aus Unkenntniß befolgte Raubwirthschaft der ehemals vorhandene Ueberfluß ganz oder theilweise erschöpft ist.

Der in den Ställen erzeugte Dünger giebt dem Felde allerdings einen sehr großen Theil der in den Ernten entzogenen Bestandtheile wieder, aber nicht alle und manche nicht in genügender Menge. Jeder Landwirth spricht von „Kleemüdigkeit“, „Erbsenmüdigkeit“, Rübenmüdigkeit“ vieler Felder, weil sie Klee, Erbsen und Rüben nicht mehr in gewünschtem Grade hervorbringen, und er kennt jetzt die Ursache davon; sie besteht einfach darin, daß auf solchem Boden ein Theil der für die Pflanze wichtigen Mineralstoffe oder Bodenbestandtheile nicht mehr in genügender Menge vorhanden ist.

Seitdem man das weiß, hat man die Düngerfabrikate in den Handel gebracht; der Eine braucht für seine Verhältnisse vorzugsweise Kalk, der Andere Gyps, ein Dritter Phosphorsäure, ein Vierter Kali oder Magnesia und ein Fünfter zwei oder drei dieser Stoffe, ein Sechster alle zur Ergänzung seines Stalldüngers, – wenn er entsprechende Ernten haben will. – Es ist das Verdienst der Zuckerfabrikanten, zuerst die Lehren Liebig’s, die Andere mißachten und bekämpfen zu können glaubten, befolgt und durch beträchtliche Opfer mittelst oft sehr kostspieliger Versuche die schätzbarsten Beiträge zur Feststellung wissenschaftlicher Grundsätze rationelleren landwirthschaftlichen Betriebs geliefert zu haben. Ihnen folgten Andere, und jetzt hat der Handel mit Düngemitteln schon solche Dimensionen angenommen, daß in England jährlich an 70 Millionen Thaler darin umgesetzt werden.

Die Fabrikanten für Kalisalze in Staßfurt hatten anfangs bei noch nicht gesichertem Absätze zu viel producirt, und es erfolgte ein beträchtlicher Rückschlag der Preise. Man suchte in besserer Verwerthung der Nebenproducte schwefelsaures Kali, Bittersalz, Pottasche etc. – bessere Chancen zu gewinnen und kam, auf Grund der oben erörterten Thatsachen und der daraus gefolgerten Lehren, auf den Gedanken, der Landwirthschaft das ihr noch immer fehlende Kali zu liefern, das heißt die vorhandenen Kalisalze zur Düngung zu verwenden. Das ist der Ursprung der Staßfurter Fabrikation, bei welcher die localen Verhältnisse in außerordentlich günstiger Weise zusammenwirkten, um schließlich das Richtige zu finden. Hier, wo die Zuckerfabrikation so vollendet betrieben wird, war die Verwendung des Kali zu Dünger an sich nahe genug gelegt, aber auch, was noch weit bedeutungsvoller wurde, die Umwandlung der Rohkalisalze in brauchbaren Dünger. Gerade die Zuckerrübe kann nicht in jeder Form die ihr nothwendige Nahrung gebrauchen, wenn sie das Maximum des Zuckers mit dem Minimum des Nichtzuckers geben soll; letzterer erschwert die Fabrikation, und deßhalb muß jede Nahrung (Dünger) für die Zuckerrübe sorgsamst ausgewählt sein; ebenso für den Wein, Tabak, Hopfen u. s. w., kurz überall, wo es dem Landwirthe mehr um Güte, als um Menge bei seiner Production gilt. Man verwendete anfangs die rohen Salze zum Düngen und erhielt wenig oder gar keinen Erfolg, oft sogar nachteilige Wirkungen, die man jetzt sich zu erklären weiß. Die Rohsalze sind reich an Kochsalz und Chlormagnesium; jenes ist im Uebermaß, dieses auch schon in kleinen Mengen der Pflanze und besonders den jungen Keimen schädlich, selbst oft tödtlich. Man hatte ferner die Salze wie anderen Handelsdünger auf den Feldern obenauf gestreut und erst allmählich gelernt, daß das Kali in den Boden gebracht werden muß, wenn es tief wurzelnden Pflanzen zu Gute kommen soll; diejenigen Gewächse, welche Kali in höherem Grade gebrauchen, sind aber meistens gerade die tiefer wurzelnden.

Es war die Aufgabe der Fabrikanten, sich nicht abschrecken zu lassen und die passendsten Formen, in welchen das Kali den Pflanzen zugeführt werden konnte, zu suchen. Sie haben diese Aufgabe gelöst, soweit es bis jetzt möglich ist. Sie haben es verstanden, die übergroße Zahl der Beimengungen von minderem oder gar negativem Werthe zu verringern und das Kali selbst in passendere, den Pflanzen zuträglichere Verbindungen umzuwandeln.

Die Fabrikanten liefern nicht einerlei Producte, weil die Landwirthe nicht jedes Fabrikat zu jedem Zwecke brauchen können. Die sogenannten concentrirten Salze haben nämlich viel, die schwefelsauren Salze wenig Beimengungen außer dem Kali, auf welches es ankommt, diese wie jene aber sind je nach Verhältnissen (Boden, Culturzustand, Pflanze) empfehlenswerth. Für jene ist vornehmlich Dr. Frank, für diese Cordell eingetreten; beide haben verschiedene Schriften darüber veröffentlicht. Einig ist man darüber, daß das schwefelsaure Kali als Nahrungsmittel der Pflanze eine geeignete Form ist und daß die schwefelsaure Kali-Magnesia, die auch krystallisirt dargestellt wird (bis jetzt nur von Douglas-Leopoldshall), den Gyps [732] in seiner Wirkung für Klee übertrifft. Ueber die chlorhaltigen Verbindungen sind die Ansichten noch sehr getheilt und nur darin herrscht Uebereinstimmung, daß sie für Wiesen, besonders auf feuchtem Boden, den Vorzug verdienen. Dr. Frank hofft sogar mit ihnen auf Moorboden die gleiche Wirkung erzielen zu können, welche der Landwirth jetzt mit dem jährlichen Brennen des Bodens erreicht, und somit die Ursache des lästigen Höhenrauchs ganz oder doch zum Theil zu beseitigen. Sicheres kann darüber jedoch nicht mitgetheilt werden. Die Düngung mit Kalisalzen erfordert noch große Vorsicht, ihre Resultate bis jetzt sind aber, wo man rationell verfahren ist, schon in solchem Grade lohnende, daß ihr die weiteste Verbreitung sicher ist.

Mit dieser uns jetzt möglichen Vervollkommnung unseres Düngeverfahrens haben wir in Deutschland schon eine Superiorität erlangt, um welche Andere uns beneiden. Französische Urtheile haben es laut anerkannt, daß die auf der letzten Pariser Ausstellung erwiesene Ueberlegenheit des deutschen Rübenzuckers auf der besseren Düngung der Rüben beruhe; sie haben constatirt, daß es in Frankreich schon mehrere Fabriken giebt, welche ihren Bedarf aus der Nähe nicht mehr zu decken vermögen; der Boden ist „rübenmüde“ geworden.

Schlößinger hat bewiesen, daß Tabak, mit Kali gedüngt, gut verbrennlich wird und nicht knöllert, während er beim Mangel von Kali kohlt und das Feuer nicht hält; schon gehen ganze Schiffsladungen von Kalisalzen aus Staßfurt nach Amerika, um den durch verkehrten Anbau erschöpften Tabaksfeldern aufzuhelfen, schon hat man mit Kalidünger in der Leincultur die Erträgnisse in Güte und Menge verbessert, auf Wiesen die Heuernten verdoppelt und den dem Landwirthe so unentbehrlichen Kleebau mit der Kali-Magnesia da wieder gesichert, wo er anfing sehr unsicher zu werden. Nicht minder haben sich diese Dünger bei Kartoffeln bewährt und nach den neuesten über Kalidüngungsversuche gemachten Mittheilungen haben die Staßfurter Präparate in der Gemüsecultur die überraschendsten Erfolge gebracht. Spargel, Gurken, Kohlrüben und alle diesen ähnliche Gemüse erlangten mit größerem Wohlgeschmack bedeutendere Erträgnisse; Erdbeeren sind mit richtiger Düngermischung in Nußgröße gezogen worden und haben an Arom zugenommen.

Freilich werden alle diese schönen Resultate nicht mit Kali allein erzielt, dieses aber darf dem Dünger nicht fehlen, die mit der Zugabe von Kalidünger erhaltenen Mehrerträge sind die besten Beweise dafür, daß die gewöhnliche Düngung, selbst mit Phosphat, noch nicht ausreichend ist.

Für die Weincultur muß der Kalidünger ebenfalls von hoher Wichtigkeit werden; die besten Weinberge sind auf Gebirgsarten angelegt, in welchen von Hause aus Kali reichlich vorhanden war. Indem man aber seit der Anlage der Weinberge in dem ausgeschnittenen Holze und den ausgejäteten Unkräutern das Kali in höherem Grade ausgeführt, als mit dem verwendeten Dünger wieder gegeben hat, haben die Berge ihre frühere Tragfähigkeit zum Theil verloren. Während man an einzelnen Orten Weinstöcke von hundert und mehr Jahren sehen kann und früher in den Weinbergen am Rhein eine Umtriebszeit von fünfzig bis sechszig Jahren mit nur etwa fünfjähriger Zwischennutzung hatte, ist man jetzt vielfach schon genöthigt, die Umtriebszeit auf dreißig bis vierzig Jahre zu verkürzen und zehnjährige Zwischennutzung einzuhalten.

Man darf hoffen, mit dem Kalidünger (und anderem) die früheren Verhältnisse, wiederkehren zu sehen, muß jedoch hier mit äußerster Vorsicht verfahren, wie überhaupt überall da, wo es gilt, Producte mit bestimmten Eigenschaften zu erzielen. Noch weiß man nicht, wie diese Dünger auf Bouquet, Fruchtholz und Zuckergehalt beim Weine wirken und in wie fern sie die Bildung derjenigen Verbindungen, welche der Weinbauer nicht wünscht, begünstigen oder nicht; noch nicht, wie man sie auf den trocknen Berghängen zur sicheren Wirksamkeit bringen kann und welche Art von Kalidünger dem Weine am zuträglichsten ist. Gleiches gilt für den Hopfen, welcher ebenfalls Kali in großer Menge braucht; hier düngt man gerne mit Compost und diese Art der Düngungsverwendung ist vorderhand Jedem, auch in der Gartencultur, zu empfehlen, wenn er Kali und anderen Beidünger geben will.

Es erübrigt nur noch, zu zeigen, in welchem Grade das Kali mit unseren Ernten dem Boden entzogen wird und um welche Mengen es sich also für die Landwirthschaft handelt, wenn voller Ersatz stattfinden soll.

In speciellen Berechnungen habe ich ermittelt, daß befriedigende Mittelernten von Getreide, verschiedener Art etwa fünfzehn Pfund, von Klee und ähnlichen Futterpflanzen dreißig bis vierzig Pfund, von Gras auf Wiesen fünfzig Pfund, von Runkeln, Kartoffeln und ähnlichen Gewächsen etwa siebenzig Pfund und von verschiedenen Handelspflanzen, wie Tabak, Lein, Raps und dergleichen, von dreißig bis sechszig Pfund Kali pro Morgen dem Boden entziehen. (Näheres in meinem „Lehrbuch der Landwirthschaft“ Band III.)

Nach jetziger Bewirthschaftungsweise werden darnach auf Europa’s Feldern, und Wiesen alle Jahre vierhundert Millionen Centner Kali mit den Ernten entnommen, und wollte man auch noch die Wälder mit in Betracht ziehen, so würde die Gesammtsumme auf mindestens fünfhundert Millionen sich berechnen.

Aus weiterer Berechnung ergab sich, daß es sich bei dem heutigen Stalldüngerbetrieb im Durchschnitt pro Morgen Feld und Wiese nur etwa um eine Zugabe von elf Pfund Kali, so viel als etwa in einem Centner rohen Salzes enthalten ist, handelt, so daß, sollten andere Kaliquellen uns nicht eröffnet werden, die europäische Landwirthschaft aus Staßfurt immerhin einen Jahresbedarf von hundert Millionen Centner Kali oder etwa tausend Millionen Centner rohes Abraumsalz erforderte.

Wie groß bis jetzt schon der Verbrauch zum Zwecke der Landwirthschaft ist, konnte leider nicht ermittelt werden; man hat nach Dr. Frank schon bis fünfzehn Centner pro Morgen bei Zuckerrüben mit bestem Erfolg gegeben.

Daß eine rationellere Düngung der Felder dringend nöthig ist, zeigen uns die in England und bei uns im großen Durchschnitt gewonnenen Erträge, bei uns die auf rationell geführten Wirthschaften gegen die im Ganzen erhaltenen Ernten.

Die Größe der in irgend einem Lande gewonnenen Ertrage hängt bis zu gewissem Grade von der Menge des verwendbaren Stalldüngers und der demselben zugegebenen Ersatzmittel ab; Boden und Klima tragen das Ihrige mit dazu bei, doch nicht in dem Grade, daß sie bei Vergleichung großer Länder sehr wesentliche Aenderungen an obigem Satze bewirken könnten. Die Menge des verwendbaren Stalldüngers hängt von der Größe der Viehstände ab. Vergleicht man diese aus den einzelnen Ländern mit einander, so ergiebt sich, daß auf jeden Morgen des landwirtschaftlich verwendeten Areals pro Jahr entfallen könnten: in England 4849 Pfund, in Frankreich 2088 Pfund, in Preußen 2256 Pfund, in Oesterreich 2776 Pfund Stalldünger; man erntete in England 9,3 Centner Getreide aller Art und 36 Centner Heu, in Frankreich 5,3 Centner Getreide und 18,6 Centner Heu, in Preußen 4,5 Centner Getreide und .15,5 Centner Heu, in Oesterreich 5,0 Centner Getreide und 14,6 Centner Heu, giebt aber in England außer dem Stalldünger pro Morgen noch etwa für 1 Thaler und in Frankreich für 1,2 Thaler Beidünger aller Art, während in Oesterreich, Preußen und Deutschland überhaupt, mit Ausnahme einzelner Länder (Sachsen, die Rheinprovinzen), die für Beidüngung verwendeten Geldbeträge kaum erst in Silbergroschen sich ausdrücken ließen.

Die angeführten Daten werden genügen, um zu zeigen, daß Staßfurt eine großartige Zukunft hat; in welchem Grade sie sich verwirklichen wird, mag ferneren Zeiten zu erörtern vorbehalten bleiben. Joulin berechnete die bis jetzt untersuchten Kalischichten auf 21,120,000 metrische Tonnen à 20 Centner und ihren Gehalt auf 5,491,000 Tonnen Chlorkalium à 80%, entsprechend. Mit Recht dürfen wir nach alle dem die Staßfurter Lager an Werth den Goldlagern Californiens mindestens gleich achten; sie haben nach Deutschland schon Millionen gebracht und uns in einem so wesentlichen Artikel vom Auslande unabhängig gemacht.

Die Düngung mit künstlichen Fabrikaten will so gut wie Anderes gelernt sein, und das hält bekanntlich bei unserem Landmann etwas schwer; sie wäre jedoch längst mehr im Gebrauch, wenn nicht so viele verkehrt angestellte Versuche so Viele davon abschreckten, und wenn nicht von Unberufenen so viel Verkehrtes darüber geschrieben worden wäre. Mögen die landwirtschaftlichen Vereine hierin überall so segensreich wirken, wie in Sachsen, so wird bald für ganz Deutschland Staßfurt zu den Stätten gehören, wohin die Menschen wallfahrten, weil von ihnen eine große Wohlthat für Millionen ausgegangen ist.



[733]
Wild-, Wald- und Waidmannsbilder.
Nr. 27. Ein Jagdtag im November.
Von Guido Hammer.


Wenn die Zeit gekommen, wo durch die eintretenden Nachtfröste des Spätherbstes das farbenprächtige Laubgeschmeide des Waldes Blatt um Blatt zur Erde sich bettet, während die Natur

Wildgänse.
Originalzeichnung von Guido Hammer.

in nie rastender Schöpfungskraft noch immer auf den Fluren zwischen thaublauen Krauthäuptern, absterbenden, wirren Kartoffelkräutern und frisch gepflügten dunkeln Sturzäckern das smaragdene Grün der Wintersaaten in frühlingslachender Frische emporsprossen läßt – da regt sich’s dann mit nicht mehr zu widerstehendem Drange in all’ den Herzen Tausender von Wandervögeln, die bisher den gewohnten Niststätten noch treugeblieben, nun endlich doch auch ihren längst vorangeeilten beschwingten Genossen zu folgen und weit, weit wegzuziehen nach dem verheißenden Süden, dort ein sicheres Asyl zu finden vor dem bereits anklopfenden starren Winter unserer Zone. Daher sieht und hört man auch an jenem so eigen stillen, duftverhüllten, reifkalten Morgen unserer trauten rauhen Heimath die lieben reisefertigen Waldsänger zum letzten Mal durch die Dickungen flattern oder im beerenreichen Hag sich tummeln. Und hoch in den Lüften, auf schrankenloser Bahn, zumeist bei hellem Mondschein, ziehen in langen, kettenartigen Zügen, ein ungleiches Dreieck bildend, die wandernden Schaaren der Kraniche dahin, während ihre plebejischen Verwandten, die melancholischen Reiher, noch still am schilf- und waldgesäumten Weiher hocken, wenn sie nicht auch schon in zahlreichen Flügen hoch über blauer Fluth den Aether durchmessen, vorläufig wohl nur, dadurch ihrer Schwingen Kraft zu prüfen zu ihrer ja ebenfalls bevorstehenden Reise nach fernem Ziele.

Anderen geflügelten Wanderern hingegen ist unser wald-, fluren- und wasserreiches Deutschland schon ein Eden, und diese halten hier wenigstens so lange Rast, bis allzuharter Frost und tiefer Schnee auch sie zum Weiterstreichen, d. h. zu allmählichem [734] Vorrücken innerhalb unseres Vaterlandes, und darüber hinaus, bewegt.

Unter letztere Classe gehört auch die bis zum hohen Norden Europa’s, Asiens und Amerika’s heimische Wild-oder Graugans, die Stammmutter unserer verschrieenen Hausschnatterer. Denn gern bleiben diese frostgewöhnten Gäste, kommen sie auf ihren Wanderzügen daher, bei uns und gesellen sich dann den in manchen Gegenden Deutschlands ja auch nistenden und das ganze Jahr über dableibenden Schaaren ihrer Art zu. Hier, in ihren Winterquartieren, leben sie dann, Alt und Jung, in friedlicher Geselligkeit auf eisfreien Stellen großer See’n, Teiche und Flüsse, von wo aus sie in „Schafen“[1] zu ganz bestimmt innegehaltenen Stunden auf die nahgelegenen Aecker fallen, hier ihre Aeßung an Rüben, Raps und Wintersaaten zu nehmen. Von diesen Weideplätzen kehren sie nach Sättigung in eben so regelmäßigen Zeiträumen zu Haufen nach dem schützenden Wasser zurück, wie sie gegangen. Im Uebrigen, je nach den Jahreszeiten, besteht ihre Nahrung auch noch aus süßen Gräsern, Wasserpflanzen, Blättern von Kraut, Kohl und allerhand Feldfrüchten, wie reifem Getreide und Hülsenfrüchten. Und von denselben Stoffen, nur in der ersten Zeit zumeist ausschließlich von Grünfutter, ernähren sich an ihren Geburtsstätten auch die ausgekommenen Jungen, deren gewöhnlich acht bis zwölf Stück von einer Mutter in einer Zeit von vier Wochen ausgebrütet werden, während das Männchen am häuslichen Heerde die ritterliche Wacht hält. Sind die Jungen endlich dem Ei entschlüpft, so werden sie zuvörderst noch vierundzwanzig Stunden in dem kunstlos aus Schilf und Binsen erbauten, mit eigenen Federn ausgefütterten Neste, das auf trocknen Kaupen oder Wurzelstöcken den Sumpf oder das Wasser überragt, sorgsam gehütet, dann aber die kleinen gelbgrauen Dingerchen sofort in’s Wasser und auf die Weide geführt, wo sie auch gleich die Wasserbinsen und süßen Grasspitzchen als erste Nahrung annehmen.

Ende Juli werden die bis dahin sorgsam Geführten bereits flugbar, um, sind sie, wie die im hohen Norden Geborenen, zum Wanderzuge gezwungen, diesen auch rechtzeitig antreten zu können, auf welchem sie oft schon im September in Deutschland eintreffen. In dieser Zeit und noch das erste Jahr hindurch liefern die Jungen ein höchst schmackhaftes und zartes Wildpret; hingegen so ein recht alter Gikgak dürfte eine der würdigsten Aufgaben für einen Chemiker abgeben, ihn, den steinharten Muskelstarken, für das menschliche Gebiß mürbe zu bekommen. Was die geistigen Eigenschaften der Wildgans anlangt, darf man sie durchaus nicht nach unsrer guten Bauerhusche beurtheilen, denn nicht nur scheu und im höchsten Grade argwöhnisch ist jene, sondern auch wirklich schlau und raffinirt vorsichtig, so daß man ihr eine entschiedene Intelligenz nicht absprechen kann. So stellen die schmucken Ahnen unseres zahmen Latschpeters jedesmal, wenn sie behufs ihrer Aeßung auf den Feldern liegen, aufmerksamste Wachen aus, und diese wissen dann vortrefflich den harmlosen Pflüger neben sich oder den auf naher Landstraße daherkommenden lautrufenden und peitschenden Fuhrmann vom schleichenden Jäger zu unterscheiden; ebenso darf die unter schwerer Korblast keuchende biedere Botenfrau, wie die Holz heimtragende lautjubelnde Dorfkinderschaar an ihnen vorüber wandern, ohne daß die eigentlich so sehr Mißtrauischen davor die Flucht ergriffen.

Hierauf stützt sich denn auch eine oft erprobte Jägerlist: in dergleichen Metamorphosen sich an die nur dadurch zu Täuschenden heranzupürschen und, glückt es, eine oder ein paar dadurch Ueberlistete zu erlegen. Sonst wird die Jagd da, wo dieses interessante Geflügel Standwild ist, wie die auf Enten betrieben. So wird dasselbe in Stocknetzen gefangen, bei Treibjagden im Wasser, durch Beschleichen am Ufer und, wie schon erwähnt, an den Aeckern geschossen, sowie aus der Schießhütte und auf dem Anstande im Freien erlegt. Letzteren nun kann ich aus eigener Erfahrung schildern, die freilich nicht etwa in den wasserwildreichen Gegenden der Nistplätze des eben beschriebenen Schwimmvogels gesammelt ist, sondern nur auf einem beschränkten Terrain, wo dieses Flugwild nur vorübergehend, eben blos auf dem Striche – und dann auch nur höchstens einige Tage lang – zu verweilen beliebt. Doch gerade dieses plötzliche Kommen und baldige Wiederverschwinden dieser anziehenden Wildart hat einen ganz besonderen Reiz für mich, ihm nachzutrachten.

Stürmischem, regnerischem Octoberwetter waren schneegraue, empfindlich kalte Novembertage gefolgt und hatten wieder einmal die wilden Gänse als willkommene Gäste in die nahgelegenen wasser- und bruchreichen Reviere meiner engeren Heimath geführt. Sofort war mir von maßgebender Stelle aus Nachricht davon geworden, mit der freundlichen Einladung: „einen Tag oder mehrere daran setzen zu wollen, den fliegenden Wanderburschen die Pässe zu visiren.“ In möglichster Eile, aber wohl gerüstet, traf ich bei meinem lieben jährlichen Freunde ein, der mich gerufen, und bald darauf schritten wir auch schon hinaus in den weitgedehnten, schon recht winterfrischen Wald. Erst über von tiefdunkler Haide überwucherte Blößen und vor Frost knisternde Brüche wandernd, nahm uns von da ab ein Jahrhunderte alter hoher, wipfelrauschender Fichtenbestand auf, in dessen Schutze auf einem mit Anflug bewachsenen Hügel ein Vogelheerd stand, in welchen wir, ehe wir weiterschritten, eintraten, den hier einsam hausenden Steller zu controliren und ihm zu sagen: daß wir bei unserer Rückkehr in seiner Klause übernachten würden und für Geld und gute Worte einen bereit gehaltenen Imbiß bei ihm erwarteten. Wir setzten unsere Wanderung durch den erfrischenden Herbstwald fort, und erst da, wo der Wald sich etwas lichtete und einen schwarzspiegelnden, rohrgesäumten Waldteich umschloß, über welchen hinweg während ihrer Anwesenheit allabendlich die Gänse nach den ferner liegenden größeren Teichen wechselten, machten wir Halt, um unser Heil zu versuchen.

Mein Freund Waidmann trat auf eine kleine vorschneidende Landzunge des regungslosen Waldspiegels an den grünflechtigen Stamm einer windbrüchigen Fichte, ich hingegen hinter den wettergrauen, von Brombeerengerank, Schießbeerenholz, Schleh- und Hagedornen umwucherten Ständer des düstern, fast gespenstig still vor mir liegenden Gewässers. Nach unsern Uhren hatten wir gut noch zehn Minuten Zeit vor uns, ehe wir das Kommen der ersehnten Langhälse erwarten durften, und ich hatte sonach noch vollauf Muße, mich den Eindrücken der so ernst gestimmten Natur hinzugeben. Unwillkürlich, schon um den luftigen Pfad der Erwarteten im Auge zu haben, blickte das Auge nach dem freien Himmel über dem in Schweigsamkeit liegenden, tiefscheinenden Naß, in das bereits die scharfgezeichnete Mondsichel niederblinkte. So gänzlich luftstill es auch am Fuße des Waldes und über dem Wasser war, so trieb doch in den höheren Regionen der eisige Nord die dunkeln Wolken in raschem Fluge als phantastische Gebilde dem Süden zu oder ballte sie plötzlich zu dichten Massen zusammen, dann die silberne Mondsichel auf Minuten gänzlich verhüllend. Aber bald löste sich solch’ Chaos wieder, und schon blickte nur hier und da ein den Mond begleitendes Sternlein aus einem frei gewordenen Stück tiefblauen Himmels hernieder. Dabei herrschte aber doch noch so viel Tageslicht, daß man gegen den Himmel recht gut „abzukommen“ vermochte, und erwartungsvoll harrte das gespannte Ohr dem lärmenden Flug und Gegaker der nun jeden Augenblick zu Erwartenden, denn eben erklang der erste schwingende Glockenton vom Abendläuten aus dem fernen Dorfe herüber, die Zeit, wo sie nach meines Freundes Versicherung kommen mußten. Und richtig! Kaum daß die nachfolgenden zitternden Klänge der ehernen Stimmen zu einem Accord verschmolzen, da ward es lebendig in den Lüften und unter geschwätziger Führung kam rauschenden Flügelschlages der Troß der Ersehnten an.

Unbeirrt lassen wir die gar nicht zu hoch über uns weg Ziehenden dahinstreichen, um ihnen die Postenladungen nicht auf den abwehrenden Brustfederpanzer zu schießen, sondern erst hinterher zu entsenden, und so auf sichern Erfolg – das Treffen natürlich vorausgesetzt – rechnen zu dürfen. Mein Freund kam zuerst zum Feuern, obgleich auch meine Schüsse fast gleichzeitig dahinterher donnerten und die Dämmerstille des Waldes durchhallten. Welche Verwirrung richtete aber der nachgesandte Hagel in den beiden Linien der Davoneilenden an! Drei Opfer wurden durch das tödtende Blei jäh aus ihren Reihen gerissen und stürzten schwerdröhnenden Falles zur Erde, während der dadurch in wilde Unordnung gerathene Zug unter wüstem Gelärm höher sich emporschwang und bald in dem nun schon finsteren Gewölk den nachspähenden Blicken entschwand. Doch nun galt es, sich seiner Beute auch zu bemächtigen, was durch die eingetretene Dunkelheit, die der düstere Wald verdoppelte, nicht geringe Schwierigkeiten bot, denn durch das Holz gedeckt, hatten wir der Erlegten Fall nur dem Gehör nach beobachten können, und waren daher ohne Hund in einer mißlichen Lage. Nach vielem Suchen endlich fand [735] ich die von mir Herabgeschossene, und ich war Egoist genug, um in innerster Seele vollkommen zufriedengestellt zu sein, besonders da von den beiden andern doch wenigstens eine, die dem platschenden Klange nach in’s Wasser gefallen war, am andern Morgen gefunden werden mußte.

In dieser Hoffnung gaben wir denn endlich unsere Nachtsuche auf, und stracks ging es nun durch den unterdeß rabenschwarz gewordenen Wald zurück nach unserm bestellten Nachtquartiere im Vogelheerde. Trotz tiefster Finsterniß und wurzelhöckerigem Wege kamen wir wohlbehalten dort an, wo wir die ausgefrorenen Glieder, denn es war ganz ernstlich schneekalt geworden, am wubbernden Kachelöfchen auswärmten. Bald stand denn auch auf dem Tische vor uns eine vortreffliche Hollundersuppe und dampfende Kartoffeln, welchem Mahle wir nun wacker zusprachen. Darnach bot mir der alte Vogler noch einen Knochen zum „Abknaupeln“ an, der, wie er hinzufügte, von einer Ziege herrühre, die ein Häusler aus seinem Dorfe vor Kurzem ausgeschlachtet habe und wovon er sich einen Theil gekauft hätte. Der Knabe Carl fing an, mir fürchterlich zu werden, und da er dies fühlen mochte, versicherte er mich treuherzig, daß ich solchen Braten gewiß nicht stehen lassen würde; dabei brachte er ihn unabweisbar herbei.

Um dem gutmüthigen Geber nicht wehe zu thun, griff ich ergeben zum Nickfänger, um wenigstens durch ein paar Bissen Bescheid zu thun, wobei mir jedoch der Duft dieses Restes gar lieblich und sympathisch in die Nase stieg, so daß ich nun wirklich mit bestem Appetit und ganz ordentlich zulangte. Und siehe da, ich überzeugte mich dadurch gar bald, daß ich – Rehbraten aß, auch wenn mir meine osteologischen Kenntnisse nicht deutlich gesagt hätten, daß der Braten, ein solcher war der noch recht fleischreiche Knochen, von einem „Mosje Böckert“[2] herrühren müßte. Ich schwieg vorläufig zu meiner Entdeckung und knispelte nun das Skelet so rein ab, daß es schließlich wie polirt auf dem brauntöpfernen Teller vor mir lag. Dies schien den Alten, den ich übrigens schon von der Seite kannte, daß er, um mit ihm selbst zu reden, „manchmal a Reh’chen fund,“ hoch zu erfreuen, vielleicht nur, weil er glauben mochte, mich bei alledem getäuscht zu haben.

Wie traulich war es nun im niedlichen Stübchen! Knackernd brach der redselig gewordene Vogeltobias das dürre Reis über das lederbehoste Knie, um es in die kleine Feuerstätte nachzuschieben, wobei die helle Lohe lebhaft zum Thürchen herauszüngelte und nicht nur den heimlichen Aufenthalt durchwärmte, sondern auch noch mit jenem für mich unbeschreiblich angenehmen Geruch erfüllte, den das harzig-aromatische Fichten- und Tannenreis, wenn es in einzelnen frischen Zweiglein auf die Gluth kam, verbreitete. Dazu das anmuthende Flackerlicht des Feuerchens, das mit zuckendem Schein alle die Netze und anderen Geräthschaften an der Wand, wie die vielen Gebauer mit ihren schmucken kleinen Insassen erleuchtete, welch’ letztere dann im oftmaligen Aufwachen noch ihre heimlichen Locktöne hören ließen. Alles dies aber nach gehabtem Waiderfolg, ausgewärmt, gesättigt und behaglich in einem höchst bequemen Lehnsessel ruhend genießen zu können, während der brausende Nord unterdeß sich erhoben, die Umgebung der niedrigen Hütte durchtobt oder zuweilen ruckweise pfauchend in die kleine Esse fährt – das ist eine Wonne! Und als wir uns nun schon um acht Uhr auf das duftige Lager von frischem Tannenreisig warfen, jeder eine warme Decke für die Nacht zur Hand, um die später zu erwartende Kälte im nicht mehr geheizten luftigen Stübchen abwehren zu können, da lauschte man wohl noch fort und fort Freund Brausewind zu, wenn er die dürren Aeste der um den Heerd stehenden „Krakeln“ knackend zur Erde warf, dann wieder wimmernd und heulend durch die alten Föhren des nahen Bestandes zog oder hohl die weite Luft durchrauschte.

Aber trotz seiner starken Stimme hatte mich Herr Blasius doch nach und nach in tiefen Schlaf gelullt, so daß ich, als man mich weckte, es kaum glauben wollte, daß es schon Zeit zum Aufstehen sei. Doch schnell sprang ich empor und trat nun vor die Thür des Hauses, wo jetzt der Wald in tiefster Schweigsamkeit und unter leichter weißer Decke vor mir lag; es war nach beruhigter Natur in der Nacht der erste Schnee dieses Jahres gefallen. Rasch hatte ich mich, während der thätige Vogelsteller den Strauch zum Fang bestellte, im nahen Quell, von dem ich erst die darüber geharschten Eisscherben zertrümmern mußte, gewaschen und kehrte schnell zurück in’s bereits erwärmte Stübchen, um die mit der Dämmerung zu erwartenden Krammetsvögel nicht zu verscheuchen. Inzwischen wurde ein sogenannter Kaffee, in der That aber nur ein Aufguß auf gebrannte Eicheln, eingenommen; wer wollte, konnte aber auch statt dessen einen auf grüne Tannenzapfen aufgesetzten Schnaps, eine Art von Todtenwecker, genießen.

Bald zeigte sich gen Osten ein dämmernder Streif und mit dessen Erscheinen regte sich’s auch draußen in der Vogelwelt. Zuerst unterbrach die lautlose Stille das eigenthümliche „Schackern“ der einzeln ankommenden Großvögel, deren bald ganze kleine Flüge folgten und ein paarmal auch auf die „Krakeln“ auffielen, doch ohne darnach in den „Strauch“ einzugehen. Später schnippste es überall von den kleinen muntern Goldhähnchen und den lustigen Meisen. Auch das schrilllachende Pfeifen des Spechtes oder der kreischende Ruf des Eichelhehers durchtönte nur zuweilen den Wald und fesselte meine Aufmerksamkeit, bis wieder ein Flug Ziemer den Heerd bestrich und auch nach kurzem Besinnen in die Garne einfiel. Ein starker Zug an der Rückleine – und die Netze flogen über die Bethörten zusammen. Fünfzehn Stück waren gefangen und büßten ihr Vertrauen mit dem Tode.

Wir aber, da es schon ziemlich hoch am Morgen geworden war, brachen auf, unsere gestern im Stich gelassene Beute nochmals zu suchen. Was uns den Abend zuvor unmöglich gewesen, sollte uns heute Morgen sehr leicht gelingen; denn glücklicherweise war die eine der noch nicht Gefundenen auf freies, grasloses Ufer gefallen, so daß wir die Leichtbeschneite zu unserer höchsten Freude schon von Weitem liegen sahen. Die andere aber, die in’s Wasser Gestürzte, hatte der nächtliche Sturm an den eisgesäumten Rand des Teiches getrieben, wo wir sie ohne Mühe mit einer abgeschnittenen Stange herausholen konnten. Heiteren Sinnes trennten wir uns deshalb auf dem Wahlplatze; ich den meilenweiten Weg nach der heimathlichen Stadt antretend; er aber, mein freundlicher Gönner und Waidgenosse „schlug sich seitwärts in die Büsche“, seinen trauten, tief im Walde verborgen gelegenen häuslichen Heerd zu erreichen.




Blätter und Blüthen.


Der Mensch als Poststück. Vor einigen Monaten erschien ein Engländer auf einem der Pariser Postämter und bat, ihn wiegen und dann ihm sagen zu wollen, wie viel er an Porto zu bezahlen hätte, wenn man ihn als Brief nach London spedire. Das Verlangen war etwas außergewöhnlicher Art, aber den Engländern hält man schon kleinere und größere Excentricitäten zu Gute, und so nahmen die Beamten die Sache für einen guten Spaß, dachten auch wohl, daß es sich um irgend eine Wette handeln möchte, wie sie unter den Engländern, die auf und über Alles im Himmel und auf Erden wetten, an der Tagesordnung sind, und gingen harmlos auf das Verlangen ein. Man wog denselben, der ziemlich umfangreichen Leibes war, und rechnete eine Summe von achttausend und etlichen Hundert Franken heraus, welche er für einen Brief vom Gewichte seines Körpers an Porto zu bezahlen haben würde. Als aber der dicke John Bull geschäftig seine Brieftasche herauszog, den genannten Betrag in Banknoten aufzählte und mit ernster Miene ersuchte, ihm die nöthigen Marken aufzukleben und ihn ohne Verzug mit der Briefpost nach England zu befördern, da ward man inne, daß der Lord mehr als einen Sparren zu viel im Kopfe habe, und überwies den Tollhäusler seiner Gesandtschaft zu sicherer Verwahrung und weiterer Behandlung.

So haben die Zeitungen erzählt. Wir lassen dahin gestellt sein, ob die Scene sich wirklich zugetragen hat, oder aus Mangel sonstiger Nachrichten von einem sinnreichen Berichterstatter erfunden worden ist, wollen aber unsererseits jetzt erzählen, daß der Gedanke, den in Paris ein irrsinniger Lord ausgebrütet, der Gedanke, den Menschen als Poststück zu behandeln, jetzt in England selbst von einem sehr klaren Kopfe in vollem Ernste ventilirt und zur Ausführung empfohlen wird. Der Vorschlag erscheint auf den ersten Blick als sehr absonderlich, und dennoch verdient er unsere Aufmerksamkeit und Erwägung im höchsten Grade.

Ein Herr Raphael Brandon hat soeben nämlich in einer von ihm verfaßten Broschüre[3] nichts Geringeres in Anregung gebracht, als eine totale Umwälzung des Princips, auf welchem die Personentransporttarife sämmtlicher Eisenbahnen beruhen. Sein Plan geht dahin, das von dem bekannten Rowland Hill erdachte sogenannte Pennyportosystem, welches nach und nach in fast allen civilisirten Staaten für den wichtigsten Zweig des Postwesens eine völlig neue Aera geschaffen hat, auch für die Personenbeförderung auf den Eisenbahnen anzuwenden. Er beantragt, wie oben [736] erwähnt, den Passagier als Brief zu behandeln und ihn, gleichviel wie groß die Entfernung seines Reisezieles sei, durch das gesammte Gebiet des Vereinigten Königreiches zu einem und demselben bestimmten niedrigen Fahrpreise zu expediren. Eine Dreipence-Marke soll den Reisenden von London nach dem Krystallpalaste von Sydenham wie nach der äußersten Spitze von Schottland in dritter Wagenclasse befördern. Wer sich der zweiten Wagenclasse bedient, soll sich eine Sechspencemark, und wer sich den Luxus der ersten Classe gönnen will, eine Schillingsmarke zu lösen haben.

Fast sind wir ohne weitere Prüfung geneigt, die Idee in eine Kategorie mit der unsers Lords in Paris zu reihen, mit jeder Seite aber, welche wir in der angeführten Broschüre weiter lesen, leuchtet uns der Vorschlag mehr und mehr ein, wir finden, daß er etwas Anderes und Besseres ist als die nichtige Chimäre eines phantastischen Projectenmachers. Scharfsinnig, klar und ruhig legt der Verfasser vielmehr dar, daß sein System allen Betheiligten zu Gute kommen würde, Actionären, Publicum und Staat, und überdies zu einem gewaltigen Aufschwunge der Gewerbthätigkeit aus allen ihren Gebieten Anstoß geben dürfte. Dabei begründet er seine Auseinandersetzung durch das Positivste, was wir kennen, durch Zahlen. Ende 1865 belief sich das in sämmtlichen Eisenbahnen Großbritanniens und Irlands angelegte Capital auf vierhundert und dreiundvierzig und eine halbe Million Pfund Sterling, die sich im Durchschnitte nur zu vier und zwei Fünftel Procent verzinsten, folglich nichts weniger als hohe Interessen abwarfen.

Vor Allem nun, fährt Brandon fort, ist es nothwendig, daß der Staat alle Eisenbahnen ohne Ausnahme in seinen Besitz bringt, wie dies mit Post und Telegraphen der Fall ist; damit würden schon eine Menge kostspieliger Directorien in Wegfall kommen und allein an Parlaments- und ähnlichen Sporteln die Kleinigkeit von jährlich etwa einer halben Million Pfund Sterling erspart werden. Dies sind indeß bloß Fliegenstiche bei einem Plane von solcher Tragweite. Die Hauptsache ist, für die leichteste und billigste Beförderung zu sorgen, alsdann wird sich der Personenverkehr zu einer bis jetzt gänzlich ungeahnten Höhe steigern. Wie das wohlfeile Porto die Correspondenz verhundertfacht hat, so reisen schon jetzt, bei den gegen früher so sehr erleichterten und demokratisirten Verkehrsmitteln, Tausende, wo in den Post- und Stellwagen ehedem höchstens Dutzende reisten. Im Allgemeinen wird aber noch lange nicht so viel gereist, wie man reisen würde, wenn die Fahrpreise der Eisenbahnen ähnlich dem Porto auf einen gleichförmigen Satz reducirt wären. Wir lesen, wie in Perioden von Geschäftsstockungen sich in gewissen Districten brodlose Arbeiter massenhaft anhäufen und den Gemeinden zur Last fallen, weil die Höhe der derzeitigen Eisenbahnfahrpreise ihnen unmöglich macht, sich nach entfernten Gegenden und Orten zu begeben, wo es augenblicklich an Arbeitern fehlt und demnach die Arbeit hoch im Preise steht. Sobald wir eine billige Locomotion haben. wird also der Verarmung ein kräftiges Halt geboten sein. Jeder wird reisen, wenn die Beförderung selbst so gut wie nichts kostet. Allein dies ist blos möglich, wenn die Eisenbahnen ausschließlich vom Staate verwaltet werden.

Das von Brandon vorgeschlagene „Passagierporto“ – so nennt er es – klingt lächerlich niedrig, bleibt jedoch in Wirklichkeit nicht so weit hinter dem Durchschnitte der jetzigen Eisenbahnfahrpreise zurück, wie man vermuthlich glaubt. In runden Zahlen liefen 1865 in England drei und eine halbe Million Personenzüge über einundsiebenzig Millionen englische Meilen, welche zweihundert und zweiundfünfzig Millionen Passagiere beförderten und an Fahrgeld eine Summe von vierzehn Millionen siebenhundert und vierundzwanzig Tausend Pfund Sterling einbrachten. Dies ergiebt durchschnittlich auf jeden einzelnen Zug nahezu neunundzwanzig englische Meilen und dreiundsiebenzig Passagiere, mithin etwa drei und einen halben Passagier pro Meile, woraus ferner hervorgeht, daß jede einzelne Fahrt zu den gegenwärtig bestehenden Fahrtaxen im Durchschnitt pro Kopf mit vierzehn Pence bezahlt wird.

Jetzt bewilligt mir, folgert unser Autor ferner, für jede Fahrstrecke ein Personengeld von drei Pence, und ich verspreche einen sechsmal stärkern Verkehr als den derzeitigen, so daß die Gesammteinnahme der englischen Bahnen um vier Millionen Pfund Sterling mehr betragen wird, als jetzt, ohne daß sich die Betriebskosten nennenswerth erhöhen dürften. Nun aber läßt sich mit Wahrscheinlichkeit annehmen, daß nicht alle Passagiere um drei Pence in dritter Classe, sondern daß etwa ein Siebentel in erster Classe zu einem Schilling und zwei Siebentel in zweiter Classe zu sechs Pence reisen werden. Hierdurch stellt sich der jährliche Ertrag des Eisenbahnpersonenverkehrs auf zweiunddreißig Millionen Pfund Sterling, während er gegenwärtig, wie wir gesehen haben, vierzehn und drei Viertel Million nicht übersteigt. Vielleicht giebt sich Brandon einer etwas zu sanguinischen Hoffnung hin, wenn er voraussetzt, daß sein neues Fahrtaxensystem die Personenfrequenz der Bahnfahrten um das Sechsfache vergrößern werde, indeß statuiren wir auch nur die Hälfte, nur eine dreifache Erhöhung, was gewiß nicht überschwänglich ist, so bleibt immer noch ein Mehr von zwei Millionen über den derzeitigen Einnahmebetrag, abgesehen von der Ersparniß, welche durch die Einheit der Bahnverwaltung unfehlbar erzielt würde.

Sind alle diese Daten und Ziffern auch blos englischen Verhältnissen entnommen, wie das Project selbst nur das englische Eisenbahnnetz in’s Auge faßt, so sehen wir doch keinen Grund, der eine Verwirklichung der Idee in andern verkehrsreichen Ländern, speciell auf unseren deutschen Eisenbahnen ausschlösse. Unbedenklich behaupten wir vielmehr, Brandon’s Plan ist der Kern des Eisenbahnwesens der Zukunft. Daß er bereits vor vier Jahren dem englischen Parlamente die Grundzüge, welche er in seiner jetzigen Broschüre weiter ausführt, zur Begutachtung unterbreitet hat, und daß man seine Vorschläge einfach ad acta legte, in den großen Papierocean warf, in dem so mancher geniale Gedanke sein Grab gefunden hat, – das beweist nicht das Mindeste wider die Lebensfähigkeit seiner Idee. Ist es nicht Rowland Hill ganz ebenso ergangen? Als er vor nunmehr einunddreißig Jahren den englischen Gesetzgebern und Behörden den Plan seiner „Post Office Reform“ vorlegte, fertigte der damalige Chef des englischen Postwesens, Lord Lichfield, die Sache als den „überschwänglichsten aller tollen und phantastischen Pläne“ ab – und heute ist sein Gedanke die Angel, um welche sich das gesammte Postwesen der Neuzeit dreht. Wer kann uns somit widerlegen, wenn wir in Raphael Brandon den Rowland Hill der Eisenbahn weissagen?




Das Hans Sachs-Denkmal, mit welchem Nürnberg sich zu Ehren eines seiner größten Bürger schmücken will, hat in den deutschen Liedertafeln den patriotischen Geist vielfach angeregt, und nicht bloß die dadurch erschwungene Beisteuer zu den Denkmalkosten, sondern auch die sie begleitenden Schreiben verdienen freudig begrüßt zu werden. Eines derselben, vom Sängerverein in Stolpe, theilen wir hier mit: „Gerne sind wir“ – heißt es darin – „Ihrer Aufforderung entgegen gekommen, um zu zeigen, daß in unserm äußersten Winkel Hinterpommerns nicht mehr der geistige Tod die Herrschaft hat, sondern frisch und freudig an der Bildung und Gesinnung besonders des kleinen Handwerkerstandes gearbeitet wird. Eben deßhalb halten wir es für eine gebotene Pflicht des Handwerkerstandes, sich bei der Sammlung von Beiträgen zu dem Denkmal des reinen und wahren deutschen Mannes Hans Sachs zu betheiligen und dessen Andenken dadurch zu ehren. In diesem Sinne erhalten Sie das Inliegende (25 Thlr.), mit dem herzlichen Wunsche, daß Ihnen von sämmtlichen Handwerkervereinen Deutschlands möge Größeres geboten werden.“

Diesem Wunsche kann man sich nur mit Freude anschließen, denn die Erfüllung desselben würde das Denkmal selbst vollenden helfen; vor alledem dürften auch die Hof-, Stadt- und Privattheater wiederholt an die Ehrenpflicht zu mahnen sein, die sie dem Vater der deutschen Nationalbühne noch heute schuldig sind.




Die musikalischen Classiker bilden das tägliche Brod der Unterrichtsanstalten sowohl wie der Kunstfreunde. Ihre billigste Verbreitung, so daß sie Gemeingut auch der wenigst Bemittelten werden können, ist ein desto dringenderes Bedürfniß, nachdem die Werke der großen deutschen Dichter durch wohlfeile Ausgaben Allen zugänglich gemacht worden sind. Wenn als Hauptaufgabe bei solchen Volksausgaben die Verbindung von äußerster Wohlfeilheit mit größter Correctheit und Lesbarkeit anzusehen ist, so muß man unter allen Concurrenten der Peters’schen Ausgabe den Vorrang zugestehen. Sie umfaßt alle musikalischen Classiker und in einer so eleganten Ausstattung, daß man, wären die Preise nicht bekannt, nicht ahnen würde eine Volksausgabe vor sich zu haben. Gewiß werden in diesem Gewande die Schöpfungen der Musikheroen überall Eingang finden.




Marlitt’s Gold-Else wurde so eben in vierter Auflage ausgegeben. Auf dem deutschen Büchermarkte ist es bis heute eine noch nie dagewesene Erscheinung, daß bei einem Romane, der durch eine weitverbreitete Zeitschrift wie die „Gartenlaube“ bereits eine ungeheure Verbreitung gefunden, binnen achtzehn Monaten noch vier starke Auflagen in Buchform nöthig wurden, denen vielleicht bald noch einige andere folgen werden. Gold-Else ist in ganz Europa und Amerika – denn es existiren bereits englische, französische, russische und holländische Uebersetzungen – ein Liebling der Frauenwelt geworden, und das Buch verdient diese große Anerkennung sowohl seines schönen poetischen Gestaltenreichthums wie seiner eben so humanen wie klaren und freisinnigen Lebensanschauung wegen.




Berichtigung. Es ist uns zu sehr um Feststellung selbst der geringfügigsten Wahrheit zu thun, als daß wir anders, denn mit Dank eine Berichtigung hinnehmen sollten, die auf unseren Artikel: „Oesterreichische Berühmtheiten 2. Der Minister des Innern“ sich bezieht. Wir bemerken also, daß Herr Dr. Giskra allerdings den entschlossensten Freiheitsmännern des Frankfurter Parlaments nach Stuttgart gefolgt ist, daß er aber schon nach den drei ersten Sitzungen daselbst auf sein Verlangen Urlaub erhalten und sich fortbegeben hat. Ob die Warnung vor dem österreichischen Verhaftsbefehl, von welchem die Redaction der Gartenlaube spricht, ihn gerade damals traf und seine rasche Abreise veranlaßte, wissen wir nicht. Ein Irrthum unseres Gedächtnisses war es, daß wir statt „Nürnberger Hof“ Regensburger Hof geschrieben haben, der unseres Wissens in Frankfurt gar nicht existirte und gewiß um jene Zeit keinem Club den Namen gab.
Siegmund Kolisch. 



Für die Wasserbeschädigten in der Schweiz
gingen wieder ein: Br. in Adorf 3 Thlr. 7 ½ Sgr.; Frau M. W. in Pirna 1 Thlr.; Comet 1 Thlr.; A. B. G. 1 Thlr.; ein deutscher Bruder in Köln 5 Thlr.; A. Kr. in Altenburg 1 Thlr.; für Weiterbesorgung eines Briefes an Gerstäcker 1 fl. rhein.; W. Stolz und A. W. Scholz in Detmold 2 Thlr.; F. v. G. in Annaberg 1 Thlr.; von einem Freunde der Gartenlaube 2 fl. rhein.; G. in Carwitz (Hinterpommern) 1 Thlr.; Paul Hoffmann in Potsdam 5 Thlr.; N. N. 10 Thlr. (Beantwortung Ihres Briefes nach Angabe Ihrer genauen Adresse); Esche und Hager[WS 2] in Leipzig 20 Thlr. 0 Summe aller bisherigen Eingänge 163 Thlr. 1 Sgr.
Die Redaction,     



Inhalt: Das Erkennungszeichen. Von A. Godin. (Fortsetzung.) – Ein Musikabend beim Prinzen Louis Ferdinand. Mit Abbildung. – Der Wunderglaube in Paris. Von Ludwig Kalisch. – Die Staßfurter Salzlager. Von Professor Dr. K. Birnbaum. (Schluß.) – Wild-, Wald- und Waidmannsbilder. Nr. 27. Ein Jagdtag im November. Von Guido Hammer. Mit Abbildung. – Blätter und Blüthen: Der Mensch als Poststück. – Das Hans Sachs-Denkmal. – Die musikalischen Classiker. – Marlitt’s Gold-Else. – Berichtigung. – Quittung.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Ein Schaf ist eine zusammenhaltende Schaar.
  2. “Mosje Böckert“ nennt man scherzweise einen Rehbock.
  3. „Railways and the Public“.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: beharrlich
  2. Vorlage: Cosche und Hager, vergl. Berichtigung (Die Gartenlaube 1868/48)